Ossip Schubin
Maximum
Ossip Schubin

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»Wenn sich Monsieur und Madame die Mühe nehmen möchten, dorthin zu sehen – das dort – das ist die Soubise.«

Mit diesen Worten macht der Kellner im Hotel de Paris einem jungen Ehepaar, das sich langweilt, die Honneurs einer der Merkwürdigkeiten von Monte Carlo.

»Das ist die Soubise.«

Die Soubise!

Obschon er im Augenblick mit andern Dingen als Merkwürdigkeiten von Monte Carlo beschäftigt ist, streckt Freddy doch den Kopf vor und sieht nach der von dem Oberkellner angedeuteten Richtung auf den Platz hinaus.

Ein altes Frauchen in einem abgeschundenen, rostig schwarzen Merinokleid, einen Marktkorb über dem Arm und ein Hündchen neben sich, humpelt vorbei.

Das ist die Soubise!

Früher eine der glänzendsten Courtisanen des zweiten Kaiserreichs, hat sie Millionen verschwendet, verjubelt, verschenkt und verspielt, jetzt besitzt sie kein Kleid, das gut genug wäre, ihr den Eintritt in das Kasino zu ermöglichen, und ist nichts mehr als . . . eine typische Figur von Monte Carlo. In die niedere Volksklasse zurückgesunken, aus der sie hervorgegangen, legt sie dennoch keinerlei Unzufriedenheit an den Tag, sondern scheint sich in ihren bescheidenen Verhältnissen wohl zu fühlen. Sie hält Kostgänger und spielt Abends Lotto. Nur selten umschleicht sie noch neugierig das Kasino, wenn sich etwas Besonderes darin zugetragen, irgend jemand dreimal hintereinander das Maximum gewonnen oder ein andrer sich am Spieltisch erschossen hat.

Im Grunde genommen interessiert sie auch das nicht mehr sehr. Das einzige, was ihr noch wichtig scheint und sie für kurze Zeit aus ihrer zufrieden duseligen Stumpfheit weckt, ist, die Leute, wenn sie vorüberhumpelt, flüstern zu hören: »Da geht die Soubise!«

Es gibt Menschen, die, wenn ihnen jede andre Auszeichnung versagt bleibt, stolz darauf sind, wenn man mit Fingern auf sie weist.

Freddy sitzt in der verglasten Galerie des Restaurants im Hotel de Paris beim Lunch.

Das wohlwollende Entgegenkommen der Fürstin Lydia hat seinen Lebensmut etwas gehoben, so daß er mit mehr Appetit sein Beefsteak und seine Omelette mit Spargelspitzen verzehrt als seit langer Zeit, eigentlich nur seit fünf Tagen, aber ihm erscheinen diese fünf Tage wie ein Jahrhundert.

Es ist zwölf Uhr.

Über Monte Carlo schwebt eine schwere, schläfrige Hitze – gsch – gsch hört man das Rauschen der Gartenspritzen, die damit beschäftigt sind, den durstigen Rasen in den Anlagen zwischen dem Hotel de Paris und seiner ihm gegenüberliegenden kleinen Sukkursale, dem Café gleichen Namens, zu erfrischen.

Die abtrocknenden graugelben Palmen auf dem grünen Rasenteppich und längs der kerzengeraden Straße, die dem Kasino gerade gegenüber auf dem Platz hinaus in den Credit Lyonnais hinaufführt, knistern leise, jede Palme zeichnet einen kurzen schwarzen Schatten auf die hellgelbe Straße und den giftgrünen Rasen in den grellen Sonnenglanz hinein. Wie schwül es ist!

Monte Carlo fängt an, leer zu werden. Nein, Monte Carlo wird nie ganz leer, denn das Kasino bleibt offen. Und solange das Kasino offen bleibt, wird Monte Carlo nicht leer – das schrecklich lockende, glückversprechende, todbringende . . .

Im vollen Sonnenschein liegt es da mit seinen scheußlichen Auswüchsen von buntem Ton, die ihm wie unheimliche Beulen um den Kopf starren, mit seinen weitgeöffneten Portalen, die hungrig auf Opfer zu lauern scheinen, ein träges, stolzes Ungeheuer, das sich seines Sieges sicher fühlt.

Die Hälfte der supplementären Züge, die zwischen Monte Carlo und der nächsten Umgebung verkehrt haben, ist zwar bereits gestrichen, und mit Ausnahme des Hotels de Paris sind alle großen Hotels geschlossen. Aber die kleinen Wirtshäuser sind noch alle offen, und nicht nur offen, sondern überfüllt – überfüllt von einer bunt zusammengewürfelten Menge von Menschen, denen die billigen Preise des Saisonendes den Aufenthalt in dem teuersten Erholungsort von Europa ermöglichen, unheimlichen Leuten mit hohlen Wangen und heißen Augen, die hierher gepilgert sind, um mit dem Gelde, das sie sich erspart, erdarbt, erbettelt oder – erstohlen haben, beim Roulette einmal ihr Glück zu versuchen.

Auch in den Hotels zweiten Ranges ist noch kein Mangel an Gästen, biederen Rundreisenden, die im Lauf einer Tour durch Oberitalien Monte Carlo mit in den Kauf nehmen, um sich nachträglich zu Hause über dessen flagrante und unverhüllte Immoralität aufregen zu können, und die bedächtig fünf Franken setzen, um sich einmal im Leben auch diese Erfahrung gegönnt zu haben.

Vor dem Café de Paris, dessen dîners prix fixe sehr begehrt werden, drängen sich die Menschen Schulter an Schulter. Das Publikum hat einfach gewechselt, das ist alles. An Stelle der Sportsdandies, die zu den Rennplätzen geeilt sind, treten kleine Gewerbtreibende, Weinbauer und so weiter aus der Umgegend, anstatt der eleganten Koketten mit gelb gefärbtem Haar und kühn getragenen Modeübertreibungen die zimtfarbenen Touristinnen mit umgeschnallten Geldtäschchen.

Nein, Monte Carlo ist nicht leer . . . aber das Hotel de Paris ist leer – und wenn sich im Café drüben, innerhalb und außerhalb, im Speisesaal und unter der Markise die Menschen stauen, so hat im Gegenteil Freddy heute das Restaurant des Hotels fast ganz für sich allein, nur noch zwei Tische sind außer dem seinigen besetzt – an dem einen zankt sich ein Trio von spitzbärtigen, gelben, fetten Südfranzosen heftig darüber, ob es geratener ist, auf Farben oder einzelne Nummern zu setzen, und an dem andern befindet sich das junge Ehepaar, dem der Kellner die Honneurs von Monte Carlo macht.

Er erzählt gerade, daß das große Blumenbeet dort, das mit seinem ewig wechselnden blühenden Schmuck eine der Hauptzierden der Gartenanlagen von Monte Carlo bildet, und worin heute die Lafrancerosen von weißen Nelken abgelöst worden sind, die Bankgesellschaft im Laufe der Saison zehntausend Franken gekostet hat.

Die italienische Musikbande drüben im Café de Paris, die seit der letzten Viertelstunde klimpernd gestimmt hat, spielt jetzt die Donauwellen.

Der alltäglich um diese Stunde eintreffende Omnibus setzt seine Ladung Croupiers an einer Seitentür des Kasinos ab; vor der mit einer Kokosmatte bedeckten, von einem gläsernen Vordache geschützten Freitreppe des Hauptportals hält ein Rollwagen, aus dem ein kolossaler Mensch in verliederlichtem grauen Anzug herausgehoben und von zwei Dienern die Stufen hinauf in das Kasino geschleppt wird.

Das Spiel hat begonnen. Das Erscheinen des Gelähmten, der sich alle Tage um dieselbe Stunde hinaufschleppen läßt, kündigt den Umstand mit mehr Sicherheit an als der Glockenschlag.

»Encore une figure typique,« bemerkt der Kellner zu dem hochzeitreisenden Ehepaar, das ihm für seine Mitteilungen wenig dankbar scheint.

Freddy glaubt erst, daß es sich um den Gelähmten handle, aber nein, über den Platz auf das Kasino zu, knapp an der verglasten Galerie, in der Freddy, sowie das Ehepaar sich befinden, vorbei, wandert ein Mensch von hoher Statur, mit einem schön gewesenen, verfallenen Gesicht und einer Art verkommener Vornehmheit in der Haltung. Sein buschiges graues Haar ist schlecht gestutzt, seine Oberlippe glatt rasiert. Auf den ersten Blick sieht er fast wie ein alter Schauspieler aus, aber wenn man ihn genauer betrachtet, möchte mau ihn doch eher in eine andre Menschenklasse einreihen, ohne bestimmen zu können, in welche. Sein auffallend steifer, korrekter Hemdkragen sticht sonderbar ab von seinem verwahrlosten, fast abgerissenen Anzug, und seine gerade Haltung steht in schreiendem Gegensatze zu seinem von Ausschweifungen erschlafften Gesicht. Verkommen, verliederlicht, fast abgerissen, trägt er doch etwas an sich, das das Interesse der gelangweilten jungen Frau des feingeschniegelten Stutzers erregt.

»Was für eine prachtvolle Ruine.« sagt sie. »Wer ist das?«

»Wenn man's wüßte,« entgegnet der Oberkellner. »Monsieur Paul heißt er – Paul Müller, denke ich, aber der Familienname ist niemand wichtig, man nennt ihn einfach Monsieur Paul. Im Herbst ist er hier angekommen, von Amerika herüber; er hatte noch Geld, man hielt ihn für reich, in der Gegend ist er herumgestrichen wie ein Verrückter. Eines Abends setzt er sich dort drüben ins Café, trinkt zwei Flaschen Champagner aus, geht ins Kasino und verspielt dreißigtausend Franken auf einen Sitz. Seitdem geht er alle Tage ins Kasino. Er ist eine gute Haut: wenn er gewinnt, schenkt er alles weg, wenn er nichts gewinnt, schenkt er auch noch. Er hat seine Uhr verkauft, um einer armen Ladenmamsell aus dem Louvre, die ihren Urlaub dazu benützt hatte, im Kasino ihren letzten Heller zu verlieren, die Rückreise nach Paris zu ermöglichen. Schade, daß er so viel trinkt – avec cela immer noch Aventüren, trotz seiner Jahre.«

Der zartfühlende junge Ehemann trommelt unruhig auf dem Tisch, die junge Frau schlägt die Augen nieder.

»Enfin, c'est un type,« – erklärt der Oberkellner, seine Mitteilungen abbrechend, indem er den Tisch des Ehepaares abräumt und eine saubere Serviette darüber breitet für den schwarzen Kaffee. »Man sagt, er habe früher bessere Tage gekannt.«

Freddy wendet ein letztes Mal den Kopf, um dem alten Sonderling nachzublicken, aber Monsieur Paul ist verschwunden.

*           *
*

»Kein Brief für mich?« fragt Freddy um weniges später beim Bureau.

»Mais non, monsieur.«

Es ist das dritte Mal im Laufe des heutigen Tages, daß er nach dem Brief fragte.

Einer der kleinen, mit Knöpfen besäten Pagen, ein munterer Junge, der Ange Mignon heißt, und den er früher mit seiner besonderen Protektion beehrt hat, fragt ihn:

»Monsieur le comte sort?«

»Warum fragst du, petit imbécile?«

»Nun, um dem Herrn Grafen den Brief nachzutragen, wenn er mir sagt, wo er hingeht.«

»Ich mache nur einen kleinen Spaziergang, ich werde gleich zurückkommen.«

»Monsieur dîne à la maison?«

»Ja!« Damit verläßt Freddy das Hotel, tritt hinaus in die heiße, träge, duftige Luft. Was soll er mit sich anfangen? Er wird seinen Mokka drüben nehmen im Café und der Musik zuhören.

Vor dem Café de Paris setzt er sich an einen der wenigen kleinen runden Blechtische, die er noch frei findet, und schielt nach dem Kasinoeingang, in der Hoffnung, die Staatsrätin zu erblicken.

»Du café double?« fragt, diensteifrig an ihn herantretend, der Kellner.

Freddy nickt.

»Un petit verre, monsieur?«

Diese Proposition lehnt Freddy ab. Sein heißes junges Blut brauchte noch keine künstlichen Erregungen.

Die italienische Musikbande sendet soeben eine von dramatischen Tremoli getragene, tragisch klingende Phrase in die trockene, leuchtende Luft hinaus.

Mit vorgebeugt horchendem Kopfe, wie magnetisch angezogen von der Musik, schlich sich ein alter Mann in fadenscheiniger Kleidung heran.

Freddy erkannte Monsieur Paul.

Als er sich an dem Tischchen neben Freddy niederlassen wollte, wehrte es ihm der Kellner hochmütig und unter dem Vorwand, daß der Tisch besetzt sei.

Der Alte ging seiner Wege, wobei er immer noch horchend den Kopf nach der Musik wendete. Aus seiner Haltung und aus seinem Gesichtsausdruck sprach eine so tiefe Verletztheit, daß sich Freddy peinlich davon berührt fühlte. Ohne weiter zu überlegen, sprang er auf und, dem so gröblich Abgewiesenen nacheilend, fragte er ihn: »Möchten Sie nicht indessen an meinem Tisch fürliebnehmen?«

Monsieur Paul fuhr zusammen. So freundlich hatte offenbar schon lange niemand zu ihm gesprochen. Er erschrak sozusagen über die gute Behandlung, die er nicht mehr gewöhnt war.

»Sie sind sehr liebenswürdig,« murmelte er, »es war nur, um den Walzer zu hören, auf den Bänken draußen ist kein Platz.«

»Aber ich bitte Sie,« sagte Freddy und machte eine einladende Handbewegung.

Die beiden Männer setzten sich einander gegenüber, der junge und der alte Mann. Jetzt erst fingen sie an, einander gegenseitig zu mustern.

Aber wenn Monsieur Paul den blonden, gutgepflegten, knapp zugestutzten, breitschulterigen und bildschönen jungen Menschen mit ganz unverhohlener Bewunderung anstarrte, so tastete hingegen der Blick des jungen Mannes mit einer Art von mitleidiger Unsicherheit und Unruhe an der verkommenen Erscheinung des Alten herum, fast als fürchte er, den abenteuerlichen Fremden irgendwie und irgendwo zu scharf zu treffen.

Freilich war ihm der Typ dieses Monsieur Paul etwas völlig Fremdartiges, das er mit nichts zusammenreimen konnte, wie es ihm bis dahin geläufig gewesen war. Dennoch hatte der Alte nichts Abstoßendes für ihn, im Gegenteil fühlte er sich eher zu ihm hingezogen. Eine mächtige Natur verriet sich noch deutlich in seiner Erscheinung, und zwar dermaßen, daß selbst seine Verbummeltheit eine Art heroischen Charakters zeigte.

Sein Gesicht mußte sehr schön gewesen sein, ehe es vom Alkoholgenuß aufgedunsen und gerötet worden war. Aus den blaugrauen, von buschigen Brauen beschatteten Augen blitzte noch immer ein gefährliches Feuer. Leider wölbten sich darunter große, schlaffe Säcke, und quer durch die roten Wangen zog sich ein breiter Schatten. Die vollen, gutgeschnittenen Lippen verrieten ein gutes Herz und eine nicht zu bezähmende Sinnlichkeit. Die Zähne waren, wenn auch etwas gelb, doch stark und gesund, die schöngeformten Hände ungepflegt, die Nägel von zweifelhafter Sauberkeit.

Anfangs bemühte sich Monsieur Paul, Freddy durch ein paar unbeholfene Platitüden für dessen große Liebenswürdigkeit zu danken. Bald aber verstummte er, und den Kopf nach den italienischen Geigern und Bläsern gewendet, lauschte er mit fast unheimlicher Gier der Musik.

Aus der auf wirbelnden Tremoli getragenen Antrittsphrase heraus rang sich eine süße Walzerweise. Erst ritterlich, zum Vergnügen einladend, dann einschmeichelnd, kokett, scherzend. Ein Hauch wollüstiger Melancholie mischte sich in das kokette Scherzen hinein, die hüpfenden Stakkati wurden schleppend, versanken endlich in eine großartig anschwellende Melodie von hinreißender Süßigkeit. Es war, als ob sich aus dem Walzer eine Hymne losgerungen hätte.

»Prachtvoller Walzer, es gibt keinen schöneren Walzer!« murmelt Monsieur Paul; »war einer der ersten, die Waldteufel komponiert hat, ist noch Himmelstürmerei drin, das hört alles auf, wenn man älter wird . . . man muß an den Himmel glauben, um ihn stürmen zu wollen, später glaubt man nicht, und wenn man glaubte, sehnt man sich nicht mehr danach . . . ist zu gute Gesellschaft . . . alles weiß . . . keine Farbe . . . langweilig. Kommt ein Moment im Leben, wo man sich vor den Engeln mehr als vor dem Teufel fürchtet. Vor den Engeln muß man sich immer schämen, schämen, vor dem Teufel schämt man sich nicht, der ist unsersgleichen. Ist zwar auch ein großer Herr, aber macht sich gern populär, verflucht populär. Darin zeigt er seine größte Geschicklichkeit, damit fängt er uns alle – alle. Da hören Sie . . . hören Sie . . . ist das nicht schön? Darüber vergißt man den Teufel – hm . . . in . . . in . . . so singen die Engel, wenn sie Menschen geworden sind . . . herrlich . . . herrlich . . . eine Triumphhymne der Liebe . . . höher hinauf – höher – man denkt, es wachsen einem Flügel, wenn man das hört! – Unsinn . . . nichts wächst – müd' wird man – bricht zusammen in den Schmutz! Ach . . . da hören Sie . . . das ist das Ende von allem!«

Die hymnenartige Melodie war plötzlich untergegangen in dem gewöhnlichsten, banalsten, mit nichtssagenden Läufen und donnernden Akkorden versetzten Walzerfinale.

»Es ist immer so! . . . hm! . . . Garçon!« Der Kellner trat an den kleinen Tisch, Monsieur Paul zog aus seiner Tasche ein Portemonnaie, das sehr alt, abgeschabt und an den Ecken durchgerieben war, öffnete es und leerte den Inhalt auf die Tischplatte. Es enthielt zwei Doppelfrankenstücke und ein paar Kupfermünzen. Monsieur Paul nahm das Geld in eine seiner unsauberen Fäuste, und es dem Kellner reichend befahl er: »Bringen Sie das den Musikanten, sie sollen den Walzer noch einmal spielen, und dann mir ein Glas Absinth. »Und sich an Freddy wendend: »Erlauben Sie, daß ich mein Glas Absinth neben Ihnen leere?« sagte er, nicht ohne eine gewisse weltmännische Förmlichkeit.

»Aber natürlich,« versicherte ihm der junge Mensch.

»Wissen Sie,« erklärte ihm hierauf Monsieur Paul, »man braucht es manchmal. Wenn einem der Lebensmut so in die Stiefel hinabfährt, so pumpt man ihn mit einem Gläschen wieder herauf, da hat man gleich ein bißchen mehr Courage für ein paar Stunden. Dann freilich kommt das garstige Gefühl von neuem. Na . . . da muß man eben wieder nachhelfen. Die Räder schmieren, damit die Maschine geht – Garçon, noch ein Gläschen!«

Der Kellner brachte es ihm, wobei er Freddy mit einem fragenden Blick streifte. Freddy schien entschlossen, alle Absonderlichkeiten des Fremden ruhig hinzunehmen. Dieser summte indessen die Melodie zwischen den Zähnen mit. »Ein herrlicher Walzer!« murmelte er, »erinnert mich an meine Verlobung, es war ihr Lieblingswalzer.«

»Wessen Lieblingswalzer?« fragte Freddy.

Monsieur Paul sah ihn mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck an, dann, die Augen zukneifend, stieß er heraus: »Der Lieblingswalzer meiner Frau!«

Freddy war etwas verblüfft. Auf alles war er eher gefaßt gewesen, als daß dieser herabgekommene Abenteurer anfangen würde, ihm von seiner Gattin zu erzählen; es mutete ihn seltsam an, daß der alte Bummler eine legitime Gattin gehabt haben sollte.

»Lebt Ihre Frau Gemahlin noch?« fragte er.

Kaum waren ihm die Worte von den Lippen gefallen, so merkte er, wie sonderbar seine Frage gewesen war. Welchen andern Mann hätte er gefragt, ob seine Gattin noch lebe oder nicht. Monsieur Paul hielt sich dabei nicht auf, er kraute sich hinter dem Ohr, räusperte sich in seiner auffälligen, lauten Weise, die selbst dem geduldigen Freddy unangenehm war, dann beide Arme auf das Tischchen stützend, daß die Gläser klirrten, sagte er: »Ob sie noch lebt? Ich weiß es nicht . . . wahrscheinlich lebt sie – ich hätte es wohl in den Zeitungen gelesen, wenn sie gestorben wäre – aber freilich, ich lese die Zeitungen nicht alle Tage – längst nicht mehr . . . zu was auch!«

»In den Zeitungen?« wiederholte Freddy erstaunt. »War Ihre Frau Gemahlin etwa eine große Künstlerin?«

»Eine große Künstlerin?« . . . Der Alte lachte bitter. »Sie meinen, die Frau von so einem, wie ich bin, kann eben auch nichts Besonderes gewesen sein? . . . Eine Künstlerin, vielleicht eine, die sich am Trapez produziert hätte oder auf den öffentlichen Tanzböden wie die Rigolboche, hm! . . . Da geht sie übrigens vorüber. Dieser gutmütig dreinschauende Fettklumpen war die ihrer Zeit berühmteste Cancantänzerin von Europa, jetzt hat sie eine Zufluchtsstätte für gefallene Größen eröffnet, da drunten in Monaco, so eine Art Hades, wo man zeitweilig untertaucht, wenn einen das Sonnenlicht auf der Oberwelt geniert, mit andern Worten eine pension bourgeoise für . . . Lumpen, die nicht staatsgefährlich sind. Habe auch zu ihren Pensionären gehört – alle Achtung – die Preise zivil, die Kost eßbar und die Pflege – ach, was die Pflege anbelangt, mütterlich – ich sage Ihnen, mütterlich . . . aber . . . aber wohin bin ich wieder abgeschweift! Ich sitze doch nicht da, um Ihnen die Pension der alten Rigolboche anzupreisen. Wie kam ich denn auf die alte Rigolo? – Ach – ich erinnere mich, ich wollte Ihnen gerade erzählen von meiner Frau – hm, von Maman Rigolo bis zu meiner Frau ist der Sprung etwas weit! Denken Sie sich ein – na . . . ein Schwein, ein gutmütiges Schwein, das sich behäbig in einem Sumpfe wälzt, und hoch oben auf einem steilen, steilen Felsen, einem Gletscher, der vor Eis und Reinheit blitzt, einen Engel mit großmächtigen weißen Flügeln – Flügeln, die ihn auf flachem Lebenswege unbeholfen machen, ihm aber die Schwindelfreiheit neben den gefährlichsten Abgründen wahren, ihm den Aufschwung bis zu den verklärtesten Höhen ermöglichen, da haben Sie die Rigolboche und« . . . er wischte sich die Lippen mit einem sehr zerknitterten, rotseidenen Taschentuch ab – »meine Frau!«

Hierauf zog er mit einer Geste, die zugleich etwas Hochromantisches, Lächerliches und Rührendes hatte, den Hut, dann, sich über die Augen fahrend, sagte er: »Hm! Sie haben mich gefragt, ob meine Frau eine große Künstlerin war? Nein, das war sie nicht, aber . . . sie war . . . eine große Dame!«

Freddy zuckte zusammen. Sein Gesicht drückte ein so unverhohlenes, ungläubiges Staunen aus, daß Monsieur Paul es merkte.

»Ha, ha, ha!« lachte er polternd. »Sie sind erstaunt . . . wollen mir nicht glauben, aber es ist so . . . eine große Dame war sie, eine sehr große . . . was sage ich da, sehr groß, einfach eine wirkliche große Dame – und als wir uns heirateten, war die Welt nicht einmal erstaunt – ein wenig beneidet hat man mich, das war alles. Die Galerie sah zu und applaudierte, und wenn wir vorübergingen, sagten die Menschen: ›Welch schönes Paar!‹ Ha, ha, ha!« Dann plötzlich sein krampfhaftes, hartes Gelächter, das mehr wie ein Husten als wie ein Lachen klang, einstellend, fügte er in einem gedämpften, völlig veränderten Ton hinzu: »Sie haben mich auch gefragt, ob sie schon tot ist, darauf hab' ich Ihnen erwidert, ich wisse es nicht. Ich weiß es wirklich nicht, aber das eine weiß ich . . . für mich ist sie tot, oder vielmehr ich bin für sie tot, was auf dasselbe herauskommt. Die Kluft zwischen uns ist so tief und so weit, daß der liebe Gott selbst nicht im stande wäre, eine Brücke darüber zu spannen. Wenn sie zufälligerweise einmal an mir vorbeikäme, würde sie mich nicht erkennen, und wenn sie mich erkennte, so glaube ich, stürbe sie daran; und wissen Sie, warum sie daran stürbe? Weil . . . weil sie mich einmal liebgehabt hat – darum würde sie sterben, wenn sie mich jetzt wiedersähe!«

Er hielt inne. Ein unheimliches Gefühl, ein furchtsames Mißbehagen hatte sich Freddys bemächtigt. Er fragte sich, ob er es mit einem Geisteskranken zu tun habe oder mit einem Schwindler.

»Ich weiß nicht, was mir heute eingefallen ist, von ihr zu reden,« begann indes der Alte von neuem. »Jahre und Jahre hab' ich ihrer nie mehr erwähnt. Es ist wahr, daß ich jahrelang mit niemand geredet habe, dem ich . . . der . . . würdig gewesen wäre, daß ich . . . von ihr mit ihm gesprochen hätte! Was ist Ihnen eigentlich eingefallen, gut gegen mich zu sein? Sie sind ein Idealist, das sehe ich Ihren Augen an. Eine gräßliche Spezies, die Idealisten – grausam – erwarten Dinge von den Menschen, denen die Menschen nicht gewachsen sind, die sie nicht leisten können – der alte Adam überrumpelt einen, eine schwache Anwandlung kommt – die Idealisten wenden sich entsetzt ab, können sich über den Riß in ihren Illusionen nicht trösten – ihr sittliches Schönheitsgefühl ist verletzt – aus ist's mit der Liebe – ich bitte Sie, wegen einer Lappalie! – Grausam – grausam! – Ich sage Ihnen . . .« wieder schlug er polternd mit der Hand auf den Tisch – »wer die Menschen nicht mit ihren Schwächen zu lieben vermag, dessen Menschenliebe steht auf unsicheren Füßen!«

Offenbar hatte er gänzlich vergessen, wo er sich befand.

Der Kellner, dem sein Wesen wenig zu behagen schien, trat zu dem Tischchen, an dem die beiden Männer saßen, und begann mit Ostentation abzuräumen.

Monsieur Paul zog noch einmal sein Geldtäschchen. Erst jetzt erinnerte er sich, daß er den ganzen Inhalt den Musikanten gespendet hatte. Er schüttelte verlegen den Kopf. »Erst hatte ich kein ganzes Fünffrankenstück mehr zum Roulette, jetzt habe ich nicht einmal genug, um meine Zeche zu zahlen, die erbärmliche Zeche von vier Gläschen Absinth – wie viel waren's – vier . . . fünf –« zum Kellner gewendet – »also fünf – hab' nicht gezählt, glaub's – tut mir leid . . . kann nicht zahlen!«

Freddy errötete bis in die Haarwurzeln hinein. »Erlauben Sie,« begann er, »gestatten Sie mir, Ihnen auszuhelfen.«

»Nur zu, mein junger Freund, aber rechnen Sie nicht mit Sicherheit auf eine Rückzahlung, kann nichts versprechen, ha, ha, ha! Bah, auf die paar Cents kommt's Ihnen nicht an, nicht wahr? Für die danke ich Ihnen nicht einmal,« polterte der Alte. Er gehörte offenbar zu denen, die sich ihrer schlechten Manieren bewußt sind und aus Verlegenheit übertreiben. »Aber daß Sie mir gestattet haben, so vor allen Leuten mich zu Ihnen zu setzen, das war schön,« fuhr er, in eine weichere Tonart übergehend, fort, »es hat mir gut getan, Ihnen in Ihre freundlichen Augen zu schauen. Es sind zwar die Augen eines Idealisten, aber eines Idealisten, der ein – Einsehen hat. Adieu!«

Sie trennten sich. Schon glaubte sich Freddy seines seltsamen neuen Bekannten ledig, als er plötzlich eine Hand auf seinem Arm spürte.

Erst empfing er nur den unangenehmen Eindruck einer unsauberen Berührung, erschrak vor dem Anblick der gichtverkrümmten Finger mit den unsauberen Nägeln daran. Zugleich machte ihn die Zudringlichkeit des Abenteurers ein wenig ungeduldig. Als er aber aufsah, lag ein solcher Ausdruck verschüchterter, fast zärtlicher Dankbarkeit in den dunklen Augen des alten Mannes, daß sich Freddy seiner unfreundlichen Regungen aus innerstem Herzen schämte.

»Kann ich Ihnen noch mit irgend etwas dienen?« fragte er gutmütig.

Der Alte wurde verlegen. »Nein,« sagte er, »das heißt,« er zuckte mit den Achseln, »im ersten Augenblick sagt man immer nein, solange man noch um fünf Groschen Anstand im Leibe hat, und dann – der Magen knurrt, man überlegt sich's, man fängt den großsprecherischen Anstand beim Zipfel und sagt: ›Eigentlich . . . wenn's nicht unbescheiden wäre, fünf Franken . . . zehn Franken . . .‹«

Freddy griff in die Tasche und reichte ihm einen Napoleon.

Monsieur Paul zögerte einen Augenblick, dann nahm er die Münze, schloß die Faust darüber und ließ sie in die Tasche seiner fadenscheinigen Hose hinabsinken.

»Vergelt's Gott,« murmelte er, »aber – aber Sie haben mich mißverstanden, ich war Ihnen nicht nachgelaufen, um Sie anzubetteln . . . ich meinte nur . . . ich . . . möchte mich Ihnen gerne erkenntlich zeigen. . . . Soll ich Ihnen meine Geschichte erzählen? Vielleicht kann sie Ihnen von Nutzen sein. In welcher Richtung, werden Sie wohl fragen. Das weiß ich eigentlich nicht. Aber es ist immer was wert, wenn man seine Menschenkenntnis erweitert – und neue Gründe lernt, auf der Hut vor sich selbst und nachsichtig gegen den Nächsten zu sein. Seit Jahren hab' ich von meiner Vergangenheit mit niemand gesprochen, ja eigentlich hab' ich überhaupt nie irgend jemand etwas davon erzählt, die Vergangenheit war mir, wenn das Wort sich nicht lächerlich ausnähme auf meinen Lippen, würde ich sagen, sie war mir zu heilig; aber, hm . . . bei Ihnen werden meine Erinnerungen besser aufgehoben sein als bei mir selber. Viel besser – wollen Sie hören?«

Es wäre eine Grausamkeit gewesen, den traurigen Sonderling abzuweisen. Freddy war nicht grausam. Er nahm das Anerbieten des Alten freundlich an und suchte ein Plätzchen, wo sie beide ungestört miteinander plaudern konnten.

Nach einigem Überlegen begab er sich mit ihm auf die Galerie Carlo III., wo sie sich vor dem Café Riche zwischen ein paar rund zugestutzten Lorbeerbäumen in grünen Holzkübeln niederließen, hinter ihnen das Gefunkel und Geglitzer der glänzenden Verkaufsauslagen, die die Galerie entlang laufen, vor ihnen in blauer, sich an den Himmel schließender Ausdehnung das Meer.

»Haben Sie je den Rheinfall bei Schaffhausen gesehen?« begann der alte Bummler.

Freddy verneinte, und Monsieur Paul fuhr fort. »Über hoffnungsgrüne Klippen wirft er sich jauchzend ins volle Leben hinein, dann vorwärts – vorwärts, zu einem stattlichen Strom schwillt er an, und weiter eilt er, legendenumsungen, von den zwei größten Nationen der Welt umstritten, weiter, um schließlich – na, Sie wissen's ja – sich in einen elenden Sumpf zu verkriechen – verkriechen, weil er nicht mehr die Kraft findet zu einem anständigen Tod! Sie wundern sich über meine poetische Ausdrucksweise? Ich habe einmal ein Gedicht geschrieben über den Rheinfall – für sie – vielleicht hat sie sich's aufgehoben, es ist möglich, ein paar Reliquien unsrer armen Liebe mag sie wohl aufbewahrt haben, um sich vor sich selbst ob der Täuschungen zu entschuldigen, denen sie sich gelegentlich meiner Person ergeben hat. Arme Frau!

»Wie das Gedicht lautete, weiß ich nicht mehr, nur so viel weiß ich noch, die hoffnungsgrünen Klippen kamen darin vor, und dann zum Schluß etwas Trauriges:

›Warum hat denn auch der stolzeste Strom
Ein abwärts gestecktes Ziel?‹

»Das war ihr nicht recht. Sie hatte nie daran gedacht, daß alle Ströme bergab ziehen, mögen sie sich auch noch so breit und tief entwickelt haben, bergab ziehen sie alle! Sie hatte auch nicht bedacht, daß ein gewisses müdes Bergabstreben in unserm innersten Wesen wurzelt und mit der Organisation der Welt eng verbunden ist, daß wir alle unsern Schwerpunkt in der Tiefe suchen. Ich glaube, die großen Gelehrten haben dieses Streben auf irgend ein Naturgesetz zurückgeführt, aber wie es heißt, weiß ich nicht mehr. Hab' so viel vergessen, schrecklich viel vergessen, aber das eine weiß ich noch, bei dem großen Zusammenstoß, dem grausamen Auftritt, der ihre Einsamkeit und mein Elend besiegelte, sagte ich ihr's ins Gesicht: ›Du hast immer wollen, daß die Ströme bergauf fließen. Das gibt es nicht auf der Welt!‹ Aber ich verliere mich; wenn ich so abschweife, werd' ich nie fertig mit meiner Geschichte. Nur das muß ich Ihnen noch sagen: den Schaffhausenfall hab' ich zum ersten Male auf meiner Hochzeitsreise gesehen, darum hat er mir einen so tiefen Eindruck gemacht; er hatte etwas Prophetisches für mich; damals schon; mir war's, als zeichne er mir mein Leben vor – ich hatte recht! Nur . . . alle Vergleiche hinken und alle Parallelen, auch die Parallele zwischen meinem Lebenslauf und dem des Rheins hinkt insofern, als das Verkriechen in den Schlamm bei mir viel früher als bei ihm eingetreten ist.

»Nun aber will ich endlich pedantisch beim Anfang beginnen, sonst werden Sie ganz konfus und laufen mir davon, ehe ich das Vorwort beendet habe!«

*           *
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