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Ich kam erst ziemlich spät im folgenden Herbste auf das Land hinaus, die Blätter des wilden Weins an den Gartenmauern waren schon blutig rot gefärbt, das Laub der Linden nahm gelbe und braune Tinten an, und der scharfe Nordwest, der über die Stoppelfelder herangeweht kam, riß sie, als ob ihn diese Metamorphose zornig mache, zu Boden, zu Hunderten von den Ästen herunter. Über der Landschaft hing ein grauer Himmel, an dem von Zeit zu Zeit Kranichschwärme südwärts eilends dahinzogen, ihren melancholischen Schrei ausstoßend, als ob sie Wehe riefen über die Welt, der sie entflohen, über den ganzen irdischen »Vivisektionsstall« unseres Herrgotts. In den Zimmern machte sich eine Kälte fühlbar, die schon zum Entzünden der Kamine in den Morgen- und Abendstunden zwang. Draußen aber herrschte noch reges und frohes Leben, die heitere Herbsttätigkeit der Dörfler; das Obst wurde gelesen, die Grummeternte eingefahren und dazu die herkömmliche Herbstmusik mit dem hellen Geklapper der Flachsbrechen von Mädchen und Weibern, die dabei ihre »Schwingtaglieder« sangen, gemacht. Dem heiter beschäftigten Menschen tut eben der sich entblätternde Wald sowenig wie der graue Wolkenhimmel.
Mit Kaplan Bärholm war eine Veränderung seiner Lage vorgegangen; er war so leidend geworden, daß er von seinen gottesdienstlichen Obliegenheiten hatte entbunden werden müssen. Zugleich hatte er die Wohnung im Pfarrhause einem hergesandten jüngeren Hilfsgeistlichen einräumen müssen; er hatte ein paar Zimmer im Hause einer Försterwitwe bezogen, in dem kleinen herrschaftlichen Gebäude, der Dienstwohnung ihres Mannes, die ihr nach seinem Tode noch gelassen worden, weil die Försterstelle aufgehoben war.
Ich hatte mich anfangs um Kaplan Bärholm jetzt nicht weiter gekümmert. Graf Rodenburg hatte mein Interesse für ihn gründlich ausgetilgt; aber nach einigen Tagen kam seine Hausfrau und Pflegerin und teilte mir unter vielen Knicksen und gewundenen Redensarten – es lag etwas Verschrobenes in der alten, süß lächelnden Dame, das einen unvorteilhaften Eindruck machte – mit, daß Herr Bärholm ein so großes Verlangen habe, mich wiederzusehen und zu sprechen, und mich bitten lasse, ihm einmal eine Viertelstunde zu opfern, da sein Zustand ihn hindere auszugehen.
Ich sagte natürlich bereitwillig zu und ging am Nachmittage, als eben die Dämmerung einbrach, zu ihm hinüber. Das kleine Haus, in welchem er wohnte, hatte nur ein Stockwerk, ein Hochparterre; in einem geräumigen, freundlichen, mit allerlei kleinbürgerlichem kindlichem Schmuck von der Frau Försterin ausgestatteten Zimmer fand ich ihn, am Fenster in einem alten Lederstuhl ruhend. Blumen und Blattpflanzen standen davor, die ganze Einrichtung zeigte die weibliche Pflege, und er konnte jedenfalls zufrieden sein, sie eingetauscht zu haben mit den kleineren, öden Räumen im Pfarrhause.
»In der Tat«, sagte er, als ich ihm dazu Glück wünschte, »ich bin über diese Veränderung erfreut. Der Mensch ist abhängig von den Eindrücken seiner Umgebung. Hier im Wohnzimmer der guten Frau, die meine Pflegerin geworden ist, aus den Kammern im Pfarrhofe befreit, die Luft des Pfarrhofs nicht mehr atmend, habe ich ein eigentümliches Gefühl von innerer Befreiung über mich kommen gefühlt. Das Atmen ist meiner kranken Brust leider nicht leichter geworden – aber Geist, Sinn und Herz ziehen freiere Atemzüge ...«
»Sie fühlen sich hier säkularisiert«, sagte ich.
»Säkularisiert, von der Ordensregel entbunden, in die Welt zurückgekehrt«, versetzte er lächelnd, »und wenn mir diese Welt auch nichts mehr sein kann, doch zufrieden mit dem Gedanken, daß ich wieder nach ihren Gesetzen leben kann, mit ihren Rechten auf Freiheit des Denkens und auf Selbstbestimmung des Handelns. So sage ich mir wenigstens selber und beweise es mir und halte trotzig fest; und wenn ich darin irre – nun, mein Gott, was verschlägt's, womit ein kranker Mensch sich die langen Stunden seiner Tage vertreibt, ob mit richtigen Vorstellungen oder mit Trugschlüssen und Sophismen!«
»Um so mehr«, bemerkte ich, »als wohl nicht die geringsten praktischen Folgen damit verbunden sind, ob Sie sich noch im Banne Ihrer Gelübde oder – säkularisiert fühlen.«
»Doch nicht so ganz, wie Sie glauben mögen«, fiel er ein. »Denn sehen Sie, eben in diesem Gefühl einer mir wiedergegebenen Freiheit möchte ich ...«
Er stockte, blickte zum Fenster hinaus und begann mit der abgemagerten, wachsbleichen Rechten an einem Blattstengel des neben ihm stehenden Geraniums zu zupfen; dann fuhr er langsam, wie sinnend, fort: »Eben in diesem Gefühl einer zurückgewährten Freiheit, einer Lösung von Verbindlichkeiten, die schwerer als auf manchem anderen auf mir gelastet haben, möchte ich etwas tun, was ich mir verwehrt glaubte, solange ich mich im Banne fühlte. Ich habe eine Schrift ausgearbeitet, die unumwunden und mit schlagenden Gründen ein Institut der Kirche angreift, die grenzenlose Gefährlichkeit desselben in ethischer Beziehung und das Verführerische, was darin liegt, es zu allen möglichen sehr profanen Zwecken auszubeuten. Ich begann die Arbeit mit dem scheuen Gefühl, daß ich etwas Unrechtes begehe, daß sie nie das Licht der Welt erblicken dürfe. Und heute ...«
»Heute«, unterbrach ich ihn, »ist Ihnen die Arbeit nach und nach ans Herz gewachsen und zum lieben Kinde geworden, das Sie öffentlich anerkennen möchten, auf das Sie stolz sind ...«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist nicht Autoreneitelkeit, welche mich drängt, es zu veröffentlichen. Nein, ich möchte damit wirken. Eine Bresche legen in ... Doch, Sie sehen mich mit einem ungläubigen Lächeln an – Sie verstehen den Priester, der seine eigene Kirche angreift aus völlig reinen Motiven, Sie verstehen ihn nicht ...«
Bärholm schien sich ein wenig bei diesen Worten zu erhitzen, seine eingefallenen Wangen färbten sich höher. Ich suchte ihn zu beruhigen, so nahe mir auch der Gedanke lag, daß ein Mann, der selbst so sehr der Verteidigung und Nachsicht bedürfe, besser täte, nicht als Angreifer und Verurteiler aufzutreten.
»Ich begreife den Priester, der seine eigene Kirche aus reinen Motiven angreift, sehr gut«, sagte ich, »denn er wird am besten über die verderblichen Wirkungen dessen, was er als vom Übel erklärt und befehdet, unterrichtet sein.«
»Das eben ist es«, fiel er lebhaft ein, »und sehen Sie, just weil ich so bitter, so unsäglich bitter unter dem, was vom Übel in ihr ist, gelitten habe, weil mein Leben dadurch vernichtet worden ist, habe ich mein Werk geschrieben. Nun habe ich die große, große Bitte an Sie, daß Sie es durchlesen. Ich bin der Form nicht gewachsen, ich weiß es; ich habe mich nie genug von dem Predigttone, der uns angeschult wird, frei machen können. Und doch ist bei Schriften, deren Kern ein polemischer ist, die Form von solcher Wichtigkeit. Die große Bitte, welche ich Ihnen ans Herz legen möchte, ist, daß Sie meine Schrift durchlesen und am Rande anzeichnen, wo ungefüge Satzbildungen oder falsch gewählte Bilder oder unglückliche Wendungen Ihre Kritik herausfordern. Es ist viel von mir verlangt, ich fühle es ...«
»Und doch bin ich bereit dazu«, unterbrach ich ihn mit einem gewissen Zögern, »mich mit einer von meinen Studien so weit abseits liegenden Materie zu belasten«, und so fiel er, forschend in meine Züge blickend, desto rascher ein: »Und ich hoffe, ich versöhne Sie mit der großen Zumutung, welche ich an Sie stelle, indem ich Ihnen offen und klar vor Augen lege, was mich zu meiner Arbeit legitimiert, was mir diese wie eine persönliche Mission aufgegeben hat; was, indem es mein Leben vernichtete, meine unablässig grübelnden Gedanken auf diesen Punkt gerichtet und mein Auge gelehrt hat, durch alle Verhüllungen, Entstellungen und Sophismen zu dringen. Ich habe das alles aufgeschrieben nicht für eines Menschen Auge, und kein Auge noch hat einen Blick hineingetan. Aber Sie sollen es lesen, es wird meine Seele entlasten, wenn ich einen Menschen in der Welt weiß, der mein Schicksal kennt, begreift und, weil er es begreift, verzeiht, und dann – dann wird es Ihnen auch den Priester begreiflich machen, der sich die Kraft Simsons wünscht, um eine Säule im Gebäude seiner Kirche zu zerschmettern!«
Ich horchte bei diesen Worten hoch auf. Das erloschene Interesse an dem unglücklichen Mann war jetzt, wo ich ihn so krank vor mir sah, seine milde Stimme sich in ruhigen, klaren Gedanken ergehen hörte, völlig wieder aufgelebt und konnte nur erhöht werden durch diesen Beweis unbegrenzten Vertrauens, den er mir geben wollte.
»Sie vertrauen mir viel«, sagte ich, »ich danke Ihnen dafür. Doch dürfen Sie sich sagen, daß Sie einen teilnehmenderen Vertrauten und einen, der gewissenhafter Ihre Blätter hüten wird, nicht finden können ...«
Ohne darauf zu horchen, war er aufgestanden, um einen kleinen Eckschrank aufzuschließen, aus dem er ein mäßig starkes Heft und ein starkes kartoniertes Manuskript nahm, dem ich auf den ersten Blick ansah, daß es gedruckt einen ansehnlichen Band füllen würde.
»Es wäre mir lieb«, sagte er, »wenn Sie dies Heft gleich zu sich nähmen. Das schwere Manuskript werde ich Ihnen senden.«
»Geben Sie mir immerhin beides. Es ist am sichersten so.«
»Wie Sie wollen«, versetzte er, tief aufatmend, indem er sich wieder niederließ; die geringe Bewegung, vielleicht auch die Aufregung, in welche ihn das Gespräch versetzte, hatten ihn offenbar angegriffen. Ich leitete deshalb dies Gespräch zu andern, davon fernliegenden Dingen hinüber. Auch suchte ich ihn von der Vorstellung, an welcher er festhielt, daß homöopathische Mittel genügten, sein Leiden zu bekämpfen, abzubringen, fand aber entschiedenes Widerstreben bei ihm, zu unserm Landarzt seine Zuflucht zu nehmen, und endlich ging ich, beladen mit meinen zwei Manuskripten.
Als ich das Haus verließ, gab mir seine Hauswirtin das Geleit. Sie fragte erregt, wie ich ihren Pflegebefohlenen gefunden, hörte aber nur halb meine Antwort und fiel, ihre Augen auf die Hefte, welche ich trug, heftend, mit neuen Fragen, mit Beteuerungen, wie sie für den Kranken sorge, ein. Dabei ruhten ihre grauen Augen in dem nervös blickenden Gesicht, das einst recht hübsch gewesen sein mochte, als die kleinen und unbedeutenden Züge noch mit dem Schimmer der Jugendlichkeit und mit frischen, jetzt verblichenen Farben bestachen, fortwährend auf dem, was ich unter dem Arm trug. Sie schien mehr als einmal die Frage danach auf den Lippen zu haben; endlich, als ich schon den Fuß auf die Steinstufen vor der Haustür setzte, machte diese Neugier sich in der Gestalt eines Ausrufs Luft.
»Was er Ihnen da nur gegeben haben mag!« rief sie mit unterdrückter Stimme. »Wenn er doch lieber das viele Schreiben, das ihn so angriff, gelassen hätte; auch der Herr Pastor sagte immer, es sei vom Übel. Bei solch einem kranken Menschen! Wo sind da auch die Verstandeskräfte?«
»Ich meine, die Verstandeskräfte haben sich bei Herrn Bärholm doch nur geschärft, Frau Försterin.«
»Ach, wie sollten sie! Die Krankheit mischt doch immer ihre Phantasie, ihre wüsten Träume darein; nein, nein, das Schreiben hätte er lassen sollen, und nun gibt er's gar ...«
»In fremde Hände, wollten Sie sagen«, ergänzte ich, da sie nicht fortfuhr. »Macht Ihnen das eine Sorge?«
»O nein, nein«, fiel sie mit einiger Verlegenheit rasch ein, »wie sollt' es, bei einem Herrn wie Ihnen, der schon wissen und durchschauen wird ...«
Ich hielt nicht für nötig, das Ende dieses Satzes abzuwarten, sondern den Hut ziehend, ging ich.
Die gute Dame, die den Mund beim Sprechen so süß zu runden wußte, war mir noch unangenehmer geworden.