Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

 

Unfern des in unsern Tagen so bekannt gewordenen Forts Ham in der Picardie lag im siebzehnten Jahrhundert eine Burg, oder besser, eine Art ritterlichen Manoirs, das den Namen Moyencourt führte. Es war von einer Waldebene umgeben, die bis an die Ufer der Somme zwischen Amiens und Peronne gen Norden sich dehnte und südlich in die Gegend von Noyon hinauszog; und wenn nicht durch die Natur befestigt, hatte es doch seine schützenden Vorrichtungen gegen die Besuche ungeladener Gäste in einer starken Ringmauer mit zinkengekrönter Brustwehr und einem breiten Graben, der die Gebäude, Höfe und schmalen Gärtchen der Besitzung umschloß. Moyencourt sah mit einem Air heruntergekommener Aristokratie in die stillen Holzungen hinaus; Zugbrücke, Tor, Wappen und Giebel prangten noch mit allem Stolze der Seigneurie, aber verwittert und von Moosausschlägen übergrünt, und auf dem Hofe hatte eine höchst bürgerliche Wirtschaft Holzvorräte aufgehäuft, einen Verschlag für eine Ziege angebracht und eine Schar Hühner aufgezogen. Auch erinnerten sich die ältesten Leute nicht, daß Moyencourt von seiner Herrschaft bewohnt worden sei; sie lebte seit undenklichen Zeiten auf Chateau Mussard in der Bretagne und ließ einen in den Unruhen der Fronde zum Invaliden geschossenen Diener unter dem stolz klingenden Titel eines Seneschall auf dem entlegenen Gute hausen.

Dieser Seneschall von Moyencourt, Adhemar Derepont oder Faineant, wie ihn der Witz der Dörfler in dem keine zwanzig Minuten vom Manoir entfernten Örtchen nannte, hatte in dem verlassenen Gebäude, für dessen Erhaltung nichts mehr verwandt wurde, dessen meiste Grundstücke und Zubehörungen schon seit den Zeiten der Jungfrau Johanna als antichretische Hypothek dienten, wenig Mühewaltung und ein gar bequemes Leben; eigentlich hatte er gar nichts zu tun und dazu einen Knecht, »der ihm half«. Bei dem Tätigkeitstriebe, den man als charakteristisches Merkmal französischer Art zu nennen pflegt, hätte eine solche Stellung Adhemar unerträglich sein müssen; aber er wußte durch eine besondere glückliche Gemütsanlage sich zu trösten und manche bescheidene Freude der harmlosesten Art in seinem Amte zu finden. Denn erstens hatte der Seneschall den ganzen Tag über Zeit, sich lediglich als den Repräsentanten des très-noble et très-puissant seigneur, Gaston Gervais Gilbert Seroy, Baron de Mussard de Moyencourt zu betrachten, und darin lag für den alten Frondeur ein so erhebendes Gefühl, daß er nicht umhin konnte, ihm sehr oft Worte zu geben und dabei auf den uralten Glanz des Hauses de Mussard überzugehen, welches eigentlich aus Isle de France stamme und von dem Austrasier Maussadus sich herschreibe, so einer der Ritter gewesen, auf deren Schultern, in einem silbernen Schilde stehend, Dagobert II. vor allem Volke zum König erhoben sei. Zweitens verstand Adhemar den glücklichen Fund einer kleinen Arbeit so gut zu benutzen, daß jedesmal mindestens eine Woche verfloß, bis er sie ganz vollendet erklärte, und François, sein Gehülfe, der gähnend hinter ihm zu stehen pflegte, der Empfehlungen von Ruhe, Bedachtsamkeit und reiflicher Überlegung zu und bei jedem Dinge überhoben war.

»Der Vormittag wird morgen darüber hingehen, daß ich das große Messer schleife, und am Nachmittage werde ich mit Gottes Hülfe wohl mit dem Schärfen der Axt fertig«, sagte Adhemar, als beide eines Abends in der Kammer des Seneschalls vor einem Kamine saßen, dessen Flammen trotz des Frühlingswetters verschwenderisch aus der ihnen auf Diskretion zur Benutzung überlassenen Holzung um Moyencourt genährt wurden. »Wir können dann übermorgen zum Werke schreiten.« »Mit Gottes Hülfe«, sagte François, indem er eine vor ihm stehende Mäusefalle, die er eine halbe Stunde lang betrachtet hatte, mit dem Fuße auf die andere Seite drehte, um an dieser seine tiefsinnig schweigsamen Beobachtungen fortzusetzen. »Vorausgesetzt«, fuhr Adhemar fort, »daß du morgen mit der Reparatur der Mäusefalle, welche du nachgerade für nötig hältst, zu Ende kommst.« »Es war in der Woche vor Weihnachten, daß ich die letzte fing«, sagte François mit einem Seufzer, »seitdem haben sie jede Nacht den Speck herausgefressen!« »Und ferner vorausgesetzt«, sprach Adhemar, »das Wetter bleibt gut, damit du dich nicht erkältest, François, wenn du den Draht aus dem Dorfe zu holen gehst.« François fuhr mit der breiten Hand sacht über seine zufallenden Wimpern. »Geh jetzt zu Bette, François!« sagte Adhemar. »Der müde Arbeiter ist der Ruhe wert. Steh nicht so früh wieder auf wie heute! Die Jugend muß sich ausschlafen. Als ich in deinem Alter war, da mußt' ich Winter und Sommer um vier zu den Pferden in den Stall; ich weiß aus Erfahrung, wie beschwerlich und unangenehm das frühe Aufstehen ist, und wollte, du glaubtest mir aufs Wort, Francois, und bliebest liegen.«

Nachdem das Messer geschliffen und die Axt geschärft war, beschloß Adhemar an einem Morgen, der ihm in jeder Hinsicht durch seine Heiterkeit, Windstille und anmutigen, nicht zu grellen Sonnenschein passend und förderlich schien, an das so reiflich vorbereitete Werk zu gehen. Er trat aus der Halle von Moyencourt auf den Perron der hohen Haustreppe hinaus, legte sein Gerät auf die Balustrade und glättete sein langes, schwarzes Tuchwams, das eine vom Halse bis zum Knie laufende dichte Reihe silberner Knöpfe zierte; und nachdem noch die Gürtelspange fester geschnallt war, ließ er sein schmal geschlitztes, ins Grünliche schillernde Auge über den fast dreieckigen Burghof gleiten. Er kehrte mit der befriedigenden Überzeugung zurück, daß alles gut und in gewohnter Unordnung war. François saß in einem Winkel auf einem Haufen zerklaubten Holzes und schien aus dem bloßen Gefühle des Daseins und der Einwirkung des vortrefflichen Wetters die Empfindung von Heiterkeit und allseitiger Zufriedenheit mit seinem Zustande zu schöpfen, in welcher er zu dem blauen Himmel und den gewundenen Röhren der hohen Essen hinaufblickte. Er erhielt den Befehl, eine Leiter hervorzubringen. Es wäre Verleumdung, zu behaupten, daß nun mehr als eine halbe Stunde noch verflossen, ehe man hätte inne werden können, worin Adhemars Vorhaben eigentlich bestanden.

Ungefähr um so viel Zeit jedoch mochte der Zeiger an der Uhr im Torturme weiter gerückt sein, als die hagere, lange Gestalt des Seneschalls mit ihrem Gesichte vom entschiedensten Henry-Quatre-Typus endlich die Höhe der Leiter einnahm, welche auf den Perron der Haustreppe gestellt war und unter dem Wappenschilde über der Tür sich anlehnte. Unten stand François und stützte sie zu größerer Sicherheit mit der ungemessenen Breite seines Rückens, indem er den Hühnern zuschaute, die in einem Haufen Kehrsand sich badeten und von Zeit zu Zeit langsam den Kopf zur Seite neigte, so oft Adhemar oben eine Moosflocke von den Quartieren des Steinwappens auf seinen breiten Strohhut fallen ließ. Denn das Unternehmen des Seneschalls war kein anderes, als das Moos, den Steinbruch und die Wucherpflanzen, so seit Jahren auf den Feldern, Fluchten und Zimieren dieses heraldischen Prachtstücks sich eingenistet hatten, zu entfernen, den Kolonisationsversuchen der Schwalben und Spatzen, die über und unter demselben sich angesiedelt, ein gewaltsames Ende zu setzen, und endlich eine junge Fichte, welche von irgendeinem vagabundierenden Finken im Keime dorthin verpflanzt sein mochte und fröhlich jetzt in die heitere Luft aufstieg, mit der Axt abzuhauen. Zugleich benutzte Adhemar die Gelegenheit, von den Staffeln herab wie ex cathedra den Reichtum seiner genealogischen und heraldischen Kenntnisse zu entfalten, indem er die Bedeutung des Familienwappens nach bestem Wissen und Verstehen auseinanderzusetzen sich bemühte.

»Hab' ich nicht gesagt, François, daß, wenn ich dies untere Feld vom Moos gereinigt, von oben nach unten laufende Striche zum Vorschein kommen würden? Nun sieh! Das bedeutet einen roten Schild. Merke dir das, François, damit man nicht sage, du habest nutzlos so lange mit dem alten Derepont zusammengelebt. Solche Striche bedeuten rot.« »Rot!« sagte François, ohne aufzublicken. »Nichtsdestoweniger«, nahm der Seneschall wieder das Wort, »bist du ein äußerst dummer Mensch, wenn du sagst, dieser Schild mit den von oben nach unten laufenden Strichen sei rot. Du mußt sagen: »Er ist gueule«. Das ist der rechte Ausdruck.« François schien nichts dagegen einzuwenden zu haben, ob der Schild rot, gueule oder aschfarben sei; nach einer guten Weile aber warf er den Kopf in den Nacken und fragte: »Wenn nun aber die Striche von unten nach oben laufen?« Der Seneschall wandte sich auf seiner Leiter um, steckte sein Messer in den Gurt und sah verwundert in das auf einer der Staffeln liegende, zu ihm emporschauende Haupt des Knechtes. »Von unten nach oben? Ja, das ist freilich eine Frage, um einen verwirrt zu machen. Ich denke, es ist am besten, du sinnst selbst darüber nach.« Er fuhr in seiner Arbeit fort. »Dies ist der Helm für das Feld von Gueule; das Zimier besteht aus zwei Adlerflügeln. Merke dir das, François!«

»Adlerflügeln«, sagte François.

»Nichtsdestoweniger wärst du nicht viel besser als ein Dummkopf, wenn du sagst Adlerflügel, François: du mußt sagen »Fluchten«.«

»Aber zum Henker, Messire Adhemar, ihr führt ja die Leute irre mit euren Flügeln und Fluchten!«

»Tut nichts, mein Sohn, je edler die Wissenschaft, desto dornenvoller ist der Weg zu ihr; und diese ist die edelste, das steht fest. Sieh, das hier ist der Mohrenkopf der Montmorencys. Du weißt, die Montmorencys sind die ältesten Edelleute der Christenheit: ein Montmorency kommandierte, wie das jedes Kind in Frankreich dir sagen kann, als Kapitän die Gendarmerie, als unser Herr und Heiland Jesus Christ gekreuzigt wurde; woraus deutlich abzunehmen, welch altes Geschlecht die de Mussards sind, daß sie den Schild der Montmorency mit in den Quartieren ihres Wappens führen. Dieses hier ist das Herzschild; die goldne Haarlocke im purpurnen Felde, was die schrägen Striche von der Linken zur Rechten andeuten, ist die Locke, welche Chilperich III., dem der kleine Pipin den Kopf hatte kahl scheren lassen, einem Ahnherrn unseres Hauses schenkte, als er ins Kloster zu Soissons abgeführt wurde.«

»Hatte er denn da noch Locken zu verschenken, als er kahl geschoren war?«

»Das ist eine kindische Frage, François; glaubst du, die Wissenschaft besteht darin, gegen die Einwendungen eines Perückenmachers gerüstet zu sein?«

Es war Abend geworden, bis der Seneschall mit seiner Arbeit zu Ende gekommen; die Sonne stieg hinter den fernen Waldungen am Horizonte nieder und lag wie Purpur auf den kleinen bleigefaßten Scheiben, wie ein goldener Glast auf den weißen Essen, den Giebeln und Creneaux des Manoir. Einer ihrer Strahlengüsse schimmerte auf dem gereinigten Wappenschilde; Messire Adhemar hatte seine Axt auf die oberste Staffel der Leiter gehängt und beugte nun, mit beiden Händen an dem Architrave über der Haustüre sich festhaltend, den Oberkörper zurück, um sein Werk zu überschauen: es war ihm, als ob das scheidende Sonnenlicht jetzt durch eine mächtige weiße Wolkenbildung einen eigenen geisterhaften Glanz auf die ganze heraldische Herrlichkeit würfe, auf den Mohrenkopf der Montmorencys, die goldene Locke des unglücklichen Merowingers und all den feingemeißelten Zierrat. »Gott segne dich, du tapferes und stolzes Haus!« sagte mit einer Art von Rührung der alte Diener der de Mussards, »Gott segne dich bis in ferne Geschlechter hinab! Deine Locke ist älter, als die Lanzenspitzen der Valois und der Navarreser sind, woraus sie ihre Lilien gemacht haben; möge sie noch glänzen und prangen, wie das Gold vor dem Eisen prangt, auch wenn jene längst verrostet sind und niemanden mehr ein Leides tun! Da, nimm die Axt an, François!«

In diesem Augenblicke erschallten von der Zugbrücke her die Hufschläge eines galoppierenden Rosses, dann erdröhnte das Torgewölbe, durch welches die niedergehende Sonne schien, und, wie aus ihrer Strahlenglut hervortretend, sprengte plötzlich ein Kavalier, eine verschleierte Dame auf dem Sattelkissen hinter sich, in den Schloßhof von Moyencourt. Es war eine hohe, ritterliche Gestalt, und wie er so auf dem langschweifigen Kastilianer, der den wallenden Busch von Straußfedern mit einem schwanhalsigen Anstand trug, samt seiner Dame im grünen Jagdrock voll goldener Tressen, er selbst im rotsamtnen befranzten Mantel vor den überraschten Seneschall des einsamen Waldschlosses sprengte, hätte man eher an die Zeiten des abenteuerlichen Bliomberis als an das Jahr tausendsechshundertsechsunddreißig, welches mit roten Nummern auf dem laufenden Kalender stand, denken sollen. Adhemar Faineant aber dachte weder an Bliomberis noch an das laufende Jahr bei diesem Anblicke; er gab ihm vielmehr eine solche Menge höchst unangenehmer beschwerlicher und fataler Gedanken an Haus und Hof, Rechnungen und Register, daß er es vorzog, lieber gar nichts zu denken, und einem versteinerten Schildhalter ähnlich in seiner Stellung blieb, die Axt, die er François hatte hinabreichen wollen, wie drohend gegen die Ankömmlinge gehoben.

»Heda! Das Pferd abgenommen! Tummelt Euch!« rief der Reiter, nachdem er sein Tier angehalten hatte, das auf einem alten Pflasterbruchstück in der Mitte des Hofes mit allen Vieren ausglitt und dann schnaubend weiße Schaumflocken um sich schleuderte. »Mein Gott, Chevalier – Monseigneur, wollt' ich sagen, seid Ihr es? Ventre Saint Gris! War mir's doch, als ob ich's geahnt, daß Ihr kommen würdet, daß ich gerade heut zu Eurem Empfange so schön Euer Wappen aufgeputzt habe.« »Was Wappenputzen! Habt Ihr nichts Besseres zu tun? Es sieht wohl darnach aus hier!« rief der Ritter und schwang sich aus dem Sattel. »Das Pferd sollt Ihr nehmen, sag' ich!«

Adhemar blieb zuvörderst ruhig in seiner Stellung, und zwar mit der Überlegung beschäftigt, wie er am besten, bequemsten und zugleich mit dem geringsten Zeitverluste den Boden erreichen könne, während François sich in eine geraume Entfernung zurückgezogen hatte und voller Scheu den glänzenden Fremden anstarrte, dem er sich um vieles nicht zu nähern gewagt hätte. Der Letztere war von dem Ritte erhitzt und, wie es schien, von jäher Gemütsart; denn erst staunend über die Langsamkeit seiner Diener, geriet er jetzt in Zorn und rief mit flammiggrimmen Blicken auf den Seneschall: »Zum Henker mit dem Wappen! Haut ihn herunter, wenn Ihr da oben von ihm nicht loskommen könnt, den vermaledeiten, unnützen Kram!«

»Monseigneur scherzt«, sagte Adhemar, der verlegen war und deshalb in ein lautes Lachen auszubrechen versuchte; »das Wappen der de Mussard mit dem Mohrenkopf der –« »Soll der Teufel holen!« knirschte der Kavalier, der aus seinem Zorn in völlige Wut geriet, als er den unbeweglichen Seneschall in seinen Verdruß lachen sah. »Ich sage Euch, Seneschall, Ihr sollt das Wappen herunterhauen oder die Axt sitzt bei Saint Denys in Eurem Strohkopf, eh Ihr ein Paternoster sagt. Ich will diesem hochgeborenen Geschmeiße zeigen«, fuhr er, zu der verschleierten Dame gewendet, fort, »was ich aus seinen Wappen und verfaulten Stammbäumen mir mache!« Dann sprang er die Stufen zum Perron hinauf und griff mit den Worten: »Nun, wird's oder nicht?« so ungestüm an die Leiter, daß Adhemar, voll Schreck, heruntergestürzt zu werden, wenn er länger zögere, sich umwandte, die Stellen ersah, wo die Steinarbeit mit eisernen Krampen an die Mauer gehakt war, und durch vier oder fünf kräftige Hiebe das längst verrostete Eisen zersprengte. Das heraldische Prachtstück krachte, schlug über und lag staubwirbelnd, in Stücke zerschellt, auf dem Perron und den Stufen der Treppe. Das Roß bäumte sich, die Dame stieß heruntergleitend einen Schrei aus, und Adhemar, dem im Schrecken über seine Tat und die erschütterte Leiter die Axt entfallen war, stieg bebend die Staffeln herab. Der Kavalier aber ergriff den Arm seiner Begleiterin und führte sie jetzt ruhig über die Trümmer seines Familienschildes in das Innere des Gebäudes.

Einige Stunden nachher saßen Adhemar und François wieder vor ihrem flammenden Kaminfeuer, aber einem ganz andern Gedankengange nachhängend, als damals, wo sie so harmlos über den zu erneuernden Glanz der goldenen Locke Chilperichs und die Wiederherstellung einer schadhaften Mäusefalle nachgesonnen.

»Daß es Jeanne Prestot ist«, flüsterte François, »daran verwette ich Kopf und Kragen!«

»Jeanne Prestot, die Tochter des versoffenen Notars von Noyon! und tun wie Mann und Frau zusammen! Gott gebe nur daß sie nicht verheiratet sind!« so sprach Adhemar und sank in eine intensive Ruhe zurück, die ihm nach den Anstrengungen des Tages so verdient schien.

»Ist die Dirne schön!« hub François nach einer Weile wieder an; »sie sieht aus so hoch und stolz in ihrem grünen Jagdkleid wie der heilige Hubertus, der in der Dorfkirche gemalt steht – wie Milch und Blut, die langen Locken, die ihr auf der Schulter liegen, sind so glänzend schwarz wie ein gewichster Reiterstiefel oder die Fluchten eines Raben.«

»Warum sagst du Fluchten, François?« fuhr Adhemar auf; »Ventre Saint Gris, die gehört nicht in die Heraldik! Was mag der alte Baron de Mussard sagen, wenn er hört, daß sein einziger Sohn mit einer Notarstochter über sein zertrümmertes Wappen in dies Manoir eingezogen ist! Wer hätte das vom Chevalier Valerian gedacht! Schön ist das Menschenkind freilich; aber wer kümmert sich um Schönheit, der den Mohrenkopf der Montmorencys in seinem Wappen führt!«

Jeanne Prestot, die Dame, welche wir mit dem Erben des Namens de Mussard in den Burghof von Moyencourt reiten sahen, war in der Tat ein Wesen von ungewöhnlicher Schönheit. Sie hatte allen Reiz und alle Anziehungskraft eines ausgeprägten Typus von nationeller Schönheit, darüber aber noch eine Art höherer exzeptioneller Weihe, welche ihre Erscheinung emporhob über jede solche, gleichsam naturhistorische Klassifikation, die bei unsern Psychologen und Beobachtern seit Balzacs »Epicier« so beliebt geworden ist. Wenn sie dastand in ihrer Casaquina, dem echt bretagnischen kurzen Überwurf, über der langen Samtrobe, das lockige Haar gescheitelt, aber ungebunden zu beiden Seiten eines Gesichtes niederwallend, dessen Profil das einer klassischen geschnittenen Gemme schien, das blaue Auge geradeaus fest auf seinen Gegenstand gerichtet, ohne je mit den Wimpern zu zucken – dann war es so wenig eine anmutig kokette, lazertenhafte Französin, wie eine tiefsinnige, scheue deutsche Natur, so wenig eine blutglühende Spanierin, mit Gemütsflammen lodernd, gleich dem Geiste des Weines von Xeres, wie eine jener vollen üppigen Blumen, die eben so empfänglich für plötzliche Eindrücke, wie fähig, sie treu zu bewahren, der vulkanische Boden Italiens nährt. Jeanne Prestot stand vor Euch wie eine Königin. Es wäre unmöglich gewesen, ihr untreu zu werden. Sie eroberte als Weib durch ihre Schönheit, sie wußte ihr Reich zu behaupten als Königin durch ihre Majestät. Es ist das Unausfindbare, Unzuberechnende, gleich dem Herrschertum Unnahbare und immer fremdartig Bleibende im Weibe, das uns allein für immer fesselt, indem es nie aufhört, uns zu imponieren. Die Majestät ist der Tod der Gewohnheit, welche der Tod der Liebe ist. Jeanne Prestot war vor allen ganz ein Weib für den Chevalier Valerian de Mussard.

Valerian, der einzige Sohn des Barons Gaston Gervais Gilbert, konnte auf den ersten Anblick durch Energie und Selbstkraft wie äußere Schönheit für eine mit Jeanne verwandte Erscheinung gelten; und doch war er so himmelweit verschieden von ihr. Er hatte eine durchaus aristokratische Erziehung erhalten, wenn von Erziehung die Rede sein konnte bei einer Natur von dem ausgebildetsten bretagnischen Eigensinn, die nicht nur überall ihre eigenen Pfade verfolgte, sondern sich darin gefiel, dabei der breitgetretenen Wege der anderen bitterhöhnend zu spotten. Selbst von einer ganz außerordentlichen Energie beseelt – wie ihn wenigstens seine bisherige Tapferkeit auf dem Schlachtfelde annehmen ließ – körperlich stark wie ein Löwe, tatendurstig wie ein Eroberergenie, hatte es ihn seit je erbittert, allen aristokratischen Stolz, der ihm schon als Knabe von seiner ganzen Umgebung eingebläut werden sollte, nur auf die verschollenen Taten seiner Ahnherrn oder auf noch wertlosere Dinge, die Locke Chilperichs, den Lastträgerdienst des Maussadus, die Prophezeiung eines alten Druiden vom einstigen Glänze seines Hauses, gestützt zu sehen. Es empörte seinen persönlichen Stolz, daß eine kühne Tat seines eigenen Arms nicht in Rede kam gegen die bloße Erwähnung seines Namens in den alten schweinsledernen Bänden von Messire Froissart oder Joinville. Der Mensch in ihm war hochmütiger als der Aristokrat; er hätte nichts dagegen gehabt, ein Ahne zu sein, wohl aber ein Enkel zu sein. Dazu noch die wunderliche Zumutung, eine Ehre in der Unehre zu finden, vorausgesetzt, daß sie aus einem frühen Jahrhundert gemeldet werde. Denn man war auf Chateau Mussard stolz darauf, daß ein Seroy am Ende des neunten Jahrhunderts den räudigen Hund getragen zur Strafe für eine Verräterei. Und wenn Valerian nun vollends seinen Vater, dem er es nie verzeihen konnte, daß er an den Tagen von Ivry und Coutras zu Hause gesessen hatte, statt von eigenen Taten erzählen hörte, wie ihm zwischen den Rohan und den du Gaisnics der Sitz gebühre auf den Generalstaaten zu Rennes; wie er berechtigt sei, bei der Eröffnung derselben die Zulassung zu seinem Vasallendienste zu fordern, der darin bestehe, dem Herzoge der Bretagne, jetzt dem Könige, den Stegreif zu halten; oder endlich, wenn er, gesprächig werdend, auf seine Ansichten von der »kleinen Sitte« der Etikette überging, diesem bewundernswürdigen Institute, das eigentlich am Hofe Burgunds unter Philipp dem Guten seine jetzige Ausbildung bekommen, dann an den Hof von Kastilien übergegangen sei und von daher unter Anne d'Autriche nach Frankreich gekommen – diesem bewundernswürdigen Institut, das die Blüte alles politischen und sozialen Fortschritts der Menschheit sei, die stufenweise durch Christentum, Rittertum, Etikette aus dem Barbarentum in die feinste Politesse sich hinaufgeläutert habe: dann trieb es den Chevalier voll wütigen Verdrusses in den Wald, um Bären zu jagen. Und hier, wo er fast aufgewachsen war, wo die Natur allein ihm Mutter und Ahnfrau und Verwandte schien, wo er sich als ihr Stammherr, als König ihrer andern Geschöpfe fühlte, weil er stärker war als diese, hier sog er eine Ansicht von Aristokratie ein, wie wohl noch kein de Mussard sie gehegt hatte. Das aber diente eben dazu, sie desto tiefer Wurzeln schlagen zu lassen.

Unsere philosophischen Überzeugungen werden nie fester, als wenn sie aus dem Mantel des Allgemeinen Putzlappen für unsere besondere Eitelkeit schneiden. Valerian de Mussard sagte sich, die Aristokratie sei ein verderbliches Institut, weil sie die Trägheit nähre und jene Indolenz des menschlichen Hochmuts bestärke, welche so gern in errungenen, noch mehr aber in ererbten Lorbeeren ein Ruhebett für ihre Faulheit sehe; aber dieser allgemeine Schluß wurde ihm deshalb unumstößliche Wahrheit, weil es seiner Persönlichkeit schmeichelte, die Aristokratie weg und sich erhoben zu denken, nicht wie jetzt schon über den Pöbel bloß, sondern über alle, die stolz als seine Pairs sich neben ihn stellten, obwohl er sich tapferer, stärker, tatendurstiger glaubte, als sie alle. Valerian war zu stolz, um nicht den Stolz zu verachten.

Mit ihm auf Chateau Mussard war Jeanne Prestot aufgewachsen, die verlassene Waise eines Notars, der früher in der Seigneurie von Moyencourt gelebt hatte. Valerians Mutter hatte sie zu sich genommen und sie ganz wie ihr eigenes Kind gehalten, weil sie sich vereinsamt fühlte und das stille, ernste und träumerische Mädchen liebte. Als sie heranwuchs und eine blendende Schönheit wurde, dachte man nicht daran, daß ihre Nähe dem mit ihr im gleichen Alter stehenden Valerian gefährlich werden könne; sie war ja die Tochter eines Notars und er der Erbe der ältesten Seigneurie der Bretagne; sie war sans conséquence, und wäre sie wie Helena gewesen.

Wirklich schien Valerian kein Auge für ihre Reize zu haben; aber sie gefiel ihm, sie war klug, und er freute sich über ihre Gespräche, über ihren Witz, der oft eine bittere und ironische Färbung annahm, wie gewöhnlich bei Wesen, welche das Leben von ihrer Wurzel losgerissen und auf einen fremden, wenn auch bessern Boden geworfen hat. Ihr Geist amüsierte ihn, weil etwas Fremdartiges für ihn darin lag, das aber keine Art von Mißbehagen in ihm wecken konnte; er besaß ihn selbst zu wenig, um seinen Mangel zu fühlen; er schien ihm eine Frauengeschicklichkeit, aber jedenfalls hatte eine hübsche Stickerei Jeannens bei ihm den Vorzug vor einem ihrer amüsanten Gespräche, weil jene dauerhafter war.

Jeanne Prestot war auch die einzige, welche nie von seinem Hause und von seiner Geburt oder Bestimmung mit Valerian sprach; sie sprach mit ihm nur von sich selbst und auf eine Weise, die ihm schmeichelte, wie, ohne daß er wußte, worin es lag, ihr ganzes Betragen gegen ihn etwas unendlich Angenehmes hatte. Der Grund, worin es lag, war ein einfacher: Jeanne Prestot liebte Valerian de Mussard. Was hätte ein Mädchen von zwanzig Jahren auf einem einsamen Schlosse der Bretagne anders tun sollen, ein Mädchen wie Jeanne Prestot, mit so viel versteckter, intensiver Glut, einem ritterlichen, schönen, jungen Manne gegenüber, der mit der ganzen Welt im Hader lag, von den aristokratischen Sympathien seines Vaters bis zu den Bären, die der Winter aus den Schluchten der Pyrenäen trieb – ausgenommen mit ihr?

Valerian war eines Abends in der besten Laune von der Welt von der Jagd zurückgekommen; er war seit mehreren Tagen einem Hirsche von vierzehn Enden auf der Fährte gewesen und hatte mit Meute und Halloh trotz dem flinksten seiner Spürhunde hinter ihm gekeucht; heute hatte sein Weidmesser das arme Tier seine einzige Träne vergießen lassen; aber es fand sich jetzt, daß der Hirsch nur zwölf Enden habe, und Valerian dachte über die Jägersage nach, daß ein ermüdeter Hirsch einen andern für sich aus dem Lager aufjage, wenn er nicht weiter könne, damit dieser die Meute hinter sich drein ziehe, bis ihn ein dritter ablöse, was jedenfalls ein höchst merkwürdiger Umstand wäre, obwohl er nicht daran glaubte. Als er mit den gekoppelten Hunden und den schweißtriefenden Treibern durch das Tor einritt, sah er Jeanne unter dem Fliederbaum im Schloßhofe sitzen, als ob sie ihn erwartete. Er stieg ab und schritt auf sie zu, um sich nach seinem Jagdglücke befragen zu lassen; er wußte, daß sie ihn befragen würde, denn er brachte Beute heim; wenn er leer zurückkehrte, fragte ihn Jeanne nicht, und es war dann überhaupt niemanden zu raten, ihn zu befragen. Aber Jeanne zeigte heute keine Neugier nach seinen Jagdabenteuern; sie sah ihn anfangs schweigend an und lächelte dann so eigen spöttisch, daß es den siegesstolzen Jäger verdroß.

»Ich wünsche Euch Glück, Chevalier; es ist eine Braut für Euch oben«, sagte sie endlich. »Eine Braut? dummes Zeug!« »Im Ernst; die ganze Familie der Baroël ist bei dem Seigneur. Aimée ist hübsch.« »Hübsch? Eine faserige Wasserpflanze!« »Sie stammt von den du Gueselin ab und ist verwandt mit den ältesten Häusern der Bretagne, ja sogar, was die Hauptsache ist, mit dem der de Mussards«, antwortete Jeanne spottend. – »Hole sie alle der Teufel!« rief Valerian; »ich will ein Weib, dessen Stolz es ist, daß sie mit mir verwandt wird!«

Er eilte in den Saal, wo die genannten Gäste von dem Schloßherrn bewirtet wurden. In einer Fensterbrüstung, von einem mit Gold ausgepreßten Ledervorhange halb verborgen, stand sein Vater neben einer alten Dame in silberbrokatner Robe; sie mußten glauben, es sei ein Lakai, der eintrete, denn Valerian hörte, wie sein Vater fortfuhr, über seinen unbezähmbaren Eigensinn zu klagen. Am Ende des Saales saßen zwei andere, ebenso feierlich angetane weibliche Gestalten, wie die in der Fensterbrüstung, in ihrer Mitte auf dem Sofa Aimée de Baroël, ein blasses junges Mädchen von dürftiger Gestalt, das aussah wie eine verschüchterte Taube in der Mauserung. Ein älterer Bruder Aimées stand auf dem geöffneten Balkone draußen.

Valerian ward erbittert über die aufgefangenen Worte seines Vaters; er begrüßte die Damen kalt, den herantretenden Bruder Aimées, den er nicht leiden konnte, sehr obenhin; aber als die Silberbrokatne auf ihn zurauschte und viel von dem langgenährten Verlangen der Familie de Baroël sprach, ihre Freunde auf Chateau Mussard wiederzusehen, das sie lediglich einmal hergeführt, da erschien ihm dies Gepräge feierlicher Wichtigkeit auf allen Gesichtern, dies abgekartete Wesen in einem so lächerlichen Lichte, daß er in ein stilles und endlich lautwerdendes Gelächter ausbrach, indem seine Heiterkeit durch das Bewußtsein sich steigerte, wie er alle Pläne aller dieser steifen Leute durch einen Hauch seines Mundes so leicht umstürzen könne, wie gewiß werde. Ein kindisches Gelüst ergriff ihn, diesen Streich auf der Stelle zu spielen; nach dem raschesten Mittel dazu suchend, sah er einige Augenblicke lang zerstreut in das Antlitz der silberbrokatnen Dame, schlug dann, wie verlegen werdend, zu der Letztern nicht geringem Erstaunen, mit der Reitgerte den Schmutz von seinen Jagdstiefeln, schnellte endlich stolz den Kopf empor und sagte: »Ich bin erfreut, Euch hier zu sehen, teure Tante, um so mehr an einem Tage, an welchem ich sonst genötigt gewesen wäre, Euch eine Familiennachricht von einiger Wichtigkeit durch den Mund eines Boten ausrichten zu lassen, da ich das Schreiben nicht liebe. Die Nachricht ist die, daß ich heiraten werde.«

»Heiraten? Und wen?« fragte befriedigt lächelnd der Seigneur Gaston Gervais Gilbert; die Silberbrokatne knickste und der Bruder Aimées trat um einen Schritt näher.

»Jeanne Prestot«, sagte Valerian.

Die Damen sahen sich verwundert an, und Aimée schien leicht aufzuatmen, der Seigneur de Mussard aber schüttelte verdrießlich das Haupt über den unziemlichen und anstandswidrigen Scherz seines Sohnes. Nur Aimeric de Baroël, der Bruder Aimées, der seinen prätendierten Schwäher seit je gehaßt hatte, wie gern er auch seinem Namen die Schwester hingegeben hätte, fand ein inneres Behagen darin, Valerians Ankündigung eines dummen Streiches ernst zu nehmen. »Ihr werdet nie Eures Vaters, noch Eures Lehnsherrn Einwilligung zu einer solchen Verbindung bekommen«, sagte er.

»Sieur de Baroël, haltet Ihr den Chevalier, meinen Sohn, für einen Toren?« unterbrach ihn gereizt der Seigneur de Mussard.

»Ihr werdet nie der Kirche Segen zu einem solchen Bündnisse erhalten«, fuhr Aimeric fort.

»So nehm' ich sie ohne ihn zum Weibe«, sagte Valerian trotzig.

»Allerdings das Vernünftigste, was mit der Dirne anzufangen«, versetzte lächelnd Aimeric de Baroël.

Valerian de Mussard war ganz der Mann dazu, bei einer solchen Gelegenheit grob zu werden; er ward es, und die Familienunterhandlung auf Chateau Mussard endigte mit einer, nur notdürftig von aristokratischem Schicklichkeitstakte verdeckten Szene, die wieder ein Zusammentreffen auf einer Heide zwischen den Wohnsitzen der beiden Familien in ihrem Gefolge hatte. Die Erben der beiden Häuser de Mussard und de Baroël wechselten nutzlos ein paar Kugeln aus großen Reiterpistolen von ihren Pferden herunter; dann stiegen sie ab, entblößten die Degen, und trotz Aimerics guter Toledoklinge und seiner Fechtergewandtheit war das Ende des Kampfes wie immer, wenn Valerian de Mussard sich in einen Kampf einließ: sein Gegner war gestorben, ehe noch die Bahre mit dem Verwundeten über die Zugbrücke von Baroël getragen war.

Valerian mußte flüchten; aber er ging nicht ohne Jeanne; sie war ihm teuer geworden, wie einer seiner Einfälle, den er sich einmal vorgenommen, durchzusetzen; sie war ihm eine Verkörperung einer seiner Grillen geworden, und Valerian war seiner Jeanne treu wie Gold seit dem Augenblicke. Als der Hauskaplan ihm die Trauung mit ihr weigerte, stürmte er auf Jeanne ein, ohne sie ihm zu folgen. Jeanne tat es; sie wollte ihn nicht verlassen, jetzt, da sein Leben bedroht war; sie fühlte sich stark und mutig und wollte Stärke und Mut auch anwenden und zeigen. Und der Hauptgrund war: sie war in Valerian verliebt.

In dem verlassenen Hause Moyencourt, dem nie besuchten in der stillen Picardie, hielt Valerian sich für sicher; er dachte dort in eine Verschollenheit zu geraten, bis die Zeit habe Gras wachsen lassen über seine Tat. Er schien sich nicht verrechnet zu haben. Monat nach Monat war verflossen, seitdem in die bestäubten Gemächer andere Bewohner als die hundertjährigen Käuze eingezogen waren; dem jungen Paare schwanden die Tage rasch; beide waren zu stolz, um den Verkehr mit Menschen zu entbehren oder ein Entbehren sich selber zu gestehen; beide liebten, denn die Einsamkeit, Jeannes Schönheit, ihre geistige Überlegenheit, das innige Verbundensein in gleichem Geschick mit ihr hatte das Herz des bretagnischen Bären für ein Gefühl zugänglich gemacht, das ihm ohne diese Umstände das Leben wahrscheinlich nie offenbart hätte, und das einen mildernden, läuternden Einfluß auf ihn übte. Er gewöhnte sich daran, von Jeanne geleitet zu werden; er hatte Stunden, wo es ihm schwer wurde, einen Augenblick von ihrer Seite zu weichen; Valerian schwur dann, das leidige Wetter werde in den nächsten acht Tagen nicht zur Jagd taugen, und wehe dem, der ihn aufmerksam gemacht hätte, daß der schönste Sonnenschein in den Fenstern und auf den Mauern des alten Manoirs stehe.

Jeanne genas eines Knaben; als faute de mieux Adhemar ihn in der Dorfkirche über der Taufe halten mußte, da wurde auch das Herz des alten Frondeurs mit dem Leben und Lieben seines Herrn ausgesöhnt, und er hatte weichere Stunden, worin der rebellische Gedanke Macht in ihm bekam, eine von Jeannens rabenschwarzen Locken sei am Ende so viel wert, wie die goldene Chilperichs. Auch war ein Verhältnis, wie das Valerians, in jener Zeit nicht so anstößig wie es in unserer sein würde. Die Erinnerung an die Tage des »Königs der Renaissance« lebte noch, die Tage Henry Quatres standen in frischem Andenken, und Henry Quatre war in solchen Dingen mit einem grandiosen Beispiel vorangegangen. Dem Adel insbesondere war viel erlaubt, und er erlaubte sich mehr. Von den drei Perioden, in welche man die Geschichte der Frauen in Frankreich teilen kann, seit dem sechzehnten Jahrhundert bis auf unsere Tage, der der Koketterie, der Galanterie und – seit der neuen Heloise Rousseaus – der der Leidenschaft, begann die zweite eben ihre Herrschaft, eine Saat der letzten Valois, welche für die Koketterie zu geistlos waren, des Bearners, der zu brüsk für sie war. Es waren die Tage Marion de l'Ormes; kurz, man hatte sich gewöhnt, sehr tolerant zu sein in jenen Tagen.

Es war ein heiterer Wintermorgen gekommen; Valerian schritt durch die Halle von Moyencourt; vor einer der Fensterbrüstungen blieb er stehen; dahin hatte der Seneschall die Bruchstücke des zerschlagenen Wappens gebracht und drei Arbeitstage darauf verwendet, so gut es tunlich, sie in die alte Ordnung zu legen. Valerian war seit langem jetzt mit aller Aristokratie, mit all den stolzen Erinnerungen seines Hauses verschont geblieben; es war nichts mehr in seiner Umgebung, was ihm stündlich zurückrief, daß er nur ererbten Namen und Gütern seine Größe verdanke, daß er eigentlich nur ein Werkzeug sei, diese Namen und Güter auf den nächsten Stammhalter nach ihm zu bringen, daß er nur als Ring einer großen Kette gelte, woraus der Ring allein fortgenommen gar keinen Wert behaupte. Niemand verlangte mehr von ihm einen aristokratischen Stolz auf Dinge, welche die Ansprüche seines persönlichen Selbstgefühls so gekränkt hatten. Woher kam es, daß Valerian jetzt, nachdem er Vater geworden war, oft vor der Fensterbrüstung stehen blieb, in welcher sein zertrümmerter Familienschild auf dem Boden lag? Er dächte nicht daran, sagte er Jeannen, sich zu erinnern, daß der Mohrenkopf darin das Wappen der Montmorencys sei, daß der Löwe mit den aufgehobenen Pranken den Rohans gehöre; jeder Bauer könne sich eine solche Fratze mit breitem Maule über seinem Scheunentore ausmeißeln lassen, wenn er Lust habe; aber er freue sich über die feine Arbeit; der Löwe sei so korrekt gezeichnet und die Helmzier mit Kunst aus dem rohen Steine gehauen; er glaube, das Ganze habe einen hohen Kunstwert. Niemand hatte früher gewußt, daß Valerian de Mussard sich um Kunst und Kunstwert kümmere.

Er schritt durch die Türe auf den Perron der Haustreppe, hielt die Hand an die Stirn und sah nach dem Stande der Sonne; als er durch das Burgtor schaute, fielen seine Blicke auf die morschen, schwarzen Planken der dahinter aufgezogenen Zugbrücke. »Adhemar! Seneschall!« rief er mit rauher Stimme. Adhemar saß in seiner Kammer und schnitt eine Zwiebel in seine Morgensuppe; als er den Ruf vernahm, fuhr er in die Höhe und setzte dann ruhig seine Beschäftigung fort, wischte eine Träne aus den Wimpern, welche der Dunst des Gewächses hineingelockt hatte, und murmelte einige unartikulierte Töne in den grauen Kinnbart. Ein gelles Pfeifen folgte; Adhemar fuhr abermals in die Höhe und hielt es jetzt für geraten, anzunehmen, daß der Ruf seines Herrn bis zu ihm gedrungen sei. Er setzte seine Suppe wieder ans Feuer, sprach einige Ventre Saint Gris zum Segen darüber und stand nun bald neben Valerian.

»Seneschall, weshalb ist die Zugbrücke noch nicht niedergelassen? Es ist nicht weit von Mittag.«

»Chevalier, ich vermag es nicht ohne François, und François schläft noch.«

»Weckt ihn mit Peitschenhieben, die faule Bestie, und Ihr verdientet sie ebenfalls für Eure Trägheit. Legt mit Hand an! Ich will sie selbst niederlassen.«

»Ihr selbst, Monseigneur? Soll ich nicht lieber François wecken, als daß Ihr mit eigener Hand – es ist so François' Morgenbelustigung«, setzte er etwas schüchtern hinzu, »auf der niedersinkenden Brücke zu stehen und beim Aufprallen sich von ihr in die Höhe schnellen zu lassen, und da er nur wenig andern Spaß hier hat –«

Der Chevalier schritt durch das Tor, ohne auf ihn zu hören; seine Aufmerksamkeit war durch das Nahen eines gewappneten Reiters abgezogen worden, der sich durch die Avenue vom Dorfe her mit einer Begleitung von etwa dreißig bis vierzig Männern, die Eisenhüte und Hakenbüchsen trugen, dem Manoir näherte. »Halt!« rief er dem Seneschall zu, »laß die Brücke, wie sie ist!«

»Monseigneur«, sagte Adhemar, »Übereilung ist zu keinem Dinge nütze; wenn wir nun früher aufgestanden und der Haufe ohne Aufenthalt ins Schloß gezogen wäre? Wer weiß, was sie wollen!«

» De par le Roi!« tönte es nach einer Weile von dem andern Ufer des Burggrabens her; »die Brücke nieder!«

»Ja, ja«, rief der Seneschall; »Gott erhalte seine Majestät von Frankreich und Navarra, und was die Brücke betrifft, so soll sie noch vor Abend niedergehen, falls kein Regenwetter eintritt und die Arbeit beschwerlich macht.«

Der alte Frondeur sah seinen Herrn mit einem triumphierenden Lächeln an, als ob er eine beifällige Verwunderung über seine Gewandtheit in Kriegslisten und seine Geistesgegenwart erwarte; Valerian aber hatte nur düstere Blicke, mit denen er die Fremden musterte, und Adhemar wandte sich zu dem Rufe: »Was sucht ihr auf Moyencourt?«

»Den Chevalier Valerian Seroy de Mussard, auf Befehl seiner Eminenz des Kardinalherzogs von Richelieu«, tönte die Antwort herüber. Valerian erblaßte. »Antwortet, ich sei Seiner Majestät gehorsam, habe aber mit der Eminenz nichts zu schaffen«, befahl er dem Seneschall und schritt dann hastig über den Hof ins Haus zurück, um zu Jeannen zu eilen.

Der Seneschall setzte die Verhandlungen mit den Fremden fort; endlich folgte auch er seinem Herrn und trat in das Wohnzimmer, wo Jeanne weinend sich über die Wiege ihres Knaben beugte und Valerian heftig sprechend auf und ab ging. »Monseigneur«, sagte Adhemar, »der fremde Kavalier, Sieur de la Morlière, Lieutenant des Grand Prévôt de la Cour, bittet um eine Unterredung mit Euch und verlangt auf sein Ehrenwort, unbewaffnet und allein eingelassen zu werden. Sie haben das Schloß rundum dicht mit doppelten Schildwachen besetzt«, fügte er leiser und verzagt hinzu.

»Das hab' ich gesehen«, sagte Valerian; »glaubt Ihr, ich wäre sonst noch hier? Laßt de la Morlière ein!«

Der Vizeprevost des Hofes von Frankreich stand nach kurzer Zeit vor Valerian, der trotz Jeannens Bitte, ohne ihm entgegen zu gehen, an den Kaminsims gelehnt, stehen blieb und des Fremden etwas verlegene Begrüßung nicht erwiderte, sondern, seine innere Bewegung zu äußerer Ruhe niederkämpfend, stumm seine Anrede erwartete.

De la Morlière leitete seinen Auftrag mit so viel Schonung und Courtoisie ein, wie ihm erlaubt und möglich war; trotzdem blieb der Inhalt derselbe; er setzte seine Worte auf eine hofmännisch gewandte Art, wobei aus dem Gesichte des hochgewachsenen, breitschultrigen Mannes in der schweren Rüstung eine große Gutmütigkeit leuchtete. Dann aber legte er seine Züge zu einer gewissen strengen und ehernen Impassibilität zusammen, um zum enthülsten Kern der Sache zu kommen. »Chevalier«, sagte er, »ich habe demnach den Befehl erhalten, Euch nach Paris zu führen. Einer Behandlung, wie sie Euch gebührt, könnt Ihr von meiner Seite gewiß sein.«

»Ich habe keine Geschäfte in Paris, Sieur de la Morlière«, versetzte Valerian, »und danke Euch für Eure Verheißung um so mehr, als ich gewohnt bin, selbst zu handeln und nicht, mich behandeln zu lassen.«

»Ihr irrt Euch, Chevalier. Ihr habt Geschäfte in Paris, und zwar sehr ernster Art; wie Ihr mir erlaubtet, Euch zu melden, hat der König befohlen, mit Euch gewisse Verhandlungen über Euern Zweikampf mit dem Seigneur Aimeric de Baroël einzuleiten. Man hat Euern Aufenthaltsort ausgeforscht, und ich muß Euch gestehen, wenn ich aufgefordert würde, meine Meinung zu äußern, ich würde bei der größten Freundschaft für Euch nicht zu behaupten wagen, daß dieser Versteck ein sehr vorsichtig gewählter sei. Aber genug, die Witwe de Baroëls hat den König fußfällig um Gerechtigkeit wegen ihres ermordeten Gemahls gebeten, und die allerchristlichste Majestät hat den Tränen der verzweifelnden Gattin ihr Wort verpfändet, sie zu üben«. »Sagt lieber«, antwortete Valerian, »die allerteuflischste Eminenz findet an der Farce mit der Gerechtigkeit ihren Spaß, diese bepurpurte Tigerkatze, die nach dem edlen Blute Frankreichs lechzt! Sieur de la Morlière, ich ersuche Euch, dem Kardinalherzog, der Euch gesandt hat, zu hinterbringen, daß ich das Wappen der de Mussards über dem Tore von Moyencourt habe in Stücke zerschlagen lassen und keinen Anspruch mehr darauf mache, als Adliger in der Reihe derer zu stehen, mit deren Köpfen Seine Eminenz Kegel zu schieben sich erlustigen, um durch einen glücklichen Wurf endlich einmal den König im Spiel zu treffen. Euch folgen werd' ich nicht, es sei denn, Messieurs de Crequi und de Saulx könnten mir ihr Wort verpfänden, daß ich ohne Gefahr einer Haft und Beschränkung meiner Freiheit Paris wieder verlassen kann.«

De la Morlière konnte dazu freilich keine Aussicht geben, aber er drang in Valerian, freiwillig der Übermacht zu weichen, um durch einen durchaus fruchtlosen Widerstand sein Schicksal nicht zu verschlimmern. Valerian blieb taub. »Warum nur wollt Ihr nicht?« sagte der Vizeprevost endlich. »Weil«, fuhr Valerian auf, »weil weder Ihr, noch Euer Kardinalherzog, noch der König das Recht haben, mich vor ein Gericht zu stellen um eines Zweikampfes willen, weil ich von meinen Pairs gerichtet werden muß und nicht von feilen Schranzen und Räten, weil mir keiner in ganz Frankreich Rechenschaft abzufordern hat, ob ich meine Ehre in ritterlichem Wege zu wahren gesucht, weil ich Baron der Bretagne und der Krone bin und die Edelleute meines Landes nicht gewohnt sind, von der Laune eines blutdürstigen Pfaffen Gesetze zu empfangen!« »Ihr sagtet soeben, wenn ich recht hörte, Ihr habet Euer Wappen zerschlagen lassen, Baron Seroy de Mussard de Moyencourt«, warf listig lächelnd der Offizier des Königs ein. Valerian wandte ihm den Rücken und jener schied, um zu der Schar seiner Schützen zurückzukehren und mit ihnen seine Befehle gewaffneter Hand zu vollziehen. »Chevalier«, sagte er, indem er sich zum Gehen wandte, »ich wollte, wir sähen uns nicht wieder!« Er sprach es mit einer Betonung, welche verriet, daß er Valerians Trotz auf die Rechnung irgend eines geheimen Mittels zur Flucht schreibe und dies wünsche. Hinter ihm hob sich die Zugbrücke wieder; Adhemar und François schlossen das Tor; das alte Manoir von Moyencourt befand sich in Belagerungszustand.

Nachdem Valerian nach der Sicherheit des Tores gesehen, kehrte er zu Jeannen zurück; es war ihm, als ob in ihrer Nähe die schwere Angst, welche, den Atem fesselnd, auf seiner Brust lag, sich lindern müsse. In der elastischen Weichheit des Weibes entwickelt der Moment des wahren und unabwendbaren Leids eine Kraft, zu der die männliche starre Stärke dann gern wie zu ihrer Ergänzung ihre Zuflucht nimmt. Valerian fühlte sich wie ein Kind in dieser Stunde und lag an Jeannens Herzen, als ob es das seiner Mutter gewesen wäre. Und Jeanne hätte wie eine Mutter ihn beschützen mögen. Wunderbar, daß in solchen Augenblicken, wo die Liebe ihre eigentliche Weihe durch den Schmerz bekommt, sie so oft zu einer Art Muttergefühl sich hinaufläutert, als finde sie nur darin ihren ganzen, vollen und ewigen Gehalt.

Aber was konnte Jeanne für ihn tun? Richelieus strenges Verbot des Zweikampfes ist bekannt; der Übertreter wurde mit dem Tode bestraft; es gab keine Gnade für ihn, denn er hatte nicht allein das neue, weniger gegen die ritterliche Sitte allein, als den Adel im allgemeinen gerichtete Gesetz wider sich; er war dem unerbittlichen Kardinal verfallen, der Politik, den Plänen Armands Duplessis. Valerian erwartete in Paris der Block und das Schwert des Henkers; das war so sicher wie der Aufgang der Sonne am folgenden Morgen. Er besaß keine lebhafte Phantasie, aber während de la Morlière vor ihm gestanden hatte, war es ihm, als ob der Mann, der so chevaleresk, so voll schonenden Anstandes sein unangenehmes Amt zu üben wußte, etwas Blutiges an sich habe, als ob seine Berührung beflecken könnte; seine Worte waren nur halb verstanden an Valerians Ohr vorübergesummt, aber bei allen Gedanken und Ideen, welche sie weckten, bildete das Schaffet den Hintergrund, auf dem des Letztern düstere Blicke lagen.

Valerian weinte an Jeannens Brust; aber nicht lange. Draußen tönten Stimmen, lautes Gerufe, dann Klirren wie von gesprengten Ketten und endlich ein schweres Niederkrachen. Die Zugbrücke war gefallen. Er fuhr bei diesem Lärm empor; die ganze Gewaltigkeit seines Zornes flammte in ihm auf; an der Wand hingen sein Jagdgewehr und seine Reiterpistolen; er riß sie herunter, stürzte über den Hof und stand mit Blitzesschnelle oben auf den Zinnen des Burgtores. Auf der jetzt niedergeworfenen Brücke unten sah er einen Haufen der Schützen um eine Petarde beschäftigt, welche sie mit Pulver füllten; zwei von ihnen knieten bei der Arbeit, einer stand abseits und hielt vorsichtig die brennende Lunte hinter sich, die übrigen bildeten einen Kreis umher und drückten in spaßhaften Bemerkungen eine Art kindischer Lust und Freude an der Miniaturbelagerung aus. De la Morlière stand entfernt am Ufer des Grabens; er hatte ruhig das Kinn auf die flache Hand und den Arm auf den Knauf seines Schwertes gestützt, während seine Finger auf dem Lippenbart lagen. »Das Volk steht da und säumt wie Buben, die aus dem Schlüssel schießen wollen und nie fertig werden«, murmelte er für sich, wie zu träge, es seinen Leuten zuzurufen. In demselben Augenblicke pfiff eine Kugel an seinem Ohr vorüber, eine zweite schlug vor ihm in das Wasser, ein dritter Schuß fiel, und die Petarde blitzte, krachte mit einem Donnerschlage auf und sprühte zischend, schwirrend auseinander. Der Schuß mußte in das Pulver geschlagen sein. Die Explosion hatte eine furchtbare Wirkung; nachdem die dichte Dampfwolke sich verdünnt hatte, sah man die ganze umher beschäftigte Gruppe auseinander gesprengt; der weißgelbe Qualm und Brodem kräuselte sich um Verstümmelte und Sterbende, zog eine weiche Dunsthülle über Ächzen, Wimmern und fluchendes Rufen. Man hatte kaum Zeit zu erspähen, woher der Überfall gekommen war, der den Belagerern sechs Menschen kostete. Valerian war von einer Art Betäubung befallen worden bei dem donnernden Erfolg seines Angriffs und war jetzt verschwunden, ohne auf einen zweiten zu sinnen.

Es herrschte eine Totenstille auf Moyencourt. François stand auf dem Vorsprung einer Ringmauer, von einem Stück zerfallener Warte gedeckt, und sah beklommen den Belagerern zu, die jetzt mit dem bittersten Ernste ihr Werk förderten. Der Seneschall hatte sich in seiner Kammer verriegelt und buchstabierte in einem zur Hälfte von den Mäusen verzehrten Gebetbuche; zuweilen stand er auf, schlich sacht zu dem Wohngemach seiner Herrschaft und steckte den greisen Kopf durch die Tür, um zu sehen, was drinnen vorgehe. Er kam zwei-, kam dreimal, ohne daß die Szene, welche er erblickte, sich verändert hatte. Das Feuer in dem Kamin war verglimmt und unterbrach durch sein Lodern die Totenstille in dem hohen, gewölbten Räume nicht mehr; die Schildereien auf den alten, vergilbten Tapeten, die steif und unbewegt an den Wänden herabhingen, diese Damen auf den kurbettierenden Zeltern, mit dem Federspiel auf der Hand, diese blasenden, pausbackigen Jäger und die Meute entkoppelnden Büchsenspanner schienen ebensoviel Leben zu haben, wie die Bewohner des altertümlichen düstern Raumes. Man hörte nur die ruhigen, leisen Atemzüge des Kindes, das bei der Explosion von vorhin die Mutter aus der Wiege gerissen hatte, und das nun wieder ruhig schlummernd auf Jeannens Knien lag; sie selbst saß in einer Ecke, ihren Kopf in die Beugung ihres Armes bergend und mit ihm an der Wand lehnend, an welcher sie die kalten Tropfen ihrer Stirne zerdrückte. Valerian lag der Länge nach auf dem parkettierten Boden in der Mitte des Gemachs ausgestreckt, regungs-, ja leblos, wie es geschienen, hätte man nicht durch das sachte Hauchen der Kindesbrust das fieberisch rasche Klopfen seines Herzens gehört, das so laut und vernehmlich war, als ob es ein hohles Echo im stillen Räume hätte.

Eine zweite, noch gewaltigere Explosion als die frühere folgte; das Tor war gesprengt, und de la Morlière's Schar brach tobend durch den Rauch in den Burghof. »Valerian!« rief Jeanne leise. Er zuckte mit dem ausgestreckten Arm, aber erhob den Kopf nicht.

»Sei ruhig, Valerian! Bist du immer so stark gewesen, um dir endlich von mir ein Beispiel geben zu lassen? Ich habe mit dir gelebt, Valerian; ich wäre eine feile Dirne, wüßt' ich nicht mit dir zu sterben.«

Als Adhemar zum viertenmale seine halb neugierigen, halb bestürzten Züge sehen ließ, erblickte er seine Herrschaft jetzt in voller angestrengter Tätigkeit; sie waren beschäftigt, Holzscheite, zerschlagene Möbeln, alles, was an brennbaren Stoffen in ihrem Bereich lag, in der Halle auf einen Haufen zusammenzubringen. Jeanne winkte ihn herbei. »Adhemar«, sagte sie und wies auf die Wiege ihres Knaben hin, »Ihr seid sein Pate; Ihr werdet, Ihr müßt für ihn sorgen; bringt ihn zu meinen Verwandten nach Noyon und geht dann für ihn nach Chateau Mussard! In meiner Kammer werdet Ihr alles finden, was wir ihm hinterlassen können. Geht und bringt es in Sicherheit!« Adhemar starrte sie an und sah in ein Gesicht voll blasser, aber so eiskalter Entschiedenheit, daß er umsonst nach Ausdrücken suchte, in denen er hätte zu antworten gewagt. Sie bat ihn nicht, ihren Auftrag zu Herzen zu nehmen, in ihren Zügen zuckte kein Muskel von innerer Bewegung auf, aber sie sah mit bohrend scharfen Blicken in seine Seele hinein, als ob sie in deren innerstem Grunde, in dem tiefsten Herzenswinkel des alten Frondeurs nach der Fähigkeit forschen wollte, die letzten Worte einer scheidenden Mutter verstehen und fühlen zu können, welch heilige Verpflichtung ihm auferlegt wurde. »Adhemar«, sagte sie dann, »ich hoffe zu Gott, Ihr seid –«. Sie endete den Satz nicht; im Begriffe, Adhemar dabei ihre Hand zu reichen, ging eine krampfhafte Erschütterung durch ihre Nerven; die fast übermenschliche Kraft, womit sie ihr Inneres zusammengeklammert hatte, verließ sie und Jeanne sank ohne Bewußtsein zu Boden. Der Seneschall wollte ihr beispringen, aber Valerian eilte herzu und schob ihn mit den Worten: »Tut, was Euch aufgetragen ist!«, zur Tür hinaus.

Die Belagerer hatten nur noch ein Hindernis zu überwältigen; dies war die Haustür, die aus altem Eichenholz zusammengetäfelt und mit Eisen schwer beschlagen war. Ein Eindringen in das Gebäude auf anderem Wege war nicht möglich, denn die Fenster des Erdgeschosses waren stark vergittert; um die des zweiten Geschosses zu erklimmen und einzubrechen, waren keine Leitern von hinlänglicher Höhe zu beschaffen. Es mußte also wieder eine Petarde angelegt werden, weil aber der Überfall Valerians eines dieser Sprengwerkzeuge zerstört hatte und de la Morlière nur zwei derselben bei sich führte, sandte er einen Boten auf seinem Pferde nach dem nahen Noyon aus, um von dort eine andere herbeizuholen. Unterdes zog er seine Schar wieder aus dem Burghofe zurück, um sie nicht den etwaigen Verteidigungsversuchen und Schüssen de Mussards von seinen Fenstern aus bloßzustellen, und ließ die Wachen ablösen, die in dichtem Ringe um das Manoir aufgestellt waren.

Es war Dämmerung geworden; über den dürren Wipfelästen der Waldung begannen heiser schreiend die Krähen zu kreisen, kalte, feuchte Nebel tränkten die Luft und setzten sich in schweren Tropfen an den Zweigen und grauen Flechten der Baumstämme. Es war einer jener trüben Abende, wo euch der Einfluß der winterlichen Atmosphäre entweder abergläubisch macht oder ihre Beschaffenheit den Wesen, so nicht unter den Lebendigen wandeln, erlaubt, von körperlichen Augen aufgefaßt zu werden; denn es begegnet euch etwas Seltsames, Unerklärliches, wenn ihr durch den Wald schreitet an einem solchen Abend und in die weißlichen Nebel schaut, die in großen Flockenwallungen zwischen den Stämmen ziehen.

Vor den Augen der harrenden Kriegerschar, die auf der Rasenfläche zwischen dem Walde und den Burggräben von Moyencourt herumlungerte, zeichneten sich der Zinnenkranz der Ringmauern und die Dächer und Essen des Gebäudes mit immer grauer, düsterer werdenden Flächen, immer mehr verschwimmenden Linien ab. Man hörte den Hufschlag eines rasch trabenden Pferdes; es war der Bote, der aus Noyon zurückkam. Zugleich erhob sich ein Gezanke von den Schildwachen her, die unter dem Tore und auf der Brücke standen. De la Morlière eilte zu ihnen; er fand einen ältlichen Mann, der ein Kind und ein Bündel unter seinem Mantel trug und hinausgelassen zu werden verlangte; ein Knecht mit einem größern Pack von Habseligkeiten unter dem Arm stand bei ihm und hielt verschüchtert eine Falte vom Mantel des Seneschalls – denn der war es – in der Hand. De la Morlière forschte scharf in ihre Züge. »Ihr könnt gehen!« sagte er dann. »Ja wohl kann ich gehen«, murmelte Adhemar, indem er nun rasch über die Brücke schritt; »das ist das Ende, François, daß wir gehen können bei nächtlicher Weile in den Wald hinaus, und du, armer Teufel, hast nicht einmal einen Mantel. Wo werden wir unser müdes Gebein hinlegen? Im Lager des Hirsches oder der wilden Sau! Das ist das Ende. Hab ich's nicht immer gesagt, François? Was hab' ich gesagt von dem Wappen, François?« »Mit den Adlerflügeln?« stotterte François zerstreut und sah ängstlich sich um. »Dummkopf, der Familienschild werde sich rächen, habe ich gesagt; übrigens heißt es: Fluchten.« Die beiden Männer verschwanden in der Dämmerung des Waldes.

Die herbeigeholte Petarde wurde in Stand gesetzt und die Kriegerschar drang von neuem in den Burghof, über den dunklere Schatten fast einen nächtlichen Schleier breiteten. Moyencourt, das bei hellem Tageslicht so heruntergekommene Manoir mit der bürgerlichen Wirtschaft auf seinem Hofe, hatte die Spuren seines Verfalls wie in einen schwarzen Mantel gehüllt und wieder ganz ritterlich stolz, fast dräuend sich aufgereckt; die Verhältnisse des Gebäudes waren großartiger, die Giebel und Zacken riesiger, der Eindruck des Ganzen sprechender geworden; es sah mit einer Art Verachtung, wie hocherhobener Stirne über den unten eindringenden Haufen weg und weit in die stummen Geheimnisse der Nacht. Eine Totenstille herrschte im Innern; de la Morlières Augen forschten vergebens, ob er keinen Lichtstrahl hinter einem der Fenster bemerke. Was mochten die beiden einzigen, jetzt aufs äußerste bedrängten Bewohner beginnen? Er glaubte, sie seien entflohen; und doch hatte keine der Schildwachen etwas Verdächtiges gemeldet. Aber sollte de Mussard sich fangen lassen wie eine Eidergans auf ihrem Nest? Nein, nein, plötzliche blendende Helle blitzte über den Hof und die Umgebungen hin; aus dem Gebäude krachten zwei starke, dumpf an den Mauern und dann an den Stämmen des Waldes hinrollende Schüsse; ein greller Schein übergoß von innen mehrere der Fenster des Erdgeschosses.

»Die Petarde!« rief de la Morlière, »die Petarde an die Tür! – Chadieu, wir kommen zu spät!« Die Petarde wurde befestigt, die Lunte entzündet, der Haufe zog sich zurück, und nach einer Weile Harrens erfolgte der Schlag; die beiden Flügel des Haustores krachten zerschmettert auseinander, das Gebäude dröhnte, und klirrend flogen die Fenster auf, daß die Scheibensplitter und Bleistücke umhersprangen; durch die Öffnungen drangen qualmende Rauchwolken heraus, ihnen nach schlugen züngelnde Flammenlohen an den Mauern empor; die Halle stand in Feuer, und nach wenigen Minuten leuchtete das ganze Manoir in dem roten, gespenstigen Glutlicht einer Feuersbrunst. De la Morlière drang trotz der Gefahr des Erstickens in das Innere und kam in die Halle. In ihrer Mitte war ein sehr hoher Scheiterhaufen zusammengeworfen und stand in vollem Brande; er sah nichts als einen bespornten Stiefel aus der Lohe hervorragen, darunter am Boden ein abgeschossenes Pistol, um dessen Schaft die Flamme leckte; weiter oben an der andern Seite glitt eine Frauenhand heraus, die als ein Häuflein Asche auf dem Boden ankam. Er mußte wieder hinausstürzen vor der zerschmelzenden Glut und dem Qualm dadrinnen.

Valerian de Mussard und Jeanne Prestot schienen sich auf dem entzündeten Scheiterhaufen, der ihre Körper in Asche verwandelte, gegenseitig durch die beiden Schüsse den Tod gegeben zu haben. Wie eine Apotheose ihres mutigen Endes flammte das Schloß von Moyencourt über ihnen in gewaltiger Lohe am Nachthimmel auf; eine blutigrote, wie in rasender Freiheitsfreude wogende, sprühende Glut spiegelte sich in den Burggräben und ließ die grellbeschienenen Baumgipfel des Waldes leise sich regen und schütteln, als gehe die Seele des Jahrhunderte alten Manoirs scheidend durch ihre Zweige.

 

Das Gut Moyencourt war nach dem Erlöschen der Familie de Mussard an mehrere Besitzer und am Ende des vorigen Jahrhunderts durch Erbfolge in die Hände eines deutschen Barons von Esch gekommen, der durch einen langwierigen Reichskammergerichtsprozeß sein Stammgut am Rhein verloren und so sich genötigt gesehen hatte, seinen Wohnsitz in der Picardie aufzuschlagen. Das alte, ausgebrannte Manoir war mit geringer Abweichung von dem früheren Plane wieder aufgebaut worden, denn man hatte einen Teil der vom Feuer unzerstört gebliebenen massiven Mauern stehen lassen; nur war Ordnung, eine gewisse Eleganz und Wohlhabenheit in dem neuen Gebäude so heimisch geworden, wie Unordnung und Vernachlässigung es in den bestäubten Hallen des alten gewesen. Die zerfetzten Tapeten mit den gewirkten Parforcejagden hatten dem papiernen Zeitalter weichen müssen; in dem Wohnzimmer der Familie sang von dem löwenfüßigen Marmortische eine Pariser Spieluhr ihre Arie aus einer Oper Gressets ab, und darüber lauschte, aus der Gipskartusche des venetianischen Spiegelglases, eine junge Mädchengestalt, so reizend modern, daß man sehr mittelalterlich sein mußte, um sich noch einer elegischen Stimmung über den Verfall der massiven Ritterlichkeit hingeben zu können.

»Wo mag doch der Vater bleiben?« sagte die junge Dame, zu einer ältlichen gewendet, die am Fenster saß und ruhig Filet strickte; »ha dort! Richtig, bei dem alten Wappen, das uns nächstens auf den Kopf fallen wird. Papa, soll ich anrichten lassen?« rief sie laut durch das geöffnete Fenster. »Ist August zurück?« antwortete eine Stimme vom Hofe her. Ein Schuß fiel dicht am Hause. »Da sind sie«, sagte die Tante; »sie schießen die Gewehre aus. Du bist rot geworden, Clara? Bist du erschrocken?« »Pah!« versetzte Clara unwillig, »die Nimrode!«

Draußen im Hofe stand der Hausherr, ein feiner, gesetzter Mann, im halb städtischen, halb ländlichen Kostüm. »Lieber Herr Schmand«, sagte er zu einer Art Mumie, von der man wenig mehr sah als einen hohen, kahlen Oberkopf über einem grauen Flausrocke, unbeweglich aufwärts starrend wie eine Sonnenblume; »kommen Sie, kommen Sie! Man kann auch des Guten zu viel tun; unsere Jäger sind zurück. – He, Bello – Diana!« Ein paar gelbe Windspiele sprangen herbei und wanden sich wie Schlangen um ihres Herrn Füße. »Nur noch eine Minute, Herr Baron, eine Minute!« »Nein, keine Sekunde mehr! Man muß Ihnen Gewalt antun, Herr Schmand, sonst finden wir Sie einmal vertrocknet in einem bröcklichten Turmgemäuer oder unter einem Haufen Quadersteine. Die Luft ist feucht, und wenn Sie nicht eine warme Suppe essen, werden Sie diesen Abend vor lauter Nießen Ihre antiquarische Gelehrsamkeit nicht vorbringen können.«

Er faßte nach einer langen Hopfenstange in der Hand des Grauen; Herr Schmand aber verbeugte sich lächelnd und machte mit allem Respekt seine Stange wieder los. »Schauen Sie nur!« sagte er und fuhr mit der Stange gegen das Wappen über der Haustüre. »Um Gotteswillen!« rief der Baron, »Sie werfen uns den ganzen Plunder auf den Kopf! Die Klammern sind so wacklig wie alte Hufeisen.« »Ich habe das Ew. Gnaden schon lange vorstellen wollen«, sagte ein junger Mann, der mit abgezogenem Käppchen hinzutrat und beim ersten Wort so rot wurde wie eine Rose. »Es ist ein lebensgefährlich Ding; gestern saß Fräulein Clara über eine Stunde auf der Steinbank darunter und las; ich habe Todesangst ausgestanden«. »Nun, warum haben Sie sie nicht gewarnt, Herr Cachard?« »Ich wußte nicht«, stammelte der junge Mann, »ob es –«. »Aber warum ist das Wappen so zerbrochen?« unterbrach ihn der Altertumsforscher. »Ich habe Ihnen ja«, versetzte der Baron, »von dem letzten de Mussard erzählt, von dem Brande – wissen Sie denn nicht mehr?« »Ach Gott!« seufzte der Graue, »mein Gedächtnis! Alles aufschreiben, alles aufschreiben! Sonst gehts nicht; ich habe mich überarbeitet. Bitte, wiederholen Sie es mir noch einmal, die Data –«. Er zog eine Brieftasche hervor und begann laut zu notieren: »Valerian de Mussard, geboren Anno –«. »Punktum!« rief ein junger Mann in Jagdkleidern, der Sohn des Hauses, riß die Stange an sich, warf sie auf die Seite und schob den verdutzten Mann des Altertums ohne Umstände in den offenen Torschlund des Hauses; fünf bis sechs Stück junger Weidmannsadel folgten ihm lachend und lärmend, und die Gesellschaft verschwand im Speisezimmer.

Das Dessert stand auf der Tafel, alle Hasen waren bereits zum zweitenmal geschossen worden, und der gutmütige Baron fand es an der Zeit, seinen gelehrten Gast, dessen Verdienste er als echter Edelmann vollständig anzuerkennen geneigt war, in Beziehung auf die Geschichte von Moyencourt zu befriedigen. Er wiederholte ihm mit der Geduld eines Märtyrers der Adelspropaganda Punkt für Punkt, was er schon am Tage vorher ihm vollständig auseinandergesetzt hatte: wie Valerian, der letzte Sprößling des Hauses Mussard, nachdem er einen Edelmann im Zweikampfe getötet, mit Jeanne Prestot hierher, in das öde Manoir von Moyencourt, sich geflüchtet; wie er hier von Richelieus Abgesandten belagert worden; wie er in der angezündeten Burg die Geliebte und sich getötet, und wie sein und Jeannens kleiner Sohn vom alten Seneschall geflüchtet worden.

»Und so«, schloß der Baron, »nahm die Sache einen Ausgang, welcher den ganzen französischen Adel in Schrecken und Nachdenken versetzte. Als man dem alten de Mussard die Nachricht brachte, soll er zuerst totenbleich geworden sein und sich zitternd an einem Pfeilertische gehalten haben; dann sagte er: »Es ist gut; besser ein umgekehrtes als ein beschmutztes Wappen«, und sprach und eiferte sich dann so in Zorn, daß man wirklich glaubte, er wisse seinen Sohn, unter diesen Umständen, am liebsten tot und vor allen dummen Streichen geborgen. Er reiste nach Moyencourt, befahl den neuen Auf- und Ausbau und pochte dabei ganz gelassen in Begleitung der Werkmeister mit einem Hammer an die Mauern, in denen der Scheiterhaufen seines Kindes geflammt hatte, um zu untersuchen, wie sehr das Gemäuer gelitten habe. Das unter dem Schutt hervorgezogene Wappen wurde auf seinen Befehl wieder zusammengefügt und neu über der Türe befestigt. Nach einigen Tagen jedoch mußte er sich zu Bette legen, was aber niemand bei Leibe anders als einen Gichtanfall nennen durfte.

Er war in diesem leidenden Zustande, als er eines Tages die erheiternde Gestalt des alten Seneschalls vor seinem Lager erscheinen sah. Adhemar machte zuvörderst einige wohlgesetzte Einleitungen und hielt, voller Vertrauen auf seine Redekunst, des Seigneurs leises Murren für vollständiges Einstimmen in die christlichmilden Ansichten von Versöhnlichkeit und Vaterpflicht, welche er entwickelte. »Er ist ungewöhnlich zahm heute«, dachte Adhemar und ging zum eigentlichen Gegenstande seiner Verhandlung, zum kleinen wilden Sprossen Valerians über. »Ich habe ihn bei einer Bäurin geborgen, Monseigneur«, sagte er; »aber es wird ein Junge, wie Ihr noch keinen gesehen; auch das Andreaskreuz hat er auf der Schulter, wie so viele de Mussards; seinem Großpapa ist er wie aus den Augen geschnitten.« Der alte Baron antwortete nicht, sondern hatte das Gesicht in die Kissen gedrückt und atmete schwer. Adhemar glaubte, er weine, und der alte Frondeur ward so gerührt, daß er zu schluchzen anfing wie eine Nachtigall. »Monseigneur, Ihr werdet Gottes Segen verdienen, wenn Ihr das Kind mir abnehmt, und Freude an ihm erleben; Ihr seid doch nun einmal sein –«

Adhemar unterbrach sich; der Seigneur fuhr auf wie ein verwundeter Stier. »Es ist doch nun einmal der letzte Zweig Eures edlen Wappens, wollt' ich sagen«, stotterte der erschreckte Seneschall. »Wappen!« brüllte de Mussard; »ich wollte, daß ihm mein Sterbewappen den vermaledeiten Kopf einschlüge! Jean! Jean!« Er sank ohnmächtig zurück, ohne die Klingel erfassen zu können, nach der er die Hand ausstreckte. Als er wieder zu sich kam, war Adhemar, der Seneschall, fort; mit ihm war der Knabe Valerians verschwunden; niemand wußte, wohin. Hatte der Seigneur den Tod seines legitimen Sprossen ertragen, so schien das Dasein des illegitimen seine Kraft völlig zu brechen. Das Gepräge seiner Familienreinheit, das von Gottes Gnaden erteilte Andreaskreuz der de Mussards auf der Schulter eines Bastards! Seine Züge im Gesichte eines Bastards, in den Gesichtern einer ganzen, ignobel fruchtbaren Generation von Nachkömmlingen, die als Seifensieder sich ernähren und unter ihr Zeichen seinen Namen setzen würden! Das war mehr, als sein Gehirn ertragen konnte; er ward tiefsinnig, mitunter völlig irre, und endlich wie von innerer Säure mariniert. Ich weiß nicht, ob es mehr als ein Gerede war, wenn man behauptete, es seien mehrere Kinder rätselhafter Abkunft in jener Zeit auf seinen Betrieb aus der Welt geschafft worden. Seine Nachforschungen nach dem Enkel blieben anfangs ohne Erfolg; er soll als Wachtmeister in der Schlacht bei Fleurus unter dem Marschall von Luxemburg umgekommen sein. Dem alten Seigneur aber fand man für gut, nachdem er achtzehn Jahre lang noch aus seiner Devise » malo mori quam foedari« die blutdürstigsten Anschläge gesogen, zu versichern, der Sohn Valerians sei als Pflegesohn einer Marketenderin nach Flandern gekommen und dort als Tambour von einer zersprungenen Kartätsche getötet worden. De Mussard wurde nun ruhiger; aber sein Körper, den nur die Kraft des innern Giftes so lange aufrecht erhalten hatte, fiel zusammen wie eine Haut, aus der die Schlange schlüpft. Nach wenig Wochen war der letzte de Mussard tot und der schwarze Trauerschild hing umgekehrt über dem Portale seines Stammschlosses, die Zimiere nach unten, als Zeichen, daß sie fortan nur unter der Erde ihre dunkeln Wurzeln strecken.«

Der Baron schwieg eine Weile, während Schmand eifrig aufzeichnete; dann fuhr er fort: »In seinen letzten Stunden sollen die schrecklichsten Fieberphantasien sich wieder auf den unglücklichen Knaben gerichtet haben und sein Wahnsinn mit erneuter Kraft zurückgekehrt sein. Er hat laut geschrien: »Entkommen! Der Hund ist entkommen! Da, auf dem Hof von Moyencourt – packt ihn! Er hat eine Axt auf der Schulter, er will einen Span aus dem Tore hauen – er faßt die Pforte, das Wappen an!« Dann hat er eine helle Lache aufgeschlagen, sich straff im Bette aufgerichtet, laut »Victoria!« ausgerufen und ist darauf tot zurückgesunken. Es ist doch schrecklich!«

Der Hausherr blickte vor sich nieder und spielte nachdenklich mit den großen Petschaften an seinen beiden Uhrketten. Er schien zu überdenken, welche Rolle er in gleicher Lage spielen würde, und mit dem Resultate eben nicht zufrieden zu sein. Der Altertumsforscher rieb die Stirne. »Führte die Familie nie einen andern Namen?« sagte er. Der Baron fuhr auf. »Daß ich nicht wüßte«, versetzte er; »doch ja: Seroy.« »Mussard«, meinte der Altertümler, »klingt wie ein Ekelname, so die Ritter ehemals oft führten um ihrer Persönlichkeit willen, und den die Nachkommen aus Pietät beibehielten.«

»Aber Mussard, was sollte das bedeuten?«

»Nun, Musard heißt ein Herumlungerer, ein Gaffer; der erste Seroy mag ein müßiger, neugieriger Herr gewesen sein, daß man ihn Seroy le musard nannte.« »Oder sich in der Schlacht versteckt haben«, rief einer der jungen Männer von der andern Seite des Tisches herüber.

»Richtig«, sprach der Altertumsforscher: » se musser, also Mussard, einer, der da versteckt, sich versteckt.« »Also cacher-Cachard! rief August laut, der gern einen Witz machte, auch wo er nicht angebracht war; »ei, unser Herr Cachard ist ein verkappter Prätendent, der sich eingeschlichen hat, um uns das Brett unter den Füßen wegzuziehen! Das ist verdächtig; man muß untersuchen, ob Sie ein Kreuz auf der Schulter haben, oder einen Balken – ja einen Balken jedenfalls!« fuhr er lachend fort. Der junge Verwalter war blutrot geworden. »Junker«, stotterte er, »ich weiß recht gut, was ein Balken in Ihren Wappen bedeutet. Ich bin armer, aber ehrlicher Leute Kind!« »Ach was!« rief August im frühern Tone, »meinen Sie, ich dächte, Sie seien hundert Jahre alt?«

Der Baron warf die Serviette auf den Tisch und rückte den Stuhl, das Zeichen, daß die Tafel aufgehoben war. Alles brach auf, die Gäste strömten in den Salon, die Hausbedienten gingen an ihre Geschäfte; nur August war auf einen Wink seines Vaters geblieben, hatte sich in eine Fensternische gestellt und sah bald auf den stillen, nebelfeuchten Hof hinaus, bald mit einem etwas langen Gesichte den noch längern Schritten zu, womit sein Vater den Speisesaal maß. Er entdeckte ohne Mühe, wie in den Zügen des Barons eine Mercuriale sich immer leserlicher ordnete, Hieroglyphen, die ihm weder unbekannt, noch zu irgendeiner Stunde unerwartet waren.

»August«, sagte der Baron, »du bringst mich zuweilen zur Verzweiflung durch deine unbegrenzte Rücksichtslosigkeit.« August zuckte ein wenig zusammen. »Wie so, Papa, wie so?« »Wie so? daß du von deinem ersten Ausflug in die Welt nur mit einem halben Ohre zurückkommen wirst, werde ich als eine Gnade Gottes und eine nützliche Operation betrachten müssen; daß du von deines Gleichen als ein taktloser Mensch gemieden werden wirst, ist schon schlimmer; am schlimmsten aber, daß du gänzlich ohne Sinn bist für das, was der Höhergestellte dem Ehrgefühl des Geringeren schuldet, besonders bei der scharfen und schwer zu berechnenden Verletzbarkeit solcher Leute, wie Cachard, der dort auf dem Hofe, der Himmel weiß, welche bittern Gefühle mit seinem Stabe in den Staub zu zeichnen und zu begraben sucht. – Weißt du denn nicht, daß Cachard in der Tat ein Nachkomme –«

Die Rede des Barons, welcher August mit ungeduldigem Respekte zuhörte und mit einem wiederholten: »aber Papa« abzulenken suchte, ward hier durch ein plötzliches lautes Geräusch unterbrochen, das von dem eben noch schweigend und stille, wie ausgestorben daliegenden Hofe ertönte. Eine große Steinmasse krachte draußen polternd, auseinanderschellend auf einen harten Gegenstand nieder. »Der Wappenschild ist herabgefallen!« rief August und wollte aus dem Zimmer stürzen. »Halt!« sagte der Baron und ergriff den Arm des Sohnes; »hörst du nichts?« Die letzten Noten eines markdurchrieselnden, scharfen Wehgeschreis tönten dem Gepolter nach; es schien zu erst erben, da sprang es plötzlich in eine silberhelle Lache um und endete dann in einem langgedehnten, singenden Tone, der mehrere Cadenzen voll unbeschreiblichen Wohllauts durchlief und von dem Orte, wo der erste Schrei hörbar wurde, bis an das Ende des Gebäudes, außen an der Mauer entlang, sich hinzuziehen schien. Wie in dem Wehelaut anfangs ein Ausbruch von unsagbar bodenlosem Leid, lag in den letzten Tönen, die wie eine verhallende Glocke ausklangen, ein Etwas von seelenauflösender, alle Gedanken einsaugender Innigkeit, Accorde, als ob sie auf einem Instrumente angeschlagen seien, das man mit den tiefsten Saiten einer Dichterbrust bespannt. Der Baron stand erbleicht, wie an den Boden gewurzelt; August stürzte mit einem Schrei der Verwunderung hinaus, und jener folgte ihm mit schwankenden, eiligen Schritten.

»Das Wappen sitzt!« rief August ihm von der Haustüre her entgegen. In der Tat, die Steinarbeit saß in ihren alten Klammern wie immer über dem Architrav der Türe; nirgends war eine Spur zu entdecken, daß irgendeine Last gefallen sei. Die Stille eines Nachmittags, die das Leben eines einsamen Landhauses niederdrückt, lag wieder auf dem ganzen Hofe und schien in der feuchten, nebelschweren Luft ein Gewand gefunden zu haben. In der Entfernung stand Cachard und sah regungslos wie eine Statue nach dem Eingange des Herrenhauses hin. Der Baron winkte ihn herbei; er kam, seine Züge waren leichenblaß. Der Baron blickte ihn fragend an; »Cachard«, sagte er dann in die Höhe deutend, »besorgen Sie, daß es je eher desto besser heruntergenommen werde.« Dieser antwortete nicht, entweder, weil er zu erschrocken war, den Auftrag zu verstehen, oder weil er August nicht unterbrechen wollte, der ausrief: »Weshalb kommen die andern nicht? Sollte das keiner gehört haben? He, Clara! du kannst Geister sehen.« – Er sprang in's Haus hinein. »August«, rief der Baron und eilte ihm nach, »August, kein Wort! ich beschwöre dich! du weißt, wie abergläubisch Clara ist, keine Silbe davon!«

Mehrere Tage waren vergangen, die männlichen Bewohner des Gutes waren sämtlich nach Tische zu einem Besuche nach Noyon geritten; die Tante hielt ihre Sieste, und Herr Schmand, der Mann des Altertums, wanderte in den Gehölzanlagen umher, die graue Theorie an dem grünen Waldwuchs der Natur aufzufrischen. Er kam an eine Stelle, wo eine Gruppe von alten Weißtannen das frische Laubholz umher wie eine Reihe von Trauerkandelabern überragte, und fand den jungen Verwalter dort, auf einem Sandsteine sitzend, welchen das hochquellende Moos des Waldbodens zur Hälfte überdeckt hatte. – »Ei, Herr Cachard, warum haben Sie sich denn hier cachiert?« sagte Herr Schmand, indem er sich neben ihn setzte. Cachard sprang wie entrüstet auf, setzte sich aber sogleich wieder und blieb stumm. Man hatte seit mehreren Tagen an dem jungen Manne ein wunderliches Wesen bemerkt. Hatte immer etwas Träumerisches in seinen zarten, feingeschnittenen Zügen gelegen, so schien jetzt sogar etwas Wirres aus den starrer werdenden Blicken seiner dunkler glühenden Augen zu sprechen. »Er arbeitete doppelt so rasch wie sonst«, sagte der Baron und klagte doch über seinen Mangel an Teilnahme für Alles und Jedes, und sein apathisches Abtun der Geschäfte, das er früher nicht in ihm gekannt. Er war immer allein, die Stunden, welche ihn in die Gesellschaft der Familie zogen, schienen wie eine drückende Last auf ihm zu liegen: »er wird überschnappen«, sagte August, »oder er ist in eine Kochmamsell verliebt. Nun, Clara, du brauchst nicht rot darüber zu werden und mich anzusehen, als sollt' ich in Flammen aufgehen wie weiland der Ritter Valerian. Aber ein verbissenes Naturell hat der Bursche; er zitterte durch den ganzen Körper, als ich ihn neulich wegen meiner Unbesonnenheit besänftigen wollte und meine Hand auf seine Schulter legte.«

Als Herr Schmand sich niedergesetzt hatte, zog er ein verrostetes Stilet aus der Tasche und begann, das Moos von dem Steine damit abzulösen. Der junge Mann neben ihm achtete nicht darauf, fuhr aber plötzlich empor, als er durch einen raschen, geschickten Griff der langen, dürren Finger des Alten einen Gegenstand, mit dem er wie gedankenlos gespielt hatte, sich aus den Händen gerissen sah. »Geben Sie her, um Gotteswillen!« rief er; der Altertumsforscher besah das kleine silberne Petschaft: » Malo mori quam foedari«, las er; »aber welches Wappen ist das? Es sieht aus wie ein gekrümmter Drachenschwanz – kann auch eine Locke bedeuten.« Cachard entriß es ihm wieder, und Herr Schmand ließ es geduldig geschehen, denn sein immer spähendes Auge hatte eine Andeutung von Buchstaben auf dem Teile des Sandsteins entdeckt, auf dem Cachard bisher gesessen. Das Stilet fuhr in die Vertiefungen und grub und säuberte; endlich wurde eine zusammenhängende Inschrift erkennbar. »Unleserlich, sehr unleserlich!« sagte Schmand, indem er tiefgebückt sein Auge nah an den Stein brachte; »es heißt wohl: Vale munde, est Jesus pretium mihi. Ja, so heißt es, sehen Sie: V. M. & J. Pre... M. Die kleinen Buchstaben sind verwischt.« Cachard schlug ein lautes Lachen auf. »Nun, glauben Sie nicht?« fragte der Altertümler. »Was glauben Sie?«

»Was ich glaube? Alter Herr, ich glaube nichts; ich weiß, daß die Schrift eine andere Bedeutung hat; aber was nützt sie Ihnen? Was soll Ihnen überhaupt all der leere Klang von Namen und Jahreszahlen und genealogischen Notizen, welche Sie in Ihre Register eintragen? Gewinnen die Gestalten, deren verschollene Namen sie wieder aussprechen, dadurch Leben für Sie? Ich weiß, was diese Buchstaben bedeuten, und wenn ich sie ausspreche, treten zwei lebende Gestalten vor mich hin: für Sie bleiben es Gerippe, wie alle die, welche in Ihrer Schreibtafel mit Geburts- und Todestag stehen.«

»Aber die Geschichte –« fiel Herr Schmand verdutzt ein. »Die Geschichte«, sagte der junge Mann heftig, »ist die Schlange, welcher ein Messias den Kopf zertreten muß. Was wollen Sie beweisen mit Ihrer Geschichte, als daß die Welt vor Jahrhunderten so verrückt gewesen ist, wie wahnsinnig jetzt? Die Söhne sterben an der Geschichte ihrer Väter. Die Unvernunft steht in riesenhafter Verkörperung vor Ihnen; aber versuchen Sie einmal, ihr das Brett unter den Füßen wegzuziehen: sie hat eine feste Unterlage, die Geschichte. Wenn Sie nicht die Geschichte tot sein lassen, wird nie das Geschehende lebendig. – Aber wie wär' es möglich«, fuhr Cachard leiser fort, indem seine aufgerichtete Gestalt zusammensank und er mit einem starren Blick in das staunende Antlitz des Grauen sah, als ob er seine Gedanken darin einschreiben wollte, »wie wäre es möglich? Die Geschichte ist eine Rabenmutter, die ein Recht auf ihre Enkel hat und sie mit unsichtbaren Geierkrallen an sich reißt, um sie zu töten, wie sie deren Väter getötet hat. Sie übt einen unwiderstehlichen Bann, eine zauberhafte Macht über sie, die sie anwendet, sie zu verderben. Saturn frißt seine Kinder: setzt das als Vignette vor jedes Geschichtsbuch, es ist keine Mythe. Mich hat die Geschichte meiner Eltern gefaßt, und ich werde daran sterben. Sie wird mir das Genick brechen.«

Der junge Mann hatte die letzten Worte fast unverständlich leise gesprochen; er richtete den Kopf wieder empor, sah gleichgültig auf den Altertumsforscher, den Stein, die Bäume vor ihm, als hätte er soeben mit dem gewöhnlichen Interesse eine Bemerkung über das Wetter gemacht, und ging ruhig davon. Herr Schmand schlug die Erde von seinem Dolche, schrieb die entdeckten Buchstaben in sein Taschenbuch und sagte dann aufstehend: »Hat mir denn nicht neulich jemand gesagt, der Cachard sei übergeschnappt? Ei ja, so wird es sein. Muß es doch notieren, um mit dem Baron darüber zu sprechen.« Er musterte die Blätter seines Notizenbuchs, um die Rubrik zu finden, in welche die Bemerkung »Cachard – übergeschnappt – die Geschichte das Genick brechen –« Platz finden könne. »Soviel ist gewiß: das Bein hätte mir die Geschichte einmal fast gebrochen, bei dem vermauerten Gang unter dem Turme zu Hohenburg, den wir aufbrechen ließen. Es war eine dumme Geschichte; die Jungen hatten eine Wasserpfütze mit Sägespänen bedeckt; bin auch abgereist, ohne dem Grafen seine Genealogie auszuarbeiten; ich sollte oben schwimmen, weil ich Schmand sei, lachten die Schlingel.« Er schrieb, steckte das Buch zu sich und wanderte heim.

Herr Schmand hatte etwa eine halbe Stunde auf seinem Stüblein über einer nicht sehr leserlichen Urkunde gebückt gesessen, als er an eine Stelle geriet, wo seine sonst scharfen Augen ihm ihre weiteren Dienste versagten; selbst eine Brille wollte nicht ausreichen, die wirren Schriftzüge zu enträtseln, und er beschloß deshalb, aus der Bibliothek des Barons dessen gute Lupe zu holen. Er hatte seine Füße, die in ihren schweren Schnallenschuhen viel Ähnlichkeit mit der Gestalt einer halslosen Guitarre behaupteten, in ein paar weiche Galloschen geborgen, und da außerdem eine schätzenswerte Bescheidenheit zu den Eigenschaften des würdigen Mannes gehörte, schritt er so sacht wie eine Katze über den Korridor, um niemanden durch unnötiges Geräusch lästig zu fallen. Desto leichter wurde es seinem Ohre, das leise Summen von Worten aufzufangen, welches aus dem Hintergrunde des Bibliothekzimmers drang und den Mann des Altertums auf die merkwürdigste und überraschendste aller Entdeckungen leitete, welche er je gemacht zu haben sich rühmen durfte. Er stand in der halbgeöffneten Türe und erblickte durch den Raum, welche die Bücherreihen in einem die Mitte des Zimmers durchschneidenden Repositorium frei ließen, Fräulein Clara auf dem Sofa in der gegenüberliegenden Ecke; sie beugte sich über die Schulter des jungen Verwalters, der vor ihr auf dem Teppich saß, und, was das Unschicklichste war, seine Schulter entblößt hatte, die, was das Allerunschicklichste war, Fräulein Clara küßte. Etwas Ähnliches hatte Herr Schmand in keinem seiner Notizbücher stehen, obwohl sie voll waren der sonderbarsten Ereignisse in allen edlen Familien Deutschlands und eines Teils von Frankreich. Er stand wie an die Schwelle genagelt und lauschte angestrengten Ohrs.

»Ich glaube ja, daß du recht hast, Theophile«, hörte er Clara sagen, »auch ohne daß ich dein Andreaskreuz sehe; aber was hilft das alles? Deine Ansprüche werden verlacht werden; du mußt, du sollst dir selbst eine Stellung, ein anderes Los erringen, welches ich teilen kann«.

»Aber, Clara, ich kann ja nicht fort von hier!«

»Theophile, laß uns nicht kindisch sein! Warum könntest du dich nicht losreißen, wenn du weißt, es ist der einzige Weg? Auch ich muß es ja ertragen.« Theophile lachte auf, so eigen heiser, daß Clara erschreckt auffuhr: »Um Gotteswillen, was hast du?« »Hab' ich's dir nicht gesagt, daß ich gefesselt bin, daß Er mir das Genick brechen wird, noch in diesen Tagen? Was sah der Alte anders, als er auf seinem Sterbebette ausrief: »er geht über den Hof von Moyencourt – er will einen Span aus dem Tore hauen, er faßt die Pforte, das Wappen an« – und dann aufjubelte: »Victoria!«? Er hat mich verwünscht; sein Wappen wird mir den Kopf zerschlagen. Glaubst du nicht, Clara, daß Sterbende in die Zukunft sehen können? Warum hat er »Victoria« geschrien, als er gestorben ist?«

»Es ist schrecklich; deine Phantasie wird dich wahnsinnig machen, Theophile«, sagte Clara und legte ihre Wange an sein Haupthaar. »Wie oft soll ich dir wiederholen, daß du ja nicht der Sohn, sondern der Urenkel Valerians bist!« »Du wirst es sehen, Clara«, sagte Theophile nach einer Pause; »hättest du den Schrei gehört, neulich, an dem Tage, wo ich dir in der Frühe den alten Brief des Seneschall gezeigt, worin er sagt, daß er mich Cachard genannt –«. »Dich? Deinen Urgroßvater«, schaltete Clara ein. »Nun ja, meinen Urahn, und wo an der Tafel dein Vater noch einmal die Geschichte erzählte. Er weiß sie von dir, Clara, und ahnet nicht, woher du sie weißt und wie viel sie seine Tochter angeht. Ja, hättest du den Schrei gehört, und wie das Wappen stürzte und doch oben so spukhaft an der Wand gefestet lauerte. – »Clara«, fuhr er plötzlich auf, »der Schrei war deine Stimme!« »O Gott!« seufzte Clara und barg ihr Gesicht in der Ecke des Sofas; dann warf sie sich stürmisch an seine Brust; »Theophile«, rief sie, »Theophile, fasse dich, um Gotteswillen! Sei ein Mann – ein kräftiger Entschluß, nur ein –« Pschah! tönte es mit lautem Niesen von der Türe her, eine plötzliche Störung, welche die beiden jungen Leute wie aufgescheuchte Vögel auseinander flattern ließ. Aber niemand war zu gewahren; nur als Clara mit heftigem Herzklopfen in das Wohnzimmer ihrer Tante eilte, sah sie Herrn Schmand mit einer wunderbaren Behendigkeit, drei Stufen auf einmal überschreitend, die Treppe zu seinem Kämmerlein hinaufschweben.

Theophile saß am Abend in seinem Zimmer, das in einem der Nebengebäude lag; er hatte sein Gesicht in die Flächen seiner Hände gedrückt und hing den wirren, immer wildere Pfade einschlagenden Gedanken nach, welche seit einiger Zeit sein Inneres zerrütteten. Die Wurzel seines Seelenübels, denn so durfte man es nennen, mochte in dem brennenden Ehrgeize liegen, welcher sich hinter dem scheuen, blöden Wesen des jungen Mannes versteckte. Er wußte, daß er der Nachkomme Valerian de Mussards sei; mehrere Belege dafür waren in seinen Händen, dank der Sorgfalt des alten Seneschalls für seinen Urahn. Hatte aber das Ausgeschlossensein von allen Gütern der Familie, als deren Erben er sich betrachtete, wie von allen Glücksgütern überhaupt, eine gewisse Schwermut und Bitterkeit über die letzten Lebensjahre des träumerischen Jünglings gebreitet, so konzentrierte sich diese Melancholie zu einem folternden Schmerze, seitdem er die Tochter des jetzigen Besitzers von Moyencourt liebte und in seinen Verhältnissen unübersteigliche Schranken zwischen ihr und sich gesetzt sah. Claras Entschlossenheit war seiner Zurückhaltung und fast mädchenhaften Scheu um drei Vierteile des Weges entgegengekommen; sonst hätte wohl nie zwischen beiden eine gestandene Innigkeit eine solche Sprache gefunden, wie wir sie eben mit dem Altertumsforscher belauschten. Claras Neigung hatte, wie die Frauenliebe es so gern tut, und wie gerade hier es so natürlich war, eine mütterliche Färbung angenommen. Sie beruhigte ihn, sie wußte ihn zu leiten und einen Ausbruch niederzuhalten, wenn das Blut der alten de Mussards in ihm aufzuschäumen Lust zeigte, was anfangs gar nicht, später aber immer häufiger der Fall war. Seit einigen Tagen schien sie jedoch ihre Macht über ihn verloren zu haben; seit dem Augenblicke nämlich, wo sie ihm zuerst die Notwendigkeit gezeigt hatte, daß er Moyencourt verlassen und sich eine andere Lebenslaufbahn zu eröffnen suchen müsse. Selbst von ungewöhnlicher Energie beseelt, hatte Clara nicht daran gedacht, daß es ihm an Lust und Kraft fehlen könne, den harten Kampf um eine glänzendere Existenz auf sich zu nehmen; er hatte lebendiger als je bei ihren Worten das Abhängige, Hoffnungslose seiner Lage gefühlt, lebendiger als je aber auch, daß er nicht zum Dienen, Kämpfen und mühsamen Ringen in der Dunkelheit einer untergeordneten Stellung, sondern, glaubte er, zu Glanz und Reichtum geboren sei. »Ich wollte, das Wappen zerschlüge mich, das der letzte de Mussard seinem Enkel auf den Kopf gewünscht hat«, hatte er damals beim Scheiden im Unmut zu Clara gesagt. »Ich bin ja der erste von seinen Enkeln, der den Span aus dem Tore hauen möchte, der wenigstens durch dich einen Teil seiner alten Burg wieder an sich reißen will. Die andern sind umgekommen auf dem Schlachtfelde, fern von hier; ich muß das Geschick erfüllen!« Clara hatte nicht darauf geachtet; aber Theophile durchwachte mit dem Gedanken eine fieberische Nacht und der Morgen sah auf seinem Antlitz die beunruhigenden Spuren einer fixen Idee ausgeprägt.

Theophile saß unbeweglich in derselben Lage in seinem Zimmer, bis es völlig dunkel geworden war; zu der übrigen Qual seiner Gedanken hatte sich eine namenlose Angst vor dem nahen Tode, der ihm, wie er glaubte, unvermeidlich sei, gesellt, daß er an allen Gliedern zu zittern begann. Er sprang auf und rief schweratmend die Worte: »Nein, das ist nicht auszuhalten! Besser auf der Stelle, als nach der Folter einer Reihe von Tagen voll Todesqualen! Ja auf der Stelle! Jeanne soll dabei sein – Jeanne Prestot muß auch sterben!« Hier wurde seine Tür geöffnet, und der Baron trat ein. »Guten Abend«, sagte er freundlich; »was halten Sie denn für Selbstgespräche in der Dunkelheit? Hören Sie einmal, Herr Cachard, ich trug Ihnen neulich auf, den Wappenschild abnehmen zu lassen; Sie werden es vergessen haben, aber besorgen Sie es morgen in aller Frühe, ehe meine Tochter aufgestanden ist; sie hat mir eben eine besondere Unruhe wegen der Gefährlichkeit des alten Zierrats geäußert, und es ist in der Tat unverzeihlich, daß er nicht längst weggeräumt ist, da uns ohnehin das ganze Wappen ja nichts angeht. Sorgen Sie also dafür, daß Clara ihn nicht mehr in seinen alten Klammern sieht.« »Jeanne Prestot wird mit in den Tod gehen; ich habe ihren Weheschrei gehört«, versetzte der junge Verwalter. Der Baron sah verdutzt den Sprechenden an, dessen Stimme er kaum wiedererkannte, weil sie einen unbeschreiblich hohlen Ton angenommen hatte; er konnte die Gestalt wegen der Dunkelheit fast nicht mehr unterscheiden; aber zwei blitzende Augen leuchteten ihn aus dem Düster wie die eines unheimlichen Nachtvogels an. Ein Grauen überlief ihn. »Herr Cachard«, sagte er und trat ihm um einen Schritt näher; als er keine Antwort erhielt, fand er es für besser, das Zimmer zu verlassen und in das Herrenhaus zurückzukehren.

Etwa eine Stunde später hüpfte eine Laterne über den dunklen Hof von Moyencourt; es war der Hausknecht, der in einem der Ställe nach einem kranken Rinde sehen wollte und sie, rasch zuschreitend, in der Hand schwenkte. Als er die Tür des Nebengebäudes fast erreicht hatte, sprang ihm eine Gestalt daraus entgegen, die eine schwere Stange in der Hand hielt, wie man sie zur Stütze junger Obstbäume braucht und in jenem Gebäude aufbewahrte. Der Mann fuhr erschrocken zurück, hatte aber die Fassung, mit der Laterne dem Fremden ins Gesicht zu leuchten. »Ei, Herr Cachard«, sagte er beruhigt; »meinte ich doch, ein Gaudieb wolle mir zu Leibe. Aber wie sehen Sie denn aus!« Der Verwalter schob ihn heftig bei Seite und sprang an ihm vorüber. »Sieh, sieh, springt wie eine junge Katze und sah aus wie ein Spuk oder eine Leiche so blaß! Was ist's mit dem Cachard?«

Auch der Baron fragte im hellerleuchteten Gesellschaftszimmer, wo die Tante den Tee servierte und die Jagdfreunde Augusts sich neckend um Herrn Schmand gruppiert hatten, der heute ungewöhnlich geduldig und schweigsam war: »Was ist's denn mit dem Cachard?« Clara ging hinaus, die Tante wußte keine Antwort zu geben, die jungen Männer schwatzten fort. »Herr Schmand, warum haben die friedlichsten Nationen das Pulver erfunden, die Chinesen, die geborene Krämer sind, und die metaphysischen Deutschen?« so fragte einer der jungen Herrn. »Herr Schmand, wer hat die Altertumsforscher erfunden?« fragte August. »Der, welcher die Junker gemacht hat«, sagte Schmand. »Um das Gleichgewicht zwischen nützlichen und unnützen Tieren wieder herzustellen, wollten Sie sagen?« fiel jener lachend ein.

»August!« rief der Baron mit verweisendem Tone; August aber hörte ihn nicht, er sprang aus dem Kreise und starrte mit hervorquellenden Augen entsetzt seinen Vater an, durch dessen Gestalt in diesem Augenblick ebenfalls ein krampfhaftes Zucken rieselte: man hörte denselben Lärm, der vor wenigen Tagen die verweisende Rede des Barons unterbrochen hatte, eine Sekunde darauf denselben Schrei, nur leiser, kürzer abgebrochen, aber laut genug, daß die ganze Gesellschaft in einen Ruf erschrockenen Staunens ausbrach und sich der Tür zudrängte. Man kam in die Halle; die Haustür war geöffnet, draußen auf dem Perron stand der Hausknecht und bückte sich, um mit seiner Laterne eine Gruppe zu beleuchten, die einen gespenstisch grausenhaften Anblick in dem grellen, gelben Scheine der zitternden Dochtflamme darbot.

Theophile Cachard lag der Länge nach am Boden, von Blut bedeckt, das aus einer großen Wunde in der Gegend der rechten Schläfe strömte; über ihn, an seiner Brust, seinen Nacken umklammernd, aber bewußtlos und in der tiefsten Ohnmacht, wie es schien, war Clara hingeworfen; rund umher und über die Treppenstufen hinunter gestreut lagen Stücke und Trümmer von zerbrochenem Sandstein. »O Gott, o Gott! Ist sie tot? Clara, Clara!« rief der Baron und hielt sich an dem Rahmen der Türe aufrecht; August kniete nieder und hob seine Schwester schluchzend an seine Brust, »Essig, gebrannte Federn!« rief Herr Schmand und rannte die Tante um; der Hausknecht aber hob sich aus seiner gebückten Stellung empor und ließ den Schimmer seiner Leuchte auf die bleichen Gesichter der entsetzten Gruppe fallen, welche sich in der Tür zusammen drängte. »Seien Sie nur ruhig, Herr Baron, 's hat nichts zu sagen«, sagte er; »der tolle Mensch hat sich das Wappen auf den Kopf herabgerüttelt und eins an die Schläfe gekriegt; aber 's hat nichts zu sagen, er stirbt nicht davon und Fräulein Clara« – und der Mensch lachte – »Fräulein Clara sind aus der Tür gekommen und haben geschrien, wie der Cachard schon lag, und der Stein auch. Ich sah's: es war wie'n Blitz, da warfen Sie sich neben ihm nieder und sind ohnmächtig geworden.«

Man brachte beide ins Haus, und Clara wachte bald aus ihrer Ohnmacht auf. Theophile wurde ebenfalls ins Leben zurückgerufen, aber nicht zum Bewußtsein; er lag mehrere Tage in den Phantasien eines heftigen Fiebers, dem eine völlige Entkräftung von mehreren Wochen folgte. Als er endlich genesen, war auch die fixe Idee verschwunden; die Vergangenheit schien ihm wie ein Traum zu sein; aber er vermied, von ihr zu sprechen, und als ihn einst Clara fragte, ob er sich habe töten wollen durch das Herabschlagen des alten Wappens, wandte er sich auf seinem Lager um und gab keine Antwort. Clara hatte ihn während seiner ganzen Krankheit nicht verlassen; sie hatte ihn gepflegt, bei ihm gewacht, sie hatte jeden seiner Atemzüge belauscht. Das Krankenzimmer war ja auch ihr einziges Asyl geworden gegen die bittern, vorwurfsvollen Blicke ihres Vaters, gegen die verweinten Augen ihrer Tante, gegen Augusts giftige Reden, die sich oft in einen drohenden Fluch als Pointe endigten, indes der Baron während all jener Tage kein einziges Wort an sie richtete. Nur die Tante versuchte leise Ermahnungen, aber ohne Erfolg; Clara gebärdete sich dabei wie eine Löwin, der man ihr Junges abschwatzen wollte.

Der Eklat war zu groß; das Verhältnis des Fräuleins von Esch zu dem Verwalter ihres Vaters war offenkundig geworden; es ließ sich nichts tun, als diesem nach seiner Genesung die Weisung zu geben, binnen vierundzwanzig Stunden Moyencourt zu verlassen und Clara zu befehlen, so oft Gäste da seien, auf ihrem Zimmer unsichtbar zu werden – eine Aufgabe, der sie mit dem willigsten Gehorsam nachkam. Cachard packte am nächsten Morgen seine geringe Habe zusammen und ging nach Paris.

Der Schluß unserer Geschichte ist bald erzählt. Zur größten Verwunderung aller klugen Leute in Europa und des Herrn Schmand insbesondere, ereignete sich zwei Jahre später, was Theophile Cachard als pium votum dem Altertumsforscher geäußert hatte, wie sie zusammen auf dem bemoosten Steine unter den Fichtenkandelabern gesessen. Die Pariser nämlich, als ob sie bei dem jungen Verwalter in die Lehre gegangen, schlugen die Geschichte tot, um das Geschehende lebendig zu machen; sie zapften nebenbei allem, was eine Geschichte hatte, so viel Blut ab, daß die arme Clio den Verstand darüber verlor und, wie gewöhnlich kindisch werdende Leute, nur noch der Ereignisse ihrer Jugend sich zu erinnern wußte, der uranfänglichen republikanischen Formen aus der Periode ihrer Lebenszeit, in welcher sich zuerst das Bewußtsein in ihr entwickelt hatte. Ihr mittleres Alter wurde in Vergessenheit gehüllt. Damit stand im Zusammenhange, daß der Freiherr von Esch sich eines Abends kummerschwer als Baron zu Bette legte und am andern Morgen als Citoyen Esch wieder aufstand, obwohl ganz lustig, wie immer, die Spatzen auf der Fensterbank flatterten, die Linde davor ihre duftigen Zweige schaukelte und die Kornfelder drüben im gedeihlichsten Sonnenschein die Halme in violetten Wellenschlägen bewegten. Auch wurde es Abend und Morgen, und die Welt stand und ging nicht unter, und der neue Verwalter lächelte, wenn er vom Citoyen Esch seine Anweisungen zu holen kam, die früher des Herrn Barons Befehle geheißen hatten. Nur Herr Schmand machte sich aus dem Staube und flüchtete seine genealogischen Notizen, seine Stammbäume, seine heraldische und andere Weisheit nach Deutschland.

In dem Empfangszimmer von Moyencourt stand einige Monate später ein blühender, strenge, aber dennoch etwas verlegen aussehender junger Mann in langer blauseidener Robe mit goldenen Stickereien, eine dreifarbige Schärpe über der Brust, mit deren goldenen Fransen seine Finger sich beschäftigten, eine hohe schwarzseidene Toque auf dem Kopfe und einen Galanteriedegen mit silbernem Griff an der Seite; wer näher zugesehen, hätte die Worte » liberté, egalité« in emaillierter Schrift darauf gelesen.

»Sie glauben, meine Sicherheit verbürgen zu können, Citoyen Präfekt?« fragte der Baron, der vor ihm stand. »Seien Sie ohne Sorge! Man wird Ihnen für Moyencourt nicht ein Dritteil des Wertes bieten, wenn Sie es verlassen und nach Deutschland ziehen wollen; auch ist die Emigration mit zu vieler Gefahr verbunden.« »Aber das Majorat ist aufgehoben«, fiel der Baron ein; »die Baronie wird nach meinem Tode zersplittert, und die Familie –«. »Sie müssen einen Schwiegersohn finden, der auf den Anteil verzichtet, welchen das Gesetz Fräulein Clara an Ihrer Baronie zuerkennt. Lassen Sie mich diesen Schwiegersohn sein, Citoyen Esch!« »Nun, Gott walt's, Citoyen Theophile Cachard!« sagte der Baron nach einer Weile Nachdenkens und schüttelte seufzend die dargebotene Hand des Präfekten seines Departements.


 << zurück