Ossip Schubin
Der Rosenkavalier
Ossip Schubin

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Eine Stunde später schallte durch das ganze Haus die triumphierende Zerlegung eines Septimenakkordes durch zwei Oktaven. Die Selvaggini probierte ihr hohes C. – – Ich hatte ihr, wie sie mir beim Lunch mitteilte, Glück gebracht. Jack, ein berühmter, amerikanischer Theateragent, war gerade an der Villa Paradiso vorübergegangen, als sie sang. Bezaubert von dem Wohlklang der Stimme, hatte er gehorcht, sich erkundigt, ob das die Selvaggini sei, worauf er sich sofort zu ihr begeben habe, um ihr ein Engagement am Neuyorker Metropolitan anzubieten.

»Süperbe Bedingungen – süperb ... ich soll nur noch dem Direktor des Metropolitan vorsingen ... oh, ich hab' ihm gleich gesagt, daß es mit meiner Höhe nicht mehr so bestellt ist wie früher – aber ... ich werde andre Partien singen; die Azucena im Troubadour anstatt der Leonore –, die Fides anstatt der Bertha – und dann ... man transponiert, man schwindelt ein wenig ... oh, Raimund, du kannst dir nicht vorstellen, was das für unsereinen bedeutet, zu fühlen, daß man nicht ganz ausgeschaltet ist, daß man als Künstlerin noch etwas gilt! – Ich werde mir ein neues Publikum erobern ... vielleicht ...« Totenblaß schloß sie die Augen. »Vielleicht« – ihre Stimme klang matt wie die einer Schlafwandlerin –, »vielleicht werde ich noch einmal den großen Donner hören!« – – Der Kontrakt wurde abgeschlossen. Das ihr zugestandene Honorar war kolossal. Im nächsten Januar sollte sie ihr dreimonatiges Gastspiel antreten.

Natürlich gönnte ich ihr diese Genugtuung. Ich gratulierte ihr von ganzem Herzen dazu. Mitten aus ihrer Freude verdroß sie etwas. »Und unsre Trennung wird dir ganz gleichgültig sein – du wirst mich gar nicht entbehren?« fragte sie.

»Entsetzlich werde ich Sie entbehren! Marie, wie können Sie nur fragen!«

»Nun, du kannst ja mitkommen nach Amerika! Es wird dir nützlich sein, das Wunderland kennenzulernen!«

»Aber, Marie! ... Und mein Beruf?«

Sie wurde nachdenklich und schwieg. Nach ein paar Sekunden den Kopf hebend: »Indessen wollen wir die Zeit ausnützen, die wir noch haben!« erklärte sie. »Vor allem werde ich an den Doktor telephonieren, damit er deinen Zustand prüft und mir sagt, ob wir heute unsre erste Ausfahrt machen können. – Ach, es wär' zu schön ... an blühenden Mimosenbäumen und Rosenhecken vorbei, die Küste entlang. Neben uns der Abgrund, und am Boden des Abgrunds der Himmel, ein wilder, unruhiger Himmel, aber immerhin der Himmel. Das blaue, wunderschöne Mittelländische Meer!«

»Aber wird Ihnen da nicht schwindeln, Marie?« fragte ich.

Sie zuckte die Achseln. Momentan bin ich viel zu sehr mit wichtigen Dingen beschäftigt, um mich vor Lappalien zu fürchten. In den großen Lebensmomenten wird jeder Mensch Fatalist. – Entweder sing' ich im Januar die Senta in Neuyork, oder das Schicksal räumt mich früher aus dem Weg. Dann wird es wohl wissen, warum ...« Die letzten Worte murmelte sie mit ihrer köstlichen Stimme ganz leise und schleppend vor sich hin. Gleich darauf warf sie den Kopf zurück. »Aber warum sollte mich das Schicksal hinwegräumen, warum sollte ich nicht noch eine letzte künstlerische Auferstehung erleben? Wenn sich einer auf der Welt auskennt, so ist's Jack!« Und plötzlich ganz unvermittelt schmetterte sie die durch zwei Oktaven reichende Zerlegung heraus, die im hohen C gipfelte. Sie wurde blau im Gesicht vor Anstrengung, aber es gelang ihr, das C mehrere Sekunden lang festzuhalten.

Damals erschrak ich vor ihr. Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt, verehrte Freundin, daß bei der Selvaggini die Erotik etwas Nebensächliches, Untergeordnetes war. Die Hauptsache war ihre Kunst.

Dieser Umstand allein mag mich davor bewahrt haben, daß sich unsre Beziehungen nicht schon damals in einer unangenehmen und tragischen Art zuspitzten.

Von einem Augenblick zum andern hatte unsre Freundschaft an Interesse für sie verloren. Nicht daß sie es an Liebenswürdigkeiten für mich hätte fehlen lassen. Durchaus nicht. Aber die Liebenswürdigkeiten entstammten einem andern Gefühl als früher, es waren die Liebenswürdigkeiten einer aufmerksamen Hausfrau, einer guten alten Freundin, nichts mehr.

Sie lebte nur noch in dem einen Gedanken, dem Gedanken an die Auferstehung ihrer Kunst. Immer wieder, manchmal ganz unvermittelt, wenn sie die Treppe herab zu den Mahlzeiten kam, ließ sie ihre in dem hohen C gipfelnde Lieblingsarpeggie erschallen. Sie schmetterte die Töne heraus, daß die Wände zitterten, aber es war kein Wohllaut drin, das konnte ich mir nicht verhehlen.

Sie selbst schien sich des Umstandes mitunter bewußt, aber nur unklar und vorübergehend. Oft, wenn sie sich vom Klavier abwendete, murmelte sie ungeduldig vor sich hin: »Ach, Jack versteht's, Jack irrt sich nie!« Und sie fuhr fort, zu üben. –

So manche Lücke hatte sich in ihre Stimme geschlichen, die sonst mühelos ausgeglichen eine lange Reihe von Perlen gebildet hatte. Sie quälte sich unaussprechlich damit ab, die Lücken auszufüllen, die Unebenheiten zu glätten, wobei sie es nicht verhindern konnte, daß hie und da ein häßlicher Mißlaut ihren Lippen entschlüpfte.

Einmal war ich gerade ins Zimmer getreten, als ihr so eine Tonentgleisung widerfuhr. Den bösen, gehässigen Blick, den sie mir zuwarf, als sie meiner gewahr wurde, vergesse ich nie. Seitdem schlich ich mich immer von Hause fort, wenn sie anfing, zu üben. Sie war mir dankbar dafür.

Aber über allen Unbequemlichkeiten, die ihre Stimme ihr bereitete, hoffte sie immer noch auf ... nun, auf ein Wunder. Sie lebte in einem beständigen Rausch, in dem die Ekstase zwar manches Mal von Angstanfällen unterbrochen wurde, aber doch, alle andern Empfindungen betäubend, sich immer wieder siegreich behauptete. Manches Mal mitten im Gespräch verstummte sie plötzlich und blickte mit halbgeöffneten Lippen still vor sich hin. Da wußte ich, daß sie in einer Art Traumzustand dem »großen Donner« entgegenhörte, der noch einmal kommen mußte.

Aber nicht nur, daß sie von dem großen Donner träumte, sie träumte auch von den Millionen, die der Donner auslösen müsse. Der Hang zur Verschwendung, der ihr, wie ich später hörte, in ihren Glanztagen bis zur Unzurechnungsfähigkeit angehaftet hatte, war neuerlich über sie gekommen, doch nahm er die denkbar liebenswürdigsten Formen an. Sie schenkte, schenkte von früh bis abends in einem fort. Ich hatte viel Mühe, mich ihrer Großmut zu entziehen, ohne sie zu verletzen. Ganz gelang es mir nicht. Einen Ring, den sie mir damals an den Finger gesteckt, hab' ich heute noch. Sie hatte den Drang zum Schenken, zum Beglücken, wie andre Leute den Drang zum Verbrechen haben, und manches Mal nahm dieser Drang die extravagantesten Formen an. Einmal in Nizza sah sie zwei junge Mädchen aus den bescheidensten Ständen mit sehnsüchtigen Augen vor dem Schaufenster eines eleganten Putzmachergeschäftes stehen. » Voyons, me petites,« rief sie, »kommt mit mir in den Laden und sucht euch die zwei schönsten Hüte aus, die zu haben sind, ich will mich überzeugen, ob sie euch stehen!«

Ich sollte indessen draußen bleiben, um die Mädchen nicht einzuschüchtern. Aber ich blieb nicht draußen, sondern ließ mir's nicht nehmen, zuzusehen, wie die beiden Italienerinnen sich beim Wählen anstellen würden. Es war allerliebst, wie sie mit ihren großen südlichen Augen herumstarrten und sich zukicherten und zuflüsterten, die Hände ausstreckten und wieder zurückzogen, bis meine Wohltäterin mit geschicktem Griff gerade die zwei passendsten Hüte entdeckte und ihnen aufsetzte und lachte und bewunderte und die Mädel aufforderte, sich im Spiegel anzuschauen, und ihnen schließlich jeder eine Banknote in die Hand drückte für ein Kleid zu dem Hute. Dann setzte sie übermütig hinzu: »Jetzt sollt' ich euch noch zwei hübsche Burschen verschaffen, die am Sonntag mit euch spazierengehen.«

Da aber wurden die Mädchen sehr rot, lachten und zeigten ihre weißen Zähne. Denn die Burschen hatten sie schon. –

Alle Tage machten wir die himmlischsten Ausfahrten und Spaziergänge. Damals fiel mir's gar nicht ein, mir darüber Gedanken zu machen. Später hab' ich mich gefragt, wie die Menschen sich unsre Beziehungen ausgelegt haben mögen. Sie sprach von mir immer als von ihrem Neffen. Jetzt denke ich, die Leute hielten mich für ihren uneingestandenen Sohn. Damals hätte mich dies fürchterlich aufgeregt und verletzt. Jetzt ist es mir geradezu eine Beruhigung, das Faktum feststellen zu können. Es kennzeichnet die Haltung, die sie mir gegenüber bewahrte.

Die Menschen, besonders im Süden, haben für Liebesdinge eine ungemein feine Witterung, und ihre Auffassung der Situation beweist, daß nichts in dem Benehmen der Selvaggini war, das mich hätte abschrecken oder beunruhigen können. –

Am 15. April lief die Miete für unsre Villa ab. Jedesmal, wenn wir von unsrer täglichen Ausfahrt heimkehrten, fanden wir die Zimmer kahler und um einen Teil jener Poesie und Behaglichkeit beraubt, welche die vielen der Selvaggini gehörigen Sachen und Sächelchen den Räumen verliehen hatten, da der alte Luigi die Stunden unsrer Abwesenheit ausnützte, sie nach und nach einzupacken. Immer mehr nahm die Wohnung ihren ursprünglichen nüchtern eleganten Chambre-garnie-Charakter an.

Mir war unsäglich traurig zumute.

Dann kam unser letztes kleines Diner, unser letzter Abend auf der Loggia. Ich sagte ihr früher gute Nacht als sonst, damit sie mir's nicht ansehen möge, wie traurig ich war.

Schlafen konnte ich nicht. Die ganze Nacht schlug ich mich ruhelos in meinem Bett herum. Nicht einen Augenblick vergaß ich, wie bitter der Abschied war, der mir bevorstand, der Abschied von einem Leben ohne Sorge, einem Leben voll Duft, Schönheit und Sonnenschein.

Ich ließ mein Fenster offen, um den Duft noch voll zu genießen, und lauschte dem Wind, wie er die Rosen um unsre Villa herum zauste und küßte, aber hinter diesem Necken und Kosen, schien mir, grollte die unerbittliche Tragik des Meeres. –

Den nächsten Vormittag, als die Männer kamen, das Klavier zu entfernen, war mir's, als holten sie einen Sarg aus dem Hause, und in dem Sarg schleppten sie den schönsten Teil meiner Seele mit fort.

Wir fuhren zusammen bis Nizza. Sie wollte sich dort aufhalten bei Freunden, die sie erwarteten. Ich sollte direkt nach St. Pölten und mich bei meiner Mutter »gesund melden«.

Sie merkte, wie traurig mir zumute war, lachte mich aus, wobei ihr selber die Tränen in den Augen standen, tätschelte mir die Hand und die Schultern und fragte immer wieder, wovon ich mich denn so schwer trennte, von ihr oder von der Riviera.

»Von beiden!« erwiderte ich. »Sie und die Riviera werden immer für mich zusammenfließen in derselben Erinnerung.«

In Nizza frühstückten wir noch mitsammen und machten nachher einen kleinen Spaziergang durch die Stadt.

Sie gab mir einen wundervollen Crêpe-de-Chine-Schal mit für meine Mutter, ein hübsches Armband für jede meiner Schwestern und ein paar Kilo kandierte Früchte für die ganze Familie.

Ein Handkuß meiner-, ein leichter Kuß auf die Wange ihrerseits – noch ein letzter Dank – es war vorbei! – –

Dann kam St. Pölten!

Gewiß freute ich mich, meine Mutter wiederzusehen, auch die Mädel, die beide sehr hübsch und brav waren. Aber nachdem sich die erste Wiedersehensaufregung verflüchtigt hatte, langweilte ich mich zwischen ihnen fürchterlich. Wie dumpf, wie platt, wie alltäglich mir alles erschien!

Mir war zumute, als ob ich aus einem hellen, hohen, luftigen Saal in eine enge Kammer übersiedelt wäre, in der ich mich nicht aufrichten konnte, ohne den Kopf an die Decke zu stoßen. –

Und erst in Wien!

Meine Mutter hatte mich neuerdings bei der Majorswitwe eingemietet. Ich bekam mein altes Zimmer, das auf den Hof hinaussah, mit dem Kanalgitter in der Mitte.

Auf meinen Brief an meine Wohltäterin, in dem ich Anstand genug gehabt hatte, nicht mit einem Wort die Misere meines Daseins zu erwähnen, und nur meinen herzlichen Dank für alle empfangene Güte mit wehmütig scherzhaften Anspielungen an die oder jene kleine Episode aus unserm Aufenthalt an der Riviera betonte, erhielt ich keine Antwort.

Ich grämte mich und schrieb noch einmal. Als aber auch mein zweiter Brief ohne Antwort blieb, sagte ich mir, daß ich offenbar etwas Abgetanes für die große Künstlerin sei und nicht das Recht hätte, etwas andres von ihr zu erwarten, besonders nicht jetzt, wo offenbar die Vorbereitungen zu ihrem amerikanischen Gastspiel sie so sehr in Anspruch nahmen. Ich musste natürlich eine Stelle suchen und fand auch bald eine als Konzipist in der Kanzlei eines berühmten Advokaten. Die Arbeit war leicht, die Entlohnung anständig. Natürlich verzichtete ich von da ab auf jede Unterstützung von zu Hause. Da war Schmalhans Küchenmeister, aber dazu, mir ein Pianino zu mieten, langte es doch. Es war zufälligerweise dasselbe, das mir schon vor meiner Reise nach Wartenberg gedient hatte, und wurde auch diesmal mein Beichtvater und Vertrauter. Nur hatten sich, seitdem ich das letzte Mal meine Hände über seine gelblichen Tasten geführt, Geist und Empfinden bei mir stark entwickelt, und so hatte ich ihm mehr anzuvertrauen als früher. Meine Sehnsucht wollte nicht schweigen. So sehr ich mich mühte, konnte ich das Märchen an der Riviera doch nicht vergessen.

Da, an einem Spätnachmittag Anfang Mai – ich hatte mich gerade in den ersten Satz der C-Dur-Sonate von Brahms vertieft –, fühlte ich eine leichte Berührung auf meiner Schulter.

Ich fuhr auf.

Hinter mir stand sie, ihr gütiges Lächeln auf den Lippen und die schönen blauen Augen voll Tränen und Übermut.

Ich geriet außer mir vor Freude. »Marie, Sie hier! Ich dachte. Sie hätten mich ganz vergessen!«

»So? Schlaukopf! Dachtest du das? Ich bewundere deinen Scharfsinn!« lachte sie. Dann: »Der Lümmel! Er trägt mir nicht einmal einen Sessel an!« Und als sie sich dann behaglich in den einzigen zurücklehnte, über den mein schäbiges Zimmer gebot, fügte sie hinzu: »Ich wollte nicht kommen, ehe ich dir etwas Festes vorschlagen konnte, und da war vorher noch so vieles zu überlegen und zu erledigen.« Sie sah mich teilnehmend an. »Schmal bist du geworden!« bemerkte sie, wobei sie mit Daumen und Zeigefinger über ihre Wangen fuhr, um anzudeuten, wo ich schmal geworden sei. »Aber du siehst nicht schlecht aus. Wie geht's mit deiner Gesundheit?«

»Dank Ihrer unendlichen Güte vorzüglich.«

»Ach, laß meine Güte! Es war mir ja eine solche Freude,« meinte sie.

»Die echte Güte ist immer eine Freude,« entgegnete ich.

»Wie klug das Kind wird!« neckte sie mich. »Aber zum Geschäft ... Du bist, wie ich höre, in einer Advokatenkanzlei als Konzipist tätig, hast du außerdem noch ein paar Stunden frei?«

»Ja, o ja!«

»Nun! Ich habe meinen Sekretär hinauswerfen müssen, weil er sich grober Veruntreuungen schuldig gemacht hat. Ich biete dir dieselben Bedingungen an, die ich ihm gewährt habe.« Sie nannte eine Summe, die mir fabelhaft erschien, aber wirklich das übliche Honorar in diesem Falle bedeutete. »Willst du dafür seinen Posten übernehmen?«

»Wenn ... wenn Sie mich für fähig halten, ihn auszufüllen,« stotterte ich.

»Aber ich bitte dich! Du bist Dr. jur., arbeitest in einer der ersten Kanzleien von Wien und kannst dich in einem für mich schwierigen Fall mit deinem Chef beraten; die Dinge könnten gar nicht günstiger für mich liegen. Also abgemacht!«

»Es fällt mir so schrecklich schwer, Geld von Ihnen zu nehmen, Marie. Das alles, was Sie von mir verlangen – das bißchen Briefwechsel, Verträge aufsetzen nach einem gegebenen Vordruck und Bankausweise durchsehen, das will ich ja mit tausend Freuden für Sie besorgen, ohne daß Sie mir einen Pfennig dafür zahlen.« Sie erhob sich von ihrem Sitz. »Dann haben wir ausgeredet,« erklärte sie streng. »Auf Gefälligkeiten lasse ich mich nicht ein. Begreifst du denn nicht, wie hemmend es für mich wäre, einen Sekretär zu haben, den ich nicht manchmal malträtieren könnte?« Der durch Tränen schimmernde Übermut in ihren Augen meldete sich stärker. »Und wenn ich mir's immer überlegen müßte: Darf ich ihn behelligen, kann ich den Brief nicht selbst schreiben? – das wäre ein unerträglicher Zustand.« Sie war oder tat sehr böse. Schon näherte sie sich der Tür.

»Marie!« rief ich.

»Ich will nichts mehr wissen von dir!«

»Aber – wir können ja beratschlagen.«

»Es ist nichts zu beratschlagen.«

»Vor allem setzen Sie sich nieder ... nur einen Moment!«

Sie setzte sich wirklich, lachend, schmollend, bezaubernd. Wie schön sie noch war! Für einen älteren Menschen wäre sie überhaupt schön gewesen, für mich war sie ›noch schön‹, war schön wie ein unwahrscheinlich schöner Herbsttag.

Eine Weile schwiegen wir. Ich weiß nicht, was für eine Verlegenheit zwischen uns getreten war.

Endlich sagte sie, ihr Taschentuch an die Nase haltend: »Mein armer Bub, wirst du nicht melancholisch hier?« Und sie sah sich trostlos in meinem Zimmer um.

»Meerschtendeels,« gab ich witzelnd zur Anwort, ein wenig beschämt, weil sie den wunden Punkt berührt hatte.

»Hier kannst du nicht gesund bleiben,« stellte sie fest. »Dies grün und braune Patronenmuster an den Wänden allein müßte genügen, deinen Seelenzustand zu untergraben, die schlechte Luft gäbe dir den Rest. Und ein zweites Mal könnte ich dich nicht gesundpäppeln, da ich nächsten Winter in Amerika sein werde ... Oh, wenn ich daran denke!« Ihr Gesicht verklärte sich. »Weißt du, mit meiner Stimme geht's prachtvoll – du mußt dich nächstens davon überzeugen.« Und die Augen halb schließend, murmelte sie vor sich hin: »Nur noch einmal!«

Die Tränen, die so lange gezögert hatten, flossen ihr die Wangen herab, und ich muß leider sagen, sie zogen eine breite Furche durch die leichte Puderschicht, die ihr Gesicht bedeckte. Ihre Lippen zuckten. Sie sah plötzlich alt aus. Das änderte an meinem Gefühl für sie nichts. Ihr Alter spielte für mich keine Rolle. »Wenn dir das Gehalt zu hoch ist, kannst du dich mit der Hälfte begnügen; da mach' ich jedenfalls ein ausgezeichnetes Geschäft und darf noch obendrein sicher sein, nicht bestohlen zu werden,« begann sie von neuem. »Und um dich nicht gar zu gewissenlos auszunützen, mach' ich dir folgenden Vorschlag: in meinem Landhause ist ein kleines Gelaß, das früher ein Neffe von mir bewohnt hat. Der ist jetzt fort, das Gelaß steht leer... nun freilich, mein Haus ist am Ende der Welt, eigentlich schon auf dem Lande, aber die Verbindung mit der Elektrischen ist ausgezeichnet. Du kannst alle Tage pünktlich in deine Kanzlei.«

Ich zögerte. »Marie, es wäre eine zu große Verwöhnung. Wie sollt' ich mich danach je wieder in die Werkeltagsnüchternheit der Existenz finden, die mir das Schicksal nun einmal vorgeschrieben hat?«

»Aber wer sagt dir, was das Schicksal nun einmal vorgeschrieben hat?«

Ich sah ihr gerade in die Augen. »Die Wahrscheinlichkeit.«

»Ach, die irrt sich oft, und dazu sich in die Angelegenheiten eines so außerhalb ihres Wirkungskreises stehenden Menschenexemplars hineinzumischen, wie du bist, hat sie überhaupt kein Recht.« Sie lachte. »Übrigens, ganz wie du willst. Nur, ich dachte mir das so hübsch. Natürlich würdest du völlig frei sein und könntest deine Mahlzeiten nehmen, wo du willst – aber wir würden uns doch alle Tage sehen ...«

»Alle Tage sehen!« wiederholte ich träumerisch.

»Und manchmal« – sie blinzelte schalkhaft – »würde ich dir vorsingen.«

»Vorsingen!« murmelte ich. »Ach, Marie, Sie wissen nicht, wie Sie mich locken! Aber es geht nicht ... es geht nicht!«

»Warum nicht?«

»Weil ich nicht noch eine Trennung durchmachen wollte wie die von der Riviera.«

»So, wie die von der Riviera!« wiederholte sie. Eine böse Falte dunkelte zwischen ihren schöngeschwungenen Brauen. Sie erhob sich und streifte ihren schwedischen Handschuh an, den sie aus Gott weiß welchem Grunde abgezogen hatte. Mir stieg das Blut zu Kopfe.

»Sie wissen doch, was ich sagen wollte, was ich mir auszusprechen versagt hab' ... eine Trennung von Ihnen an der Riviera!« Ich war an sie herangetreten, und nun war ich's, der den Handschuh wegzog und Kuß um Kuß auf ihre Hand drückte.

»Du armer Bub! Hat dir die Trennung wirklich so weh getan?«

»Hab's Ihnen ja schon gesagt. Um keinen Preis möcht' ich's noch einmal durchmachen, was ich in diesen letzten Wochen durchlitten hab',« erwiderte ich heiser.

»Aber die Trennung ...« Sie sah über mich hinweg zum Fenster hinaus. »Die wäre ja gar nicht nötig ...«

»Und Amerika?«

»Ich nehme mir meinen Sekretär mit. Dort brauche ich ihn noch viel mehr als hier!« rief sie übermütig aus.

»Es geht nicht, Marie – es darf nicht sein!« erwiderte ich. Ich gab mir keine Rechenschaft darüber, warum es nicht sein dürfe, aber ich fühlte es deutlich, daß dem so war.

»Nun, wenn es nicht sein darf, so darf es eben nicht sein,« sagte sie, und ihre Augen, die ehemals bezaubernd gewesen sein mußten und noch schön waren, blinzelten mir mit aufreizendem Mutwillen bis in die Seele hinein. » C'est à prendre ou à laisser! Adieu!« Damit schritt sie über meine Schwelle.

»Was für eine poetische Atmosphäre!« bemerkte sie trocken, während ich sie aus der die Wohnung absperrenden Glastür hinaus bis an die Treppe begleitete. Es ließ sich nicht leugnen, daß die Luft dick von Küchendampf war und daß uns ein widerlicher Geruch von Zwiebeln und ranzigen Küchenüberresten bis in das Stiegenhaus verfolgte.

Über das Treppengeländer gebeugt, sah ich ihr nach, während sie auf der sich altmodisch windenden Stiege hinabschwebte. Sie hatte den leichten Gang einer rassigen Frau von dreißig Jahren. Plötzlich wendete sie sich noch einmal nach mir um und warf mir einen Kuß zu. Dann tauchte sie unter im Schatten. Wie verzaubert blieb ich stehen und atmete langsam den zarten, einschmeichelnden Duft ein, der ihre ganze Erscheinung immer einhüllte, und von dem etwas zurückgeblieben war mitten in meiner nach Zwiebel riechenden Alltagsatmosphäre.

Der Professor hielt inne. Seine Zuhörerin machte ihm Vorwürfe, daß er immer am spannendsten Punkt seiner Erzählung abbreche wie der Roman in einer Zeitung. Doch war es tatsächlich recht spät geworden, und der Chauffeur hatte bereits dreimal melden lassen, daß er da sei. So mußte denn für diesmal die Sitzung aufgehoben werden.


 << zurück weiter >>