Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wir haben unsere deutschen Städte neu entdeckt. Ja, wir glauben, sie tiefer entdeckt zu haben als jene Romantiker, die – vor fast anderthalb Jahrhunderten – angesichts unserer alten Städte in trunkenen Herzensergießungen dem deutschen Genius huldigten. Die ließen sich einsaugen von Stimmungen und Reiz, von Erinnerungen an entschwundene Größe. So flohen sie aus ihrem Tag in die Vergangenheiten, und die ihnen folgten, schürften immer tiefer dem Vergangenen nach, erstickten im Vielen und Kleinen, blieben am einzelnen Denkmal hängen und endeten im Museum. »Stadt als Museum« war Losung der Städtewanderer im 19. Jahrhundert.
Unsere Losung aber ist »Stadt als Gestalt«. Sie führt uns ins Herz des Gewordenen, läßt uns den Pulsschlag des Werdens spüren, der hinauftreibt ins Heute und Morgen. Denn unsere alten Städte wirken weiter. Ob der politische und wirtschaftliche Atem bei manchen auch stockte, ob er bei anderen weitertrieb, neue Lebensringe ansetzen ließ rings um das alte Gemäuer – hier und dort enthüllt sich der Sinn des Gewordenen, wie er aus der Landschaft und ihrem Schicksal, aus der Eigenart des Stammes, der hier zur Stadt sich steigerte, und aus seiner Geschichte sich emporhob zur Gestalt. Nicht diese und jene Einzelheit in unseren alten Städten regt heute unser Bewundern an, – wir suchen das Ganze zu begreifen, spüren das Gesetz auf, nach dem es sich entwickeln mußte. Unsere Städte sind uns die gestaltgewordenen Schicksale von Jahrhunderten, die unsere Vorfahren lebten. Sie prägten ihren Charakter aus und indem wir Heutigen diesen Charakter begreifen, begreifen wir uns selbst. »Stadt als Gestalt« – das ist die Losung einem Künftigen entgegen: sie zeigt uns unser Wesen und führt uns weiter. Unsere alten Städte erziehen uns zu uns selbst.
Unter solch neuer Losung muß der Ruhm der alten Augusta Vindelicorum steigen. Sie hat Charakter ausgeprägt wie keine andere Stadt in deutschen Landen. Sie ruht im Gesetz einer klar gefügten Gestalt, wie nur die Zeitenarbeit vieler selbstbewußter und großgesinnter Geschlechter sie verbürgt. In Augsburg spricht weniger die Zierlust des frohen Einfalls, der Reiz der sinnigen Ueberraschung und der einzelnen Sicht. Auch nicht die laute Wirkung rauschhaft bewegter Fassaden. Hier zwingt der große Rhythmus einer Ganzheit, zu der sich nüchterner Fleiß und weitschauende Planung zusammenfanden. Hier steigt ein tiefer Atem langsam an, beruhigt alle Zufallsform zu sicherer Begründung und führt sie fast gelassen hinauf zu reifem Ausdruck. So kommt es zu einer Eindringlichkeit des Erlebnisses ohnegleichen. Eine wie selbstverständliche Größe der architektonischen Gesinnung nimmt uns auf und bildet uns empor. Die »Stadt als Gestalt« vollbringt ihr Erziehungswerk.
Es beginnt bei der Wirkung des Gesamtumrisses. Lang hingestreckt auf dem Auslauf eines mäßig hohen Brühls, der südher anschiebt, liegt die Stadt. Zwei Gebirgsflüsse, Lech und Wertach, säumen die Brühlhänge in Ost und West, vereinigen sich hinter seinem Nordabfall. Ringsum das flache Land, von bewaldeten Bodenwellen gegliedert. Hier also spendet die Landschaft keine Form, welche die Stadt nur aufzunehmen, zu steigern, ins Architektonische zu übertragen hätte. Augsburg muß seine Form ganz aus sich heraus erarbeiten. Das schafft den sachlich-kühlen, aber selbstgewissen Grundzug dieser Form, es begründet ihr Zusammenfinden zur in sich geschlossenen Gestalt.
Im Norden, wo der Brühl vor seinem Abfall in die Ebene sich etwas hebt, sammelt das hohe Massiv des Domchors mit den Osttürmen die frühere Bischofsstadt zur alten Einheit. Andere Kirchen mit ihren Türmen ordnen sich dem Hauptklang unter. Die alte Burgstadt schließt sich auch im Umriß zusammen. – Ihr erwidert als großer Gegenklang im Süden, dort wo nach leiser Senkung in der Stadtmitte der Brühl wieder ansteigt, die große Stadtkirche zu St. Ulrich. Herrisch greift der Turm in den Himmel, schließt die langgedehnte Stadtsilhouette gegen Süden machtvoll ab. Der breitgelagerte Kirchenleib stellt sich dem Anlauf der Gesamtstadt entgegen, drängt ihn gleichsam zurück zur Mitte. – Hier in der Mitte schließlich, nach bewegtem Hin und Her gegen Nord und Süd, ankert das Auge. Hier steigt das gewichtigste Baumassiv der Gesamtstadt auf, sammelt alle andern Teile zum klaren Organismus, der aus der Mitte heraus sich entfaltet. Hier baut das Rathaus des Elias Holl, der machtvolle Block mit den kräftigen Türmen zu Seiten, und nebenan der schlanke Stadtturm, der Perlach, das Grundgewicht auf, das die Schalen der Waage zur Ruhe zwingt. Was an Türmen und Kuppeln sich sonst noch regt, – es folgt nur dem Ruf dieser Mitte. Die weite Dehnung der Stadt fügt sich der Sammlung. Ein atmend Wesen, so liegt sie vor unseren Augen. Die Formen steigen ruhig auf und nieder und finden ihren Sinn in der Gestalt, die hier die großen Harmonien aus der Mitte spendet.
Hat man dies Formgesetz der Augsburger Stadtgestalt erkannt, so entfaltet sich dem offenen Blick auch gleich das andere Gesetz, aus dem es geworden: die Geschichte. Oben im Norden, über der Römersiedlung, war aus Völkerwanderungsstürmen ein starker Bischofssitz erstanden. Karolinger, Ottonen und noch die Hohenstaufen stützten dessen Macht, brauchten die starke Burgstadt als Stütze zu Römerzügen über die Alpen, brauchten die altgefestigte Kultur des Platzes zur Stärkung des jungen Imperiums. An Augsburgs Mauern, das der große Ulrich, der streitbare Bischof, verteidigte, brach sich der Ungarnsturm (955). So manches Mal brauste das Ringen der Stammesgewalten, der schwäbischen und der bayrischen, deren Grenze der Lech ist, verheerend über die Zinnen Augsburgs hin, legte Teile der Burgstadt in Trümmer, und vor allem der Kaufmannsstadt, die südwärts entlang der alten Römerstraße sich entwickelt hatte. Allmählich erstarkte der Kaufmannsmarkt. Ein Ringen zwischen dem bischöflichen Stadtherrn und der zu Selbstbewußtsein erwachenden Bürgerschaft hob an. Durch Jahrhunderte währt es. Die Bürger erweitern ihre Stadt gegen Süden. Das alte Ulrichsstift dort oben wird ihre Hauptkirche: die politische Spannung gegen das Domviertel bekommt ihren baulichen Ausdruck. Bis endlich die Bürger obsiegen, alle Gerechtsame der Stadtherrschaft in ihre Hände bringen. Der Bischof – noch im 14. Jahrhundert sollte durch stolze Chorerhöhung der bischöfliche Anspruch bekundet werden – wird auf das Domgeviert beschränkt. Im 15. Jahrhundert bauen die Bürger St. Ulrich großartig aus. Doch je mehr der alte Zwiespalt Bischof – Bürger in die Alleinherrschaft der Bürger einschmolz, um so weniger entsprach das alte Gegenüber Dom – St. Ulrich der wirklichen politischen Lage. Der Augsburger Handel hatte die Welt erobert. Auch die Verlagerung des Welthandels auf Uebersee, seit der Entdeckung Amerikas, hatte ihn nicht gebrochen, wie jenen der italienischen Mittelpunkte des Levantehandels. Die Augsburger Kaufherren hatten rechtzeitig das Steuer herumgeworfen, hatten in Spanien und Portugal, von dort aus in Amerika Faktoreien errichtet, ja Kolonien erworben (die Welser in Venezuela). Ausschließlicher als je entschied die Bank der Fugger über den Markt Europas, ja über Europas Politik. Augsburg, die freie Stadt des Reiches, ist Weltstadt. Es symbolisiert seine Macht im neuen Rathausbau, der die gegensätzlichen Teile des Stadtkörpers zur Einheit bindet. Aber bauliche Sinnfindungen folgen dem wirklichen Kräfteauftrieb meist erst nach. Zur Zeit des Rathausbaues (1615-20) ermatteten schon manche der grundlegenden Kräfte für Augsburgs Weltstellung. Die Hochblüte der Augsburger Malerei und Plastik (der Holbein und Burgkmaier und Amberger und Daucher und der andern) war mit der Hochblüte der Augsburger politischen und wirtschaftlichen Machtentfaltung zusammengefallen. Wenn die Kaiser ihre Reichstage nach Augsburg beschieden, wenn Maximilian in seiner geliebten Stadt die strahlenden Feste feierte, oder wenn unter Karl V. den Ständen des Reichs und dem draußen lauschenden Volke die »Confessio Augustana« vorgelesen wurde, dann konnte sich die freie Stadt des Reiches auch als dessen Mitte fühlen. Ein Jahrhundert später wankten schon einige der größten Handelshäuser. Vor allem: damals fraß der Wurm religiösen Zwiespalts an der Kraft des Gemeinwesens. Mag man auch die Duldung betonen, mit der innerhalb der Mauern Augsburgs das Gegenüber der Religionen stets geachtet wurde, von außen hieben doch Fäuste roh herein (Restitutionsedikt). Und als die Drangsale des dreißigjährigen Krieges dann auch Augsburgs Macht zertrümmert hatten, da war die Bürgerkraft zerbrochen. Und was einst Augsburgs Stolz war: daß es keinem Stadtherrn außer dem Kaiser selbst dienstbar war, das wurde nun sein Verhängnis. Kein Landesherr, wie sie allüberall die Macht erobert hatten, baute Augsburg zur Residenz, zur Mitte eines Landes aus. Residenzen der Nachbarländer stiegen empor. Augsburg versank neben ihnen. Wohl trieben auch im 18. Jahrhundert noch die alten Ueberlieferungen weiter: in Kupferstich und Malerei und manchen Bauten ward in der Kunst viel Ansehnliches geleistet. Und breit begründete Wirtschaftszweige lebten fort. Aber die Einverleibung der Reichsstadt in das Königreich Bayern (1806) besiegelt das Schicksal des einst so mächtigen Augsburg. Es wird Provinzstadt eines stammesfremden Landes. Als dann im 19. Jahrhundert der alte Genius Augsburger Arbeitskraft sich wieder regt, als unter tatkräftigen Führern machtvolle Industrien die Wasserkräfte nutzten, und neue Mittelpunkte des wirtschaftlichen Lebens hier begründeten (Riedinger, Buz, Diesel, Parseval), da fehlte doch schon jene sinnvolle Einbindung der Arbeitsleistung in den Herzschlag unserer Städte. An den Rändern Augsburgs wuchsen die großen Fabriken auf – im Herzen der Stadt blieb es still. München zog die geistigen Kräfte des Landes an, Augsburg, ehemals der Vorort Schwabens, müht sich, seine kulturelle Bedeutung zu erhalten und in der Sammlung schwäbischen Wesens die eigene Aufgabe zu begreifen.
Und doch – wie falsch wäre es, wollte man eingedenk solch geschichtlicher Ueberschau Augsburgs architektonische Größe nur als Zeugnis eines Vergangenen sehen. Diese Größe ist da, ist gegenwärtig, so lang diese Formen uns grüßen. Die stolze Kraft der Form ist unabhängig von ihrer Begründung durch äußere Geschicke. Ein Anruf des Ewigen hat sie gezeugt und ein Anruf des Ewigen bleibt sie und ihre Wirkung besteht, so lange es Wesen gibt, deren Empfinden durch sie erweckt wird. Das mag begreifen, wer auch nur einmal aufgeschlossenen Sinnes durch die großen Straßen Augsburgs gewandert ist: an einem Spätnachmittag im Nachsommer vielleicht, wenn diese breiten Straßentäler die tiefere Sonne sammeln, wenn diese ruhigen Häuserwände das klare Licht hinaufheben zu den ausdrucksvollen Konturen ihrer Giebel, die die Himmelsbläue in fremdartige Figuren auszacken, wenn das verzauberte Grün der patinierten Kupferdächer über Türmen und Dächern der Kirchen, des Rathauses gegen die unendliche Bläue steht, wie sie manchmal im Süden Deutschlands aufrauscht. Dann leuchten diese Formen alle in einer urtümlichen Größe. Das körperhaft Gewichtige der Hausblöcke lagert in frohem Raum und über das Alltagsleben der Straßen steigt die Feier klassischer Sinnreife auf. Ja, diese Stadt hat eine klassische Form gezeugt, klassisch verstanden als geklärter Ausgleich vieler Strebungen und Zwänge. Deutsche Klassik ist es, die uns hier in uns selbst steigert, die uns zu uns selbst zurückruft: ein ruhig tiefes Atemholen hinauf zur Form, voll Innigkeit im Kleinen und manchem jähen Vorstoß hin und wieder und doch voll bedächtiger Sachlichkeit in der Begründung. Im Augsburger Stadtbild ward uns die seltene Gnade deutscher Klassik geschenkt.
Und jetzt auch geht uns auf, daß es schwäbische Art ist, die hier in Stein gestaltet, daß hier in Architektur der selbe Stamm sein Wesen prägte, der in der Dichtung einem Schiller, einem Hölderlin, einem Mörike die Sprache schuf, der in Hegel und in Schelling die klassischen Denker des deutschen Idealismus zeugte. Jetzt wird uns erlebte Wirklichkeit, daß aus dieser gleichen Erde, die Augsburg formte, der ältere Holbein, der große, die tiefen Kräfte seiner Bilder hob, die dann sein berühmterer Sohn noch klären durfte. Und daß Mozarts Vater in Augsburg lebte! Ja, es ist der Genius des schwäbischen Stammes, der sich in dieser Stadtgestalt sein architektonisches Denkmal geschaffen hat. Wir wollen versuchen, den durchgehenden Formcharakter der Augsburger Architektur noch einmal und nun vom Schwäbischen aus zu begreifen.
Wieder muß mit der »Stadt als Gestalt« begonnen werden. Denn darin zuerst und zuletzt kündet sich der schwäbische Grundzug Augsburgs, daß er so sicher und so voll innerer Klarheit zur Gestaltung hinfand. Wie hier die großen Gegensätze innerhalb der Stadterscheinung, wie die Zeitenschichtung sie prägte, zu klarem Ausgleich abgewogen, wie sie einer beherrschenden Mitte untergeordnet werden, das ist echt schwäbische Art. Norddeutsche Städte, auch die fränkische Stadt, ziehen gerade aus der Herausarbeitung der Gegensätze die Kraft ihres Ausdrucks: die Burg wird gegen die Stadt gestellt, oder Kirchen der verschiedenen Sprengel werden gegen einander ausgespielt. In schwäbischen Städten herrscht meist ein Hauptklang: Rathaus oder Münster oder die Burg, dem alles übrige im Weichbild sich ergibt. Man mag hier vom lyrischen Grundzug des schwäbischen Wesens sprechen. Daß es Dramatik nicht ausschließt, erweist wieder Augsburg, wo solcher Einklang ja keineswegs spannungslos sich ergibt, sondern in langsamer Selbstbewußtwerdung gleichsam errungen wird. Die hier geprägte Form ist noch durchschüttert von solchen bewältigten Spannungen. Noch immer – unter allem Ausgleich – spürt man das Gegeneinander von Domstadt und St. Ulrichsviertel, aber – und das schafft im lebendigen Betrachter das innerlich Erregende dieses Stadterlebens – man spürt doch zugleich auch die Sammlung darüber: das Einspielen der Waage unter dem Gewicht des Mittelblocks. Um dieses Grundgerüst der Gestalt schieben die andern Stadtteile sich an, schaffen das breite Fundament und dienen.
Aber in solchem Dienst bewahren sie doch ein Eigenleben ihrer Gestalt. Je tiefer wir in die Eigenart der Augsburger Stadtbildung eindringen, umso nachdrücklicher spüren wir: dies Gestaltbilden der schwäbischen Städte beschließt sich nicht in der Herausarbeitung des beherrschenden Hauptklangs. Gestalt ist Fügung einzelner Glieder zum sinnvollen Ganzen. Sie erfüllt sich um so tiefer, je klarer sie die Teile dartut, die sie zum Ganzen bindet. Augsburg gliedert sich monumental auf. Halten wir uns nur gleich wieder den Gegensatz vor Augen, wie andere Städte die Teilgefüge, wie sie aus jahrhundertelangem Werden sich gebildet haben, doch letztlich wieder ineinanderschleifen. Die Straßenzüge und Platzbildungen werden in große Gesamtbewegungen hineingezogen. Man nehme Nürnberg als Beispiel: Vom Lorenzerstadtteil stößt eine Gesamtbewegung durch die Sebalderstadt hindurch hinauf bis zur Burg. In Augsburg hätte die Grundanlage der Stadt entlang der alten Römerstraße gerade zu solch durchgängigem Bewegungszug verlocken müssen. Bezeichnend, wie das schwäbische Empfinden – keine örtliche Nötigung und kein Zeitstil, wohlgemerkt! – dagegen sich sträubt. Große Riegel gleichsam werden vorgeschoben, um die durchziehende Bewegung zu unterbrechen, zumindest zu dämpfen. Kirchenleiber, Hausfronten springen in den Straßenzug ein, bremsen gleichsam den Bewegungszug. Vor allem die Ansatzstellen der Teile werden betont. Die (jetzige) Mittelzelle der Gesamtstadt, das Rathausviertel, wird so gegen Norden und Süden abgeriegelt. Gegen Norden schiebt sich, kräftig in die Flucht der Karolinenstraße einspringend, das sogenannte Riedingerhaus vor, verstellt gleichsam den Eingang in die Bischofsstadt. (Dieses ein Neubau der ersten Gründerzeit an Stelle eines prachtvoll geschlossenen spätmittelalterlichen Geschlechterhauses.) Gegen Süden schafft die in die Flucht der Maximilianstraße tief einspringende Flanke des Chores von St. Moritz die stillende Abschlußwand. Man wende nicht ein, daß hier und dort bestimmte örtliche Nötigungen oder Zwecke die Grundrißbildung bestimmt hätten. Zwecke sind nie und nirgends ausschlaggebend in der Formung ausdruckhaften Lebens. Sie können so und auch anders befriedigt werden. Die Art, wie sie verwendet werden, ist das Entscheidende. In Augsburg lassen sich die Beispiele ganz bestimmter Verwendung häufen. Immer werden Teile der Gesamtgestalt ausgesondert, werden in sich wieder zu klaren Untereinheiten durchgestaltet und in Gelenken untereinander verbunden. Die geniale Leistung des großen Stadtbaumeisters Elias Holl war es, daß er diese Gestalttendenz des schwäbischen Augsburg erkannt und durch bewußte Kunstschöpfungen noch gesteigert hat. Ein klassisches Empfinden für die in sich ausgewogene Gestalt, die aus gegliederten Teilen sich zusammenfügt, hat hier geschaffen.
Dieser Zug zum Gestalthaften hängt engst mit einem andern zusammen, den wir allüberall in Augsburg als Stimmungsmoment am Werk sehen. Wir treffen bei seiner Verfolgung auf die reinste Art schwäbischen Raumempfindens. Wie stark sich die deutschen Stämme gerade in ihrem Raumempfinden unterscheiden, das muß dem lebendigen Städtewanderer längst aufgegangen sein. In fränkischen Städten treffen wir auf ein bewegtes, fast hastiges Raumerlebnis. Der Schwabe liebt die Raumstille, die klare Umfriedung der Räumlichkeit, das ruhige, großrhythmische Ausschwingen der einzelnen Raumzüge. Wir erwähnten schon, wie dies Bestreben dem andern, der Gestaltbildung, dienstbar gemacht wird. Jetzt mag auf seine eigenste Auswirkung geachtet werden. Das Vorschieben breiter Wände in die durchgehenden Straßenzüge hinein begegnet auch, wo keine Unterteilungen der Gestalt betont werden sollen. Mitten im Domviertel schafft es eine tiefe Beruhigung der Bewegung: der Ostchor springt weit gegen den ursprünglichen Verlauf der Römerstraße vor, zwingt ihn zu umständlichem Ausweichen. Gewiß: jener Bauherr wollte einen großartigen Chor, er konnte ihn nur gegen Osten vorschieben und so mußte die alte Straße ausweichen. Zugegeben! Aber dieser Zweck kam eben wieder einem Wunsch entgegen: die Straßenbewegung wird aufgehalten, der Raum wird beruhigt. Und gleich nördlich des Domes stand bis ins 19. Jahrhundert noch einmal eine solche »Raumschleuse«: das alte Frauentor, das die dort enge Straßenschlucht quer verstellte. Es hatte seine wehrtechnische Funktion längst eingebüßt, man hatte es stehen lassen, weil es einer Empfindungsabsicht sehr wohl diente. Unter solchem Gesichtspunkt muß man auch die ehemalige Situation in der oberen Maximilianstraße begreifen. Heute öffnet sich dort oben ein breites Straßental, dessen tiefem Raumzug auch die mächtige quergestellte Ulrichskirche kaum als Abschluß genügt. Ehemals war der Herkulesbrunnen hinterfangen vom Stirnbau einer schmalen Häuserzeile, die sich von hier aus bis gegen St. Ulrich hinauf erstreckte (Siegelhaus des Elias Holl mit den anschließenden Wein- und Salzstadeln). Man muß sich klarmachen, wie diese Querwand mitten im Hauptstraßenzug der Stadt den Raum anhielt, ihn sammelte und ihn zurückfluten ließ auf den so gebildeten Platz.
So kommt uns nun zum Bewußtsein: dies Raumempfinden muß zu großen, klar umwandeten Platzbildungen hindrängen. Wo war in dem auf verhältnismäßig schmalen Brühl erbauten Augsburg, dem die alte Römerstraße als Wuchsgerüst gedient hatte, die Möglichkeit für solche Platzbildung? Die aus frühmittelalterlichen Zeiten übernommene Grundanlage verwehrte sie. Aber das schwäbische Empfinden weiß den durchlaufenden Zug der Straße doch umzubilden zum Platzcharakter, diese einspringenden Gebäuderiegel eben sind es, die den Straßenraum stauen und zu Platzraum sammeln. Die Folge der Plätze von der Bischofsstadt bis hinauf zu St. Ulrich: die Weißmalergasse, der Brotmarkt, der Weinmarkt, – sie alle sind aus dem Straßenlauf gleichsam herausgeschnitten, durch einspringende oder gar eingebaute (das »Tanzhaus« bei St. Moritz, das bis ins 17. Jahrhundert stand) Querwände voneinander geschieden. Man begreift nun auch, daß der Abbruch des Siegelhauses und der anschließenden Städel zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nur Sünde gegen den Geist des Gewordenen, des künstlerisch Geformten war, sondern auch gegen den Geist schwäbischen Gestaltens. Die so entstandene fast allzu weite Sicht gegen St. Ulrich verletzt empfindlich den schwäbischen Grundzug der Stadt.
Was auf der großartigen Hauptader der Stadt zu monumentalen Marktbildungen führte, das wirkt intimer und anspruchsloser allüberall in den Straßen und Gassen. Man liebt hier den in sich beschlossenen Raumkasten. Nirgends zielt man auf ferne Blickpunkte, die weiter locken in ein Unendliches. Im Gegenteil: wo ein mächtiger Blickpunkt sich auswirken könnte, wie der Perlachturm z. B., da wird er doch eher als Abschluß der Blickbahn verwertet, als Dämpfung also des schweifenden Empfindens, als Sammlung zu klarem Hier. Und alle Straßen in Augsburg schließen sich zu Raumeinheiten zusammen. Klare Häuserwände umstellen gleichsam einen Innenraum Die Gassen verschleifen sich nicht in unübersichtlicher Fortführung, in Kurven und Biegungen. Meist sind sie abgeschlossen durch ein vorspringendes Haus, durch einen kleinen Brunnen, zumindest durch eine Monumentalsicht, die über die Dächer hereinwirkt. Man lasse sich durch das Gassengeflecht der Unterstadt treiben –: auch hier noch dies klare Sich-Beschließen ruhiger Räumlichkeiten. Straßenabzweigungen, in fränkischen Städten der willkommene Anlaß zu besonderer Betonung der Raumbewegung, werden in Augsburg in ihrer Schärfe gemildert. Sehr bezeichnend das Eck von Hlg. Kreuzerstraße und Kesselmarkt: dem Aufwärtszug des Kesselmarkts werden breite Giebel entgegengestellt, die den Blick immer wieder aufhalten, ihn nicht abgleiten lassen von den Wänden, an denen der Raum sich sammelt.
Die architektonische Entsprechung für solches Streben nach Raumruhe ist der schwer lagernde Körperblock. Vom Rathausbau, der dies Blockhafte monumental dartut, wird noch zu sprechen sein. Hier sei auf das einfache Bürgerhaus hingewiesen, das ohne allen Anspruch auf bewußt künstlerischen Ausdruck das reine Empfinden der hier lebenden Menschen aussagt. Breitbrüstig steht es auf der sichern Erde. Fünfachsige Giebelfronten sind auch in den einfachen Vierteln der alten Stadt keine Seltenheit. (Das reiche Danzig geht fast nie über die dreiachsige Fassade hinaus!) Aber auch wo der teure Platz die schmale Front fordert, treibt der Block seine gewichtige Körperlichkeit vor. Die sehr flachen Erker treten aus der Wandfläche kaum heraus. (Wie beunruhigen in fränkischen Städten gerade die Erker die Wandfläche!) Vorkragungen der Stockwerke, in niederdeutschen Städten Anlaß zu wilder Aufreißung der Straßenwände auch in der Wagrechten, – hier in Augsburg bleiben sie zurückhaltend und still, zerteilen nicht den Gesamtblock, dem sie angehören. Gelassen schwingen die Giebel aus, mit ruhigen Figuren sich bescheidend. Breite Traufenfronten, zwischen die Giebelhäuser gemengt, stärken den Klang ruhig gesicherten Gelagertseins dieser Häuser. Die bunten Fresken, die ehemals die getünchten Wände der Ziegelbauten schmückten, nicht nur die stolzen Fassaden der Patrizierhäuser oben, auch die bescheidenen Bürgerhäuser der Vorstädte, – sie waren wie farbiger Niederschlag des stillen Raumglücks, in dem schwäbisches Wesen seit je seine Art erwies. Ist man solcherweise bis zum unscheinbaren Kleinbürgerhaus hinunter dem schwäbischen Grundzug der Augsburger Architektur nachgegangen, so mag man abschließend das Ergebnis nochmal nachprüfen an den Großbauten der stolzesten Zeit, der Wende des 16. und 17. Jahrhunderts. Das gleiche hier und dort. Und mag noch einmal zurückfinden zum Ausgangspunkt der Betrachtung: zum großen Einklang, in dem hier die monumentale Form zur Gestalt sich bindet. Er gründet auf dem ruhig selbstgewissen Zug natürlicher Regung, die – ausgewogen in sich selbst – einem Klassischen zureift.
Von wo auch der Betrachter dem Stadtgebild sich nähert, er wird sogleich und unwillkürlich ins Herz der großen Raumabfolge getrieben: dorthin, wo Rathaus und Perlachturm die beherrschende Mitte betonen. Ursache dessen ist nicht so sehr, daß Straßenzüge von allen Seiten hier sich sammeln. Der durchlaufende Zug der alten Römerstraße vom Dom in Richtung St. Ulrich müßte einer Sammlung dort entgegenwirken, – wären nicht auch die baulichen Massen der Gesamtstadt alle zu dieser Mitte hingeordnet. Zwischen den beiden Zielbauten, dem Dom im Norden und dem Ulrichsmünster im Süden, schufen die Jahrhunderte, schuf vor allem der große Augsburger Meister Elias Holl die mannigfachen Gelenkbauten, die eine eindeutige Richtung der Gesamtstadt zur Mitte hin sichern. Hier also sprudelt der Herzquell der Stadt. Und hier auf dem zwischen Straßenausläufen ausgesparten Platz hat stolzer Bürgersinn denn auch ein Denkmal seiner Ursprünge errichtet: den großen Brunnen, auf dessen Sockel der Stadtgründer, der römische Augustus gebietend steht. Rings auf den Rändern des weitgeschwungenen Beckens lagern allegorische Figuren, Männer- und Frauengestalten, in denen man Darstellungen der vier Flüsse, die Augsburg Kräfte spendend umspülen, hat sehen wollen. Hubert Gerhard, ein Niederländer, in Italiens modernster Werkstatt (Giovanni da Bologna) geschult, hat das Gesamtmodell und die Figuren geschaffen. Augsburger Meister haben den Guß (Wolfgang Neidhardt), die Steinmetzarbeiten und das Gitter besorgt (1594). Eine etwas kühle in den Frauenfiguren dennoch zarte Monumentalität wirkt in den Bildwerken. Die selbstverständliche Großartigkeit der Schöpfung paßt sich dem Charakter der Augsburger Architektur ein.
Die eine Seite des Platzes festigt der »Neue Bau« des Elias Holl, in strenger italienischer Ordnung dem schiefen Platzraum Maß und Klarheit sichernd. Jenseits des großen Straßendurchzugs, gegen Osten, schaffen Perlachturm und Rathaus dem Platz die monumentale Begrenzung. Den Perlachturm hatten die Bürger schon früh als Belfroi-artiges Wahrzeichen ihrer Macht erbaut. Elias Holl hat ihn anläßlich der Rathauserbauung bedeutend erhöht, mit der süddeutschen Zwiebelkuppel neu gekrönt. Der Turm ist westlich einer alten Kirche vorgebaut, der noch aus romanischer Zeit stammenden Peterskirche, vielleicht der ältesten Kaufmannskirche des mittelalterlichen Marktorts: breitbrüstiger Hallenraum in romanischen Verhältnissen und Einzelformen, Reste frühgotischer Fresken an den Wänden. Beherrschend daneben das Rathaus. In ihm gipfelt die städtebauliche, aber auch die einzelbauliche Leistung des Elias Holl. In klarer Massengliederung entfaltet sich dieser großartig aufgehende Block: dem in West-Ost-Richtung gestellten Haupttrakt ist ein schmälerer Gegentrakt (Nord-Süd) durchgeschichtet, dessen Wirkung zwei kräftige Zwiebeltürme verstärken. In den Nischen zwischen Längs- und Querbau gehen niedrigere Ecktrakte auf, die dem Gesamtblock bei allem Empor der Fassadengliederung die ruhige Lagerung sichern. Im Innern des Haupttrakts die Uebereinanderfolge der Säle, vom dritten bis fünften Geschoß durchgehend (die Gesimsführung der Fassade durchstoßend) der »Goldene Saal«, die größte Raumschöpfung in deutschen Landen seit den Zeiten der Dome. Weltliche Machtentfaltung tritt das Erbe der überweltlichen Symbolik an.
Wer dieses Bauwerk, das bedeutendste der Renaissance in Deutschland, richtig gesehen, der hat das Wesen Augsburgs, der hat überhaupt die Entfaltung schwäbischen Wesens ins Monumentale erfaßt. Die Straßenzüge, die von hier gegen Nord und Süd ausziehen, sind wie langer Nachhall des großen Grundmotivs: gegen Norden die Karolinenstraße (ehemals Weißmalergasse) mit der ruhig fließenden Bewegung der Giebel, den flach angelegten Erkern und den breiten ehemals bemalten Häuserwänden, mit dem einspringenden Häuserriegel vor dem Eintritt in die Bischofsstadt; gegen Süden die untere Maximiliansstraße (ehemals »Brodmarkt«), die – fein gekurvt – in dem einspringenden Chor der Moritzkirche den breitwandigen Abschluß findet. So drängen beide Straßenflügel wieder zur beherrschenden Mitte zurück.
Vor dem Chor der Moritzkirche wird der Straßenzug wieder zum Platz gesammelt. Hier stellten die Weber im 16. Jahrhundert ihr Zunfthaus hin, einen gotisch gereckten Block, den das 17. Jahrhundert neu bemalte. (In diesen Jahren mit neuen der Merkurbrunnen den Kraftkern des Platzes. Elastisch federt der Kaufmannsgott Merkur vom Brunnenstock hoch. Adrian de Vries, auch er ein in Italien geschulter Niederländer, hat die Figur geschaffen (1598). Der springende und doch feste Kontur der Göttergestalt ruft die stilleren Giebel der umstehenden Häuser in sein wagemutiges Leben.
Am Merkurbrunnen eröffnet sich die große Sicht hinauf zur Ulrichskirche. Der gewaltige Straßenzug wird ungefähr in seiner Mitte noch einmal unterbrochen von einem Monumentaldenkmal: dem 1602 aufgestellten Herkulesbrunnen. Wieder wird die eine der Grundkräfte Augsburgs, das die Räder treibende Wasser in allegorischer Kunstform verherrlicht. Gewiß: diese Triumphstraße gehört zum Großzügigsten, was deutsche Städtebilder aufzuweisen haben. Und doch – sie ist zu groß, zu weit gespannt. Die Maßstäbe für die anliegenden Bauten, für den beschließenden Kirchenbau von St. Ulrich gehen verloren. Die Verhältnisse von Gesamtraum und ihn begrenzenden Körpern sind beziehungslos, der herrliche Brunnen ertrinkt gleichsam in der Weite dieser Sicht. So haben frühere Zeiten, Zeiten, da einem fülligen Leben die gemäße Form entstieg, nicht gestaltet. Erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts öffnet sich diese Weite. Damals ward das Siegelhaus abgerissen, das Elias Holl (an Stelle eines älteren Baus) als Folie für den großen Brunnen errichtet hatte, und die gesamte Häuserzeile dahinter. Wie dieser Eingriff gegen den Geist schwäbischen Wesens gesündigt, haben wir schon vermerkt. Auch unten (im Norden) stand ehemals ein abschließender Bau: das städtische »Tanzhaus«, ein Fachwerkbau, dessen Außenwände übertüncht und mit Malereien geschmückt waren. So war ehemals zwischen Merkur- und Herkulesbrunnen ein geschlossener Platzraum eingespannt: der repräsentative Weinmarkt, auf dem alltags der große Güterverkehr (vor den Speichern und der Stadtwaage) sich abspielte, auf dem bei feierlichem Anlaß die Gäste Augsburgs, Kaiser und Könige, Fürsten und ihre Abgesandten empfangen wurden. Zu Seiten standen die prächtigen Patrizierhäuser, reich bemalt. Das Haus des großen Jakob Fugger, ganz in der einfachen Tradition der Augsburger Bürgerhäuser gehalten, nur in viel mächtigeren Ausmaßen, säumt die rechte Platzwand. Einst schmückten es Fresken des Hans Burgkmair (heute Erneuerungen der letzten Jahrzehnte). Im Innern die klingenden Arkadenhöfe, in die eine verwöhnte, geistig anspruchsvolle Gesellschaft zu Spiel und Tanz aus prächtigen Sälen herunterstieg. Benachbart der schönste Gasthof Deutschlands »Zu den drei Mohren«, ein Palais aus Rokokozeiten mit reichem Schmuck.
Dem Herkulesbrunnen, dem bedeutendsten Werke des Adrian de Vries, werden heute nur klug gewählte Ansichten gerecht. Den Brunnenstock, auf dem der kämpfende Halbgott steht, säumen allegorische Figuren, an den Seitenflächen sind Relieftafeln eingelassen. Die unbeirrbare, hochkönnerische Formkraft, die Giovanni da Bologna seinen Schülern vererbt hat, reift hier zu vornehmer und doch auch zarter Wirkung aus.
Weiter hinauf, dem leisen Anstieg des Brühls folgend, reihen sich die Giebel- und Traufenfronten alter Bürgerhäuser, die sich zu ruhigen Konturen sammeln. Die breite Nordwand der Ulrichskirche legt sich quer vor den ankommenden Straßenzug. Der kleine Bau der protestantischen Kirche springt in die Straßenachse vor, bringt reizvolle Verlebendigung. Sein Türmchen wirkt wie der kleinere Bruder des Ostturms am Hauptbau, der in die Weite winkt. Burkard Engelberger, der Erbauer der Kirche, hatte zwei Osttürme geplant. Nur einer war – ein Jahrhundert später (um 1600) und in anderer Form – zur Ausführung gekommen. Der springt nun wie ein großartig gereckter Arm am Brühlhang auf, den von ferne Kommenden rufend, daß er eintrete in die stolze Stadt. Das innere, ein spätgotischer Basilikaraum, ward nach 1600 neu ausgestattet. Und die Art, wie die Altäre (des Hans Degler) und die prächtige Kreuzigungsgruppe in Bronze (des Hans Reichel) aufgestellt wurden, ist wieder bezeichnend für schwäbisches Raumempfinden: sie werden als breite Blickfänger, gegen den Raumzug der gotischen Kirche, errichtet. So wiederholt das Innere, was der Gesamtbau im Stadtgefüge bewirkt: die Beruhigung des Raumes.
In beschaulicher Ruhe liegt auch heute noch das Domviertel (im Norden). Die belebte Hauptader der Stadt, die es durchspült, dem Domchor im Bogen ausweichend, macht diese Ruhe nur fühlbarer. Mittelpunkt ist der alte Dom. Er birgt in seinem Kern noch den ottonischen Bau, den Bischof Luitolf ums Jahr 1000 über älteren Bauten errichtet hat. Adelheid, Ottos des Großen Witwe, hatte tatkräftigen Anteil am Aufbau genommen. Der alte Mainzer Dom und der ursprüngliche Bau von St. Aposteln in Köln waren die nächsten Verwandten des Augsburger Bischofdomes (zweichörige, flachgedeckte Basilika, Hauptchor und Querhaus im Westen, Türme neben den Ostendigungen der Seitenschiffe). Im 14. Jahrhundert war dem damals gotisierten und eingewölbten Langhaus ein Ostchor angefügt worden, ein hoher Massenbau der Parlerschule, der die alte Reichsstraße ihm auszuweichen zwang (vergl. o.). An der Ausstattung haben viele Jahrhunderte gearbeitet. Da sind noch die beiden Bronzetüren aus dem 11. Jahrhundert (heute am westlichen Südportal), die ehemals die Osteingänge zu den Seitenschiffen schlossen. Im Obergaden des Langhauses leuchten die Glasgemälde des 12. Jahrhunderts. Kapellen und Kreuzgang bergen die lange Reihe der Grabdenkmäler und Epitaphien. In den Altären prunken die Werke der Augsburger großen Maler. Die Wiederherstellung des Doms in diesen Jahren hat vor allem im Innern – durch Rückgewinnung der gotischen Lichtstärken (hellerer Putz) und Aufdeckung alter Wandmalereien – den alten Glanz des Doms erneut. – Rings um das alte Gotteshaus der weite »Fronhof«. Ehemals war er gegen den Straßenlauf (Osten) abgeschlossen durch die kleine Dreikönigskapelle und die größere Johanniskirche, die mit dem Domchor gegen Süden fluchteten. Seit deren Abbruch (Anfang des 19. Jahrhunderts) bedroht auch diesen Raum die Leere. Westlich des Doms lagern die Baulichkeiten der ehemaligen bischöflichen Residenz. Hier hat schon in romanischen Zeiten die bischöfliche Pfalz gestanden. Gotik und Renaissance haben erweitert und erneut, Barock und Rokoko gaben die letzte Gestaltung. – Jenseits des großen Straßenzugs – östlich des Doms – bergen sich in stillen Gassen (den verschiedenen Pfaffengäßchen) hinter hohen Mauern in lauschige Gärten geschmiegt die Kurien der Domherrn. Sie reichen bis zum Brühlrand im Osten. Unbehelligt vom Stadtgetriebe träumen sie noch heute das beschauliche Leben unter der Herrschaft des Krummstabs.
Um dieses Weichbild der bischöflichen Stadt schwingen – dem Ovalkern angeschmiegt – die alten Gassen und engen Straßen, an denen Klöster (Jesuiten) und Stifte (Hl. Kreuz) sich angesiedelt hatten. Mauern bezirkten ehemals diesen friedlichen Bezirk, auch noch, als die wachsende Stadt ihn rings schon umschlossen hatte. Tore (Klinkertor, Kreuzertor, Frauentor, Stephingertor) führten hinaus, nördlich zur Georgenvorstadt, in der sich unterm Schutz der alten Georgenkirche die kleinen Gewerbe niedergelassen hatten. Noch heut wahrt diese Georgenvorstadt ihren eigenen Charakter: lauter, geschäftiger als im Domviertel, kleinteiliger – auch im Baulichen – und unruhig eifriger als die monumentalen Gevierte im Süden. Der Kleinbürger haust, wo ehemals die Hauptstadt Rätiens stolz gebot. Am Hangabfall (gegen Norden) trutzt noch das Wertachbruckertor (des Elias Holl), gegen Osten das »Lueg ins Land«, ein Rest der alten Stadtbefestigung mit bröckelndem Gemäuer.
Eine einzige wirksame Gegenachse ist gegen die Hauptachse der Oberstadt gespannt: sie zieht neben dem Perlachturm abwärts gegen Osten. An ihr hat sich die Jakobervorstadt angesiedelt. Gleich zu Füßen des Perlachs hat Elias Holl einen kleinen Platz geschaffen, hat seine ruhig lagernde Metzig daran gesetzt. Schwäbische Giebelbehäbigkeit wird an diesem Bau zu klarer Kunstform gesteigert, der massige Längsblock bekommt durch die in ausgewogener Spannung verharrende Breitfassade den sammelnden Abschluß. Der Platz entläßt gegen Osten die schmale Straße, die ihren Namen von der sie rechts säumenden Klosterkirche der Barfüßer erhielt. Deren Chor stößt auf den Lechkanal hinaus, der Innenstadt und Jakobervorstadt trennt. Holl hat den Kanal durch eine neue »moderne« Brücke überspannt, Ladenbauten an den Seiten, der Brückeneingang vom damals erhöhten Barfüßertorturm – längst abgetragen – monumental betont. Heut zieht die Brücke fast unbemerkt über den Wasserarm hinüber. – Die Jakobervorstadt wahrt noch heute ihr eigenes Gesicht gegenüber der Oberstadt: intimer, hurtiger, dabei nicht ohne Größe. Bewegte Giebelfronten geleiten uns bis zur Kirche, die mit der Straße fluchtet. Aber ihr Chor ragt frei hinaus in den großen Straßenplatz, zu dem sich die enge Jakoberstraße nun weitet. Das ist wieder echt schwäbische Räumigkeit. Gelassen ziehen die breiten Häuserfronten den ruhigen Reigen aus, einspringende Giebel dämpfen die Bewegung, die aus der engen Straße weitertreiben will. Der Torturm im Osten schafft den stark körperlichen Abschluß. Hier in der Jakobervorstadt, die heute so dicht verbaut ist, war ehemals viel freies Gelände. Da konnten die Geschlechter ihre Gärten mit den Prunkhäusern anlegen. Und da war auch Platz genug, die großartige Stiftung auszubauen, welche die Söhne des großen Jakob Fugger ihren armen Arbeitern errichteten (1519). Als eigenes Geviert aus den übrigen Vorstadtvierteln ausgeschieden träumt hier die »Fuggerei« in ihrem Frieden. Vorbildlich ersonnen in Gesamtanlage – Reihenhäuser in bestmöglicher Ausnutzung der Sonnenseite – und in der Einzeleinrichtung der Wohnungen dient hier seit 400 Jahren eine hochherzige Stiftung den Armen. Und auch hier im anspruchslosen Nutzbau der Siedlung hat schwäbisches Wesen gestaltet: wie klar hier die niedrigen Baublöcke gegen den Raum stehen, wie die gleichmäßig gereihten Giebel die Stimmung dämpfen, wie gegengestellte Giebel die anhebende Bewegung mildern und wie der kleine Brunnen sie zur Raumstille sammelt, – das ist ganz gleichen Wesens wie droben, wo Monumentalbauten dem schwäbischen Charakter Augsburgs geformte Symbole schaffen. So grüßt uns hier am Beschluß unserer Wanderungen noch einmal der Inbegriff Augsburger Wesens: über sachlicher, fast nüchterner Begründung dieser Siedlung steigt der große Gedanke auf, der in die Zukunft weist, – und aus einfachen Formen, die ihn hier fassen, entwickelt sich ruhigen Atems und voller innerer Sicherheit die klare Monumentalität des Augsburger Stils.