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VI.

Das Original hat hier fälschlich »VII.« – Anm.d.Hrsg.

Zur Siesta fand unser Künstler am andern Tage schon die Ruhe nicht mehr. Lange vor der Zeit, um welche Charlotte zu kommen versprochen, saß Friedrich Hild bereits an der Staffelei und überarbeitete, was er gestern zusammengemalt – ach, es war der Ueberarbeitung so bedürftig; er war unverantwortlich zerstreut dabei gewesen und von »genialer Pinselführung« war da wenig zu entdecken!

Punkt vier Uhr hörte er die beiden kleinen Unholde durch hastige Schritte ihr Nahen draußen auf dem Korridor ankündigen – er sprang auf, um zu öffnen, und sah Charlotte den Gang heraufkommen – sie winkte ihm schon von unten her einen Gruß mit dem Sonnenschirm zu.

Als sie eingetreten war und das Bild angeblickt hatte, sagte sie: »Sie haben ja fleißig daran geschafft! Verfahren Sie nur mit meinem Kopf nicht zu prinzlich!«

»Sie haben recht, daß Sie mich necken. Aber weshalb sagen Sie es?«

»Weil ich denke, Sie nehmen den Kopf ein wenig zu durchlauchtig, zu fein und durchsichtig; wenn Sie ihn ähnlicher, naturtreuer machten, würde er besser in die Gruppe passen, die ja durchaus nicht zu sehr idealisiert dargestellt werden soll – aber«, fügte sie plötzlich erröthend hinzu – »machen Sie's, wie Sie's wollen und vor Allem mir nur jetzt kein Kompliment, geben Sie mir das Kopftuch!«

Sie legte dann den Kindern einige Bilderbücher, die sie mitgebracht hatte, auf den Eckdivan, hieß sie hübsch ruhig bleiben, warf ihren Hut und Ueberwurf ab und nahm das Kopftuch, um es vor dem Spiegel in die richtigen Falten zu bringen. Dann setzte sie sich wie gestern; Friedrich hatte wenig zu ändern, um dieselbe Stellung und dasselbe Arrangement ihrer Kleidung wieder zu bekommen.

Er begann schweigend seine Arbeit.

»Darf ich reden?« sagte sie nach einer Pause.

»O gewiß, Sie wissen ja, je mehr, desto besser!«

»Ich habe über Ihre Erzählung nachgedacht. Sie sollten einmal das Schloß, worin Sie als Prinz lebten, so wie es in Ihrer Erinnerung steht, zeichnen oder malen. Vielleicht fände sich dann Jemand, der es erkennen würde.«

»Das kann ich nicht«, versetzte Friedrich. »Meine Erinnerungen sind dazu viel zu unbestimmt und verschwommen.«

»Wie sind die Schicksale der Menschen verschieden«, hub sie nach einer Weile wieder an, »allenfalls in dem Einen nur gleich, daß Jeder seinen Antheil an Leid und Schmerz gehabt hat und ein wenig Durst nach Glück in sich verschließt, mit mehr oder weniger Hoffnung, die Quelle, welche das Glück aussprudelt und jene berühmte ›schönste der Oasen‹ bildet, jemals zu finden oder nicht zu finden.«

»Man muß«, versetzte Friedrich ernst, »die Quelle nicht außer sich suchen; sie liegt in uns und deshalb – nahe!«

»Mag sein«, entgegnete das junge Mädchen unbefangen; »aber nicht davon wollte ich reden, ich dachte, wie verschieden mein Schicksal von Ihrem seltsamen, räthselhaften, abenteuerlichen war! Mein Leben ist so einfach, klar und nüchtern bestimmt, als sei mein Schicksalsbuch, worin es eingeschrieben, ein Kaufmannsconto, sauber liniert und in Colonnen getheilt für jeden einzelnen Posten. Ich bin die Tochter eines österreichischen Majors, der in Prag stand. Meine Mutter ist ein armes ungarisches Fräulein. Ich habe vier Geschwister. Wir wurden geboren, getauft, in die Schule geschickt; mein ältester Bruder wurde Lieutenant, der zweite wurde Maler und der dritte wurde Jurist, d. h. er studiert in Wien. Mein Vater nimmt weniger Geld ein, als er für seine fünf Kinder bedarf, die von seinen bei Novara und Solferino Schlachten auf italienischem Boden, die Österreich gegen die italinienische Einigungsbewegung schlug: Novara (1849) endete mit einem Sieg, Solferino (1859) mit einer Niederlage, die den Weg zur Einigung Italiens eröffnete. – Anm.d.Hrsg. erworbenen Orden nicht leben können. Sie haben ihm viel gekostet, diese Kinder, da er seinen Ehrgeiz darein setzte, daß die einzige Ausstattung, die er ihnen fürs Leben geben konnte, die Erziehung, solid und gut sei; und so habe ich, um dem armen, guten Papa eine Erleichterung zu verschaffen, mich entschlossen, Gouvernante zu werden. Meine Eltern haben nach einer solchen Stelle gesucht, und sie endlich bei der Gräfin Brechtal gefunden, eine Stelle – die in der That nichts zu wünschen übrig läßt; die Gräfin behandelt mich mehr wie ihre Freundin, als wie ihre Untergebene; die Kinder sind gutartig, und über alles dies hat mich die Gräfin nach Italien geführt; und welches größere Glück könnte es für ein junges Mädchen geben!«

»Macht Sie das so glücklich?«

»Sehr, sehr glücklich!« sagte Fräulein Charlotte mit feiner Empfindung. »Einem Künstler brauche ich das nicht zu schildern.«

»Zu schildern – nein; daß Sie es sagen, reicht hin.«

»Wozu?«

Der Maler erröthete ein wenig auf diese directe Frage, als wenn er auf einer Indiscretion ertappt wäre.

»Ich meine nur«, versetzte er zögernd, »es reicht hin, zu zeigen, daß Ihr Herz tiefer Eindrücke fähig ist, die nicht alle jungen Damen in Italien empfangen.«

Sie fiel ihm lebhaft ins Wort.

»O, nicht das habe ich sagen wollen, sondern wie verschieden der Menschen Schicksale sein können. Nehmen Sie das Ihre gegen ein so einfaches alltägliches wie das meine! Wie ist das Ihre seltsam! Es ist mir ganz unverständlich. Und ich muß auch, da Sie mir einmal so viel gesagt, noch mehr davon hören. Sie gingen also als ganz junger Mann nach Venedig und bildeten sich da zum Künstler aus. Aber erhielten Sie von dem Kaufmannshause, welches Ihnen die Summen auszahlte, die zu Ihrem Leben nöthig waren, keine Angaben über die Quelle, aus der diese Summen flossen?«

»Nein. Man verweigerte mir eine weitere Auskunft, als daß mein guter Kuratus, der mich erzogen hatte, den Auftrag zu den Zahlungen gegeben und daß dieselben sich fortsetzen würden, bis die Summe erschöpft sei, welche von ihm zu diesem Behufe hinterlegt worden.«

»Und blieben Sie nicht im Briefwechsel mit Ihrem geistlichen Herrn und gab er Ihnen keine Aufklärungen, als Sie erwachsen waren?«

»Ich blieb im Briefwechsel mit ihm, das heißt, wir correspondierten in langen, langen Zwischenräumen. Aufklärungen gab er mir dahin, ich sei der Sohn eines Mannes, der bei der Bewirthschaftung eines herrschaftlichen Gutes, das er gepachtet, zu Grunde gegangen und bald nach seiner Frau, meiner Mutter, in Dürftigkeit gestorben sei. Die Herrschaft, welcher das Gut gehört, habe sich meiner angenommen und mich ihm, meinem ehrlichen Kuratus, zur Erziehung übergeben; und sie sorge nun auch durch seine Vermittlung jetzt noch für mich; nach allem Weiteren aber solle ich nicht forschen, jene Herrschaft habe es sich ausbedungen, daß ich nicht forschen und keine weiteren Berührungen mit ihr suchen solle. Ich habe mich also gehütet, mehr ergründen zu wollen, und mich dieser Herrschaft, gegen die ich Verpflichtungen des Dankes hatte, aufzudrängen.«

»Und jetzt?« fragte Fräulein Charlotte.

»Jetzt ist mein guter Kuratus schon seit Jahren todt. Die Summe, welche für mich in Venedig deponiert war, ist längst aufgezehrt … Sie sehen, ich bin ohne Heimat, auf mich selbst angewiesen … vollständig ein freier Weltbürger.«

»Und würden Sie sich nicht sehr freuen«, fragte sie nach einer Pause weiter, »wenn Sie Jemand auf Erden fänden, der ein theilnahmevoller Angehöriger für Sie wäre … ein Band zwischen Ihnen und der übrigen Welt bildete, und wenn sich Ihnen so doch wenigstens ein Stück Heimat wieder herstellte …?«

Friedrich Hild sah betroffen, fast verwirrt zu ihr auf; er sah, daß sie offenbar ebenfalls sehr erregt war bei den Worten, die sie sprach, daß ihre Züge geröthet waren, daß ihr Auge mit lebhafterem Glänzen auf ihm ruhte.

Er schlug das seine nieder; er begann sehr eifrig seine Farben zu streichen; aber die Pinselführung ließ in diesem Augenblicke mehr als je zu wünschen übrig; der Pinsel zitterte in seiner Hand. Er schwieg eine ganze Weile.

»O gewiß, gewiß«, rief er dann plötzlich stürmisch aus – »namenlos glücklich!«

Als er dann wieder zu ihr aufschaute, hatte ihr Gesicht einen andern Ausdruck angenommen. Die Röthe war verschwunden; es war sogar ein wenig blässer geworden wie gewöhnlich; zwischen ihren scharf gezeichneten dunklen Brauen lag eine kleine Falte; und so blickte sie ihn an wie betroffen oder wie beängstigt und mit einem Zug um die Lippen, als sei sie sehr unzufrieden mit ihm oder mit sich selbst oder mit Beiden. Sie lächelte jetzt plötzlich … aber dies Lächeln hatte etwas Verlegenes und dabei Kaltes, Hartes, und dasselbe hatten ihre Worte, als sie sagte:

»Nun, so müssen Sie die Hoffnung darauf nicht fahren lassen … wer weiß, ob Ihnen das nicht eher als Sie glauben, noch einmal gelingt! Sind Sie fertig?«

Friedrich war erschrocken über diese plötzliche Aenderung in ihrem Wesen.

»Fertig?« sagte er jetzt. »Wünschen Sie, daß ich es sei?« setzte er mit einem Ausdruck von Trauer und mit einem bittenden Blick hinzu.

»O nein, nein, ich dachte nur, weil Sie aufhörten. Arbeiten Sie nur weiter. Ich habe noch Zeit. Und unsere Kleinen hoffentlich auch!«

Sie fing ein Geplauder mit den Kleinen an; es schien, als wolle sie einem weiteren Gespräch in dem früheren Tone mit dem jungen Künstler ausweichen. Aber es war offenbar eine Unruhe, etwas, was ihr den früheren heiteren Gleichmuth raubte, in sie gekommen; sie wechselte jedesmal ein wenig die Farbe, so oft Friedrich Hild in ihre Züge blickte und diese fixirte, um sie auf seine Leinwand zu tragen.

Und Friedrich Hild blickte sehr oft auf und fixierte sehr oft ihre Züge; es war, als ob ein Gedächtniß für das, was er mit dem letzten Blick aufgefaßt, heute außerordentlich kurz sei und gewaltig schnell wieder der Auffrischung bedürfe.

»Charlotte, gehen wir jetzt?« fragte der Knabe nach einer Weile … »ich möchte gehen, Charlotte!«

»Laß uns gehen, sonst schilt die Mama!« fiel das kleine Mädchen ein – »Selim hat mir einen Laubfrosch fangen wollen, ich will zu Selim.«

Das Fräulein stand bei dieser Aufforderung, als ob sie nur darauf gewartet hätte, sofort auf.

»Sie sehen, wir müssen enden«, sagte sie, warf ihr Kopftuch bei Seite und nahm den Hut und den Ueberwurf. »Die Bücher wird Selim holen.«

Der Maler sprang herbei, um ihr beim Anlegen des Ueberwurfs behülflich zu sein; aber sie war damit fertig, bevor er noch das Gewand hatte erfassen können. Dann ging sie, ohne ihm wie gestern mit offener Freundlichkeit die Hand zu reichen.

»Bis morgen?« sagte er halblaut, flehentlich und mit einem Tone großer Niedergeschlagenheit.

Der Ton hatte offenbar etwas, das sie rührte. Sie blickte zu ihm um. Ihr Blick war ernst, vielsagend, aber durchaus nicht kalt mehr, und eben so wenig war es ihre Stimme, als sie leise sagte:

» Eh, vederemo!«

Es war, als ob ihre Stimme ein wenig bei dem Wort stocke – und als sie es gesprochen, ging sie rasch, sehr rasch davon.

Friedrich Hild blieb zurück in einer Gemüthsverfassung, die außerordentlich schwer zu beschreiben war. Er stand da, mitten in seinem Gemach, zwischen der Staffelei und der Thür, durch welche Charlotte verschwunden war, die Blicke starr auf diese Thür richtend. Er stand da wie versteinert. Und doch war er nichts weniger wie versteinert, in keinem Augenblicke seines Lebens war er es weniger gewesen. Er fühlte im Gegentheil sein Herz klopfen, eine Pulse stürmisch schlagen … aber er fühlte sich auch betroffen, erschrocken, beängstigt.

Er legte endlich die Hand aufs Herz, seufzte tief auf, aber mit dem tiefen zitternden Seufzen, mit dem wir bei einer großen ernsten Freude nach Luft ringen. Dann setzte er sich auf den Eckdivan, zwischen die aufgeschlagenen Bilderbücher, welche die Kinder dort liegen gelassen.

»Ruhig, ruhig«, sagte er sich dabei, »nur ruhig, und stürzen wir uns nicht in die Flut, ehe wir wissen, ob die Grund hat. Stürzen wir uns nicht ins Bodenlose! In Abgründe, aus denen wir nicht wieder herauskämen! In Elend und Verderben … denn Elend und Verderben wär's, erfassen, festhalten zu wollen, was nur ein Traum wäre, ein Schaum, eine Einbildung, eine Thorheit, eine grenzenlose, wahnsinnige Thorheit!«

Er fuhr mit beiden Händen über sein Gesicht; dann stützte er, wie um tief und gründlich die Sache zu überlegen, sein Kinn auf die Hand und fuhr fort:

»Ein Traum war's aber doch nicht! Sie war hier. Da hat sie gesessen. Da liegt das Kopftuch, das sie abgeworfen hat. Da steht das Wassergefäß, an das sie ihr Knie lehnte. Ja, gesessen hat sie da, das ist kein Traum. Und sie hat auch gesprochen und hat mich dabei angesehen, so offen, so freundlich und wohlbekannt, als ob wir die ältesten Freunde auf der Welt wären. Auch das ist kein Traum, keine Einbildung; so wenig wie das, was sie gesprochen hat. Was sie gesprochen hat! Was war es Alles? Zuerst hat sie mir ihre Verhältnisse auseinandergesetzt. Daß sie ohne Vermögen sei, ganz arm … eines armen Ehrenmannes Tochter. Desto besser … desto besser! Dann hat sie gesagt, sie liebe Italien; sie empfinde es als ein großes Glück, da sein zu dürfen; also auch da bleiben zu dürfen für immer! Und dann – dann hat sie gesagt, ob ich nicht glücklich sein würde, wenn sich mir eine Hand böte, die zwischen mir und der übrigen Welt ein Band herstellte; wenn irgend Jemand ein Stück Heimat um mich schüfe … auch das hat sie gesagt, auch das ist kein Traum. Und dann ist sie plötzlich sehr verlegen geworden; dann hat sie mir eine auffallende Kälte gezeigt … ist das Alles wahr, oder ist es nicht wahr? Es ist wahr … und beim guten Gott, wenn das Alles anders zu deuten ist, als auf meine Weise, so habe ich den Verstand verloren. Und das wäre schade; denn wenn ich den Verstand verlieren soll, so möchte ich ihn nur verlieren aus Freude, aus heller, wahnsinniger Freude, aus grenzenloser Freude über dies Alles!«

Er sprang auf und ging mit langen Schritten im Zimmer auf und ab. Er nahm das Kopftuch, das Charlotte abgeworfen hatte, von dem Stuhle, worauf es lag, und drückte einen Kuß darauf; und dann, da ein Auge ihr Bild auf seiner Composition streifte, legte er das Tuch bei Seite, schlang seine Hände zusammen und stand wie ein Betender vor dem Bilde.

»Weshalb«, begann er nach einer Pause, sich fassend – »weshalb mochte sie so kühl, so anders werden, nachdem sie mir alles Das gesagt? Fühlte sie, daß sie in ihrer Herzlichkeit, in ihrer Theilnahme zu viel gesagt? Daß sie verschlossener, spröder, zurückhaltender hätte sein müssen? Machte ihr mädchenhafter Stolz ihr Vorwürfe? Fragte sie sich plötzlich: was denkt er von mir, daß ich ihm so entgegenkomme? Gewiß, gewiß, das war es! Sie mußte sich ja so fragen. Sie konnte nicht anders, als sie sah, wie grenzenlos einfältig ich Alles aufnahm! Mir schwirrte es ja vor den Augen, mir summte es in den Ohren, mir ging der Athem aus – hätte mich Einer gesehen, er hätte gesagt: Wie er da sitzt und seine Lackfarben aufsetzt … statt ihr zu Füßen zu fallen und den Saum ihres Gewandes zu küssen aus Dankbarkeit für das, was sie ihm sagt, und statt ihr zu sagen, wie grenzenlos, wie unsäglich er sie liebt! »Aber die Kinder waren ja da – die unseligen, überflüssigen Kinder! War es denn möglich, in deren Gegenwart offen zu reden? Nein, nein, es war nicht möglich. Ich werde sie morgen hoffentlich ohne die Kinder sprechen können. Ich will hinüber gehen morgen – gleich morgen. Und dann, dann werde ich zu sagen wissen, wie ich sie liebe!«



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