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Die beiden Frank.

Erzählung.


I.

Wohl nie hat es zwischen Vater und Sohn einen größeren Contrast gegeben, als den, welcher zwischen dem alten Herrn Frank und seinem einzigen Sohne Florenz herrschte. Wir sagen: dem alten Herrn Frank – aber diese Bezeichnung soll nur dazu dienen, ihn von seinem Sohne zu unterscheiden – denn sonst war der Mann trotz seiner sechsundfünfzig Jahre die jugendlichste Erscheinung, welche man sich vorstellen kann. Er gehörte durch seine Erziehung ganz der guten alten Zeit an, wo das »Leben und Leben lassen« der allgemeine Wahlspruch einer sorgenlosen Gesellschaft war, und wo man die beneidenswerthe Kunst verstand, das Dasein von der heitern Seite zu nehmen, jener guten alten Zeit, wo man unsre ganze Lebensnoth noch nicht kannte, und obendrein noch viel andere Dinge nicht kannte oder nicht wußte, z. B. oft selber nicht, durch welche Studien und Kenntnisse oder durch welche anderweitigen Verdienste man eigentlich in ein ganz hübsches und einträgliches Pöstchen gekommen war.

Dies war unter andern auch der Fall bei Herrn Frank senior; er hätte schwerlich ganz genau über diesen Punkt Aufklärung geben können; vorausgesetzt, er wäre geneigt gewesen, zu diesem Behufe sein »Schluß- und Vergleichungsvermögen« in eine außergewöhnliche Thätigkeit zu versetzen. Genügte ihm doch vollständig, daß er sich eben in einem solchen Pöstchen seit unvordenklicher Zeit installirt befand. Er war nämlich städtischer Cassenrendant, Mitglied des Gemeindecollegiums einer mittelgroßen deutschen Residenzstadt, Mitglied mehrer wohlthätiger Vereine und Kirchenältester.

Man konnte nichts Anständigeres und Imponirenderes sehen, als die Erscheinung des Herrn Frank, wenn er morgens mit dem Schlage neun Uhr durch die schmalen und volkreichen Gassen schritt, welche zum Rathhaus führten, wo ihn seine Berufsthätigkeit erwartete. Kein Officier, welcher an der Spitze seiner Mannschaft die Wache bezieht, kann blanker und sorgfältiger gebürstet aussehen. Sein Haar, sein Backenbart – Herr Frank trug einen streng disciplinirten Backenbart, aber nichts von all den modernen unsittlichen Haarauswüchsen um Lippe, Kinn und Hals – waren von jugendlicher Färbung und lohnten den Aufwand von Kunst, der ihnen gewidmet worden, durch den schönsten schwarzen Glanz. Die Hand im dänischen Handschuh stützte sich auf ein spanisches Rohr mit geschnitztem Elfenbeinknopf; der Körper hatte eine straffe, aufrechte Haltung und der Schritt ein so würdevoll gehaltenes Gleichmaß – es war wirklich zu bedauern, daß die Gassen, die zum Rathhause führten, immer durch den Marktverkehr eingenommen waren, und daß die Gemüseweiber, die Fischhändler, die Holzfuhren der Bauern den meisterhaften Rhythmus dieser lebendigen wandelnden Würde immerwährend unterbrachen.

Was aber noch bedauernswerther, das war, daß Florenz Frank, der seit längerer Zeit von der Hochschule zurückgekommen, und jetzt als Referendar am Stadtgerichte die ersten Süßigkeiten der juristischen Praxis kostete, sich so wenig an dem leuchtenden Vorbilde, welches die äußere Erscheinung seines Vaters darbot, ein Beispiel genommen hatte. Der großgewachsene junge Mann mit dem blonden lockigen Haare, den schönen blauen Augen und den ausdruckvollen, etwas blassen Zügen, vernachlässigte sich auffallend. Seine gebeugte Gestalt schoß mehr, als sie ging, die Straßen daher; er ward selten sichtbar ohne ein Actenheft oder ein Buch unter seinem Arme; er war eigentlich nie sichtbar, denn wo er auftauchte, da war er im nächsten Augenblicke auch wieder vorüber geschwunden. Hinter manchem epheuvergitterten und von weißen Vorhängen halbverhüllten Fenster hervor hätte sicherlich mehr als ein freundliches Augenpaar gern auf ihm gehaftet, wenn er vorüber rannte, hätte er einem solchen Augenpaar nur die Zeit gelassen; ja, wer weiß, welches Glück er gemacht hätte, mit seinem blassen anziehenden Kopfe, seinen träumerischen Augen. Aber er ließ dem Glück keine Möglichkeit, ihn einzuholen.

Mein Sohn, ermahnte der alte Herr Frank oft den fleißigen jungen Referendar, es ist nichts unwürdiger, als die Eile. Für uns unberühmte Sterbliche, welche wir keine Büffons und dergleichen mehr sind, kann der Ausspruch dieser großen Feder: le stile c'est l'homme, nicht gelten; für uns gilt der Ausspruch Deines Vaters: die Bewegung, das ist der Mensch!

So lassen Sie mich doch einen raschen Menschen sein, lieber Vater; weshalb das nicht?

Diese Frage, mein Junge, versetzte Herr Frank senior, verräth mir Deinen tiefen Mangel an Lebensweisheit und an Kenntniß der Welt. Ich könnte sie Dir auf zweierlei Art beantworten, vom philosophischen und vom geschichtlichen Standpunkte aus. Philosophisch betrachtet, ist das Leben eine Kette von Ereignissen, welche mehr des Unangenehmen als des Angenehmen enthält, und dergleichen mehr. Weshalb also den Fatalitäten der Zukunft entgegenrennen? Weshalb nicht möglichst langsam ihnen entgegenschreiten? Sollen wir eilen und hasten auf die Gefahr hin, uns einem heftigen Choc auszusetzen, statt in bedächtig-würdigem Wandeln dem Odiösen zu begegnen und durch unsern Anstand es aus der Fassung zu bringen? Historisch aber betrachtet –

Sie wollen vom »gemäßigten Fortschritt« reden –

Gemach, gemach, mein Sohn; ich werde nie – das weißt Du – meine eigentlichen politischen Ansichten enthüllen und dergleichen mehr. Aber, was ich sagen wollte: historisch betrachtet, hat die menschliche Gesellschaft nur so lange friedlich sich zusammen vertragen, als sie noch nicht in's Hasten gerathen war. Was den Bestand der Staaten aufrecht erhält, ist – die Geduld. Geduld – was ist sie? Harmonie der Seele mit dem irdischen Grundgesetz der Langsamkeit. Du wirst sehen, welche Zukunft wir uns bereitet haben, nachdem wir die Würde, welche die Zwillingsschwester der Langsamkeit ist, auf der Eisenbahn haben zum Lande hinausdampfen lassen! Lächerliches, imbecilles Geschlecht, das von heute! Als die Braut Kaiser Leopolds, die portugiesische Princeß, die Reise zur Vermählung machte, brauchte sie, um in die Arme ihres liebenden Bräutigams zu fliegen, ein und ein viertel Jahr Zeit. Welch imponirendes Beispiel von Würde, welch beschämendes Exempel für unsere von ihren Leidenschaften durcheinander gewirbelte Welt!

Mein Vater, antwortete hier lachend Florenz, Sie vergessen bei allem Dem nur Eins – Sie vergessen die Verschiedenheit meiner und Ihrer Lage. Wenn man, wie Sie, den Schlüssel zum nervus rerum gerendarum – des ganzen Gemeinwesens in der Tasche hat, so kann man immerhin in bewußtem Selbstgefühle langsam gehen. – Sie wissen, der fleißige und eilige Papst Sixtus V. schritt auch sehr straff und würdig aufrecht einher, als er die Schlüssel gefunden hatte. Ich aber habe noch nichts gefunden, ich muß noch suchen und mich tummeln!

Herr Frank machte ein eigenthümliches »Hm!« und schien durch seines Sohnes Anspielung auf sein Cassenamt nicht eben heiter berührt; er ließ den Gegenstand der Unterhaltung fallen. –

Aber nicht bloß in ihrer äußern Erscheinung, auch in allem Uebrigen zeigten Vater und Sohn diese Verschiedenheit. Der Papa war ein Lebemann und der Sohn ein Büchermensch. Die Interessen des Ersteren umspannten allerdings auch einen sehr weiten Kreis, er dehnte sich über Gegenstände und Producte der verschiedensten Länder und Welttheile aus – die aber am Ende doch alle dicht bei einander zu finden waren, nicht etwa in einem Museum der Naturwissenschaft oder einer Bibliothek oder einem botanischen Garten, sondern in einem Austernkeller und Delicatessenladen. Florenz dagegen war eine spiritualistische Natur, an die Einsamkeit gewöhnt, ohne Bedürfnisse und fleißig, ordentlich und nüchtern wie eine unverheirathete alte Dame.

Sehr unähnlich einer unverheiratheten alten Dame war Florenz jedoch in einer andern Beziehung. Es fehlte ihm nämlich alle Beobachtungsgabe, alles Interesse für die Verhältnisse und das Thun und Treiben seiner Nebenmenschen. Dies war in einem so hohen Grade der Fall, daß er nicht einmal inne ward, wie seit einiger Zeit die Stimmungen und Lebensgewohnheiten seines eigenen Vaters eine gewisse Veränderung zeigten. Herrn Frank's des ältern Abendunterhaltungen im Kreise einer gewissen Anzahl alter Freunde, welche eine geschlossene kleine Clubgesellschaft bildeten, hatten sich bedenklich in die Nacht hinein zu verlängern die Gewohnheit angenommen. Sein offenes und blühendes Antlitz hatte in demselben Maße begonnen, Spuren von Verstimmungen anzunehmen, und sich in Falten zu ziehen, welche die Jahre bisher der glatten Stirn nicht hatten aufdrücken können. Das ganze Antlitz erschien nach und nach in einer Färbung, welche um einen Ton tiefer gelb war, denn es bisher gewesen. Aber wie gesagt, Florenz gab auf diese leise und allmälig fortschreitende Veränderung nicht Acht.

Es war eines Tages nach dem gemeinsamen Mittagsmahle, welches die einzige Stunde war, die Beide zusammenführte, und das sie in einem Tête-à-tête einnahmen, denn Herr Frank war Witwer und hatte nur den einzigen Sohn.

Florenz, fragte Herr Frank an diesem Tage, indem er die Serviette fortwarf und vom Tische aufstand, hast Du kürzlich den alten Herrn unter uns gesehen?

Herrn Hoffacker? Freilich – Du weißt, daß ich ihn fast täglich im Schloßgarten bei seiner Promenade treffe und ihn dann eine Strecke Weges zu begleiten pflege.

Und liegt er noch immer im Kampfe mit den Wolken, mit cyrrhus, stratus und strato-cumulus, dieser alte Hypochonder?

Noch immer. Wenn Wolken am Himmel stehen, ist es um seine gute Laune geschehen, und er ächzt wie eine alte Frau von achtzig Jahren.

Ein vergnügtes Leben, bei unserm Clima hier! rief Herr Frank aus. Der Mensch ist ein Narr – steht ganz einsam in der Welt, hat das unermeßlich viele Geld und dergleichen mehr, und lebt wie eine Schnecke in seinem Hause.

Er ist eben alt, lieber Vater!

Ist seine Schuld! Die Jahre sind's nicht, welche alt machen, versetzte Herr Frank mit dem Ausdruck des Selbstgefühls.

Und dabei ist er leidend – diese fixe Idee von den Wolken –

Ist nichts als ein unbehagliches Gefühl, eine Disposition zum Schlag, die daher rührt, weil er zu Hause hockt, statt Gesellschaft zu suchen, sich zu bewegen, zu unterhalten, zu trinken und dergleichen mehr.

Chacun à son gout.

Nun ja, meinetwegen, – was ich sagen wollte – geh' einmal nach unten und sieh' nach, ob ich den Alten sprechen kann. Ich habe mit ihm zu reden.

Sie haben mit ihm zu reden? fragte Florenz mit einiger Verwunderung.

Ja, ja – Geschäftssachen – weiter nichts – geh!

Florenz ging und kam bald mit der Nachricht zurück, daß Herrn Hoffacker der Besuch des Herrn Frank angenehm sein werde. Der Letztere begab sich hinab in das untere Stockwerk des Hauses, wo der alte hypochondrische Rentier wohnte.

Florenz sann einen Augenblick nach, was sein Vater bei dem Bewohner der unteren Gemächer vorhaben könne. Der Mann, der dies Geschoß bewohnte, ganz allein mit seiner Haushälterin, war eine Art von Original; er war eine starke, breite Gestalt, mit rothem, aufgedunsenem Gesichte; er war mürrisch und unzugänglich, an allen Arten von Hypochondrie leidend und stand dem Anscheine nach völlig vereinsamt in der Welt. Er hatte früher ein kleines Amt untergeordneter Art bei einer Behörde auf dem Lande verwaltet, war dann durch Erbschaften und, wie man glaubte, auch durch glückliche Speculationen mit Staatspapieren zu einem bedeutenden Reichthum gekommen und hatte sich nun in der Stadt niedergelassen; aber selbst die 70 000 Thaler, deren Besitz man ihm nachrühmte, waren nicht im Stande gewesen, ihm Vettern und Verwandte herbeizuziehen – trotz des Sprüchworts von reichen Leuten – er mußte also sicherlich ohne alle Angehörige sein!

Daß er etwaige Verwandte durch seine menschenfeindliche Laune von sich entfernt halte, war wenigstens nicht anzunehmen; denn im Grunde war er ein gutmüthiger alter Herr, der nur seine Eigenheiten hatte, seine Haushälterin quälte und an dem ewigen Elend mit den Wolken laborirte, deren Aufziehen am Himmel er, wie er versicherte, jedesmal in allen Gliedern verspürte.

Florenz Frank wenigstens, der zuweilen Abends ihm ein Stündchen vorplauderte und an sonnigen Tagen ihn im Schloßgarten auf seinem Wege traf, kam vortrefflich mit ihm aus. Er ließ sich alte Geschichten aus der »französischen Zeit« von ihm erzählen, und machte sich ein Verdienst um ihn durch die Angabe der interessantesten Bücher aus der Leihbibliothek, womit der alte Herr seine Zeit todtschlug. Das Honorar für diese Mühe bestand in den trefflichen Havannah-Cigarren, welche er von Zeit zu Zeit seinem jungen Freunde mit in seine Wohnung hinaufgab, wenn dieser Abends von ihm schied.

Zwischen dem ältern Herrn Frank und dem reichen Rentier bestanden jedoch durchaus keine Beziehungen, obwohl sie nun schon eine Reihe von Jahren hindurch dasselbe Haus bewohnten. Herr Frank senior nannte den Letzteren nur den alten Duckmäuser, und es schienen zwischen ihnen alle jene Antipathien zu bestehen, welche zwischen Charakteren herrschen, deren Grundverschiedenheit sich schon wie odisch-magnetisch an dem edlen Metall offenbart, welches in ihren Besitz übergeht: bei dem Einen scheint sich diesem Metalle eine centri-frugale Kraft, ein peripherischer Drang mitzutheilen, der seine Beweglichkeit beflügelt; bei dem Andern dagegen ein centri-petaler Trieb, der es zu immer zahlreicheren schweren Rollen sich krystallisiren läßt.

Der Gegenstand, welcher heute Herrn Frank senior zu seinem Hausgenossen führte, mußte jedoch für Beide von lebhaftem Interesse sein. Florenz hörte nämlich nach einer Weile einen so heftigen Stimmenwechsel, daß einzelne Worte durch die Decke bis zu ihm herauf schwirrten.

Nach etwa einer Viertelstunde kam sein Vater, rascher als er gewöhnlich die Stufen heranstieg, die Treppe herauf. Sein Gesicht war geröthet, sein unwandelbarer Anstand hatte etwas von seiner steten Würde verloren. Er warf heftig die Thür hinter sich zu, zog den Paletot an und nahm Hut und Stock, um auszugehen.

Was hast Du gehabt mit Hoffacker, Vater? fragte Florenz; Du bist aufgeregt – Ihr habt einen Streit bekommen –

Streit? Mein Sohn, ein Mann, der weiß, was er sich schuldig ist, läßt sich nicht in einen Streit ein! Man wird Deinem Vater nicht nachsagen können, daß er den Anstand so weit verletzt habe, einen Streit zu bekommen! Nein, ich habe keinen Streit mit Hoffacker gehabt; ich habe ihm nur eine Mittheilung gemacht, welche die Gränzen einer anständigen Meinungsäußerung nicht überschritt; ich habe ihm angedeutet, daß er ein unverschämter, erbärmlicher Filz, ein jämmerlicher Geizhals, ein Kerl, der an einer gemeingefährlichen fixen Idee leidet, ist, daß, er –

Und das nennen Sie eine anständige Meinungsäußerung? – Aber, mein Gott, Vater, das sind ja lauter Injurien! rief Florenz erschrocken aus.

Mach' Du mir nicht auch noch mit solchen juristischen Ausdrücken und Spitzfindigkeiten den Kopf warm, Junge! unterbrach ihn Herr Frank, während er Haar und Bart vor dem Spiegel ordnete, der ihm diesmal ein überaus entrüstetes Gesicht zurückstrahlte. Ich will jetzt nichts mehr hören von diesem alten Rhinoceros und dergleichen mehr – sprich seinen Namen nicht mehr in meiner Gegenwart aus – ich vergesse bereits, daß dieser überflüssige Mensch existirt, daß er je dagewesen – wahrhaftig, das bin ich meiner eigenen Würde schuldig!

Gott gebe, daß der Alte eben so rasch die Injurien vergißt, die mein Vater ihm gesagt hat! dachte Florenz im Stillen, während Herr Frank zum Zimmer hinausschritt.

Mehre Tage vergingen. Florenz hatte während dieser Zeit nicht den Muth, bei dem alten Rentier sich blicken zu lassen. Auch draußen im Schloßgarten traf er ihn nicht. Das Wetter war unfreundlich, und wenn es nicht regnete, war doch der ganze Himmel mit Wolken überzogen. Herr Hoffacker ging an solchen Tagen nicht aus.

Hast Du den alten Duckmäuser kürzlich nicht gesehen? fragte Herr Frank senior seinen Sohn endlich eines Tages bei Tisch.

Nein. Ich höre von seiner Haushälterin, daß er mehr als gewöhnlich klagt. Vielleicht die Aufregung von neulich.

Ah bah – die kann ihm nur wohlgethan haben; so etwas regt einem solchen trübseligen Menschen, der vorn nicht weiß, ob er hinten lebt, die Lebensgeister an und dergleichen mehr. Besuch ihn einmal!

Sie fordern mich dazu auf, Vater? fragte Florenz erstaunt.

Nun, weshalb nicht? Du weißt, mein Sohn, ich vergesse und vergebe gern aus vollem Herzen; ich gehöre nicht zu den Menschen, welche rachsüchtig etwas nachtragen. Es beweist das eine sehr plebejische Engherzigkeit des Charakters und dergleichen mehr. Besuche ihn. Er ist Dir vor allen Andern gewogen. Man muß solche Dispositionen eines alten Filzes nicht vernachlässigen!

Ich will heute zu ihm gehen, in der gewöhnlichen Stunde.

Thue das! Und noch eins, Florenz. Ich habe Dir eine Eröffnung zu machen. Du bist jetzt in die Praxis eingeweiht und kennst die Verhältnisse Deiner Carriere. Du kennst die Art der Arbeiten, mit welchen es Dir jetzt Dein Leben lang blühen wird, Dich herumzuschlagen; Du kennst auch Deine Aussichten. Du bist Referendar zweiter Classe. Nach einem emsig verbüffelten Jahre wirst Du Referendar erster Classe. Was bist Du dann? Nichts, und dergleichen mehr. Functionsgehalt? Keiner. Betrag der Nebeneinkünfte? Dieselbe Summe. Aussichten? Auf die idyllische Wirksamkeit eines Gerichtsassessors auf dem Lande, als Arbeitsmaschine des auf seinen Lorbeern ruhenden Herrn Landrichters zu Schilda, Schöppenstädt oder irgend einem andern Brennpunkte des modernen europäischen Verkehrs. Diese glänzenden Aussichten eröffnen sich Dir, sobald erst etwa dreiundneunzig andere junge Leute, welche Dir nach der Anciennetät vorgehen, versorgt sind. Ist dem so?

Leider, mein Vater. Der Staatsdienst ist ein unerfreuliches Ding.

Gut, daß Du das einsiehst. Was meinst Du dazu, wenn sich Dir statt einer staatlichen eine stadtliche und wohl gemerkt, auch stattliche Versorgung böte?

Ich würde sie ohne Zweifel freudig ergreifen!

Eine Versorgung, worin Dir zwar nicht am Ende Deines Lebens die Süßigkeiten einer hochgebietenden Landrichtersouverainität oder das neidenswerthe Staatshämorrhoidalbewußtsein eines gesetzgebungs-entwürfebeladenen Justizministerialraths winkten – aber eine anständige Wirksamkeit mit einem reichlichen Auskommen, das seinen Mann nährt?

Und das wäre?

Die Stelle Deines Vaters!

Wie, Vater, Sie wollten –

Ja, ich will! Sieh', Florenz, ich habe Mitleid mit Dir; die Carriere, welche Du ergriffen hast, ist zu trübselig. Meine väterliche Liebe hat mir den Entschluß eingegeben und dergleichen mehr. Ich will einen längeren Urlaub nehmen. Unterdeß versiehst Du meine Stelle. Man wird mit Dir zufrieden sein. Dann begehre ich meinen völligen Abschied. Man kann ihn mir nicht weigern. Ich habe fünfunddreißig Jahre lang gedient, und ein Vierteljahrhundert lang in meinem jetzigen Amt. Mein Fixum muß man mir deshalb als Pension lassen. Du erhältst meine Stelle.

Aber, Vater, ist das so gewiß?

Ganz ohne Zweifel. Man wird sich freuen, dieselbe Jemanden geben zu können, der studirt hat. Dazu kommt, daß nicht jeder Andere im Stande ist, die nöthige Caution zu hinterlegen, welche die Stadtverwaltung von ihrem Cassenbeamten verlangt. Die meinige ist beschafft, sie dient natürlich unangetastet fort als die Deinige.

Aber, mein Vater, Sie, mit Ihrer jugendlichen Rüstigkeit, Sie würden –

Alles aus väterlicher Liebe, Florenz. Und was meine Rüstigkeit angeht, so wird sie mir eben erlauben, mir eine andere Beschäftigung zu suchen und zu ergreifen, vorausgesetzt, daß sie anständig und angenehm für mich ist, was ich von diesen vermaledeiten Cassengeschäften nicht eben behaupten kann. Aber ich sage das nicht, fuhr Herr Frank senior wie sich besinnend fort, ich sage das nicht, um Dich abzuschrecken. Anregung des Geistes, seelische Befriedigung, ein erweitertes Dasein – nun in Deinen Acten würdest Du sie auch nicht in höherem Maße finden, als alle diese Dinge und dergleichen mehr in den Cassenbüchern stecken. Also?

Ich willige ein, antwortete Florenz, vorausgesetzt, daß Sie mir versprechen, keinen zu raschen Entschluß fassen zu wollen.

Rasche Entschlüsse – Du weißt, Florenz, daß sie nicht meine Sache sind, versetzte Herr Frank senior. Du wirst morgen um 10 Uhr auf dem Rathhause sein, damit ich Dich dem Bürgermeister vorstelle. Ich habe eine vorläufige Besprechung mit ihm bereits gehabt; Deiner provisorischen Amtsverwaltung während meines Urlaubs steht für's erste nicht das Mindeste im Wege. Das Weitere wird sich dann wie von selbst arrangiren. Bei unsern städtischen Verwaltungen hat man ja noch die löbliche Gewohnheit, dem Sohne die Stelle des Vaters zu gönnen, wenn er anders tüchtig und befähigt dazu ist. Im Staatsdienst ist es jetzt freilich anders geworden. Die Annehmlichkeiten des Staatsdienstes sind jetzt so unermeßlich groß geworden, daß man sich ein Gewissen daraus macht, sie eine und dieselbe Familie zwei Generationen hindurch im selben Amte genießen zu lassen. Nein, nein, es müssen auch Andere an die Reihe kommen. Nicht mehr wie billig und dergleichen mehr. – –

Es blieb bei dieser Verabredung. Am andern Morgen um zehn Uhr befanden sich Vater und Sohn im Kabinet des Bürgermeisters auf dem Rathhause. Der Vorstand der Gemeindeverwaltung sagte Florenz viel Schmeichelhaftes über das unbeschränkte Vertrauen, welches Herr Frank senior seit nunmehro beinahe 25 Jahren bei der Bewahrung der öffentlichen Gelder genossen. Wenn Herr Frank Junior sich einige Tage lang unter Anleitung des Vaters die nöthige Routine erworben, sei der Gemeinderath sicherlich nicht abgeneigt, Herrn Frank senior zu seiner Erholung einmal einen Urlaub von einigen Monaten zu ertheilen. Am Ende des Provisoriums werde dann aber, setzte der Bürgermeister hinzu, die sonst halbjährlich vorgenommene Cassenrevision extra ordinarie eintreten müssen.

Nachdem nun noch der Stadtkämmerer, dem das Finanzdepartement untergeben war, seine Einwilligung ertheilt, war Alles geebnet. Schon am andern Tage erbat sich Florenz vom Director seines Gerichtes vorläufig eine Beurlaubung, und vom nächsten Montag an ließ er sich auf dem städtischen Cassenbureau von seinem Vater in die Geheimnisse des neuen Dienstes einweihen. Nachdem eine Woche verflossen, reichte Herr Frank senior sein Urlaubsgesuch ein, und sobald er die Bewilligung in der Tasche hatte, reiste er ab, um, wie er sagte, einen alten Freund auf dem Lande zu besuchen.


II.

Es war am Abende dieses Tages. Florenz kam eben von seiner neuen Berufsthätigkeit heim. Als er unten im Hause an dem Eingang, der in die Wohnung des alten Rentners führte, vorüberschritt, öffnete sich die Thür und die Haushälterin Hoffackers winkte ihm.

Herr Hoffacker läßt Sie fragen, flüsterte sie, weshalb Sie denn jetzt gar so selten bei ihm vorsprechen, Herr Frank. – Wollen Sie nicht ein Weilchen hereintreten, und mit ihm ein Viertelstündchen Zeit verplaudern? Er ist alle die Tage so gar nicht wohl gewesen.

In der That? So will ich zu ihm gehen, Frau Leistner, antwortete der junge Mann, und ließ eintretend die Thür in das Wohnzimmer Hoffackers vor sich öffnen.

Eine schwere, dunstig-warme Luft quoll ihm daraus entgegen. Der alte Mann saß vor einem lodernden Kaminfeuer, in einen warmen Schlafrock gehüllt, die Füße in dicken Filzschuhen dem Feuer zugekehrt. Auf dem kleinen Tisch neben ihm stand ein Armleuchter mit zwei brennenden Kerzen und eine Flasche Wein, und daneben lagen einige Bände aufgeschlagener Romane, in welchen Herr Hoffacker, wenn er allein war, in buntem Durcheinander zu lesen pflegte – abwechselnd den einen um den andern in die Hand nehmend.

Florenz war in seiner raschen Weise eingetreten und warf sich, seinen Rock aufknöpfend und zurückschlagend, in den leeren Stuhl an der andern Seite des Kamins.

Aber, mein lieber Herr Hoffacker, sagte er, Sie haben hier eine kleine egyptische Brutkammer angelegt.

Behaglich, Frank, nicht wahr, behaglich hier? Es ist rauhes Wetter. Man muß sich schützen, wie man kann. – Frau Leistner, ein Glas für Herrn Frank. – Ich bin nicht wohl, Herr Frank, gar nicht wohl!

Der alte Mann zog ein baumwollenes Schnupftuch aus dem Aermel seines Schlafrocks, und wischte sich damit die Schweißtropfen ab.

Nun, offen gestanden, antwortete Florenz, mir ist auch nicht besonders wohl hier. Wir haben Ende August im Kalender, und Sie schüren Ihr Kaminfeuer, als wenn Sie unsre spärlichen letzten Waldreste sammt und sonders heute noch durch den Rauchfang jagen wollten!

Finden Sie es zu warm hier? – Schenken Sie sich ein, Frank!

Florenz schenkte das Glas voll, das die Haushälterin gebracht hatte, und führte es an die Lippen.

Schwerer Bordeaux! sagte er. Mosel sollten Sie trinken, Hoffacker, der kühlt!

O nein, der macht mich krank – Bordeaux – c'est l'ami de l'homme! Das versteht Ihr nicht, Ihr jungen Leute. – Ihr vertragt Alles.

Die Aerzte würden Ihnen gewiß rathen –

Die Aerzte – was verstehen die? Sind sammt und sonders Charlatans! Wie könnten sie sonst sich für Leute ausgeben, die wissen, wie es einem Andern zu Muthe ist? das weiß Niemand; das fühlt Jeder selbst und ganz allein. Sind sämmtlich Charlatans, Herr Frank. Wenn ich Ihnen sage, daß ich die Wolken nicht vertragen kann, daß ich nicht ordentlich Athem holen und schnaufen kann, so lange die Sonne nicht scheint, so lachen sie. Muß mir Keiner mehr in's Haus kommen! Sämmtlich Quacksalber, Herr Frank. – Nehmen Sie eine Cigarre. Zünden Sie an, Frank. Rücken Sie die Scheite etwas zusammen, die Flamme läßt nach. Sind Sie ganz wohl, Frank?

Vollständig, Herr Hoffacker!

Arbeiten jetzt auf der Stadtcasse, he?

Statt meines Vaters, der einen Urlaub genommen hat.

Wohin ist er?

Zum Besuche eines Freundes auf dem Lande. Er bedurfte einer Erholung.

Erholung – so – glaub's schon, glaub's schon! – Wann kommt er zurück, he?

Er hat zwei Monat Urlaub.

Zwei Monate, und unterdeß haben Sie –

Ich habe die sämmtlichen Geschäfte, Herr Hoffacker.

War denn Niemand anders von der Stadtverwaltung dazu da? fragte der Alte. Das ist ja Ihr Geschäft gar nicht, Frank. Sie sind ja Jurist am Stadtgericht.

Freilich. Aber ich darf Ihnen das sagen, Herr Hoffacker – obwohl es noch ganz unter uns bleiben muß: mein Vater beabsichtigt mir ein großes Opfer zu bringen.

Opfer? Und dergleichen mehr! fiel der alte Rentner spöttisch ungläubig ein.

Wie ich Ihnen sage. Sie wissen, welche schlechten Aussichten der Staatsdienst darbietet. Mein Vater will deshalb, wenn ich mich während dieser zwei Monate recht thätig und diensttüchtig zeige, seine Stelle zu meinen Gunsten niederlegen.

Hoffacker sah den jungen Mann mit seinen großen, blauen, vorquellenden Augen an.

Und das wollen Sie annehmen, Frank?

Gewiß!

Können Director, Präsident beim Gerichtshofe werden, Frank, und wollen Cassenrendant werden, he?

Weshalb nicht das Gewisse dem sehr Ungewissen vorziehen? versetzte der junge Mann,

Dummes Zeug, dummes Zeug, Freundchen, dummes Zeug. – Schenken Sie sich ein, Frank!

Die Cassirerstelle bringt achthundert Thaler ein, bemerkte Florenz.

Weiß es, weiß es – achthundert Thaler und dergleichen mehr! versetzte Hoffacker kaustisch.

Sie meinen –?

Ich meine allerhand, junger Mann – wird Ihnen schon allerhand einbringen, aber nichts Gutes, fürcht' ich! Hören Sie auf mich, bleiben Sie, was Sie sind, Frank!

Nein, Herr Hoffacker; da ich Ihnen doch einmal Geständnisse mache, weshalb soll ich Ihnen nicht Alles sagen?

He? Was ist noch dabei? Es ist noch etwas dabei – noch etwas – ich weiß es.

Hoffacker fixirte bei diesen Worten sehr gespannt seinen jungen Freund.

Ich will heirathen! antwortete Florenz mit möglichst gleichgültigem Tone, doch mit flammend rothen Zügen.

Weiter nichts?!

Der alte Rentner blickte wieder in die Flamme mit dem alten, schlaffen Ausdruck seines Gesichts. Er schien etwas Anderes erwartet zu haben.

Weiter nichts?! Heirathen? wiederholte er mit leisem Gähnen. Müssen Sie denn deshalb Rendant werden, he?

Wenn ich nicht zehn Jahre warten, und meine gute Marie darüber ein vergrämtes und verkümmertes Geschöpf werden lassen will – ja!

Hat sie nichts, wie?

Nichts!

Hoffacker gähnte noch einmal und zuckte die Achseln. Dann blickte er eine Weile nachdenklich auf seine dicken Filzstiefeln, als ob er erwartete, daß sie sich jetzt in das Gespräch mischen würden.

Frank, hub er endlich an, wollen Sie meinen Rath befolgen, he?

Gewiß, Herr Hoffacker, wenn ich kann!

Der alte Rentner schüttelte mit dem Kopf.

Sie thun es doch nicht, sagte er, kenne das, kenne das – will heirathen – da hört Alles auf. Müssen es anders machen!

Er versank wieder in sein Schweigen und hob dann von Neuem an:

Frank, wollen Sie einen Handel mit mir machen, wie?

Auch das, Herr Hoffacker; um was gilt es?

Nun gut, so wollen wir den Handel abschließen. – Ist die alte Leistner da? – Leistner, geh' Sie aus dem Zimmer!

Sie ist nicht mehr da, Herr Hoffacker, bemerkte Florenz.

Desto besser. Haben keine Zeugen nöthig. Hören Sie, Frank, unser Handel ist der – schreien Sie nicht auf dabei, wenn ich's sage, wie ein Jude, wenn man ihm einen Preis bietet, und er meint, es sei nicht genug!

Sie machen mich neugierig, Herr Hoffacker.

Geben Sie, fuhr der alte Rentner fort, morgen schon Ihre Cassengeschäfte ab. Gehen Sie lieber morgen früh gar nicht mehr auf das Bureau; schreiben Sie hin, Sie wären krank geworden, todt krank. Und was Ihr Heirathen betrifft, nun, so heirathen Sie – ich will sorgen, daß Sie mit Ihrer Frau »und dergleichen mehr,« wie Ihr Vater sagt, nicht Hunger leiden – ich setze Sie dann zum Erben ein!

Was?! Sie wollten – mich –

Bleiben Sie ruhig, Frank; hören Sie!

O, mein Gott! rief Florenz aus.

Wollen Sie? Ja oder Nein? he?

Der alte Rentner streckte die Rechte aus.

Florenz legte die seinige hinein; sie war eiskalt und zitterte in der breiten, glühend heißen Faust des alten Mannes.

Also abgemacht! Dabei bleibt's. Ich mache ein Testament und setze Sie zum Erben ein. Und daß Sie's wissen – ich habe das längst vorgehabt – ja, schon lange! – Ich habe Niemand auf der Welt, dem ich etwas schuldig bin. Ich liebe auch Niemand. Die Menschen taugen alle nichts. Ich liebe Sie auch nicht, Frank; brauchen mir deshalb nicht zu danken. Aber ich gönn's Ihnen. Sind kein übler Mensch, Frank. Haben's Pulver nicht erfunden – das ist richtig. Rennen immer g'rad aus und übersehen, was rechts und links liegt. Kein Speculant, Frank. Aber sonst ein ordentlicher Mensch; und haben so viel Verstand, daß Sie einem ehrlichen Manne glauben, wenn er Ihnen sagt: ich kann die Wolken nicht vertragen, es macht mir Druck und Ziehen in allen Gliedern, wenn Wolken aufsteigen. Verdammte Erfindung, die Wolken! Ja, ja, Sie haben mich nie damit ausgelacht! Nun, desto besser für Sie, Frank – hätte Sie circa siebzigtausend Thaler gekostet, wenn Sie's gethan hätten. Werden's finden nach meinem Tod, dort in meinem Secretair. Die alte Leistner bekommt etwas ab. Sonst Niemand. Will's aufsetzen. He?

Gütiger Gott! Was soll ich Ihnen sagen, Herr Hoffacker? rief Florenz aus.

Sagen? Nichts sollen Sie sagen – machen Sie kein Aufhebens davon, das kann ich nicht leiden – und das bitt' ich mir aus: stillschweigen! Wenn ich todt bin, werden Sie's finden. Bis dahin 's Maul gehalten, Frank. Wird nicht lange mehr dauern, sollen sehn, bin unwohl, sehr unwohl!

Herr Hoffacker schlürfte langsam ein Glas Bordeaux herunter, wobei ihm der Schweiß in vollen Tropfen auf's Neue auf die Stirne trat, und zog dann sein Schnupftuch hervor, um damit über sein rothes Gesicht zu fahren.

Florenz befand sich in einer kaum zu beschreibenden Gemüthsstimmung. Diese überwältigende Glücksbotschaft, der schwere Wein, das heiße Zimmer – der Kopf schwindelte ihm, das Herz hämmerte in seiner Brust; er hielt es in dem Armsessel am Kamin nicht mehr aus, er mußte aufspringen, seine Weste aufreißen und im Zimmer umher laufen.

O Himmel! Hoffacker – da ich Ihnen nicht danken, nicht feurig auf meinen Knieen danken darf – darf ich nicht ein wenig schreien, jauchzen –?

Frank, kein Wort weiter darüber!

Einen Jodler, Herr Hoffacker, einen einzigen kurzen Jodler!

Jauchzen Sie in Ihrem Zimmer oben, so viel Sie wollen; hier seien Sie still, ich kann's nicht vertragen!

Aber Ein's noch, Herr Hoffacker – der Marie, der guten, süßen Marie darf ich's verrathen, welches übermenschliche Glück uns blüht!

Daß sie kommt und mir danken will, und mich mit ihrem Geschwätz belästigt – nichts da!

Aber mein Himmel! Herr Hoffacker, Sie gründen da das Glück zweier Menschen, das überschwengliche, nicht auszusprechende Glück zweier junger Herzen, die bis an ihr Lebensende Sie wie einen Vater verehren werden. Wollen Sie denn sie nicht einmal sehen? Wollen Sie Marie nicht sprechen, nicht sich überzeugen, ob ich gut gewählt habe? O sie ist so anmuthig, so hübsch, so lieb, meine Marie –

Ich interessire mich nicht dafür, Frank.

Nun, wie Sie wollen, antwortete der junge Mann etwas verblüfft.

Gehen Sie jetzt hinauf, fuhr der alte Rentner fort. Schreiben Sie an den Bürgermeister, daß Sie morgen nicht auf das Cassenbureau kommen können, daß Sie krank seien, oder was Sie wollen – hören Sie!

Sogleich! Daran soll's nicht fehlen; aber die Schlüssel und die Bücher muß ich selbst übergeben. Also einmal werden Sie mich schon noch hingehen lassen müssen!

Nun ja, Frank, es wird besser sein, meinte Hoffacker, daß Sie's einrichten, ohne daß es den Herren von der Stadt auffällt, hören Sie! Ich gebe Ihnen ein paar Tage dazu. Können's allmälig einleiten, sich die Geschichte vom Halse zu schaffen – 's ist besser. Nun, gute Nacht. Kommen Sie morgen um die Stunde wieder zu mir.

Florenz ergriff die Hand des alten Mannes zum Abschiede.

Was Sie mir jetzt sagen wollen, fuhr dieser gähnend und dann seine großen, wasserblauen Augen zu dem jungen Manne aufschlagend, fort, das will ich da – er deutete auf die aufgeschlagenen Romanbände, welche einer über den andern geschichtet auf dem Tische lagen – will ich da nachlesen. Es wird sich schon so etwas finden, denk' ich! Gute Nacht!

Florenz ging; aber an der Thür kehrte er zurück.

Herr Hoffacker! sagte er.

Was soll's noch?

Zürnen Sie mir nicht, wenn ich noch etwas frage?

Nun, heraus damit!

Haben Sie denn in der That gar keine Ihnen nahestehende Verwandte – Niemand – gar Niemand, dem ein Unrecht –

Niemand! fuhr der alte Rentner heftig und die Stirne zornig runzelnd auf. Machen Sie jetzt, daß Sie fortkommen. Senden Sie mir die Leistner herein, ich will mich zu Bette legen.

Florenz that wie ihm befohlen. Er begab sich in sein Zimmer im obern Stock. Aber nicht lange litt es ihn hier. Er mußte das Gefühl von Glück, welches in ihm wogte, in einen theilnehmenden Busen ausschütten. Es war ihm nicht möglich, allein zu bleiben in dieser Aufregung.

Er ging zu seiner Marie, so spät es war, und obwohl er einen weiten Weg zu ihr hatte. Sie war die Tochter eines pensionirten Hauptmannes, der außerhalb der Stadt wohnte, da »wo die letzten Häuser stehen.« Mariens Vater hatte es nämlich der theuren Miethpreise in der Stadt wegen vorgezogen, ein kleines Landhaus mit einem Garten zu erstehen, das gewiß noch eine Viertelstunde vom Thore an der Chaussee lag.


III.

Florenz hatte keine große Mühe, seines Theils die Verpflichtung auszuführen, welche er in dem Handel mit dem alten Rentner übernommen. Er fühlte sich in der That unwohl am andern Tage. Aus der egyptischen Brutkammer des Herrn Hoffackers, erhitzt, in höchster Erregung, war er durch die Nacht fortgestürmt, den weiten Weg bis zum Hause seiner Braut. Es war ein kaltes, unfreundliches Wetter. Ein heftiger Regen hatte die Wege überschwemmt; Florenz war mit nassen Füßen angekommen, war lange geblieben, dann auf dem Heimwege von dem Regen, der wieder begonnen, durchnäßt worden; er hatte obendrein in der Nacht kein Auge schließen können, vor Freude über die unerwartete Wendung seines Schicksals zu lauter Glück und Sonnenschein: kein Wunder, daß er sich von einem gründlichen Katharr befallen fühlte am andern Morgen, und daß seine Wangen fieberhaft glühten, als er auf seinem Bureau ankam.

Um zehn Uhr pflegte der Stadtkämmerer, dem eigentlich die Finanzverwaltung der Gemeinde oblag, auf dem Bureau zu erscheinen, um Unterschriften zu ertheilen, Befehle zu geben, und, wenn Zahlungen zu machen waren, eines der Schlösser der Stadtcasse zu erschließen, wozu er den Schlüssel führte, während den andern Schlüssel der Rendant bewahrte. Florenz wandte sich an ihn mit der Bitte um eine zeitweilige Entlassung. Man sah dem jungen Manne sein Unwohlsein zu sehr am Gesichte an, als daß sich etwas wider sein Begehren hätte sagen lassen. Aber ein Stellvertreter für Florenz war nicht da; die übrigen Beamteten der Stadt waren hinlänglich mit Geschäften überhäuft. Der Kämmerer mußte also selbst die Kassengeschäfte übernehmen und gab Florenz auf, wenn er sich so unwohl fühle, daß er mehre Tage lang seine Tätigkeit einstellen müsse, solle er seinem Vater schreiben, daß er augenblicklich zurückkommen möge. Das war freilich nur, was Florenz schon beschlossen hatte, und was er augenblicklich noch auf dem Bureau ausführte. Wenn Herr Frank senior zurückkam und sein Amt wieder antrat, so war Alles im alten Geleise. Hoffackers Bedingung war erfüllt und Florenz konnte auf's Neue mit seinen Prozeß-Referaten auf's Stadtgericht wandern.

Für's Erste hütete er sein Zimmer. In den Dämmerungsstunden aber verließ er es, um zu Hoffacker herunter zu gehen und mit ihm zu plaudern, so gut es ihm sein eingenommener Kopf verstattete. Das Fieber war am zweiten Tage gewichen, nur ein starker Schnupfen mit heftigem Kopfweh war übrig geblieben. Aber auch der begann zu weichen, Dank den verschiedenen Töpfen mit Lindenblüth-, Camillen- und anderen heilkräftigen Thee-Arten, welche Hoffacker durch Frau Leistner ihm hinaufsandte. War er unten, so mußte er schwergewürzten Glühwein trinken. So hatte Florenz denn sein Unwohlsein bald abgeschüttelt. Er fühlte sich wohl genug, um einen Ausgang zu wagen. Er wollte den Nachmittag wieder zu seiner Braut hinaus.

Als er eben zum Ausgehen sich gekleidet hatte und noch an seinem warmen Ueberzieher bürstete, den er für die Rückkehr am Abend mitnehmen wollte, hörte er einen schweren Schritt die Treppe herauf kommen – es war ein hastiger Gang. Die Thür des Zimmers flog nach raschem Anklopfen auf, bevor Florenz noch hatte: Herein! rufen können, und ein ganz unerwarteter Besuch stand vor dem jungen Manne – der Herr Stadtkämmerer nämlich.

Der kleine, behende, fast immer sehr freundliche Mann hatte diesmal eine überaus wichtige Amtsmiene.

Genesen, Herr Frank? fragte er ironisch. Vollständig genesen, und wollen ausgehen? Sicherlich wollten Sie auf unser Bureau.

Ich wollte zum ersten Male mich wieder in die Luft wagen – aber nur einen kleinen Spaziergang; auf's Bureau –

Wollten Sie nicht – ja, ja, ich kann's mir denken. Ist Ihr Vater zurück?

Nein, aber er kann jede Stunde eintreffen.

Desto besser, daß er nicht zurück ist. Desto besser! Er wird etwas Schönes finden, wenn er heim kommt! Ja, ja, Herr Frank, geben Sie sich nicht die Mühe, mich so verwundert anzusehen! Wenn Sie es nicht möglich machen können, Ihrem Vater den tödtlichen Schreck zu ersparen …

Einen tödtlichen Schreck? – Was ist geschehen, Herr Stadtrath?,

Junger Mann, unterbrach ihn der Gemeindebeamte, indem er sich auf einen Stuhl niederließ und mit untergeschlagenen Armen Florenz zornig anblickte, ersparen Sie sich mir gegenüber die Anstrengung, sich zu verstellen. Ich komme in bester Absicht zu Ihnen, wenn auch nicht Ihretwegen gerade, doch Ihres achtbaren, verdienten Vaters wegen, der uns so lange ein treuer und zuverlässiger Diener gewesen ist.

Herr Stadtrath, ich will des Todes sein, wenn ich begreife, wovon Sie reden!

Der Kämmerer stützte den Arm auf den Tisch, neben den er sich niedergelassen hatte, und indem er den Kopf auf die Hand legte, sah er mit einem Blick voll Verachtung in Florenz' erschrockenes Gesicht.

Ihr habt's weit gebracht, Ihr jungen Leute heutzutage, sagte er dann bitter. Der Teufel weiß, wo es hinaus soll! Leichtsinn, Genußsucht, Pflichtvergessenheit, und obendrein auch wohl die Noth, das zernagt und zerfrißt Alles, was ehemals fest und unantastbar schien. Da hilft kein Band, kein Eid, keine Controle mehr. Es wäre nöthig, daß man zu gewissen Zweigen des öffentlichen Dienstes Dampfmaschinen erfände, denn nimmt man Menschen dazu, so –

So?

Der Stadtbeamte schüttelte den Kopf.

Es ist hart, es auszusprechen, aber es ist leider die Wahrheit: so machen sie Unterschleife!

Herr Stadtrath! fuhr Florenz zornroth bis unter die Haarwurzeln auf.

Ereifern Sie sich nicht! Ich warne Sie, Frank! Sie machen dadurch die Sache nur schlimmer, und stoßen die Hand zurück, welche sich Ihnen noch theilnehmend bietet.

Wovon reden Sie, Herr – heraus mit der Sprache, wenn ich bitten darf, rief Florenz aus, ohne sich durch diese Warnung einschüchtern zu lassen.

Schreien Sie nicht so laut, es ist überflüssig. Es ist keine Sache, welche man auf der Gasse ausklingeln läßt. Daran, daß ich mir die Mühe nehme, zu Ihnen zu kommen, statt einfach den Dingen ihren geregelten Lauf zu lassen, sehen Sie, daß ich es gut mit Ihnen meine. Seien Sie also offen gegen mich, ganz offen, machen Sie ein reumüthiges Geständniß, und ich will sehen, was ich für Sie thun kann. Und, fuhr der Stadtkämmerer hastig flüsternd fort, damit ich nicht Offenheit verlange, wo ich selbst keine mitbringe, so sage ich Ihnen von vornherein gerade heraus: es ist keineswegs bloß die Theilnahme an Ihrem Schicksale, was mich herführt; es ist auch nicht allein Mitleid mit Ihrem Vater, obwohl ich allerdings so etwas für ihn fühle, wenn ich bedenke, daß er nun schon ein Vierteljahrhundert mit strengster Rechtlichkeit ein Amt geführt hat, welches ihm Millionen durch die Hände gehen ließ, ohne daß je ein Heller fehlte. Nein, Herr Frank, ich gestehe Ihnen offen, es ist für uns von der Stadtverwaltung sammt und sonders persönlich unangenehm, wenn die Sache zum Eclat kommt. Es fällt immer ein Theil der Schuld mit auf uns. »Weshalb haben sie nicht besser controlirt!« rufen die Kannegießer in den Bierhäusern, ohne daran zu denken, daß eine solche Sache gar nicht controlirt werden kann; »schöne Verwaltung das!« schreiben die Schmierer in den Winkelblättern, »einem jungen Burschen, der keinerlei Garantien bietet, wird die Stadtkasse anvertraut«, und so weiter und so weiter, man kennt das ja. Also nun wissen Sie Alles, und nun heraus mit der Sprache!

Ich weiß nichts, ich weiß gar nichts, Herr Stadtrath. O mein Gott! Aber ich ahne Alles – es fehlt Geld – es ist ein Defect in der Kasse?

Ein Defect von elfhundertfünfzig Gulden, der Fond für die Meyer'sche Stiftung, worüber die Stadt mit der Armenverwaltung in Prozeß liegt, und der in unserm Deposito verwahrt wurde.

Elfhundertfünfzig Gulden! rief Florenz entsetzt aus.

Der Griff war nicht übel! sagte der Kämmerer bitter. Der Prozeß kann noch Jahre lang dauern, und wer denkt bis dahin daran, nachzusehen, ob der Fond überhaupt noch vorhanden ist! Hatte nicht zufällig das plötzliche Sinken des niederländischen Goldes, der Wilhelmsd'or, mich veranlaßt, nachzusehen, was wir an Gold überhaupt haben, der Defect hätte noch lange unentdeckt bleiben können. Es war nicht übel gewählt; ja, ja, nur hätten Sie nicht wie ein Schulbube, der einen bösen Streich gemacht hat und sich schämt, wieder zu kommen, von da an vom Cassenbureau fortbleiben müssen! Das war einfältig!

Florenz sah den Redenden starr an. Aber er fuhr nicht mehr zornig auf. Er begriff Alles – ja, und auch seines Vaters ganzen Plan glaubte er jetzt zu durchschauen.

Wie viel ist fort von dem Gelde? fragte der Kämmerer gebieterisch.

Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, fuhr Florenz auf, und ging händeringend im Zimmer auf und ab.

Sie wissen es nicht, wollen Sie etwa beim Läugnen bleiben, Frank, oder wollen Sie gar die Schuld von sich abwälzen und –

Die Schuld von mir abwälzen? sagte der junge Mann, die Blicke mit trostloser Bitterkeit auf den Boden heftend.

Ich hoffe, daß Sie so verhärtet wenigstens nicht sind, und ich rathe Ihnen auch, keinen Versuch dazu zu machen. Sie würden dann finden, daß meine Geduld zu Ende wäre, und wenn ich von hier gehe, ohne daß die Sache arrangirt ist, so sind Sie ein verlorener Mensch!

O sagen Sie mir, sagen Sie mir, was soll ich thun? fragte Florenz mit einem Tone hülflosester Verzweiflung.

Sie müssen das Geld binnen vierundzwanzig Stunden herbeischaffen. So lange will ich schweigen, obwohl es fast gegen meinen Diensteid ist. Also, haben Sie Mittel dazu, sehen Sie eine Möglichkeit, so viel aufzutreiben, wenn Sie das Geld nicht mehr besitzen?

Florenz blickte schweigend vor sich hin.

Es wird wohl eben darauf ankommen, fuhr der Kämmerer fort, wie viel von der Summe Sie noch besitzen, und Sie können unmöglich schon Alles verthan haben.

O mein Gott! platzte Florenz heraus, ich habe ja nichts angerührt, nichts, gar nichts!

Der Stadtrath machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.

Wie oft soll ich Ihnen sagen, daß dies Leugnen mich zur äußersten Strenge wider Sie treiben wird?

So seien Sie strenge, thun Sie, was Sie thun zu müssen glauben. Ich bin kein Dieb! antwortete Florenz, mit dem Fuße stampfend.

Er hatte sich stolz aufgerichtet, und die Todtenblässe in seinem Gesichte war abermals einer flammenden Röthe des Zornes gewichen.

So gehe ich, ohne Ihnen die dreihundert Gulden anzubieten, die ich Ihnen vorstrecken wollte, auf den nächsten Jahresgehalt Ihres Vaters hin.

Dreihundert Gulden, von Jemand, der mich für einen Dieb hält! rief Florenz mit dem Ausbruch äußerster Verachtung.

Der Stadtrath erhob sich achselzuckend. So erfahren Sie denn, was Sie sich bereitet haben, Frank, ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen!

O mein Gott! rief Florenz mit dem Tone des tiefsten Schmerzes aus, noch einen Augenblick – ich weiß ja nicht, was ich rede – noch einen Augenblick, Herr Stadtrath – also vierundzwanzig Stunden Zeit wollen Sie mir lassen –

Das will ich – dabei bleibt's.

Ich danke Ihnen – ich danke Ihnen von ganzer Seele – ich will thun, was ich kann – ich hoffe, Ihnen das Geld bringen zu können –

Elfhundert und fünfzig Gulden!

Elfhundert fünfzig – ich hoffe, der Himmel verläßt mich nicht vielleicht noch heute Abend sehen Sie mich.

Desto besser! Also hoffentlich auf Wiedersehen?

Der Stadtkämmerer wandte sich und ging. Als er die Thür hinter sich zugezogen hatte, fiel Florenz, wie an allen Gliedern gebrochen, in seinen Stuhl zurück. Er bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und helle Thränen perlten durch die Finger.

Ein Gefühl unsäglicher Bitterkeit war über ihn gekommen. Der Unterschleif konnte nur von seinem Vater ausgegangen sein, das war ihm klar. Aber dies Verbrechen, so schmählich und groß es war, es konnte entschuldigt werden, es konnte Gründe geben, welche es in minder schlimmem Lichte zeigten. War es nicht möglich, daß sein Vater mit der Summe aus Gutmütigkeit irgend einem Freunde aus großer und erbarmungverdienender Noth geholfen, gegen die feste und bestimmte Zusage schleunigen Ersatzes; daß dann dieser Ersatz durch irgend ein unvorhergesehenes widriges Ereigniß unmöglich geworden? –

Oder wenn sein Vater auch die Summe, wie Florenz fürchten mußte, für sich selbst gebraucht, um Spiel- oder andere »Ehrenschulden« zu decken, konnte es nicht geschehen sein in der bestimmten Hoffnung, den Betrag in nächster Frist erstatten zu können – eine Hoffnung, die sich dann später freilich illusorisch erwiesen?

Wäre es so gewesen, dann hätte Florenz ja immer noch seinen Vater lieben können, er hätte ihm so wenig von seiner kindlichen Achtung zu entziehen gebraucht. Aber daß sein Vater unwürdiges Spiel mit ihm getrieben, daß er unter dem Vorwand, ihm ein Opfer zu bringen, ihn, seinen eigenen Sohn, an die Stelle geschoben, wo die Schmach, die Verachtung der Menschen, die Strenge der Gesetze ihn treffen mußten – das war entsetzlich, das war so unsäglich gewissenlos! Florenz hätte dem Himmel gedankt, wenn sich die Erde vor seinen Füßen aufgethan und ihn verschlungen hätte, bevor er die Bitterkeit dieser Stunde erlebt!

Er konnte sich nicht fassen. Er saß wie festgezaubert da. Er dachte über sein ganzes Leben nach. Er dachte, wie dieser Vater ihn als Kind freundlich lächelnd auf den Knieen geschaukelt, wie er ihn so manchen Nachmittag, wenn freie Tage für die Schüler waren, mit sich hinausgenommen hatte, in die Anlagen, zu großen Spaziergängen, zu weiteren Ausflügen; wie er da immer freundlich und sorglich über ihn gewacht; wie er an des Sohnes Fortschritten im Studium herzlich sich gefreut; wie er voll Theilnahme zu den Lehrern gegangen, um ihn in deren Gunst zu erhalten; wie er ihn endlich zur Universität entlassen mit tausend Ermahnungen, Lebensregeln und Winken, die nur herzliche Theilnahme verrathen hatten; wie er dort immer für seines Sohnes bescheidene Bedürfnisse väterlich und ohne Klagen gesorgt; wie oft der Stolz auf seinen Sohn, wenn dieser gute Zeugnisse errungen hatte, wenn er öffentlich gelobt worden, leuchtend über seine Züge geglitten war. Und für Alles das hatte Florenz den Vater ja so unaussprechlich geliebt, solch' einen Schatz von Dankbarkeit tief im Herzen getragen!

Und nun dies erleben zu müssen! War es denn möglich – war es denn wirklich derselbe Mann? Nein, nein, es konnte ja nicht sein, es war zu entsetzlich, es denken zu müssen. Und weshalb auch so ununtersucht, so ohne seinen Vater zu hören, es für wahr nehmen?

Florenz athmete auf bei diesem Gedanken, er machte sich die bittersten Vorwürfe, daß er den eigenen Vater auf die Angabe eines Fremden hin verurtheilt. Zwar war der Kämmerer ein Mann von erprobter Redlichkeit, zu dem reichte das Mißtrauen nicht empor; aber konnte sein Vater sich nicht einmal auf kurze Zeit aus dem Bureauzimmer entfernt haben, während die Cassen offen gestanden, konnte nicht ein Dritter, ein Diener, ein Fremder den Raub ansgeführt haben? O gewiß, gewiß war es so. Florenz sprang auf und eilte im Zimmer auf und ab, um sich alle die Möglichkeiten auszudenken, welche seinen Vater von der Schuld freisprachen.

Aber etwas Anderes verlangte noch dringender überlegt zu werden. Wie das Geld beschaffen, welches fehlte, um seine Ehre zu retten – binnen vierundzwanzig Stunden elfhundert und fünfzig Gulden auftreiben – das überschritt den Credit seines Vaters und seinen eigenen weitaus. Sein Vater war ohne Vermögen. Er wohnte zur Miethe. Was er früher besessen, die kleine Heirathsgabe der verstorbenen Frau, das hatte Florenz zu seinen Studien gebraucht. Es gab kein anderes Mittel, als den alten Hausgenossen darum anzusprechen. Es war hart und bitter freilich nach dem, was Hoffacker aus freien Stücken seinem jungen Freunde ohnehin versprochen hatte; aber es war nicht zu umgehen, der alte Rentner allein war es, von dem die Rettung kommen konnte!

Florenz überlegte lange hin und her, wie er bei Hoffacker sein Gesuch anbringen solle. Ueber all' diesem Sinnen verfloß die Zeit. Mit Herzklopfen und wankenden Knieen wollte Florenz sich endlich die Treppe hinunter begeben, als er unten auf derselben eine laute Stimme vernahm. Es war die Stimme seines Vaters; er sprach zornig scheltend mit dem Träger, der ihm sein Gepäck von der Eisenbahn nachgetragen.

Florenz mußte sich im ersten Augenblicke am Geländer der Treppe halten, als er diese Stimme vernahm. Er schritt leise in sein Zimmer zurück und erwartete hier seines Vaters Ankunft.

Herr Frank senior trat denn auch nach wenig Augenblicken ein.

Der Henker hole dieses unverschämte Gesindel, es ist nie mit seinem Trinkgeld zufrieden, sagte er. Man muß wahrhaftig die Sclaverei bei diesem Volke wieder eingeführt wünschen, fuhr Herr Frank fort, indem er seinen Reisesack auf das Sopha warf. Die Sclaverei der Alten war ein Institut, welches sich auf tiefe Kenntniß der Verworfenheit des Charakters gewisser Menschenclassen gründete! Aber wie geht es, Junge – bist Du wirklich krank? Nun, was hast Du? Du siehst allerdings nicht sehr gesund und lustig aus, so à la Hamlet, als seines Vaters Geist ihm erschien, und dergleichen mehr.

Ich bin nicht mehr krank, Vater, aber –

Nun, zum Henker, weshalb habt Ihr mich denn herberufen? Das macht ja alle unsere schönen Pläne zu Wasser! Ich bitte mir eine etwas vollständige Erklärung darüber aus, denn ich gestehe Dir, Florenz, daß ich nicht eben heiter über Dein unzuverlässiges Betragen heimkehre!

Meine Erklärung, Vater, wird Sie nicht gerade heiterer stimmen.

Wie? Was ist geschehen? Nun?

Es hat sich ein Defect in der Casse gefunden, eine bedeutende Summe –

Ja so! sagte Herr Frank senior leiser und ein wenig kleinlaut. Er ging zu seiner Reisetasche, um sie aufzuschließen und eine Cigarrentasche daraus zu nehmen.

Vater! schrie Florenz auf mit einem Tone, von welchem schwer zu sagen war, ob er mehr tiefsten Seelenschmerz oder Entrüstung verrieth.

Ich bitte Dich, Florenz, mache nicht mehr Aufhebens davon, als die Sache verdient. Du mußt Dir Deine Bücher und Cassenbestände scharf angesehen haben, daß Du's jetzt schon bemerkt hast.

Florenz war außer sich über diesen gleichgültigen Ton. Er starrte seinen Vater an, ohne zu reden.

Herr Frank senior setzte seine Cigarre in Brand. Dann ging er, sich seiner Reisestiefel am Ofen zu entledigen.

Das ist Alles, was Sie mir sagen, Vater? fuhr Florenz endlich mit gepreßtem Herzen und zuckender Lippe fort.

Was soll ich viel darüber sagen, Junge? Der Defect ist da, daran ist nun nichts mehr zu ändern. Ich habe das Geld gebraucht. Der Actuar Schnittling, mein alter Freund noch von der Schule her, hatte mir versprochen, mir nach Verlauf von vier Wochen das Geld beschaffen und leihen zu wollen; da ich es aber augenblicklich brauchte, habe ich es vorläufig aus der Casse genommen. Was war dabei? Schnittling war ein wohlhabender, zuverlässiger Mensch, und dergleichen mehr; nach vier Wochen also könnt' ich sicher sein, die Summe wieder richtig in meinem Kasten zu sehen – – da macht mir mein lieber Freund, dieser heimtückische Schuft, den vermaledeiten Streich, sich hinzulegen und an der Cholera zu sterben!

Herr Frank senior war bei dem Gedanken an diese gegen ihn ausgeübte Bosheit so in den Harnisch gerathen, daß er darüber zum ersten Mal in seinem würdevoll verbrachten Leben den Anstand in Wort und Geberde vergaß, und den Stiefel, dessen er sich eben entledigt hatte, weit von sich in die entgegengesetzte Ecke des Zimmers schleuderte.

Zähl' Einer noch auf alte Freunde! Es ist nichts als Lug und Trug auf der Welt, und dergleichen mehr! rief er aus, indem er den zweiten Stiefel dem ersten nachsandte.

Aber Vater –

Ach, ich bitte Dich, Florenz, sprich mir über die Lappalie nicht in diesem larmoyanten Tone! rief Frank senior heftig aus. Du weißt, ich kann das nicht ausstehen. Ein Mann, der weiß, was er sich selbst schuldig ist, faßt jede Angelegenheit mit der ruhigen Würde in's Auge, welche ihm das Bewußtsein geistiger Ueberlegenheit über solche Misere verleiht. Man nennt das Anstand, mein Junge, und Du thätest wohl, Dir einmal gelegentlich über diese Materie einen vollständigen Cursus lesen zu lassen, von Jemand, der sich schmeicheln darf, eine Autorität darin zu sein; Du hast bis zur rechten Schmiede nicht weit zu gehen, da dieser Jemand zufällig Dein Vater ist, und dergleichen mehr.

Haben Sie denn gar keinen Versuch gemacht, das Geld aufzutreiben?

Freilich habe ich das. Ich bin so weit gegangen, mich bis zu diesem entsetzlichen Menschen, diesem Wolkenkameel da unter uns, dem Hoffacker herunterzulassen, und ihm eine Finanzoperation, ein verzinsliches Anlehen mit sechs Procent und sehr praktisch angelegtem Amortisationsplan, zu entwickeln. Aber das Rhinoceros hat mir darauf mit seiner schäbigen Naivetät versichert, ich brauchte kein Geld, ich habe ein hübsches Gehalt und außer einem Sohn weiter nicht Kind noch Kegel. Wenn ich Geld brauche, so sei das ein Zeichen, daß ich mit Geld nicht umzugehen wisse! Ich bitte Dich, ich, der Rendant der Stadtkasse, soll mit Geld nicht umzugehen wissen! Du mußt zugestehen, Florenz, daß auf diese Impertinenz meine verbindlichen Gegenversicherungen, welche ich Dir damals mittheilte, als ich von ihm zurückkam, die einzig passende Antwort waren.

Florenz begriff jetzt, weshalb der alte Mann ihm so eifrig zugesetzt, nicht seines Vaters Vertreter in der Cassenverwaltung zu bleiben. Er hatte, das war offenbar, Argwohn geschöpft bei der Geldverlegenheit des Herrn Frank senior.

Da ist mir denn ein anderer Gedanke gekommen, fuhr der Letztere fort. Eine ruhige Betrachtung des Lebens, mein Sohn, sagt uns, daß wir nie das durchzusetzen suchen sollen, bei dessen Ausführung sich uns auffallender Weise mehrere Hindernisse entgegenthürmen. Du kannst sicher sein, daß dies immer gütige Winke von oben sind, welche uns sagen: nicht weiter auf diesem Wege! Ich kenne das; ich könnte Dir hundert Beispiele davon aus meinem Leben erzählen, und dergleichen mehr. Frank, sagte ich mir deshalb, die Vorsehung giebt dir wieder einen Wink. Die Sache ist anders anzugreifen. Du wirst daran gemahnt, welch schönes Opfer der väterlichen Liebe du zu bringen Gelegenheit hast. Uebertrage deinem Sohne deine Stelle –

Aber um's Himmels willen, Vater, dachten Sie denn gar nicht daran, daß nun mich die entsetzliche Schmach –

Ich dachte an Alles, Florenz, wie Du hoffentlich von Deinem Vater nicht anders voraussetzen wirst; ich kann sagen, ich hatte sehr viele, ich hatte eine Fülle von Gedanken und dergleichen mehr. Du werdest den Defect schon früh genug entdecken, dachte ich zuerst, und das ist ja nun geschehen – nous y voilà! Nun kommt Gedanke Numero zwei. Er hieß: Du, Florenz, wirst Dich bei dem alten Duckmäuser unten an den Laden legen, und Du wirst das Geld von ihm erhalten. Dir schlägt er nicht ab, was er mir verweigerte, wenn es sich dabei um Deine ganze Existenz handelt; dazu seid Ihr ja viel zu innige Freunde.

Wenn er aber nun doch abschlüge, mir zu helfen?

Für diesen allerdings möglichen, aber durchaus nicht wahrscheinlichen Fall hatte ich meine eventuellen Gedanken. Du siehst, Florenz, Dein Vater sorgt für Alles. Also eventueller Gedanke Numero eins; er lautet:

Der Vater Deiner Braut ist viel zu sehr dabei interessirt, seiner aufblühenden Marie eine anständige Versorgung und dergleichen mehr zu erhalten, daß er nicht in einem solchen Nothfall das Geld auf sein kleines Besitzthum aufnähme und Dir vorstreckte.

Aber mein Gott, welche Idee, rief Florenz aus, das wäre ja der rechte Weg gewesen, mir auf ewig mein Lebensglück zu zerstören, Vater – wissen Sie denn nicht, wie reizbar der Hauptmann im Punkte der Ehre ist, wie er einem Schwiegersohn, der ihm mit solchen Angelegenheiten, mit Cassendefecten käme, auf der Stelle die Thür zeigen würde!

Ah bah, Florenz, Du kennst die Menschen nicht. Einen Schwiegersohn mit der Aussicht auf 800 Thaler Gehalt setzt auch der ehrenreizbarste Hauptmann außer Dienst nicht vor die Thür, wenn er innerhalb dieser Thür von drei noch unverlobten Grazien umschwebt zu sein das Glück genießt, und dergleichen mehr. Aber wenn auch – für diesen Fall hatte ich ja meinen eventuellen Gedanken Numero zwei. Willst Du ihn hören, oder habe ich Dich bereits beruhigt, mein Sohn?

Keineswegs, Vater; wenn Sie glauben, ich sei beruhigt …

Nun wohl, so will ich Dir Alles sagen. Sieh, Florenz, wenn es denn wirklich zum Eclat käme, wenn die Cassenlücke entdeckt würde, bevor uns gelungen, sie auszufüllen, dann stellt sich doch die Sache himmelweit anders heraus, kommt der Fall unter Deiner Verwaltung zur Sprache, als wenn er unter der meinigen entdeckt worden wäre. Ich, ein alter, im Dienst ergrauter, will sagen dem Ergrauen sich annähernder Beamte, ein Mann, der stolz zurückblicken kann auf fünfunddreißig Jahre tadelloser Führung, auf fünfundzwanzig Jahre gewissenhaftester und redlichster Cassenverwaltung, – der als Muster eines eifrigen öffentlichen Dieners der jüngeren Generation vorgehalten wird, – der mit dem Vertrauen seiner Vorgesetzten förmlich überschüttet worden, – ein solcher würdiger Mann fällt noch am Abend seines Lebens in die Schlingen der Verführung, der schlägt seiner ganzen Vergangenheit in's Gesicht, der hat die miserable Schwäche, von dem abscheulichen Spiel sich hinreißen zu lassen und im ruchlosesten, verächtlichsten Leichtsinn begeht er den Frevel, seine Casse – – o laß es mich nicht aussprechen, wie unentschuldbar, wie gemein, wie schmählich –

Gut, daß Sie wenigstens das einsehen, Vater! fiel Florenz ein.

– die blind urtheilende Welt es finden würde, fuhr Herr Frank senior ruhig fort, die Welt, welche die Verhältnisse nicht kennt. Dagegen, käme die Sache gegen Dich zur Sprache, wie anders stellt sie sich dann heraus! Man hat die Thorheit begangen, einem blutjungen Menschen die Casse anzuvertrauen. Der blutjunge Mensch hat in genialem Leichtsinn, wie nicht anders zu erwarten war, hineingegriffen in diese Schätze; er hat gleich einen hübschen Beutel voll, so ein Sümmchen von elfhundert Gulden genommen. Wahrhaftig, es ist nicht übel, der Studentenstreich wäre ihm aber beinahe übel bekommen. Wenn nicht die Fürsprache seines verdienten redlichen Vaters, mit dem alle Welt bei dieser Gelegenheit das innigste Mitleid empfand, gewesen wäre, so würde eine criminelle Untersuchung nicht ausgeblieben sein, so aber ist die fehlende Summe aus der Caution des Vaters gedeckt, und der Sohn mit einer Disciplinarstrafe und dergleichen mehr davon gekommen, ha, ha, ha! – mundus vult decipi – so würde man geurtheilt, so würde die Welt gesprochen haben.

Und die Zukunft Ihres Sohnes?! O Vater, Sie sind ein entsetzlicher Egoist! sagte Florenz, schmerzlich beklommen.

Nun, mein Gott, das sind ja alles Voraussetzungen und Extreme, zu denen es nie kommen wird, nie kommen kann; ich wollte Dir nur zeigen, wie ich Alles bis auf's Letzte wohl überdacht und überlegt habe. Für's erste haben wir ja, Gott sei Dank, andere Auskunftsmittel, und ich rathe Dir, mein Sohn, jetzt zu diesen zu recurriren, während ich gehe, um zu sehen, ob ich im Gasthofe noch etwas Erträgliches zu meinem Diner bekomme.

Herr Frank senior bekleidete seine Füße mit einem Paar frischer Stiefeln und bereitete sich zum Ausgehen vor.

Ich muß Ihnen leider vorher noch eine Mittheilung machen, Vater, zu der Sie mich bisher gar nicht haben kommen lassen. Der Defect ist nicht von mir entdeckt, sondern eine Weile vor Ihrem Kommen war der Stadtkämmerer hier –

Wer? Der hat doch nicht –

Er hat den Defect gefunden.

Alle Wetter, das ist was Anderes! Das ist eine verzweifelte Lage für Dich!

Für mich blos?

Nun freilich für Dich, Dir wird's zugeschrieben; von mir glaubt man ja so etwas gar nicht! Aber weshalb warst Du auch so verzweifelt einfältig, die Casse abzugeben? Verdammter Querstreich das, welche Dummheit! O mein Gott, was man an seinen eigenen Kindern erlebt!

Das ist nun einmal geschehen, versetzte Florenz; der Kämmerer hat mir eine Frist von vierundzwanzig Stunden gewährt, die Summe wieder herbeizuschaffen –

Hat er? Nun mein Gott, ich lebe wieder auf – und so geh' denn in's Henkers Namen zu dem alten Menschen unten und mache, daß Du das Geld bekommst, es ist jetzt also kein Augenblick mehr zu verlieren!

Ich will gehen, Vater, und – setzte Florenz bitter ironisch hinzu – damit Ihnen nicht die Sorge Ihr verspätetes Diner verderbe, darf ich Ihnen sagen: ich bin gewiß, daß ich das Geld erhalten werde!

Daran habe ich ja nie gezweifelt! antwortete Frank senior und lief davon, froh, daß diese unangenehme Erörterung zu Ende war, die ihm denn doch eigentlich mehr zugesetzt hatte, als er wollte sichtbar werden lassen. Er hatte gefühlt, daß sich seine Aufregung nicht mehr verhüllen ließ. Und in der That, Florenz hatte sehr gut bemerkt, wie die Hände seines Vaters gezittert, als er mit seiner Kleidung beschäftigt war, und wie er mehr als einmal an's Fenster getreten, um seinem Sohn das Spiel seiner Gesichtszüge zu verbergen. – –

Florenz ging noch eine Weile in Gedanken versunken in seinem Zimmer auf und ab. Er wollte die gewöhnliche Stunde herankommen lassen, in welcher er Hoffacker seinen Besuch zu machen pflegte, um diesen nicht etwa durch ein unerwartetes und ungelegenes Kommen in üble Laune zu versetzen, was bei den Eigenheiten des alten Mannes so leicht der Fall war.

Als es dämmerte, zog Florenz einen leichten Sommerrock an, um von der Hitze in dem Wohngemach seines Gönners nicht gar zu arg zu leiden. Dann begab er sich die Treppe hinab. Frau Leistner war nicht, wie sonst immer, in dem Vorzimmerchen; sie machte um diese Zeit gewöhnlich ihre Geschäftsgänge. Als Florenz an die Thür des Rentners klopfte, hörte er auch nicht das übliche »Herein«, aber Herr Hoffacker war ja nicht der Mann, der sich um and'rer Leute willen die Lunge anstrengte. Wer zu ihm wollte, mußte eben schon ohne Einladung sich die Freiheit nehmen.

Florenz trat in das Wohnzimmer ein; es war so dunstig und warm darin, wie immer, wenn auch die Scheite im Kamin nicht flackerten, sondern theils verkohlt, theils schon seit lange auseinander gefallen schienen und stille qualmten.

Der alte Mann saß an seinem Secretär, mit den Armen auf die geöffnete Klappe desselben gestützt, den Kopf mit der schwarzen Sammetmütze tief über Papiere gebeugt, welche vor ihm lagen.

Sie lesen noch, Herr Hoffacker, und das so spät ohne Licht? Sie werden sich die Augen verderben bei der Dämmerung, sagte Florenz.

Hoffacker antwortete nicht.

Soll ich Ihnen die Lichter anzünden?

Der alte Mann blieb nicht allein stumm, er machte auch nicht die geringste Bewegung.

Florenz stutzte, er trat auf die andere Seite, zwischen den Alten und das Fenster, um ihm in's Gesicht sehen zu können. Er legte die Hand auf seine Schulter. Der Alte blieb so stumm und unbeweglich, wie vorher. Florenz erfaßte seinen Arm, hob ihn in die Höhe – der Arm sank schwer und starr zurück; das Dämmerlicht, welches vom Fenster her auf die Züge Hoffackers fiel, zeigte dem jungen Manne ein ganz entstelltes Gesicht, stierblickende Augen und eine eigenthümliche fahle Blässe.

Er ist todt! rief Florenz erschrocken aus. Mein Gott, er ist todt!

Es war in der That so. Der Schlag mußte den alten Mann getroffen und so plötzlich hinweggerafft haben.

Eine Menge Gedanken durchkreuzten Florenz' Kopf. Der erste war eine tiefe, fast gerührte Theilnahme mit dem Schicksal des Unglücklichen, der ein so einsames, freudloses Dasein geführt und jetzt eben so einsam und verlassen geendet hatte; die Vorstellung, daß er selbst, der Erbe des Geschiedenen, nun unermeßlich reich sei, mit einem Schlage über alle Noth hinausgehoben, mischte sich rasch in jenes Gefühl des Mitleids, und der dritte, eben so blitzschnell aufsteigende Gedanke des jungen Mannes war: aber das Geld, das ich haben muß, das Geld – o mein Gott, woher beschaff' ich das Geld, um mich vor der Schande zu retten?! Bis das Testament eröffnet, bis die Aufforderung an etwaige Erben, die nähere Anrechte geltend machen und Einspruch erheben können, erlassen ist, bis mir das Vermögen ausgeliefert wird – o darüber vergehen Wochen, Monate – und unterdeß – heiliger Gott, welche Lage für mich!!

Florenz rannte ein paar Mal, von seiner Angst gepeitscht, auf und ab in dem Zimmer, dann trat er mit raschem Entschlusse an den Secretär zurück, vor welchem zusammengesunken die Leiche ruhte. Mit zitternder Hand riß er ein paar Schubladen auf. Sie enthielten nicht, was er suchte. Ungestüm stieß er sie zurück. Eine dritte, eine vierte Lade flog unter seinen krampfhaft hastigen Händen auf – endlich leuchtete ihm entgegen, was er zu finden erwartet hatte. Weiße Rollen, groß und klein, über einander gehäuft, so daß sie das geräumige Schubfach bis an den Rand füllten. Florenz griff hinein. Was er herauszog, waren drei kleine Rollen; auf jeder stand geschrieben: 25 Stück Friedrichsd'or. Florenz nahm noch zwei Röllchen von derselben Größe und ließ sie mit zitternder Hand in seine Tasche gleiten.

Gott vergebe mir die Sünde, wenn es eine Sünde ist, sagte er, während er die schwere Lade zurückschob. Ich kann nicht anders! Es ist ja auch Alles, Alles nun mein! Nur eine Form verletze ich, indem ich einen so geringen Theil meines Eigenthums an mich nehme, bevor es mir von den Gerichten übergeben wird. Es kann keine Sünde sein – es ist ja meine Ehre, es ist mein Glück, es ist Mariens ganze Zukunft, was ich damit rette!

Er stürmte hinaus und rief in seiner wilden Hast und Aufregung alle Bewohner des Hauses zusammen; die Haushälterin des Verstorbenen fand sich ein, unter ihrem Jammern und Wehklagen wurde die Leiche auf das Bett gelegt; dann wurde nach dem Arzt geschickt, der natürlich, als er athemlos angerannt gekommen, nichts mehr zu thun fand. Endlich wurde nach dem Stadtgerichte gesandt, welches noch am selben Abend eines seiner Mitglieder und einen Actuar schickte, um den Nachlaß unter Siegel zu legen.

Florenz war bei dieser Procedur nicht mehr gegenwärtig. Er befand sich in dieser Zeit in geheimem Zwiegespräche mit dem Stadtkämmerer in dessen Arbeitscabinet auf dem Rathhause.


IV.

Der Defect in der Stadtcasse war gedeckt, die Sache war vertuscht, Herr Frank senior fungirte ruhig wie früher als Rendant, der alte Hoffacker war begraben, und Florenz Frank schoß wieder täglich um neun Uhr Morgens hastigen Schrittes durch die Straßen daher, welche zum Stadtgerichte führten; Nachmittags aber eben so eilig zum Thore hinaus, dem kleinen Landhause zu, wo seine Braut wohnte.

In der Zeitung der Stadt aber und in einigen großen auswärtigen Journalen stand folgendes Inserat zu lesen:

»Aufforderung. Vom königlichen Stadtgerichte zu S. Demnach am 13. September a. c. der ehemalige Domänenkammer-Registrator und Rentner Paul Friedrich Hoffacker, ledigen Standes, geboren am 15. October 1788 zu W., dahier Todes verblichen, ohne ein Testament zu hinterlassen, leibliche Erben desselben hierorts jedoch nicht bekannt; so werden hiermit Alle und Diejenigen, welche aus irgend einem rechtlichen Grunde sich zu Ansprüchen an die Erbschaft, welche aus etwa 69 000 Thalern in Capitalien, theils in Baar, theils rentbar angelegt, benebst einigem, doch geringem Immobilarbesitze, besteht, berechtigt halten, hiermit aufgefordert, diese ihre Ansprüche binnen einer Zeit von einem Jahre, vom Tage der Einrückung dieses Proclama's an gerechnet, auf hiesigem Stadtgerichte um so gewisser vorzubringen und zu documentiren, als entstehenden Falls die Nachlaßmasse nach den Landesgesetzen dem landesherrlichen Fiscus zugesprochen werden würde.«

So stand es wörtlich in der offiziellen Zeitung, und Florenz hatte es nicht ein-, er hatte es ein halbdutzendmal mit gerunzelter Stirn und stieren Augen gelesen, und dann das Blatt zusammengeballt und in den Winkel geschleudert. Aber was halfen sein Zorn, seine Verzweiflung, seine ganze Selbstqual, es war nun einmal so. Im Nachlasse Hoffackers hatte sich keine Spur von einem Testament gefunden, am wenigsten eines, welches Florenz Frank zum Universalerben ernannte. Der alte Herr mußte vom Tode überrascht worden sein, bevor er Zeit gefunden, sein Versprechen zu erfüllen.

Florenz hatte manche dunkle Stunde, manchen Augenblick tiefer Seelenpein darüber. Es war nicht allein das verlorene Glück, welches ihn quälte; er mußte sich ja auch fragen, ob er sich nicht auch mit einer Schuld belastet, als er das Geld von einer Verlassenschaft genommen, die nun doch nicht, wie er gewähnt, sein Eigenthum war! Aber eigentlich war sie ja schon sein Eigenthum; sie war ihm nicht allein versprochen, der Verstorbene hatte ja einen Vertrag, einen Handel, wie er es genannt, mit ihm gemacht, und Florenz seinerseits hatte die Obliegenheit, die er nach diesem Vertrage übernommen – den Rücktritt von der Verwaltung des Rendantenamts – getreulich erfüllt. Und dann hatte er ja Niemanden durch seine Handlung benachtheiligt. Das Vermögen sollte dem Fiscus zugesprochen werden, weil es ein herrenloses Gut war. So konnte Florenz also sein Gewissen beschwichtigen und er hielt es in der That für unbeschwert. – –

Seit dem Tode Hoffackers mochten etwa fünf Monate verflossen sein. Es waren weiter keine Veränderungen eingetreten, als etwa die, daß Herr Frank senior etwas wortkarger, etwas weniger selbstbewußt straff in seiner würdevollen Haltung geworden war.

Florenz sah ihn außer bei der gemeinschaftlichen Mahlzeit fast nie mehr. Herr Frank senior wich auch so viel möglich ausführlichen Unterhaltungen mit seinem Sohne, ja selbst den Blicken aus den großen forschenden Augen desselben aus. Nach der Art und Weise, wie Florenz es angefangen, die Summe zur Erstattung des Cassendefects herbeizuschaffen, hatte er nie mit einer Silbe gefragt!

Ueber »Odiosa«, das war Herrn Frank's alte Lebensregel, sprach er nun einmal nicht.

Florenz diente die leise Aenderung, welche er im Wesen und Betragen seines Vaters wahrnahm, zu großer Beruhigung; es zeigte ihm, daß dieser doch innerlich tiefer und schwerer seine Verirrung empfinde, als er mit seinen leichtsinnigen Reden über die Sache damals hatte einräumen wollen. Es gab dem Sohne wenigstens etwas von der Achtung für den Vater zurück, welche er diesem mit so großem Schmerz ganz hatte entziehen zu müssen geglaubt. Auch erfuhr er zu seiner Freude, daß sein Vater in seinem abendlichen Club nicht mehr spiele.

So waren, wie gesagt, etwa fünf Monate nach dem Tode Hoffackers verflossen. Florenz saß eines Morgens an seinem Actentisch in dem Stadtgerichtslocale, in einem großen, düstern Raume, in welchem noch mehre andere Arbeiter beschäftigt waren, als die Thür sich öffnete, und eine in diesen Räumen nicht ganz gewöhnliche Erscheinung, eine junge elegant gekleidete Dame eintrat. Sie war groß, etwa sechs bis sieben und zwanzig Jahre alt, und hatte ein auffallend sicheres und ruhiges Wesen; nicht gerade schön zu nennen, waren ihre Züge doch dadurch sehr gewinnend, daß sie den Vortheil eines sehr reinen und klaren, frischen Teints besaßen. Mit ihr zugleich trat der Director des Stadtgerichts ein.

Herr Referendar Frank! sagte dieser würdige Oberpriester der Themis, ich bin leider durch einen Termin verhindert, die Angelegenheit dieser Dame selbst zu erledigen; wollen Sie die Güte haben, die Mittheilungen derselben entgegenzunehmen. Sie werden sie zu Protocoll nehmen müssen, und bringen mir dies dann mit den Anlagen, welche die Dame – Miß – –? wandte er sich fragend an die Fremde.

Miß Arabella Coremanns! antwortete sie halblaut.

Miß Arabella Coremanns Ihnen einhändigen wird, in mein Cabinet.

Florenz verbeugte sich, und während der Director fortging, holte er der Dame einen Stuhl herbei.

Die Fremde nahm Platz, drapirte sich in ihren Shawl und Florenz bat um ihre Deposition.

Ich komme in einer Erbschaftsangelegenheit, sagte sie mit einem sehr angenehmen, sanften Organ. Mein Vater lebt in Nordamerika, im Staate Illinois; daher kommt es, daß wir so spät uns melden. Mein Vater ist Geschwisterkind mit dem hier vor etwa einem halben Jahre verstorbenen –

Doch nicht Hoffacker? fuhr Florenz erschrocken auf.

Paul Friedrich Hoffacker, sagte die junge Dame leise, wie um die andern arbeitenden Herren nicht zu stören.

Hoffacker! wiederholte Florenz tonlos, und seine Hand zitterte, als er nach dem nächstliegenden weißen Bogen Papier griff, um das Protokoll aufzusetzen.

Die Fremde schlug ihren Shawl auseinander und zog ein Päckchen Papiere hervor, das sie neben Florenz auf den Tisch legte.

Hier sind die Documente über die Verwandtschaft, welche ich mitgebracht habe, fuhr sie fort; der Herr Director meinte, Sie würden dieselben prüfen und mir dann sagen, ob diese Papiere hinreichten; wenn es nicht der Fall wäre, so hätten Sie wohl die Güte, mir einen zuverlässigen Advokaten zuzuweisen, der mir alles Das zu beschaffen hülfe, was ich noch einreichen müßte, um die Erbschaft ausgeliefert zu erhalten.

Florenz hörte nur mit halbem Ohre zu, und eben so zerstreut war er, als er das Päckchen öffnete und die darin enthaltenen Certificate und Vollmachten eines nach dem andern überblickte.

Also doch Jemand in der Welt, den du um zwölfhundert Gulden bestohlen hast! Das war der einzige Gedanke, den er fassen konnte, und dabei schwindelte es ihm buchstäblich vor den Augen.

Er mußte sich gewaltsam beherrschen. Um seine Bewegung nicht zu verrathen, verschanzte er sich hinter den trockensten und wortkargsten Amtsernst. Aber schwer wurde es ihm, das Protocoll zu Stande zu bringen.

Miß Arabella – er hatte den Familiennamen vergessen, obwohl er ihn ein halb dutzendmal in den Papieren gefunden. – Aus Somerville im Staate – auch da war es ihm, als hätte er nie das Wort gehört; präsentirt Vollmacht ihres Vaters Heinrich Georg Coremanns, ausgestellt am 3. December 185* – nein, der Geburtsact von Heinrich Georg Coremanns, Sohn von Paul Coremanns und Helene Hoffacker, war am 3. December, die Vollmacht war vom 2. Januar des folgenden Jahres u. s. w.

Es dauerte gar lange Zeit, bis das Protokoll fertig war, und mehr als einmal mußte Florenz sein Taschentuch ziehen und sich die Stirn abwischen.

Er unterschrieb endlich das Protocoll und legte es sodann der Fremden vor.

Wollen Sie die Güte haben und hier zur Seite Ihren Namen unterzeichnen? murmelte er kaum hörbar.

Sie schrieb mit langen, schöngeformten englischen Buchstaben ihren Namen an die bezeichnete Stelle; dann schweifte ihr Auge über den nachbarlich gegenüberstehenden Namen des Referendars, und sie blickte mit einem Ausdruck großer Überraschung, den sie nicht unterdrücken konnte, in Florenz' Gesicht.

Sie heißen Frank? fragte sie so rasch, als ob es ihr gegen ihren Willen entführe; Florenz Frank?

Das ist mein Name – er fällt Ihnen auf, Miß Coremanns?

O nur, versetzte sie aufstehend und sich mit dem Wegschieben ihres Stuhles beschäftigend, weil ich in Amerika Jemand kannte, der denselben Namen hat.

Wohl möglich, er ist nicht selten, antwortete Florenz. Was die von Ihnen eingereichten Papiere angeht, so bin ich nicht im Stande, Ihnen auf der Stelle zu sagen, ob sie ganz genügen; ich will sie noch einmal genauer durchsehen, und den Bescheid des Herrn Directors darüber einholen. Dann werde ich mir erlauben, zu Ihnen zu kommen, um Ihnen das Weitere mitzutheilen.

Die Dame drückte ihm ihre Dankbarkeit dafür aus und gab ihm ihre Adresse an. Sie wohnte im ersten Gasthofe der Stadt, zusammen mit einer älteren Dame, welche ihre Begleiterin auf der langen Reise gewesen war. –

Sie empfahl sich nun mit einer kleinen, etwas amerikanisch steifen Verbeugung und ging. Als sie zur Thüre hinaus war, fiel Florenz schwer aufathmend in seinen Sessel zurück.

Merkwürdig! sagte in diesem Augenblick eine eigenthümlich heisere Stimme, die hinter einem hohen dunklen Schreibpult in der andern Ecke der großen Stube, in welcher die eben beschriebene Scene statt fand, hervorkam.

Was ist merkwürdig? fragte Florenz mechanisch mit einem tiefen Seufzer.

O sehr Vieles! antwortete der unsichtbare Eigenthümer der Stimme, welche vom vielen Actenstaubschlucken so heiser geworden sein mußte, hinter dem Pulte her, wo er verbarrikadirt steckte; o sehr Vieles! Erstens, daß solch eine junge Dame sich ganz allein hierher wagt, ohne eine Begleiterin, die sie an der Schürze fassen kann.

Das ist amerikanische Sicherheit, das verstehen Sie nicht, Schmidt! fiel eine andere Stimme ein, die eines jugendlichen, blonden Collegen, der an einer andern Seite der Schreibstube arbeitete. In Amerika haben die jungen Damen mehr Courage, als –

Hier die jungen Männer! fiel Schmidt ein. Nicht wahr, Frank?

Die Anwesenden lachten laut auf.

Weshalb waren Sie denn so gar schüchtern, Frank? fuhr der Actuar mit der heisern Stimme fort. Schienen Ihnen die Papiere denn etwa nicht echt?

Die Papiere? Gewiß! Weshalb sollen sie nicht echt sein? antwortete Florenz.

Nun, weil Sie so gar nicht thaten, als ob Sie eine junge reiche Erbin vor sich hätten, fiel der blonde Referendar ein; alle Wetter, Frank, die hatte mir der Director zuweisen sollen, die sollte mir mit einem solchen Vermögen nicht wieder zum Lande hinaus. Schon aus Patriotismus ließ' ich sie nicht wieder hinaus!

Weshalb haben Sie sie nicht wenigstens die Treppe hinunter begleitet? fragte ein Dritter. Sie wird ja aus diesem verwünschten dunklen Zwingergebäude mit all den Gängen und Treppen sich gar nicht wieder haben hinausfinden können. Und welche Gelegenheiten auf diesen dunklen Gängen und gewundenen Treppen –

Wo obendrein noch die Göttin mit verbundenen Augen herrscht! sagte der Actuar.

Die justitia distributiva! fiel der Blonde ein.

O, der Frank ist schlauer als Ihr glaubt, – sagte jetzt vom vierten und letzten Schreibtisch her, den der Raum umfaßte, ein Dritter, ein Mensch mit einem röthlichen Bart und eigenthümlich lauernden Blicken – der Frank ist schlau genug. Mit ganz absonderlicher Kunst hat er den Einfältigen gespielt, und gethan, als könne er nicht auf der Stelle sagen, ob die Papiere der Miß alles Nöthige enthielten oder nicht. Hat er sich so nicht die schönste Gelegenheit verschafft, sie in ihrer Wohnung zu besuchen? Da wird er's schon nachholen.

Florenz antwortete mit einem erzwungenen Lachen.

Famoser Mensch, der Frank! fuhr der Rothbart mit den lauernden Augen fort. Sagt immer, er hätte nur Unglück und Pech auf der Welt, und bekommt jetzt in seiner Praxis ein solches fettes Hühnchen zu pflücken, eine schöne farcirte amerikanische Krickente! – Er hat sich aber auch einmal über das andere die Stirn abgewischt – stieg es Ihnen zu Kopf, Frank, Ihr plötzliches Glück?

Florenz hielt diese geistreichen Neckereien in seiner jetzigen Stimmung nicht aus. Er wollte aufbrausen und eine zornige Antwort geben, aber er besann sich, raffte die Papiere zusammen, um sie in das Cabinet des Directors zu bringen, und verließ damit das Zimmer.

Wie er dann den Rest des Nachmittags zubrachte, davon hätte er schwerlich am andern Tage selbst Rechenschaft geben können. Zu seiner Braut war er nicht gegangen. Er hatte sich umhergetrieben, wie ein verlorener Mensch. Er hatte in den Anlagen, welche die Stadt umgaben, spielende Kinder umgerannt, und war wie blind an den höchsten Respectspersonen vorübergestürzt, ohne sie zu grüßen. Er hatte stundenlang auf einer versteckten Bank im Gebüsch gesessen, und hatte nicht bemerkt, daß es zu regnen begonnen, daß die Nacht eingetreten, daß ein heftiger Wind sich erhoben, der das vorjährige Laub aufwirbelte, und ihm die dürren Zweige des Gebüsches hinter seiner Bank um die Schulter schlug. Er hatte nichts gesehen, nichts gefühlt, nichts bemerkt, sondern nur den einen Gedanken gehabt: du bist nun doch ein Dieb, du hast diese Amerikanerin um zwölfhundert Gulden bestohlen!

In der Nacht aber hatten sich die stürmischen Wogen seines Innern gelegt. Er war stille und besonnen mit sich zu Rathe gegangen. Ein Entschluß war in ihm aufgestiegen, ein Gedanke, der eigentlich etwas Schreckliches für ihn hatte, durch dessen Ausführung sein Lebensglück für ewig und unwiederbringlich verloren gehen mußte; aber wäre nicht sein Lebensglück auch so für immer zerstört geblieben, wenn er sich bis an's Ende dieses Lebens hätte sagen müssen, daß er Jemanden bestohlen habe?


V.

Am folgenden Vormittage begab sich Florenz in den Gasthof und lies sich bei Fräulein Coremanns melden. Er sah bleich und überwacht aus, aber sonst verrieth sein Aeußeres die innere Aufregung nicht. Er hatte sich mit Sorgfalt gekleidet. Miß Arabella empfing ihn mit eigenthümlicher Kälte, Steifheit oder was es war; sie hatte in ihrem Wesen, schien es, nichts von jener Offenheit und frischen Natürlichkeit, welche eine so liebenswürdige Eigenschaft der Töchter der westlichen Hemisphäre ist.

Desto zuvorkommender zeigte sich Arabella's Begleiterin, eine mundeifrige, etwas bräunliche Dame mittleren Alters, mit hängenden Locken und sehr kleinen Augen, über denen die Lider keinen Augenblick ruhig blieben, sondern in fortwährendem Spiel sich hoben oder niederzuckten. Sie hatte sofort eine große Menge Klagen in den Busen des jungen Mannes, der sie besuchte, auszuschütten.

Sie und Arabella hatten eine sehr schlechte, stürmische Ueberfahrt gehabt; sie hatten Beide sehr viel von der Seekrankheit gelitten. Sie waren auf dem Meere sehr weit von ihrem Course verschlagen worden, und hatten auf den Eisenbahnen bald hier bald dort Aufenthalt gehabt, weil die Züge nicht ineinander griffen. Sie hatten jetzt im Gasthofe so gar keinen Comfort.

Ja, wenn man die eifrige Dame so peroriren hörte, mußte man glauben, es bestehe eine förmliche Verschwörung wider sie, wozu sich der grobe amerikanische Schiffs-Capitän, die tückischen Passatwinde, die verschlagenen Eisenbahn-Directoren und jetzt im Gasthofe der räuberische Wirth und die habsüchtigen Kellner die Hände reichten; gewiß, sie Alle hatten sich spitzbübisch einander zugeraunt: laßt sie nicht weiter, nur nicht weiter, diese alte Dame; sie will nach Deutschland, um dort einen großen Schatz zu heben; aber sie soll es nicht bekommen, niemals, all das schöne Geld; wir wollen es hüten vor ihren kleinen gierigen Händen; wie die großen Riesen mit den furchtbaren Keulen und die Drachen mit feuerspeienden Hälsen im Märchen wollen wir sie zurückhalten und erschrecken. Sie soll sich todt ärgern, bevor sie hinkommt. Sie soll gepeinigt werden, daß sie stirbt; kurz, sie soll nimmermehr all das schone deutsche Geld bekommen!

So mußten sie sich verschworen haben, das Meer und die Locomotiven, die Winde und die Kellner – es konnte gar nicht anders sein, wenn man Mistreß Patterson schwätzen hörte, in ihrem komischen amerikanischen Jargon, der mit hundert: I guess Sir, und I dare say und I suppose gespickt war, und vielen andern geistreichen Ausdrücken mehr, welche Florenz nicht nach ihrem Werthe schätzen konnte, weil er sie nicht verstand.

Und nun wurde der junge Referendar in's Gebet genommen und streng ausgeforscht, ob er nicht etwa auch zu dieser ruchlosen Verschwörung gehöre; und wir müssen leider gestehen, daß er eigentlich sehr schlecht in dieser Prüfung bestand. Die Papiere, welche ihm übergeben waren, behauptete er, reichten nicht ganz zur nöthigen Legitimation der Miß Arabella hin. Es fehlte noch ein Document über die Trauung der Großmutter Arabella's, welche die Tante des verstorbenen Hoffacker gewesen war. Mistreß Patterson fand diese Forderung very shocking – als ob es möglich sei, daß sie nicht getraut gewesen, die gute alte Großmutter!

Florenz beruhigte sie. Denn da diese Trauung in Deutschland stattgefunden hatte, war das Document darüber leicht zu beschaffen. Florenz versprach selbst darum zu schreiben. Dann mußten diejenigen Documente, welche in englischer Sprache abgefaßt waren, in's Deutsche übersetzt werden, was das Gericht durch seine geschworenen Uebersetzer besorgen lassen wollte. Dann –

– werden wir doch endlich das Geld erhalten, m' thinks Sir! fiel Mistreß Patterson ein.

Nicht gleich, antwortete Florenz.

You'll make us no furtker difficulty, I suppose! fuhr die Dame fort.

Sie werden doch noch warten müssen, versetzte Florenz, bis das Jahr ganz herum ist; denn wenn Sie auch Ansprüche auf die Erbschaft dargethan haben, so ist damit nicht bewiesen, daß nicht noch andere Erben da sein können, und das Gericht muß abwarten, ob sich diese nicht melden.

Aber es sind ja keine andern Erben da! fiel jetzt Miß Arabella erschrocken ein.

Das Gericht weiß es nicht, antwortete Florenz achselzuckend.,

Mistreß Patterson sagte gar nichts. Sie blickte Florenz an – aghastly looking! Es war klar, er war auch in der großen Verschwörung!

Man hat ja beim Tode Hoffacker's geglaubt, fuhr Florenz unbeirrt von diesen Blicken fort, es seien gar keine Erben da. Und nun sind Sie doch gekommen, und so könnten ja auch noch Mehre sich melden –

Noch Mehre? sagte die junge Dame, – sie blickte mit einem eigenthümlich forschenden Blicke Florenz an; glauben Sie, daß noch Jemand Ansprüche hätte?

Ihre Stimme schien bewegt, als Miß Arabella so sprach, Florenz' Züge fixirend.

Das Gericht muß die Möglichkeit annehmen, antwortete er, und deshalb müssen Sie Geduld haben. Aber daß Jemand die Erbschaft Ihnen wirklich streitig machen werde, daran ist wohl nicht zu denken. Wie gesagt, man hielt ja dafür, es fehlen alle Erben. Ihr verstorbener Vetter Hoffacker hatte es immer bestimmt versichert, er habe keine Verwandte.

Ich weiß es, er hat uns immer verläugnet, antwortete Arabella. Es war eine Eigenheit, eine fixe Idee –

He was an odd fellow, a whimsical man, I suppose! sagte Mistreß Patterson.

Mein Vater ist mit ihm in derselben Stadt, in W., aufgewachsen, fuhr Arabella fort. Aber von Kind auf haben sich die beiden Vettern nicht leiden können und schon als Knaben ewig in Zank und Streit gelebt. Als sie erwachsen waren, ist denn freilich etwas hinzugekommen, was die alte Abneigung wohl in eine tödtliche Feindschaft verwandeln mußte und sie zum Haß gebracht hatte, auch wenn Beide in besserer Harmonie gelebt. Hoffacker hatte als junger Mann seine Augen auf ein junges Mädchen seiner Vaterstadt geworfen, um das er sich eifrig bewarb. Sie war die bewunderte Schönheit des kleinen Orts. Anfangs, scheint es, ist sie ihrem jungen Verehrer geneigt gewesen, er hat sich wenigstens große Hoffnungen gemacht; dann aber hat sich mein Vater in die Reihen ihrer Bewunderer gestellt, und mein Vater hat den Sieg davon getragen. Ich glaube, – nach den etwas kargen Mittheilungen meines Vaters darf ich es schließen, – in die Verzweiflung Hoffacker's darüber hat sich noch etwas von einem bösen Argwohn gemischt. Er hat sich schmählich betrogen geglaubt. Er hat in der Gunst, die ihm anfangs geworden, ein Mittel erkennen wollen, um seinen Rivalen zu einer Erklärung zu bewegen. Er hat sich als das Opfer einer unwürdigen und doch leider so häufig angewandten Mädchenpolitik betrachtet, – die darin besteht, durch Eifersucht zu reizen! Genug, von jener Zeit an ist sein Haß gegen meinen Vater und meine Mutter unversöhnlich gewesen; dieser Haß ist ihnen über's Meer gefolgt, als sie nach den Vereinigten Staaten ausgewandert sind. Ich muß gestehen, daß meine Eltern auch nichts gethan haben, um den Vetter in der Heimath zu versöhnen. Wir wußten in den letzten Jahren gar nicht, ob er noch lebe, oder ob er todt sei. Auf seine Erbschaft haben wir uns deshalb auch nie Rechnung gemacht. – Er wird, pflegte mein Vater zu betheuern, sein Geld lieber als uns einem frommen Verein vermachen, der Gebetbücher für die Hottentotten drucken und für die Neger auf der dritten afrikanischen Terrasse die »Stunden der Andacht« übersetzen läßt. Er wird es lieber einem Schwindler schenken, der Experimente im Fliegen anstellt; er giebt es lieber einer deutschen gelehrten Gesellschaft, welche sich die gewissenhafte Untersuchung der großen Seeschlange zur Aufgabe gestellt hat. – Die Nachricht, daß in den deutschen Blättern seine Erben aufgefordert würden, sich zu melden, traf uns deshalb ganz unerwartet. Ein Bremer Handlungshaus, mit dem mein Vater Geschäfte macht, theilte sie uns mit. Mein Vater wollte anfangs kaum daran glauben.

Aber, me thinks, Ihr hattet in der letzten Zeit ein Lebenszeichen von ihm! fiel Mistreß Patterson hier ein.

Wenn auch, so war es nicht geeignet, uns Hoffnungen auf seinen Nachlaß zu erwecken, antwortete Miß Arabella ausweichend. Kurz, als die Nachricht kam, daß der alte Vetter ohne Testament gestorben, so war es sehr überraschend für uns und sehr erfreulich!

Miß Arabella's Züge hatten sich bei dieser Erzählung belebt; sie war, was man nennt: aufgethaut, und ihr ganzes Wesen hatte jetzt sogar eine gewisse Anmuth bekommen. Und doch hatte ihre ganze Erscheinung für Florenz etwas überaus Fremdes und Kaltes, das ihn abstieß.

Er blieb aber noch eine Zeitlang und unterhielt die Damen von ihrem verstorbenen Verwandten, von seinen vielen Eigenheiten und auch von seinen letzten Augenblicken.

Er saß an seinem off'nen Writingdesk? fragte jetzt Mistreß Patterson; great God! – sind Sie sicher, Sir, daß Niemand vor Ihnen im Zimmer war, der es benutzen konnte?

Niemand! antwortete Florenz halblaut.

Und nachher? Waren wirklich die Gerichtsbeamten gleich da, um die Siegel anzulegen? Instantly, Sir?

Sie kamen sehr bald, versetzte er.

One must be so precautious now-a-days! sagte die bedächtige alte Dame. Niemand ist mehr zu trauen; all reckless people, Sir!

Florenz wurde heiß und kalt bei diesen Bemerkungen der mißtrauischen Mistreß Patterson. Er stand rasch auf und wollte gehen.

Arabella warf ihrer Begleiterin einen mißbilligenden Blick zu. Diese aber bemerkte ihn nicht; sie mußte von Florenz, bevor er sich entfernte, noch zehnerlei Dinge wissen, und insbesondere, ob es denn wirklich unabänderlich fest stehe, daß noch mehr als ein halbes Jahr verfließen müsse, bevor die Erbschaft ihnen übergeben werden könne.

Florenz gab ihr, zerstreut und wie auf Nadeln stehend, Auskunft; er versprach über den letztern Punkt mit dem Director des Gerichts reden zu wollen und morgen dessen Antwort zu überbringen, dann entfernte er sich. – –

Die Kunde, daß sich ein Erbe zu dem reichen Nachlasse des verstorbenen Hoffacker gefunden, und zwar in der Person einer schönen jungen Amerikanerin hatte begreiflicher Weise sehr rasch die ganze Stadt durchflogen. Auch Herr Frank senior hatte alsbald davon vernommen und als er zu Mittag seinem Sohne gegenübersaß, begann er davon zu reden.

Florenz, welche Gelegenheit! sagte er.

Wozu? fragte Florenz aufblickend.

Wozu? Du bist ein junger Mensch, der sich nur gerader zu halten und einen gesetzteren Gang anzunehmen brauchte, um alle Vortheile seines Aeußeren und dergleichen mehr zur Geltung zu bringen; Du mußt, als zum Gericht gehörig, es leicht finden, mit dieser Miß in Berührung zu kommen; und Du fragst noch: wozu?

Du vergißt, daß ich verlobt bin, Vater; und daß ich nie die Niedrigkeit haben werde, ein Mädchen bloß um ihres Geldes wegen zu heirathen!

Das sind bloße Sophistereien, Florenz, mein Junge, bloße Sophistereien, was Du da sprichst! Das einfach Richtige, das allein Wahre an der Sache ist, daß die Amerikanerin eine Erbschaft von siebzigtausend Thalern macht, und daß die Marie, Deine Fräulein Braut, nicht den vierten Theil dieser Zahl an Pfennigen besitzt. Ein Mädchen nicht um ihres Geldes wegen heirathen? Welche Absurdität! Die Mädchen nehmen uns um des Brodes willen, und nun sollen wir so metaphysisch sein, und sie bloß um der Romantik willen nehmen? Mit der Romantik bezahlt man seine Fleischerrechnungen nicht; es ist auch keine Münze, die beim Schneider, beim Gemüsekrämer Cours hat? Verlobt? Larifari! Weshalb verlobt man sich? Um sich kennen zu lernen, sich zu küssen und dergleichen mehr, und um dann zurückzutreten, wenn man dabei einen Mangel an Einklang der Seelen entdeckt. – Hast Du die Amerikanerin gesehen?

Ja.

Wo?

Auf unserm Bureau und in ihrer Wohnung, im Gasthofe.

Duckmäuser! fuhr Frank senior auf. Du warst schon in ihrer Wohnung, Du kennst sie schon, und sagst das mir erst jetzt? Nun, wahrhaftig, stille Wasser sind tief! Florenz, ich fange an, Hoffnungen auf Dich zu setzen!

Sehr mit Unrecht! Der Director hat zufällig mir die Angelegenheit zum Referat übergeben, antwortete Florenz trocken. Der Bissen quoll ihm dabei im Munde. Er warf die Serviette fort und stand auf.

Welche Alternative! sagte er sich, als er in seinem Zimmer allein war. Entweder durch's Leben gehen, beladen mit dem Fluch einer schlechten That, sich täglich zuflüstern müssen: du hast zwölfhundert Gulden gestohlen; keinen Verbrecher erblicken zu können, ohne sich sagen zu müssen: wenn man dir in's Herz blicken könnte, so würde man dich gefesselt denselben Weg wandern lassen, den dieser Elende wandert – oder das Mittel ergreifen, das mein Vater mir räth, ohne zu ahnen, was in meiner Seele vorgeht – werben um Die, welche ich bestohlen habe! Wenn sie meine Werbung annimmt, wenn sie mein wird mit Allem was sie besitzt – dann kann ich ihr ja gestehen, was ich gethan, und kann mich von ihr freisprechen lassen, – oder bin schon, freigesprochen, weil ich dann nur noch mich selbst bestohlen habe!

Aber, fuhr Florenz in seinem Selbstgespräche fort, wenn sie in der That mein wird mit ihren Schätzen – wenn ich so mein Gewissen loskaufe mit dem Preise meines Selbst – was wird aus Marie? Mich darf ich zum Opfer bringen – aber auch sie? Unglückliches Mädchen! – Und die Welt – die Welt! O wie sie so blind ihre Urtheile fällt! Wenn ich um diese Arabella werbe, so verurtheilt sie mich als einen gewissenlosen Elenden, der ein edles Mädchen unglücklich macht, um schnödes Geld zu erheirathen. Wenn ich es nicht thue, dann bleibe ich ein unbescholtener, gewissenhafter junger Mann in den Augen der Welt – und bin und bleibe doch in meinen eigenen ein Dieb!

In der That, Florenz wußte kein Auskunftsmittel in dieser entsetzlichen Lage. Er sann hin und her, er überdachte, ob es denn gar kein Mittel für ihn gebe, die zwölfhundert Gulden aufzutreiben, um sie der Amerikanerin ersetzen zu können – er hätte sich ohne Bedenken auf drei Jahre dem Dey von Tunis oder einem holländischen Seelenverkäufer als Sclave verhandelt, wenn er damit die Summe hätte erlangen können. Aber es gab kein Mittel, keine Hoffnung für ihn, so viel Geld aufzutreiben!

Das Mißtrauen, welches Mistreß Patterson bei der Unterredung am Morgen geäußert, daß unehrliche Hände den Tod des alten Mannes und den Umstand benutzt haben könnten, daß er vor einem geöffneten Secretär gefunden worden – dieses Mißtrauen hatte den Stachel noch tiefer in seine Seele getrieben. Es hatte ihn innerlich so mit Scham und Verzweiflung über seine That erfüllt, daß seine Seele wie völlig untergetaucht war in das Gefühl der Schmach. Er fühlte auch, daß er diesen Zustand nicht lange aushalten könne. Er mußte einen Entschluß fassen, er mußte irgend etwas ergreifen, woran er sich aufrecht halten konnte.

Am liebsten wäre er auf und davon gegangen in die weite Welt. Er hätte Miß Arabella nie wieder sehen mögen, und ebenso fühlte er ein unüberwindliches Widerstreben, sich je der reinen und ungetrübten Stirn seiner Marie, ihren klaren unschuldigen Taubenaugen wieder gegenüber zu stellen und die Blicke zu ihr zu erheben. Aber was half es, zu fliehen! Geschehenes ließ sich dadurch nicht ungeschehen machen und nicht sühnen. Dem Gedächtniß ließ sich nicht entfliehen. Wohin er auch fliehen mochte – das Bewußtsein folgte ihm; es lief mit ihm wie sein Schatten; es gab keinen Winkel auf Erden, in dem es nicht zu seiner Seite Platz gefunden hätte, wenn Platz für ihn dagewesen wäre!

Er war also in einer ganz verzweifelten Lage und, wie gesagt, er fühlte, daß er es nicht lange aushalten werde, in derselben zu bleiben, ohne einen Entschluß zu fassen. So faßte er einen Entschluß. Nachdem er Stunden lang mit sich zu Rathe gegangen, nachdem er bald ihn verworfen, bald ihn wieder angenommen, gelobte er sich endlich fest, bei diesem Plane zu beharren. Es war eine Art Vergleich, den er mit sich selber abschloß. Er wollte das Seinige thun, um sein Gewissen zu entlasten, denn daß er vor allen Dingen seine Selbstachtung wieder gewinnen müsse, das blieb am Ende als Ergebniß aller Gedanken und alles Sinnens und Ueberlegens zurück. Die innere Ehre und das eigene Bewußtsein überragten mit ihren Forderungen alle und jede andere Rücksicht.

Ja, er wollte, wenn es denn sein mußte, den Gedanken an Marie aus seinem Herzen reißen, und sollte dies Herz darüber brechen. Er wollte um Miß Arabella Coremanns werben, er wollte ihr seine Hand antragen. Aber er wollte es thun, ohne den Heuchler zu machen. Er wollte ihr keine Liebe lügen. Er wollte nicht ein Verbrechen sühnen, indem er ein neues beging. Er wollte der Amerikanerin einen Antrag machen, auf gut amerikanisch, als business matter! Nahm sie seinen Antrag dann nicht an – und Florenz war überzeugt, daß sie ihn nicht annehmen würde; denn weshalb hätte sie sich so an den ersten besten wegwerfen sollen; der nicht einmal der Mühe werth fand, den Verliebten zu spielen – dann hatte er das Seinige gethan; dann konnte er sich bei dem Gedanken beruhigen, daß er bereit gewesen zu büßen, wie er büßen konnte!

Florenz ließ sich am andern Tage bei den fremden Damen melden, um dieselbe Stunde wie gestern. Er mußte ja schon, um die Antwort des Gerichtsdirectors ihnen zu bringen, hingehn. Zu seiner äußersten Verwunderung war, als er in das Zimmer Arabella's trat, das erste, was er erblickte, Niemand anders, als sein Vater – als Herr Frank senior. Herr Frank war sehr sorgfältig herausgeputzt; er hatte seinen ganzen äußern Anstand von vormals wieder gewonnen; er saß in würdevoll anmuthiger Haltung auf dem Sopha und machte den Damen auf das liebenswürdigste die Unterhaltung. Auch schienen die letzteren ganz bezaubert von ihrem beredten und unterhaltenden Besucher. Mistreß Patterson lachte aus vollem Halse. Miß Arabella blickte so heiter drein, daß sie ganz andere Züge hatte, als gestern bei der ernsten und zurückgezogenen Haltung, welche sie Florenz gegenüber angenommen.

Ach, da kommt Florenz, sagte Herr Frank senior, als er seinen Sohn erblickte. Miß Arabella, fuhr er fort, gehen Sie gnädig mit meinem armen blöden Jungen um, auch wenn er Ihnen keine guten Nachrichten bringt. Wenn er Ihnen sagt, daß Sie noch ein halbes Jahr warten müssen, so denken Sie, daß sein stilles, verhehltes Entzücken gerade so groß sein wird, als Ihre und noch mehr Mistreß Patterson's Verzweiflung. Was kann der Mensch mehr thun, Miß Arabella, als glücklich machen? Welch' schönere Aufgabe und dergleichen mehr giebt es im Leben – besonders im Leben eines Weibes? Denken Sie daran, Miß Arabella, und halten Sie die sechs Monate bei uns aus! Aber – ich habe Sie schon zu lange mit meinem nichtssagenden Geplauder behelligt; ich will mich von Ihnen beurlauben, meine Damen; ich will jetzt meinem Sohne das Feld räumen.

Sie wollen gehen already, Mister Frank? fragte Mistreß Patterson mit großem Bedauern.

Ich will gehen, verehrungswürdige Mistreß. Ich danke Ihnen, daß Sie mir erlaubt haben, Ihnen persönlich meine Verehrung zu bezeigen; es war der Drang meines Herzens, der mich zu Ihnen führte. Bei der, ich darf sagen, innigen Freundschaft, welche zwischen mir und meinem armen, ach! leider so früh und plötzlich hinweggerafften Freunde Hoffacker bestand – sie war wirklich innig, Miß Arabella, sie hatte auf beiden Seiten ganz das Gepräge der uneigennützigsten Seelenverbindung und dergleichen mehr – war es mir ein tiefes Herzensbedürfniß, Ihre Bekanntschaft aufzusuchen.

O, man kann nicht liebenswürdiger sein, Mister Frank! fiel Arabella ein.

Wir hoffen, öfters das Vergnügen zu haben! sagte Mistreß Patterson.

Herr Frank senior verbeugte sich, Gewährung lächelnd, mit vieler Würde und Anmuth.

Miß Arabella – Mistreß Patterson – ich empfehle mich Ihnen!

Adieu, Sir! – Adieu, Mister Frank! und Mister Frank schritt zum Zimmer hinaus, mit dem schönen Bewußtsein, daß er eine zweifache Eroberung gemacht.

Florenz war es jetzt ganz unmöglich, in den Ton einzustimmen, welchen sein Vater der Unterredung gegeben. Er begann sogleich von den Geschäften zu sprechen; er theilte die Ansicht des Directors mit, daß die Erbschaft auch ohne weiterm Verzug ausgeliefert werden könne, wenn Miß Arabella im Stande sei, eine Caution zu leisten oder einen in Deutschland lebenden Bürgen für den Fall, daß später noch Erben sich melden würden, aufzustellen. Arabella nannte das Bremer Handlungshaus, dessen sie bereits erwähnt, und nach einigem Hin- und Herreden hierüber wurde beschlossen, an dieses Handlungshaus deshalb zu schreiben. Nachdem dieser Gegenstand erledigt war, wurde Florenz sehr einsylbig; und nach kurzer Zeit stand er auf und empfahl sich für heute. Als er ging, nahmen die Damen ihm das Versprechen ab, daß er am andern Tag wieder kommen werde; sie waren überhaupt heute von einer ausnehmenden Freundlichkeit für ihn, Miß Arabella besonders völlig verschieden von ihrem gestrigen zurückhaltenden Benehmen. – –

Nun, mein Junge, was sagst Du? fragte Herr Frank senior seinen Sohn, als sie am Mittagstische zusammentrafen. Was sagst Du zu meinem genialen Schritt? Bin ich nicht ein bewundernswürdiger Vater?

Sie haben mich in eine schöne Verlegenheit gesetzt, antwortete Florenz vorwurfsvoll.

Eben weil ich Deine Verlegenheit kenne, weil ich weiß, daß Deine Verlegenheit Dir nie erlauben wird, dieser Miß flottweg den Hof zu machen, eben deshalb habe ich mich bei ihr eingeführt und, um einen Vorwand zu haben, dem todten Kameel, das jetzt nach Herzenslust auf seinen Wolken reiten kann, noch nach dem Tode die Ehre meiner Freundschaft angethan! Und jetzt, Florenz, laß mich nur machen. Nicht drei Tage sollen vergehen, und Miß Arabella ist von Deiner Liebe zu ihr so völlig überzeugt –

Wie, Sie wollten –

Ich will der getreue Dolmetsch Deiner Gefühle für sie sein, fuhr Herr Frank lachend fort; ich will ihr so lange vorplaudern von Dir und Deinem rasch entzündeten, schwärmerischen Herzen, bis sie darauf schwört, Deine verstockte Gleichgültigkeit sei nichts als die verzagte, zitternde Blödigkeit der Leidenschaft und dergleichen mehr!

Aber, mein Gott – wozu?

Wozu, mein Sohn? Nun, wahrhaftig zu nichts Anderem, als damit sie sich in Dich verliebt und damit sie Dir dann entgegenkommt, worin solch' eine Amerikanerin nicht eben faul ist und wenn sie Dir entgegenkommt, woran ich nicht zweifle, denn Du hast bei den Weibern mit Deinen verschleierten, träumerischen Augen und Deinen pikanten Locken ein ganz unvernünftiges Glück, trotz Deiner abscheulich schlechten Haltung – nun, also, wenn sie Dir entgegenkommt, dann wirst Du kein Tropf mehr sein, mi fili?

Ich gestehe Ihnen, mein Vater, antwortete Florenz im höchsten Grade erschrocken, Sie thun da etwas – –

Ich weiß, was ich thue, fiel Frank senior ein; ich kenne das – Dich um sie zu bewerben, magst Du zu wenig speculativ, zu schläfrig sein, das gebe ich Dir zu, aber ein junges Mädchen, welches Dir die Hand bietet, mit einer Zugabe von siebzigtausend Thalern und dergleichen mehr – das auszuschlagen, nun wahrhaftig, das ist selbst mein tugendhafter und romantischer Sohn Florenz nicht im Stande!

Ich bitte Sie, Vater, thun Sie keinen Schritt weiter in dieser Richtung! bat Florenz flehentlich.

Laß mich nur machen, laß mich nur machen! versetzte Herr Frank senior; Du wirst noch einmal einsehen, welchen Vater Du hast! Nicht alle Söhne haben dieses von Dir so wenig geschätzte Glück, mein Junge; wahrhaftig, schon allein um diesen Deinen Vortheil in den Augen der Amerikanerin leuchten zu lassen, war es klug von mir, mich ihr zu repräsentiren!


VI.

Wenn Herr Frank senior sich einen Plan gemacht hatte, so war es schwer, ihn von der Ausführung zurückzuhalten – das wußte Florenz. Sein Vater war im Stande, das, was er sich jetzt vorgenommen, mit einer Lebhaftigkeit zu betreiben, die für Florenz nur zu verhängnißvoll wirken konnte. Es handelte sich für diesen um seine letzten Hoffnungen, wenn er nicht rasch seinen eigenen Vorsatz ausführte. Zweimal schon, wenn er zu den Fremden gegangen war, hatte er sich fest vorgenommen, mit Arabella zu reden. Zweimal war er von den Frauen zurückgekehrt, ohne den Muth in sich gefunden zu haben. Man hatte ihn beide Male mit außerordentlicher Zuvorkommenheit, ja mit Herzlichkeit aufgenommen. Das letzte Mal hatte auffallender Weise Mistreß Patterson – welche sonst durchaus nicht geneigt geschienen, auf die Theilnahme an einer Unterhaltung, die in ihrer Gegenwart geführt wurde, zu verzichten – sich ein Geschäft im Nebenzimmer gemacht und war nicht wieder eingetreten, so lange Florenz dageblieben.

Weshalb hatte sie die beiden jungen Leute allein gelassen? Die Gefahr schien zu wachsen, das ahnte Florenz nur zu wohl. Er mußte reden. Er durfte keinen Tag länger aufschieben. Er durfte seinem Vater nicht die Zeit lassen, auch nur noch einen Besuch bei Miß Arabella zu machen. Und so gewann Florenz sich dann einen festen Entschluß, ein heiliges Gelübde ab. Er ging in den Gasthof der Amerikanerinnen, aber nicht in der Stunde, in welcher er gewöhnlich seine Besuche gemacht hatte. Er wartete den Nachmittag ab. Er trat in das Zimmer Arabella's, als es zu dämmern begann. Mistreß Patterson war auf ihrem gewöhnlichen Platz am Fenster als er kam – aber seltsam, sie stand nach einer Weile abermals auf und verschwand im Nebenzimmer.

Was Florenz im Anfang dieser inhaltschweren Unterredung sprach, er wußte es selbst kaum. Es waren gleichgültige Dinge. Arabella führte zumeist das Wort und er dankte Gott, daß sie es that, denn die Gedanken wirbelten ihm bunt durch den Kopf und seine Schläfen pochten. Arabella sprach ungewöhnlich viel und rasch. Sie war sehr angeregt, nein mehr – in a considerable state of excitement, hätte Mistreß Patterson es genannt. Sie sprach von Amerika und von Deutschland. Sie lobte Deutschland; sie fand, daß es ein mit großer Schönheit der Natur ausgestattetes Land sei. Die Bewohner erschienen ihr sehr liebenswürdig, sehr gesittet, sehr gebildet, sehr einnehmend, mit einem Wort, sie räumte ein, daß Amerika in manchen Dingen hinter Deutschland zurückstehe. Ich möchte in Deutschland wohl wohnen, sagte sie endlich; ich hätte nichts dawider, mein Schicksal an dieses Land zu knüpfen. Ich glaube sogar, ich würde mich hier glücklicher fühlen als in den Vereinigten Staaten. Wenn ich eine Veranlassung fände, hier zu bleiben –

Florenz fühlte, daß der Augenblick zu reden, wenn er jemals reden wollte, gekommen. Die Woge, welche ihn zusammt seinem Lebensglück zu verschlingen drohte, rauschte vor ihm auf. Er stürzte sich wahrhaft todesmuthig hinein. Er wollte versuchen, ob er darin untersinken, oder ob er vom Glück getragen hindurch schwimmen werde!

Eine Veranlassung? sagte er, und versuchte zu lächeln, ohne daran zu denken, daß schon eine viel zu tiefe Dämmerung in dem Zimmer Arabella's herrschte, als daß diese den Ausdruck seiner Züge hätte beobachten können – an einer Veranlassung würde es Ihnen sicherlich nicht fehlen, wenn diese Ihre gute Meinung von unserm Lande nur irgend bekannt würde. Es würden sich hundert Hände ausstrecken, begierig die Ihrige zu erfassen und – festzuhalten.

Arabella lachte, aber es war nichts Heiteres in diesem Lachen und auch nichts in dem Tone ihrer Antwort, obwohl sie offenbar diesen Ton für heiter und scherzhaft gelten lassen wollte.

Hundert Hände! o, ich sehe keine einzige davon, Herr Frank, die ein so unbedeutendes Geschöpf, wie mich, zurückhalten möchte.

Und wenn ich nun die meine ausstreckte, Arabella – würden Sie die Ihrige davon erfassen lassen?

Es käme auf den Versuch an, Frank!

Nun, ich versuche es, aber ich versuche es nur, Miß Arabella, um diese Hand dann auch kräftig festzuhalten, für immer und ewig, ganz und gar –

Sie sprechen das ja beinahe in drohendem Tone aus, als wenn Sie mir damit Angst machen wollten, versetzte das junge Mädchen mit einem eigenthümlichen gezwungenen Lachen, und dann streckte sie Florenz mit rascher, beinahe heftiger Bewegung ihre rechte Hand hin und sagte:

Aber was Angst! eine echte Amerikanerin hat nie Angst. Ich wage es darauf!

Florenz ergriff die Hand. Es war allerdings ein sehr fester Griff, womit er sie erfaßte. Es war beinahe ein krampfhafter Druck, womit Arabella ihre Hand umspannt fühlte, daß es ihr wehe that!

O mein Gott! sagte sie.

Florenz sagte nichts. Es war ihm schwarz vor den Augen. Ich bin gefangen! und: mein Vater, mein Vater, was hast du deinem Kinde gethan! das waren die einzigen Gedanken, die er fassen konnte.

Ich bin sehr glücklich! rief er dann plötzlich wie aus einem Traum auffahrend und Miß Coremanns' Hand, die er noch immer ergriffen hielt, küssend.

Ich bin sehr glücklich, Florenz – Sie haben einen so hübschen Namen.

Auch Sie, Arabella! antwortete Florenz.

Finden Sie?

Ja – in der That – der Name ist sehr hübsch!

Florenz hat etwas so Distinguirtes …

Nachdem das junge Paar sich diese Complimente über ihre Namen gemacht, schwiegen Beide wieder.

Der gute Onkel Hoffacker! hub Arabella nach einer Weile wieder an. Wie würde er sich gefreut haben, hätte er noch vor seinem Ende diesen Bund segnen und unser Glück sehen können!

Ja wohl! – antwortete Florenz zerstreut, obwohl, setzte er dann sich besinnend hinzu, es wahrscheinlicher ist, daß er sich nichts daraus gemacht hätte. Theilnahme am Schicksale Andrer war kein hervorragender Zug seines Charakters, Arabella.

Beide schwiegen auf's Neue. Nach einer Pause sagte Arabella mit einem tiefen Seufzer und in einem Tone wahrer Angst:

Aber Florenz, sind Sie denn auch überzeugt, daß ich zu Ihrem Glücke beitragen werde? O mein Gott, fuhr sie fort und je mehr sie sprach, desto lebhafter, desto eifriger – Sie kennen mich ja so gar nicht, Sie wissen ja kaum mehr von mir, als meinen Namen, ich kann ja noch hundert Ihnen unbekannte Eigenschaften besitzen, welche Ihrem ganzen Wesen widerstreiten – ich bin eine Fremde, in fremden Sitten und Manieren erzogen, in andern Lebensgewohnheiten aufgewachsen, o mein Gott, Florenz, was haben wir gethan!?

Sie sank wie überwältigt in ihren Stuhl zurück. Florenz ließ die Hand sich entziehen, welche er bis jetzt gehalten hatte.

O machen Sie sich deshalb keine Sorgen, Arabella; Sie sind ein Engel und ich verdiene Sie gar nicht. Nein, wahrhaftig, rief er aufspringend und beinahe wie wahnsinnig die Hände ringend und im Zimmer auf und abrennend aus, ich verdiene Sie nicht, Arabella – und ich will, ich kann Sie nicht täuschen darüber, daß ich Sie nicht verdiene, Arabella, ich muß Ihnen ein Geständniß machen – hören Sie es an – Ihr Wort gebe ich Ihnen zurück – erst hören Sie mich, und dann entscheiden Sie über mein Schicksal!

Was wollen Sie mir sagen, Florenz? O etwas Schreckliches, etwas Entsetzliches – aber es drückt mir das Herz ab!

Arabella blickte mit erbleichten Wangen und großen Augen voll Verwunderung den jungen Mann an, welcher sich plötzlich so seltsam leidenschaftlich vor ihr gebehrdete.

Mein Gott, was werd' ich hören müssen? sagte sie, Sie sind ja gerade so, als ob Sie irgend Jemand erschlagen hätten!

Erschlagen? Nein – ein Mörder bin ich nicht – aber, Arabella – ich bin ein Dieb!

Ein Dieb?!

Ich habe zwölfhundert Gulden gestohlen!

Sie schüttelte den Kopf.

Das ist nicht wahr, Florenz! sagte sie. Das glaube ich nicht! Sie ein Dieb, Florenz? Nein!

Es ist die einfache Wahrheit, was ich sage Arabella! und was ich gestohlen habe, das – habe ich Ihnen gestohlen!

Mir?

Ja, Ihnen. Ich habe es genommen von der Nachlassenschaft Ihres Onkels. Aus seinem offnen Sekretair, als er todt war. Ich mußte es nehmen, Arabella, ja bei Gott, ich mußte. Es handelte sich um Schmach und Leben!

Arabella war bleich in ihren Stuhl zurückgesunken.

Sie sprach kein Wort.

Nicht wahr, nun ist Alles aus zwischen uns? Sie haben Recht, Miß Coremanns. Ich bin ein unwürdiger Mensch. Und ich kann es Ihnen nicht ersetzen – nicht jetzt – einst vielleicht, einst hoffe ich es zu können – –

Sie schwieg noch immer.

Sie verachten mich, Arabella, fuhr er fort. Sie haben ein Recht, mich zu verachten. Und doch thut es mir so unsäglich wehe. O sagen Sie mir, wenn ich Ihnen Alles ersetzt habe, wenn Sie hören werden, daß ich Jahre lang das Leben eines Ehrenmannes geführt – dann, nicht wahr, dann werden Sie mir vergeben …

Frank, unterbrach ihn Arabella wieder – seien Sie jetzt ganz offen gegen mich – Sie haben mir Ihre Hand angeboten weil – nun, weil Sie kein andres Mittel sahen –

Mein Gewissen zu beruhigen – ja, Arabella, es ist so – ja, es ist so – ich achte, ich verehre Sie, aber ich liebe Sie nicht, Arabella.

O, Gott sei gedankt! sagte das junge Mädchen mit freudigem Ton. Ich liebe Sie auch nicht, Herr Frank! setzte sie hinzu.

Welches Glück! entfuhr Florenz.

Es ist ein Glück, wiederholte Arabella. Alles kann jetzt gut werden. Wir haben uns einander nichts vorzuwerfen, Herr Frank, nichts, gar nichts. Wir können scheiden, wie warme Freunde. Es soll jetzt Licht zwischen uns werden, ganz und gar. Vollständige Klarheit! Aber zuerst hier im Zimmer.

Sie holte rasch die zwei Wachskerzen herbei, welche auf dem Trumeau standen und zündete sie an.

Frank, sagte sie dann, nachdem ich zuerst Ihre Bewerbung um meine Hand angenommen und Ihnen darauf gestanden habe, daß ich Sie nicht liebe, hätten Sie ein Recht, mich noch mehr zu verachten, als Sie sich von mir verachtet glauben. Deshalb hören Sie. Auch ich handelte, um meinem Gewissen gerecht zu werden. Auch ich sah in dieser Verbindung das einzige Mittel, ein Bewußtsein abzuwälzen, das erdrückend auf mir lag. Sie haben den Nachlaß meines Verwandten um zwölfhundert Gulden verkürzt, sagen Sie – o Frank, ich habe mehr gethan, als Sie; ich stehe im Begriff, Sie um den ganzen Nachlaß zu verkürzen –

Mein Gott, Sie wissen –

Ich weiß, daß Hoffacker Ihnen sein ganzes Vermögen hinterlassen wollte!

Sie haben das Testament?

Nein, von einem Testament weiß ich nichts – es ist ja kein Testament gefunden worden. Aber ich habe diesen Brief hier, den Hoffacker zwei Tage vor seinem Tode meinem Vater schrieb.

Sie reichte Florenz einen Brief hin, den sie aus einem Reisenecessaire geholt hatte.

Der junge Mann überflog ihn rasch. Er war sehr kurz gefaßt und lautete also:

»Ich bin sehr unwohl und werde es nicht lange mehr machen. Damit Ihr seht, Vetter Wilhelm, mit welchen Gefühlen für meine einzigen Verwandten, die Ihr ja seid, ich aus dieser Zeitlichkeit scheide, gebe ich Euch dieses letzte Lebenszeichen. Es soll Euch die Mühe ersparen, Schritte wegen meiner Verlassenschaft zu thun. Ich würde es bedauern, wenn Ihr Euch wegen derselben incommodiren würdet. Es sind circa 70 000 Thaler. Ihr werdet davon nichts erhalten, lieber Vetter. Ich habe einen wackeren jungen Mann dahier, Namens Florenz Frank, zum Universalerben eingesetzt. Es ist mein fester Wille, daß mein ganzes Vermögen auf ihn übergehe. Hiemit sage ich Euch das letzte Lebewohl. Lebe recht wohl, Vetter Wilhelm, Dein aufrichtiger

Paul Friedrich Hoffacker.

S. den I. September 185*.«

 

Sie können nun denken, hub Arabella an, als Florenz überrascht von dem Blatte aufblickte und sie ansah, Sie können denken, wie unerwartet uns die Nachricht kam, daß die Erben des verstorbenen Onkels aufgefordert worden, sich zu melden. War des Onkels Brief eine leere Drohung gewesen? Das lag nicht in seinem Charakter. Und wenn nicht – hatten wir dann nicht seinen Willen zu ehren, und Ihnen das Vermögen zu überlassen? War dieser Brief nicht so gut wie ein Testament? Enthielt er nicht klar und deutlich unsres Verwandten letzten Willen? Aber mein Vater wollte davon nichts hören. Umsonst schilderte ich ihm die Unruhe meines Gewissens. Das einzige, was er mir zugestand, war, daß ich Ihnen eine Entschädigung bieten dürfe, im Falle Sie mit Ansprüchen gegen uns auftreten, und in der Lage wären, einen Proceß gegen uns anstrengen zu können. Sie erhoben keine Ansprüche. Dagegen kam Ihr Vater, und ließ mich glauben, daß ich einen Eindruck auf Ihr Herz gemacht habe. Denken Sie sich nun in meine Lage, Frank. Blieb mir etwas Andres übrig, als Ihnen meine Hand anzubieten? Sagen Sie selbst, was blieb mir übrig?

Sie haben Recht, Arabella – Sie mußten es thun.

Und nun? setzte sie durch Thränen lächelnd hinzu.

Ich glaube, wir sind quitt – wenn Sie wissen, daß ich annehmen durfte, der Nachlaß Hoffacker's gehöre mir, daß der Verstorbene mir gesagt hat, ich werde sein Erbe sein – so wird meine Handlung Ihnen weniger strafbar erscheinen; nicht wahr, Sie verachten mich nicht mehr und –

Florenz Frank streckte ihr seine Hand entgegen – wir sind quitt?

Nicht ganz, Frank, nicht ganz. Der letzte Wille Ihres alten Freundes ist da, und das Vermögen gehört Ihnen!

Der letzte Wille hat in dieser Form durchaus keine juristische Gültigkeit, Arabella.

Davon verstehe ich nichts – vor meinem Gewissen ist er nicht so ganz ungültig. Und da wir uns nun so glücklich in dem gegenseitigen Mangel an Liebe begegnet sind, Florenz, so bleibt uns nichts übrig, als ein anderes Mittel zu suchen, um von meinem Gewissen eine Last abzuschütteln. Frank, ich fühle, daß wir für's Leben Freunde bleiben werden. Ist es nicht so?

O für ewig, Miß Arabella!

Ich danke Ihnen, Frank.

Ich werde Sie nie vergessen, Arabella.

Und ich Sie nicht, Florenz! Aber wohlan denn, ich fordere, daß Sie mir als Freund beistehen. Ich kann diese Last nicht auf meinem Gewissen ruhen lassen. Ich kann es nicht. Wenn Sie mein Freund sind, so müssen Sie mir auch in dieser Noth beistehen.

Florenz schüttelte den Kopf.

Was kann ich thun? sagte er kleinlaut. Der letzte Wille Hoffacker's hat keine juristische Gültigkeit.

Ich habe Ihnen schon gesagt, darum kümmert sich mein Gefühl, mein Bewußtsein nicht. Florenz, sollten wir nicht den Nachlaß theilen können?

Florenz schwieg.

Eine Hälfte für mich, eine für Sie?

Er zuckte die Achseln.

Wenn ich Ihnen sage, daß ich Vollmacht von meinem Vater habe, so weit zu gehen?

Nun dann, Arabella, wenn es wirklich die Stimme Ihres Gewissens verlangt –

Sie fordert es gebieterisch!

Und wenn Sie die zwölfhundert Gulden von dieser Hälfte abziehen wollen.

Das will ich –

Nun, dann sei es darum! rief Florenz Frank aufspringend aus; ja, ja, Sie sind ein edles, ein unaussprechlich edles Mädchen – Gott mache Sie glücklich dafür!

Ich hoffe jetzt es zu werden, antwortete Arabella, und Sie, Sie werden –

O, auch ich hoffe, ich weiß, daß ich es werde, sagte Florenz mit freudestrahlendem Gesicht; ich brauche ja jetzt auch nicht mehr ein Frevler an einem himmlisch guten Herzen zu werden, das mich liebt – das ich Ihnen, oder besser, mir selbst egoistisch opfern wollte – o, ich bringe sie Ihnen, Arabella; Sie sollen meine Marie kennen lernen!

Diese letzte Mittheilung war Arabella über alle Maßen interessant. Sie hatte hundert Fragen nach dem jungen Mädchen, und Florenz mußte, ehe er endlich Abschied nahm, die feste Zusage geben, daß er Marie der Amerikanerin vorstellen werde.

Florenz hielt schon am andern Tage dies Versprechen. Er brachte seine Braut seiner großmüthigen Freundin.

Marie vergoß Thränen des Dankes auf die Hand der edlen Amerikanerin; ihr Gefühl war um so aufrichtiger, je weniger sie ahnte, was Alles eigentlich zwischen Arabella und Florenz gestern vorgegangen war.

Nichts aber kam dem Hochgefühle gleich, womit Herr Frank senior die Kunde von dem Vergleiche vernahm, welcher zwischen seinem Sohne und Miß Coremanns abgeschlossen worden.

Also fünfunddreißigtausend Thaler erhältst Du und dergleichen mehr! rief er jubelnd aus. Und das Alles überläßt sie Dir, weil Dein Vater sie ahnen ließ, daß Du eine tiefe Leidenschaft für sie gefaßt! Nun, wahrhaftig, ich wußte es ja – die Weiber sind auf der andern Hemisphäre gerade so wie auf der unsern – fünfunddreißigtausend Thaler und Du brauchst sie nicht einmal zu heirathen! Unverschämtes Glück – und Gottlob – Du wirst nun auch einsehen, was Du an Deinem Vater hast!

Das Vermögen wurde einige Wochen darauf der Miß Arabella Coremanns vom Gerichte wirklich ausgehändigt. Der Bremer Geschäftsfreund ihres Vaters hatte die Caution übernommen. Arabella reiste sehr bald darauf mit Mistreß Patterson in ihre Heimath zurück, begleitet von den Segenswünschen eines jungen, in Europa zurückbleibenden Paares, welches sich einen Monat später vor dem Altare die Hände reichte.

Florenz Frank schaukelt jetzt schon eine kleine blondlockige Arabella auf seinen Knien, wenn er Abends von seinem Gerichtsgebäude zu seinem häuslichen Heerd zurückkommt. Das Tempo, in welchem er bei diesem Heimkommen die Straßen durcheilt, hat nichts von seiner Raschheit verloren. Im Gegentheil, die alten und jungen Damen, welche in diesen Straßen wohnen, und mit ihren Fensterspiegeln emsig den Verkehr überwachen, wollen behaupten, daß er, wenn möglich, noch längere Schritte zu machen gelernt habe.

Was aber Herrn Frank senior angeht, so ist er noch immer der würdige Mann, der wandelnde Spiegel des Anstandes. Er beschäftigt sich viel mit dem Gedanken an ein kleines Jubiläum, welches er zu feiern beabsichtigt, sobald vierzig Jahre seit seinem Eintritt in den öffentlichen Dienst vollaus vorüber sind. An seinem innern Auge sind bereits alle classischen und modernen Vasenformen vorüber gegangen, nach deren Muster möglicher Weise der silberne Ehrenbecher gestaltet sein kann, den ihm bei dieser Gelegenheit das Gemeindecollegium ganz unausbleiblich zu verehren die Aufmerksamkeit haben wird.

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