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Im Frühjahr kam eine »Kommission« nach St. Thomas. Die hatte Dr. Wenzel bei dem Minister durchgesetzt. Es waren drei Herren. Sie wohnten beim Sepp, aber dem gefiel keiner recht. Was dem Sepp und allen von St. Thomas eine Herzensangelegenheit war, war den Fremden eine reine nüchterne Verstandessache. Selbstverständlich, sagten sie, käme es öfters vor, daß ein Hof nicht haltbar sei. Ein ganzes Dorf allerdings, das sei selten, aber warum nicht auch einmal das? Die Lage von St. Thomas wäre mit der keines anderen Ortes zu vergleichen, und wenn sich daraus Folgen ergäben, dann müßte man sie eben tragen. Der Fall wäre übrigens riesig interessant. Eine unerhörte Veränderung der Bodenstruktur. Gradezu an die Eiszeit erinnere der Vorgang.
Die Eiszeit war dem Sepp gleichgültig. Helfen sollten die Herren. Sie konnten nicht helfen, gaben sich auch weiter keine Mühe. Ein so hoch gelegenes kleines Bergdorf, in dem die Leute doch wahrhaftig nicht leben und nicht sterben konnten! Heimat! Es wird viel Unfug mit dem Worte »Heimat« getrieben. Laßt sie erst was anderes kennenlernen, dann ist das bißchen Heimat rasch vergessen. Das Brot schmeckt anderswo genau so gut, aber es ist dort reichlicher und auch feiner als hier, man hat mehr dazu, hat im ganzen mehr vom Leben. Also keine Gefühlsduselei. St. Thomas braucht nicht, aber es kann verloren sein. Abwarten. So schnell, daß man nicht zur Not noch rechtzeitig umsiedeln könne, geht es auf keinen Fall.
Ein Rat – man muß versuchen, Wald grade in den vermutlichen ferneren Weg der Lawine zu pflanzen, und wenn es das Glück will, ist er hoch genug, bevor die Lawine noch weiter nach Westen wandert. Ein Rat für die von St. Thomas und ein Gutachten an den Minister. Zermürbtes, verwittertes Gestein nach Westen zu, eine natürliche Senkung, die vertieft wird durch die Lawine, im Osten dagegen harter, unnachgiebiger Fels. Die Lawine selber eine Naturgewalt, gegen die nichts zu machen ist. St. Thomas wohl bedroht, aber nicht unmittelbar gefährdet. Abwarten und im Notfall umsiedeln. Zu tun ist nichts.
Immer nach Westen haben die Herren geschaut. Es ist grade, als ob die Kugler-Nase überhaupt nicht da wäre, und sie ist doch wahrhaftig groß und breit genug. Das ist das Ergebnis der Untersuchung durch die Kommission. Ein Rat, der nicht zu befolgen ist, weil in dem Geröll, dem Sand und dem vermoorten Boden kein Wald gedeiht, und ein Gutachten, das die einzige Möglichkeit, abzuhelfen, übersieht.
Aber St. Thomas lebt, lebt besser als früher. Der Zustrom an Fremden hat zwar nachgelassen, ist aber immer noch ansehnlich, und was jetzt kommt, gefällt dem Sepp zumeist ganz gut. Die Neugier, die »braven Männer von St. Thomas« zu sehn, ist befriedigt, und zu weiterer Bravheit, die erneut berühmt gemacht hätte, war keine Gelegenheit. Es hat sich aber inzwischen herumgesprochen, daß St. Thomas eines der schönst gelegenen Bergdörfer ist, und daß man von ihm aus wochenlang lohnende Wanderungen machen kann. Das geschieht denn auch. Es kommen junge Menschen, wie sie der Sepp gern sieht. Zäh, unverbraucht, zurückhaltend, aber ohne falsche Bescheidenheit, kühn, aber nicht tollkühn. Der Bischkopf wird oft erstiegen, nie jedoch von der Dreiecksalm aus. Neben dem Brandl gehn der Lipp und der Achterer als Bergführer. Sie sind alle zuverlässig und verdienen ein schönes Stück Geld. Eine Rettungsstation hat der Sepp eingerichtet. Im Laufe von acht Jahren, so lange ist der Loisl in Ripp, holt sie rund dreißig Menschen glücklich herab. Dreimal muß sie Tote bergen. Einen an der Tritta, einen am Riesen und eine Frau im Buckelkar. Bei der handelte es sich um einen ganz unglücklichen Zufall. Das Buckelkar war an sich ungefährlich. Die Frau aber war ausgerutscht, war ins Kollern geraten und hatte sich im Geröll den Kopf eingeschlagen.
Neben der Jugend kam das Alter. Die Zwischenstufe war schlecht vertreten, so die Leute zwischen 25 und 45. Den älteren Leuten, deren Adern allmählich verhärteten, tat die leichte Luft wohl, und sie erholten sich gut. Beide, Jugend und Alter, gingen frühzeitig schlafen. Die einen, weil sie oft vor Tagesgrauen wieder aufstanden, die anderen, weil ihnen an Klimbim und Tanz und Zecherei nichts mehr lag. Zwei Jahre hatte St. Thomas in der Gefahr gestanden, mondän zu werden. Der Sepp aber hatte recht gehabt, die Gefahr war überwunden. Das sei den Bergen zu danken, sagt er. Daran ist etwas Wahres, aber der Sepp hat auch sein Teil dazu getan.
Des Mitterers Geschäfte gehn leidlich. Er verdient grade so viel, daß er leben kann. Mit seinem Reißen ist es übrigens nicht so schlimm, als er tut. An den Steilwänden könnte er zwar kaum noch herumklettern, aber nicht des Reißens wegen, sondern weil er allmählich zu dick wird. Im Hornbachtale aber könnte er sehr wohl noch suchen. Er tut jedoch auch das nicht, weil er zu faul ist. Der mühelose Handel hat ihn für die mühevolle Arbeit verdorben. Dem Hieronymus Fabian hat er verziehn, weil das Leben, das er jetzt führt, bequemer ist als das, was er früher führte, aber der Ronymus hat ihm nicht verziehn. Der Fabian ist ein Starrkopf. Er läßt schwer einen an sich herankommen. Wen er herankommen läßt, den nimmt er ganz. Er gibt sich aber auch ganz. Den Mitterer jedoch verachtet er, und der mag sich noch so viel Mühe geben, der Fabian verkauft ihm keinen Stein, und wäre es der bescheidenste Bergkristall.
Die Leute von St. Thomas haben allesamt gelernt. Sie sehen die Fremden gern, herbergen sie gern, ohne sie zu überteuern, sind freundlich und gefällig, aber die Träume, die einzelne hatten, sind ausgeträumt. Das Geld, das die Fremden bringen, ist ein wertvoller Zuschuß, im übrigen aber ist jeder wieder ganz, was er früher auch war, Wildheuer, Holzfäller, Schuster, Kleinbauer, Flößer, Senn. So sei es richtig, sagt der Sepp, und der Pfarrer Hornberger sagt es auch.
Er ist übrigens recht still geworden, der gute Hornberger. Ein Eiferer war er nie. Seit es aber mit »seinem Gesund« nicht mehr arg weit her ist, hat er gelernt, sich mit noch mehr Menschlichem-Allzumenschlichem abzufinden als früher, ohne es jedoch gutzuheißen. Nein, es gibt wohl noch manche herzhafte Kopfwäsche, aber das Pfarrhaus ist dennoch keine Schlachtbank.
Den Sepp besucht er des öfteren einmal, namentlich im Winter, aber es ist da doch so mancherlei, worin er mit dem nicht ganz einig geht. Erstlich hat es der Sepp nach seiner Meinung mit dem Loisl falsch gemacht. An dem Jungen hat der Pfarrer viel Freude gehabt, und wenn er gedurft hätte, wie er wollte, wäre der Loisl heute sicher auf dem Priesterseminar. Aber da war der Sepp wie ein Bock gewesen. Entweder Religion – davon höre er ohnedies genug – und Sprachen scheiden bei den Unterweisungen aus, oder der Bub kommt nicht mehr. Das wäre dem Hornberger zu hart gewesen und nicht zu halten, was er zugesagt, also seine Weide meuchlings grasen, dazu war er zu ehrlich. Trotz allem: Fortzuschicken brauchte der Sepp den Loisl nicht. Er wäre zwar in St. Thomas nicht mehr als ein Steinsucher oder Bergführer oder Holzfäller geworden, aber er wäre daheim gewesen, da, wo Vater und Mutter begraben lagen, und er selbst aufgewachsen war. Aber nein, es war so wenig mit dem Sepp zu reden wie damals, als der Bub zum Oberlechner mußte. Was ist dabei herausgekommen? Nichts. Und was wird jetzt herauskommen? Auch nichts, außer daß der Bub entweder draußen verdorben wird oder vor Heimweh zugrunde geht.
Aber das kommt davon, wenn einer im Glauben lax wird, den Herrgott für ein altes Männlein ansieht und sich weniger auf den, als auf sich selber verläßt.
Rein ins Kollern kann der Pfarrer geraten, wenn er mit dem Sepp darüber zum Reden kommt, und der dasteht wie eine der Zirben droben. Es ist dem Sepp nicht beizukommen, und es ist ganz unmöglich, das, was man meint, und woran es fehlt, genau zu umreißen. Der Sepp tut alles, was man verlangen muß, und unterläßt nichts, das sich für einen rechtschaffenen Christenmenschen gehört, aber er tut es mit einem Selbstbewußtsein, das sich gar nicht gehört, und hat neulich gewagt zu sagen, er begegne dem Herrn Christus mindestens so oft auf der Straße wie in der Kirche.
Es ist wirklich jetzt viel an dem Sepp auszusetzen, aber da steht er mit einer lachenden Selbstverständlichkeit, guckt hierhin und dahin, gibt da einen Rat und dort einen, bedient und beherrscht zugleich die Fremden, ist so sauber wie seine Hemdärmel und – ist doch nicht richtig.
Was hat der Pfarrer schon des Oberlechners wegen geredet. Freilich, er hat viel auf dem Kerbholze, der frühere Bürgermeister, aber das hat er mit seinem Herrgott abgerechnet, da muß es ein Verzeihen geben, und man muß da einen Strich durch machen, zumal der Oberlechner jetzt ein wirklich frommer Mann ist. Ganz anders als der Sepp. Aber was sagt der Sepp? Es würde langen, sagt er, wenn er nur die Maria Walpurga auf dem Gewissen hätte, und die hätte er drauf, da gäbe es kein Wenn und Aber, es käme aber noch sehr viel mehr dazu, was der Herr Pfarrer nicht wüßte. Und genüge etwa der Notwinter noch nicht?
Alles wahr, mußte der Pfarrer zugeben, aber der Sepp hasse den Oberlechner, und der Haß – –
»Haß?« sagte der Sepp und richtete sich steil auf, »ich hasse den Oberlechner nicht. Nicht so viel.« Er schnippte mit den Fingern. »Gar nicht, Hochwürden. Der Oberlechner ist mir so egal wie die Fliege dort an der Wand. Aber ich tu halt auch nichts, ihn vor dem zu bewahren, was ich jetzt kommen seh. Ich tu's nicht. Und wenn Sie mich darum bäten, ich tät's auch nicht, Hochwürden. Der Nägeli ist gewiß nicht viel wert, ist des Oberlechners Pudelhund gewesen, aber wie es ihm der jetzt macht, das verdient er nicht.«
Das war sechs Jahre, nachdem der Loisl aus St. Thomas fortgegangen.
Der Nägeli hatte schlecht gewirtschaftet, das ist wahr. Er hatte aber auch Unglück. Wie das so geht, wenn eins zum andern kommt. Krankheit, Viehsterben, schlechte Ernten. So war der Nägeli bei dem Oberlechner in Schulden geraten, in große sogar. Es ging dem Oberlechner zwar auch nicht gerade glänzend, mit den Fremden verdiente er längst nicht so viel, als er sich einmal ausgerechnet, aber seine Wirtschaft vertrug allerhand, die Sache mit der klugen Marie war längst ausgestanden, Dummheiten, die Geld gekostet, hatte der Toni nicht wieder gemacht, und den kostenlosen fragte der Alte nicht nach. Er hatte also, heimtückisch und berechnend, dem Nägeli nicht nur das Geld gegeben, um das er bat, sondern mehr, weil der Nägeli doch, wie der Oberlechner sagte, Betriebskapital haben müsse. Wie wolle er denn sonst auf einen grünen Zweig kommen. Der Oberlechner aber war ein Mann, der nie verzieh und vergaß, und wenn er den Sepp nicht hatte zur Strecke bringen können, so lag das wahrlich nicht an ihm. An hämischen Nachreden hatte es der Oberlechner nicht fehlen lassen, aber die waren dem Sepp entweder nicht zu Ohren gekommen oder er hatte sie überhört, weil sie ihm zu dumm waren.
Den Nägeli aber kriegte der Oberlechner in die Schere, und der sollte ihm den Tag im Notwinter bezahlen, an dem er den Bürgermeister im Stich gelassen und mit dem geladenen Gewehr dagestanden hatte wie ein schlotterndes altes Weib, anstatt den Sepp niederzuknallen, wie es der Oberlechner von ihm zu verlangen berechtigt gewesen.
Es war also ein Tag im zeitigen Frühjahr, an dem der Oberlechner sein Geld mit einem Schlage vom Nägeli zurückverlangte. Dem war es, als bräche der Himmel über ihm zusammen. Es half ihm jedoch nichts, daß er sich auf seine Treue berief, daß er den Herrn Christus heranholte, daß er um ein klein bißchen Menschlichkeit bat und versicherte, er wolle sich und seinen Kindern den Bissen vom Munde absparen, um wenigstens ratenweise zahlen zu können. Es half auch nichts, daß er sich an den Toni wandte und den um Vermittlung anging. Der Toni zuckte die Achseln und sagte, er mische sich nicht in seines Vaters Geschäfte, der leide das nicht. Außerdem brauchten sie das Geld selber. Die Dreiecksalm müsse hergerichtet werden. Sie sei so schlecht, daß sie nicht einmal mehr Schafe darauf halten könnten. Aber der Nägeli möge doch einmal zum Sepp gehn. Da sei alles, was ihm fehle, Geld, Barmherzigkeit und – Rache an des Toni Vater. Es werde dem Sepp gewiß gradezu eine Freude sein, seinem alten Widersacher eins auszuwischen. Das riß nun zwar einen Vorhang vor dem Nägeli entzwei, er sah dahinter und begriff, daß es der Oberlechner selber aufs Auswischen angefangen hatte, aber es war auch zugleich eine Dummheit des Toni. Er hatte ein bißchen schadenfroh und hämisch sein wollen und wandelte einen Menschen. In des Nägeli Gesicht trat ein ganz neuer Zug. War es bis dahin angstvoll und demütig gewesen, so ward es jetzt starr, verbissen, trotzig. Er ging zwar zum Sepp, aber er rechnete von vornherein mit der Ablehnung, die ihm ja denn auch wurde, und war dem Wirt nicht einmal böse darum. So geschah denn, was seit Menschengedenken in St. Thomas nicht geschehen war, es ward eine Zwangsversteigerung angesetzt. Der Hof des Nägeli sollte vergantet werden. Als der das las, lachte er gallenbitter. Er war in den paar Monaten ein völlig anderer Mann geworden, hielt sich grade wie ein Pfahl, ging, wenn es nicht unbedingt sein mußte, nicht aus dem Hause, und wenn ihm einer begegnete, sah er finster vor sich hin. War er bislang ein verfälschter Bergler gewesen, so war er jetzt wieder ein echter. Alle Härte der Ahnen, die kein Wetter, keinen Steinschlag, nicht die rauhe, entsagungsvolle Einsamkeit, keinen Hieb des Schicksals gefürchtet, war nun, da er Heim und Herd, das Dach, das ihm Weib und Kind schützte, verlieren sollte, in ihm lebendig geworden. Er war nicht mehr er selber, er war sein Geschlecht.
Und indem ging er noch einmal zum Oberlechner. »Also nun wär's gar,« sagte er, »und ich hab dich bloß noch einmal fragen wollen: Bleibt's jetzt wirklich dabei?«
»Mit dem Sepp hätt' ich abzurechnen. Willst den auf dich nehmen?«
»Nein.«
»Dann bleibt's dabei.«
»Oberlechner – da dran stirbst!«
Draußen war der Nägeli. Der Oberlechner wollte lachen, aber er brachte es nicht fertig, wenn er auch des Nägelis Drohung nicht grade ernst nahm.
Was der Toni von der Dreiecksalm gesagt, war zur Hälfte wahr. Sie war gar nichts mehr wert, weil gar nichts an ihr getan worden war. Völlig versauert und vermoort nährte und trug sie kaum noch ein Schaf. Sechs Jahre war es her, seit der Loisl droben gehütet. Seit zwei Jahren lag sie verödet. Der Oberlechner hatte seine Herde verkleinern müssen und den Rest auf der Samalm mit untergebracht. Daß er aber nun die Alm wieder herrichten wolle, das war nicht wahr. Es war sein Schicksal, daß er vier Tage nach dem letzten Gespräch mit dem Nägeli auf einmal über die Samalm hinauf nach der Dreiecksalm gehn mußte, um zu sehn, wie es denn eigentlich da droben stünde. Er ging zunächst in das Steinhaus, und als er wieder heraustrat, stand der Nägeli auf zehn Schritte vor ihm. Das hätte ihm an sich nicht so sehr viel ausgemacht, obwohl es ihm kalt über den Rücken rann. Der Oberlechner war nicht gerade ein schwächlicher Mann, wenn er auch schon bei Jahren war. Als aber der Nägeli zu röhren anfing wie ein Hirsch, ihm die Augen aus dem Kopfe traten, seine Arme wie harte, dürre Äste herabhingen, und er ganz langsam, stieren Blicks, auf den Oberlechner zuging, da packte den das kalte Grauen. In langen Sätzen sprang er mitten auf die Alm und – sank ein. Er schrie auf, riß an seinen Beinen und – sank tiefer. Jetzt bis an die Knie, dann bis an die Hüften, den angstvollen Blick auf den Nägeli gerichtet. Der aber folgte ihm nicht, sondern stand drüben und hatte die Hände in die Hosentaschen gebohrt.
Da schrie der Oberlechner, der Nägeli möge ihm um Jesu Christi willen heraushelfen, er werde alles unterschreiben, was der Nägeli nur wolle. Der aber antwortete nicht, wandte sich und stieg in das Holz hinab.
Gesucht hat niemand nach dem Verunglückten. Der Toni, dem es zugekommen wäre, sagte zur Hauserin, die ihn fragte, ob er nicht suchen gehn wolle, der Vater sei kein kleines Kind. Am Ende bleibe er auf der Samalm. Die Rosel, die droben sei, sei nicht uneben. Bei sich dachte zwar der Toni anders, aber wenn er nun der Herr auf dem Hofe wurde, früher wurde, als wenn alles gradlinig ging, so war das auch nicht uneben, und verantwortlich war er nicht für den Vater.
Am Tage darauf wollte der Brandl mit einem Fremden an der Dreiecksalm vorüber auf den Bischkopf gehn. Da fand er den Oberlechner. Tot. Und die Erde rund herum war förmlich aufgegraben.
Niemand stellte eine Verbindung zwischen des Altbürgermeisters Tod und dem Nägeli her, und als der Nägeli nicht mit zur Leiche ging, verstand man das, wenn man es auch nicht grade guthieß. Am Abend des Begräbnistages trat der Sepp in des Nägeli Stube, fand ihn starr am Tische sitzen, setzte sich ihm gegenüber und schickte Frau und Kinder hinaus, weil er mit dem Vater allein reden wolle. »Nägeli,« sagte der Sepp.
Da hob der Nägeli den Kopf und sah den Sepp stumm und fremd an.
»Ich weiß,« sagte der Sepp.
»Nichts weißt,« fuhr der Nägeli auf.
Der Sepp achtete nicht darauf. »Ist besser, als wenn du ihn hättest totschlagen müssen.«
»Aber ich werde den Schrei nicht los,« brach es aus dem Nägeli herauf.
»Der Oberlechner wär deinen los geworden. – Nägeli, steh! Brauchst jetzt keine Todsünde zu beichten.«
»Und ist doch eine Todsünde gewesen!«
»Nicht wahr ist's. Wärst nur mit eingesunken.«
»Wären wir halt miteinander verreckt. Müßt ein schönes Bild gewesen sein, einer hüben, einer drüben. – Was willst, Sepp?«
»Dir helfen.«
»Kommst zu spät. Vor ein paar Wochen, wie ich bei dir war, wär's Zeit gewesen.«
»Da hast noch nicht dran gedacht, den Oberlechner zu erschlagen?«
»Da? Nein, aber – –«
»Gut. Nehm ich halt die Halbscheid auf mich. Ich trag's und werd keine unruhige Stunde davon haben, bald ich bloß an die Maria Walpurga denk, von anderem gar nicht zu reden.«
»Du die Halbscheid? Ist nicht nötig. Trag's allein. – Also nun red. Was willst bei mir?«
»Dir helfen. Wieviel brauchst du?«
»Wie?« Der Nägeli riß die Augen weit auf. »Wie – viel – ich brauch? Sepp, weißt du, daß ich dich abtun sollte?«
»So? Nachher hätt'st ja jetzt Gelegenheit dazu.«
»Sepp! Mein Gott, was redst denn daher? Geh. Ist besser, ich bleib noch eine Weile allein. Der – Schrei!«
»Bist feige, Nägeli? Den Schrei singen deine Buben hinweg, wenn du bleiben kannst.«
»Ich – kann nicht bleiben.«
»Du mußt bleiben, und du wirst bleiben! Wieviel brauchst also?«
Der Nägeli wollte antworten, aber fiel wie ein Sack vom Stuhle. Er hatte seit drei Tagen kaum einen Bissen angerührt.
Eine Stunde später erwachte er im Bett, aß auf des Sepps Befehl eine Suppe, und der Sepp saß neben ihm. Sie begannen dann kurz die Sache zu bereden, kamen aber nicht zum Ende, weil der Nägeli anfing, wie ein Kind zu weinen.
Da fragte der Sepp hart: »Heulst jetzt um den Oberlechner?«
»Nein,« sagte der Nägeli, »weil ich bleiben darf.«
»Alsdann ist's gut,« sagte der Sepp. »Dann komm morgen zu mir. – B'hüt, Nägeli!«
Andern Tages kam einer zum Nägeli, den der am wenigsten erwarten konnte, der Toni. Solange der Vater lebte, war der Toni mit dessen Vorgehn gegen seinen Schuldner einverstanden gewesen. Nun der tot war, hatte die Sache ein ander Gesicht. Der Toni brauchte einen guten Leumund und brauchte einen Handlanger. Also kam er zum Nägeli, ihm zu sagen, daß, nachdem er der Herr sei, er den Versteigerungsantrag zurückziehn wolle. Er hatte aber von allem Anfang an ein so falsches Licht im Auge, daß ihn der Nägeli gar nicht ausreden ließ.
»Spar dir's,« sagte er. »Ich hab euch kennengelernt. Einmal habt ihr mich in den Händen gehabt, ein zweites Mal nicht. Kriegst dein Geld und aus ist's zwischen uns.« Der Toni begann zu stottern, aber der Nägeli trat vor ihn hin. »Stad! Könnt sonst leicht ein zweites Unglück geben. Etwas muß ich dir noch sagen, eh du gehst. Hab euch viel zu verdanken und ist mein Ernst, wenn ich das sage. Den Nägeli hab ich euch zu danken. Den, wie er heut ist. Fertig. Hab nichts mehr mit dir zu tun.«
Über den Nägeli weg konnte sich also der Toni weder einen guten Leumund machen, noch fand er einen Handlanger und Pudelhund in ihm. Den fand er später im Lieserer. Aber war der Nägeli schon nicht grade eine Ehre gewesen, so war es der armselige Lieserer noch viel weniger. – –
Sechs Jahre war der Loisl fort, die ganze Zeit über in Ripp, ohne ein einzig Mal heim zu kommen. Der Wirtsvater hatte des Loisl kleines Haus an den Bastian und seine Frau, die Burgel, vermietet, es wurden derweile zwei tüchtige Buben drin geboren, und als der Loisl heimkam, war es ihm recht, daß er in der Burgel gleich auch für sich eine ordentliche Hauserin hatte.
Antonius Mayer, der Holzschnitzer in Ripp, war schon ein alter Mann, als der Loisl zu ihm kam. Er hatte einen langen weißen Petrusbart und den Kopf voller schneeweißer, langer, leicht gelockter Haare. Er war ein frommer Mann voll gütiger Weisheit, deren gute Hälfte ihm nicht angelernt worden war, sondern die ihn das Leben gelehrt hatte. Daher kam es, daß ihm leicht der Schalk in die Augenwinkel huschte, und daher auch brachte er es fertig, viel mehr mit einem halb gesungenen: »Ei schau,« zu erreichen, als mit einem: »Sakra, du Höllenhund!«
Der Loisl hatte die beste Einführung, die ihm werden konnte. Dr. Wenzel hatte so viel und so über den Buben geschrieben, daß der Alte von vornherein mehr in ihm sah als einen Lehrling. Man könnte schon sagen, er sah in ihm einen Enkel.
Das änderte aber nichts daran, daß der Antonius Mayer halt auch nicht mehr aus dem Loisl herausholen konnte, als in ihm lag. Der Bub hatte nicht das Zeug zu einem Künstler. Der Unterschied zwischen Künstler und Handwerker liegt, so groß er ist, doch nur auf der Messerschneide. Es ist ein Unsagbares, das den Künstler macht, ist kinderleicht und zugleich so schwer, daß es niemand lernen kann, der es nicht schon in sich trägt. Der Loisl lernte es, seine Figuren recht und schlecht zu schnitzen, aber es war nicht eine einzige darunter, vor der dem alten Antonius Mayer die Augen aufgeleuchtet hätten. Der Bub gab sich redliche Mühe, und sein Meister strich ihm oft über den Scheitel: »Schau, das ist eine rechtschaffene Arbeit.« Rechtschaffene Arbeiten lieferte der Loisl wohl, aber keine künstlerischen. Weil nun dem guten Antonius darüber das Herz fast brach, tat er etwas, das er bislang immer von sich gewiesen hatte, so oft er auch darum angegangen worden war. Er nahm die Holzbildhauerei in seinen Betrieb auf, worunter er die Schnitzereien verstand, die an den Möbelstücken angebracht wurden. An die setzte er den Loisl, und siehe, das ging. Der Meister lachte. »Warum sollst du schnitzeln, Loisl, wenn's mit Hauen und Stechen besser geht. Das ist das Richtige für dich, und damit kannst du dich einmal besser nähren als ich mit meinen Figuren, die niemand kaufen will. Hau und stich für die Werktage, deren die Woche sechs hat, und schnitzel für den Sonntag, von dem sie nur einen hat.«
Das war eine der kleinen Weisheiten des alten Meisters, aber er half damit dem Loisl aus großer Not; denn den richtigen Blick, der ihm seine Unzulänglichkeit fühlbar machte, hatte er wohl, aber die Hand blieb hinter dem Auge zurück.
Sechs Jahre blieb der Loisl in Ripp, ohne ein einziges Mal nach St. Thomas zu gehn. Er hätte es gekonnt, es stand gar nichts im Wege, aber der Loisl sagte: »Meister, Ihr wißt, wie schwer es mir das erste Mal war, von St. Thomas fortzugehn. Ich weiß, daß es mir ein zweites Mal noch schwerer, vielleicht unmöglich wäre. Darum halte ich meine Zeit aus, sogar darüber, um mir etwas zu ersparen; denn ich will daheim eine Werkstatt aufmachen. Wenn ich so weit bin, gehe ich nach St. Thomas und – gehe nicht wieder fort. Es reizt mich nichts von dem, was Ihr von draußen erzählt, nicht die großen Flüsse, nicht die großen Städte. Ich will nur St. Thomas.«
»Ist doch aber nichts los da droben in eurer Armetei.«
»Nein, los ist nichts, aber – die Berge und die Almen und die Wasser und – –«
»Die Dirnlein.« Dem Meister saß der Schalk in den Augen.
»Die Dirnlein?« sagte der Loisl gedehnt. »Da – kann ich noch nichts sagen.«
»Reden wir also später darüber einmal,« entschied Meister Antonius lachend, »und da wär, mein ich, ein Brief von deiner Wirtsmutter.«
Der Sepp Huber schrieb jedes Jahr einmal, die Wirtsmutter jeden Monat und die Zenzi, wenn es halt grade so paßte. Der Loisl schrieb wieder und schickte jede Weihnachten ein Paket voller Schnitzereien. Der Sepp schmunzelte von Mal zu Mal stärker, die Wirtsmutter hatte feuchte Augen, und die Zenzi strickte dem Loisl dafür Strümpfe.
Es war eigentlich ein einziger Fall gewesen, an dem sich des Loisls Weg endgültig entschieden hatte. Er hatte eine Madonna geschnitzt, vielleicht ein halb Meter hoch. Sie hätte gewiß manchem gefallen. Den Loisl befriedigte sie nicht. Er raspelte und glättete, vertiefte und ebnete und – hätte um ein Haar das Ganze verdorben. Da trat der Meister heran, nahm ihm wortlos die Werkzeuge aus der Hand, arbeitete nicht viel länger als eine Stunde und – da war die Holzfigur das, was der Loisl hatte aus ihr machen wollen, ein Kunstwerk. Sie sagten beide kein Wort. Der Meister lächelte nur gütig und ging davon. Das war die Stunde, in der sich des Loisl fernerer Weg entschied. Er konnte die Bildschnitzerei so weit, daß er Leute befriedigte, die sich am Durchschnitt genügen ließen, aber nicht so weit, daß sie ihn befriedigte, und so wurde der halbe Bildschnitzer ein ganzer Möbelschnitzer.
Im Wirtshaus zu St. Thomas aber stand seit letzten Weihnachten ein großes, aus drei Teilen zusammengesetztes Schnitzwerk, an dem der Alois Schirmer zwei volle Jahre gearbeitet hatte. Weil es ihm halt Freude mache, hatte er dem Meister gesagt. Um sich in sich selber zu erlösen, gestand sich der Loisl. Den Dämon wollte er loswerden und ward ihn doch nicht los.
Der Wirtsvater schrieb jedesmal, wenn die Törle-Lawine niedergegangen war, und das war die Kunde, die der Loisl von Jahr zu Jahr wie im Fieber erwartete. Immer wußte der Wirtsvater zu berichten, es sei gut gegangen, doch jedesmal hing ein Aber daran. Der Loisl quittierte in sich die gute Nachricht ohne Dank, das Aber anfangs mit Bangen, dann aber mit Zorn und Zähneknirschen. Die verfluchte Lawine! Er vergaß sie, wenn die Blumen blühten, vergaß sie, wenn der Schnee fiel und der Sturm heulte, aber unvermittelt schlug ihm mitten in der Freude und mitten in der Arbeit der Dämon die Krallen ins Genick, hörte er ihn kichern: St. Thomas stirbt an der Lawine! Der Dämon aber war weder mit einem Faustschlag zu treffen, noch mit Beten und Barmen zu bannen. Da schnitzte der Loisl sein Bildwerk, ein Relief des Hochtals von St. Thomas mit allen Bergen, Schluchten, Rinnen und allen Häusern der Gemeinde. Als er die Kugler-Nase schnitzte, riß ihm der Zorn förmlich das Messer aus der Hand.
Er saß dann mit Meister Antonius davor und redete sich in eine starke Erregung hinein. »Schaut, daher kommt sie, da rennt sie an und da – Meister, jetzt sagt mir um aller Heiligen willen, was man tun soll.«
Der gütige Meister strich den Petrusbart. »Tun, Loisl? Stillhalten.«
Da fluchte der Loisl. Der alte Mayer schüttelte den Kopf. »Bub, damit ist nichts getan. Es stirbt ein Mensch dem besten Doktor unter den Händen, wenn es halt sein soll, und es stirbt eine ganze Gemeinde an den Bergen, wenn – es sein soll.«
»Es soll aber nicht sein, und es darf nicht sein!«
»Loisl, willst etwa das Törle abhacken?«
»N – ein. – St. Thomas, mein armes St. Thomas!«
Der Meister hatte tiefes Mitleid mit dem Loisl. Er riet, nicht wieder nach St. Thomas zu gehn, um zu vergessen. Der Bub lehnte es brüsk ab. Sein Schicksal und das der Heimat sind nicht voneinander zu trennen. Schweigend sitzen die beiden vor dem Bildwerk, grübeln am Törle herum und grübeln, wie der Sepp, wie der Minister, wie die Kommission, an der einzigen Möglichkeit, die es gibt, St. Thomas zu retten, vorbei. Still geht Meister Anton davon, seufzend schiebt der Loisl das Bildwerk beiseite. –
Es war ein klarer Herbsttag, als er heimkehrte. Der Wirtsvater drückte ihm die Hand und nickte ihm zu, die Wirtsmutter fiel ihm um den Hals, und die Zenzi plapperte auf ihn los. Sie war nun ein vierzehnjähriges Mädel. Der Loisl war ein stattlicher Bursche geworden. So groß wie der Wirtsvater, aber schmaler, war ein bißchen blaß und hatte weichere Hände. In seinem Hause war alles gerichtet, und so konnte er, wenn er wollte, wieder da anschließen, wo er einmal aufgehört hatte, im Hause und auf den Bergen.
Der Sepp nahm ihn mit auf die Gemsjagd und sah schon am ersten Tage, wie er dran war. Das Licht in des Loisls Augen sagte es ihm, er hörte es aus den tiefen, wohligen Atemzügen und las es von den halb offenen Lippen. Der Loisl war daheim und ging nicht wieder fort.
Schon in der ersten Woche mietete er vom Moosbacher das kleine Nebenhaus, das leer stand, und als draußen die Flocken flogen, flogen in des Loisl Werkstatt die Späne.
Der ihn zuerst besuchte, war der Hieronymus Fabian, und dem gefiel es so gut, daß er den halben Winter beim Loisl verbrachte. Die anderen, die er benötigte, holte er sich selber. Den Rupert Krieg, den Anderl Scheuer, den Anselm Lederer. Damit war es vorerst genug. Es gab Arbeit, es gab Geld, es gab Freude.
In Ripp war der Loisl zwar nicht wieder ein Träumer, aber ein stiller Mensch gewesen. Jetzt ging es ihm, wie es den Zugvögeln geht. Sie sollen da, wo sie den Winter verbringen, kaum den Schnabel auftun. Da aber, wo sie nisten, wo sie ihre Jungen großziehn, wo sie daheim sind, tun sie ihn kaum zu. So der Loisl. Er schnackelte und plattelte, er rangelte und machte Schnadahüpfl, so daß er schon kurz nach der bunten, lustigen Fastnacht so etwas wie der erste Bursch in St. Thomas war, obwohl ihm einige im Alter vorangingen.
Die Wirtseltern wußten eine Zeitlang nicht recht, was das werden wollte. Der Sepp kam am ersten zurecht, aber die Anna meinte, es sei unvereinbar miteinander, heilige Bilder zu schnitzen und umherzuspringen und zu hüpfen wie ein Auerhahn zur Balzzeit. Am Ende sei der Loisl doch nicht mehr, der er einmal gewesen. Der Sepp zuckte die Achseln. »Was wär denn, wenn er ewig ein Bub blieb? Wär dir das vielleicht recht? Mir nicht. Das sag ich. Heilige Bilder schnitzt er nicht mehr. Aber wenn er es auch täte, meinst leicht, die Gottesmutter habe nicht auch gelacht, und der Herr Christus habe als Bub nicht auch seine Streiche gemacht? Keine schlechten natürlich, aber die macht ja der Loisl auch nicht. Ich mein, Anna, ein Mensch kann zu einer Zeit gar nicht genug lachen und springen. Die andere Zeit kommt eh früh genug und ist lang genug und wäre überhaupt nicht zu ertragen, wenn man nicht auch in der noch manchmal ein bissel was vom Buben oder Dirnlein an sich hätte. Wir sehn heute bloß die Halbscheid von dem, was der Loisl ist, und die, das muß ich sagen, hab ich zwar nicht so erwartet, wie sie ist, aber sie gefällt mir, nun ich mein, richtig zugeschaut zu haben, nicht schlecht. Die zweite Halbscheid wird uns der Sommer zeigen, und es ist leicht möglich, daß die eine ganz andere ist als die vom Winter. Der Bub ist fleißig vom Morgen bis auf den Abend, die andern drei sind es mit ihm, der Rupert Krieg soll schon ein gut Stück über den Anfang hinaus sein, der Loisl meint, es könne sein, daß dem einmal möglich wäre, was er selber nicht fertigbringe. Übers Jahr wolle er einmal dem alten Antonius ein Stück schicken, das der Rupert gemacht. Aufträge hat der Bub mehr, als er brauchen kann. Dafür sorgt sein Meister. Es sind heut schon drei, die an der Sache Geschmack finden, und es kann gut sein, daß der Dr. Wenzel in allem, was er sagte, recht hat, aber eins, das muß ich sagen, gefällt mir nicht. Der Loisl sagt, im Sommer werde ihm jeder Tag, außer wenn es regnet, für die Werkstatt zu schade sein. Da ginge er auf die Berge. Das gefällt mir nicht; denn was soll denn werden, wenn die Leute nicht kriegen, was sie bestellen? Und wer eine Aufgabe übernommen hat, muß auch zu ihr stehn. Was anderes leidet's nicht. Aber da ist der Ronymus schuld, der alleweil mit dem Loisl zusammenhockt.«
»Meinst das wirklich?« fragte die Anna leise.
Der Sepp lupfte ein wenig die Achseln. »Kann sein, daß ich dem Ronymus unrecht tu. Ich weiß es nicht. Ich weiß bloß, daß der Loisl in der Sache wie ein Bock ist. Hat gar keinen Sinn, weiter mit ihm darüber zu reden. – Horch, da ist sie? Gott sei uns gnädig!« –
Es war am fünften März, grade in der Stunde, in der der Sepp mit seiner Frau über den Loisl redete, als die zweite Törle-Lawine niederging. Und es war eine schwere Lawine. Dumpfer Donner kam daher gewallt, als sich die Lawine vom Törle-Dach löste, ward zum Gebrüll, als sie an die Kugler-Nase anpralle, und steigerte sich zum Getöse aus der Unterwelt herauf, als sie über das Buckelkar und weit über das Schneefeld der ersten Lawine hinausprallte. Heulend fuhr ein Sturmstoß über St. Thomas hinweg. Die Glocken läuteten von selber, ein paar Bäume bogen sich tief und schnellten wieder auf, dem Siebenlehner warf es einen Schuppen zusammen, und der Toni Oberlechner, der grade über den Hof gehn wollte, flog gegen die Hausmauer, daß ihm der Kopf brummte.
Der Loisl warf das Werkzeug fort, stürmte, wie er war, aus der Werkstatt hinaus und rannte förmlich mit dem Wirtsvater, der das gleiche Ziel wie der Loisl hatte, zusammen.
»Wirtsvater,« schrie der Loisl, »um aller Heiligen willen!«
»Stad! Das Geschrei um die Heiligen schafft's nicht. – Komm! Müssen schaun, wie es im Schlegeli und beim Brunner aussieht. – Die Lawine rückt näher. Ist nicht aufzuhalten, sagen die Herren, die da waren. Unsere arme Gemeind! Brauchte einen Erlöser. Wenn ich wüßt, wo er wär, die Sohlen lief ich mir entzwei nach ihm.« Der Sepp schirmte die Augen mit der Hand. »Steht alles noch. So viel seh ich. Schau nach deinem Häusel. Ich spring zum Brunner.«
Es stand das ganze Schlegeli noch, es stand auch der Brunnerhof, aber die Häuser waren in ihren Grundfesten erschüttert worden. Die Burgel, die zum dritten Male im Wochenbett lag, diesmal war es ein Dirnlein, hatte es fast aus dem Bett geworfen, die Kinder hatten geschrien, das Geschirr war herabgeschleudert worden und zum Teil zerschlagen, aber das Haus hatte standgehalten. Der Zwecker suchte sein Schindelholz, das der Lawinensturm verstreut, fluchend zusammen und schwur, er werde es den Herren aus der Stadt, die da gewesen seien, die Sache zu untersuchen, anstreichen, bald er nur einen von ihnen treffe.
Der Brunner kam grade aus dem Stalle, als der Sepp durch seine Haustür trat.
»Ist alles noch beieinander,« sagte er halb lachend, halb grollend. »War die schwerste, deren ich gedenk. Schau, das hat's mir angetan.«
Der Brunner wies auf einen Riß in der rückwärtigen Hauswand.
»Brunner,« sagte der Sepp mit bebenden Lippen, »kannst – nicht – bleiben.«
»Was kann ich nicht?« trotzte der Brunner. »Bleiben? Ich bleib! Braucht in zwanzig Jahren keine von der Art wiederzukommen.«
»Kann aber auch im andern Jahr schon wieder eine da sein.«
»Und? Was willst damit sagen, Sepp?«
»Um–sie–deln.«
»Umsiedeln? Heißt das fortgehn?«
»Ja, Brunner. Ganz St. Thomas.«
Der Brunner lachte grell. »Du leicht auch?«
»Ich – auch.«
»Sepp,« der Brunner rüttelte ihn am Arm. »Sepp! Hast denn etwa schon in der Frühe getrunken? Ist doch sonst nicht deine Art. Sepp! Vom Törle fortgehn und vom Bischkopf und von St. Thomas? Eh laß ich mich von der Lawine begraben. Das da,« er wies auf den Riß in der Mauer, »flick ich wieder, und mehr Steine kommen aufs Dach.« Von St. Thomas klangen die Glocken. »Hörst, der Hochwürdige läßt läuten. Ich geh mit. Der Herrgott hat's gut gemeint mit uns. War ein Mordstrum, die Lawine.«
Ganz St. Thomas war nach dem Schlegeli gewallt, ganz St. Thomas wallte zurück in die Kirche. Sie gingen alle, wie sie waren, auch der Sepp. Der aber war nur mit halbem Herzen bei dem Dankgottesdienst, den der Pfarrer Hornberger hielt. Ist schön und ist recht, dachte er, aber das macht's doch nicht. Man müßte etwas tun. Zum Danken wär nachher immer noch Ursach genug, aber es geschah nicht in Angst, und man würde nicht alleweil im stillen ein Wunder vom Herrgott fordern. Es war ihm, als rühre ihn jemand an der Schulter, und obwohl er wußte, daß er sich irrte, mußte er sich doch umwenden. Da stand der Loisl hinter ihm, hatte den Kopf zurückgeworfen, sah zur Decke, und seine Augen schienen drohend und zugleich suchend durch das Mauerwerk hinauf zu den Bergen zu dringen. –
Der Loisl machte genau das wahr, was er dem Wirtsvater im Winter gesagt. Antonius Mayer in Ripp, durch dessen Hände die Bestellungen gingen, hielt zurück, was zurückzuhalten war, ließ, was keinen Aufschub duldete, in seiner eigenen Werkstatt erledigen und verschonte den Loisl bis auf ein paar Arbeiten, die dessen Helfer nach kurzen Anweisungen allein machen konnten, mit Aufträgen. Der Loisl war mit dem Fabian in den Bergen. War einer ein Meister im Erklimmen der unersteigbar scheinenden Wände, dann war es der Ronymus, und wenn einer ein Mensch und Lehrbub nach des Fabian Herzen war, dann war es der Loisl. So hatte der sich sein Leben gedacht. Kühn und doch besonnen, Herr der Berge und doch ihr Kind, frei, aber in sich gebunden, demütig vor dem Ewigen und doch das Haupt zurückgeworfen. Die Steinausbeute der beiden war nicht übel, wenn auch kein armstarker Topas darunter war. Sie teilten getreulich, aber an einem Stein lehnte der Fabian unweigerlich jeden Anteil ab. Der Loisl hatte im Hornbachtal einen Smaragdkristall gefunden, wie ihn der Hieronymus noch nie zwischen den Fingern gehabt. Der sagenhafte Zwölfkaräter, mit dem der Mitterer heute noch dann und wann prahlte, den aber niemand gesehn hatte, war Wirklichkeit geworden. Er stellte sich später, als er geschliffen ward, nicht als so hochwertig heraus, wie ihn der Fabian heute schätzte, aber er war immerhin ein schönes Stück. »Hm« der Fabian sah darauf nieder und dann dem Loisl in die Augen, »weißt, den verkaufst nicht. Behältst ihn, und wenn du einmal jemand gernhast, so, wie ein Mensch bloß einmal gernhaben kann, dann schenkst ihm den.«
Der Loisl lachte. »Dann muß ich ihn am Ende immer behalten.«
»Ist's halt auch gut,« sagte der Ronymus. »Da hinüber gehn wir jetzt.« –
Sie erstiegen im Sommer auch die Bischkopfwände, die zwei, und zwar von der Dreiecksalm aus. Es kam nichts dabei heraus. Sie fanden keinen Stein, der das Mitnehmen gelohnt hätte, obwohl des Fabian Augen immer unterwegs waren. Er war mit der Kletterei nicht einverstanden gewesen. Weil aber der Loisl erklärt hatte, dann ginge er allein, denn den Bischkopf müsse er bezwingen, er leide es nicht anders, schloß sich der Hieronymus an. Es war ein saures Stück Arbeit, und als sie auf des Bischkopfs Scheitel standen, sagte der Fabian: »G'langts nun?«
»Ja,« entgegnete der Loisl. »Jetzt weiß ich, daß ich's gekonnt hab, aber wenn's nicht nötig ist, mach ich's ein zweites Mal nicht wieder. Man hätt' müssen den Steinschlag noch besser beobachten.«
»Da ist nichts zu beobachten,« erklärte der Ronymus. »Man weiß: Der Berg hat viel Steinschlag, der wenig. Die Wand ist extra gefährlich, die nicht ganz so sehr, aber sagen, da kommt einer, oder: Dort kommt keiner, das ist gefehlt. Kennen mußt den Berg, soweit man überhaupt einen Berg kennenlernen kann, gewachsen mußt dem sein, was du anfängst, aufpassen mußt und – Glück mußt halt immer noch haben. Nachher geht's.«
Im Spätsommer führte der Loisl etliche Male, weil die drei anderen Führer besetzt waren, und im Herbste trieb er sich, ein Suchender, im Buckelkar und unter der Scharte herum. Er studierte den Gang der Lawine, sah aber auch heute so wenig einen Ausweg wie immer.
Im Herbste löschte die gute Wirtsmutter aus. Am Herzen fehle es halt, sagte der Arzt, aber tun konnte er nichts mehr. Sie ging langsam und still und ergeben aus der Welt und konnte sich mit dem Bewußtsein auf den Weg ohne Rückkehr machen, daß sie nichts, was zu ordnen in ihrer Macht gestanden, ungeordnet zurückließ. Auf dem Sterbebett hatte sie dem Sepp noch einmal das Versprechen abgenommen, die Zenzi niemals zu einer Heirat gegen ihren Willen zu zwingen, und war dann, den Blick auf des Loisl Madonna gerichtet, eingeschlafen.
Nun war die Lücke im Leben des Sepp da, die sich dem älteren Menschen niemals wieder ganz schließt, und sie war da im Leben der Zenzi und ward überbrückt, wie es eines gütigen Schicksals Wille war. Der Loisl kam den ganzen Winter hindurch allabendlich, verzehrte nichts, setzte sich neben die Zenzi, auch der Sepp saß oft dabei, und es ward kein Wort geredet, das einen heimlichen Unterton gehabt, und kein Blick gewechselt, der hätte zu denken geben können.
Wen sah die Zenzi im Loisl? Sie machte sich überhaupt keine Gedanken. Er war halt der Loisl, der mit ihr groß geworden war, nicht Bruder, nicht Freund, der Loisl halt. Der sah zwar schon eher in der Zenzi die jüngere Schwester, aber mit keinem Gedanken eine künftige Gefährtin seiner Tage. Eines tat er, und das tat er ohne alle Hintergedanken, einzig um der Zenzi in ihrem Herzeleid eine Freude zu machen. Er schenkte ihr den großen Smaragdkristall und erreichte damit, was er erreichen wollte. Die Zenzi sah in dem Stein die Absicht, einen Wert nicht, und die Absicht rührte sie und trug dem Loisl einen dankbaren Blick ein. Dann legte die Zenzi den Stein in ihre Lade, aber – sie nahm ihn öfter zur Hand, als sie es eigentlich selber wollte. Und das, obwohl sie nicht etwa auch nur eine Ahnung von seinem Werte hatte oder die Kristallform bewunderte oder auch sich über die Brechung des Lichtes freute. Nichts von alledem. Aber er war halt vom Loisl, fiel ihr jedesmal in die Hand, wenn sie in ihrer Lade kramte, und das geschah, rein zufällig, öfter als früher.
Der Sepp Huber hielt dem Leben stand wie immer, verlernte weder das Lachen, noch das Sorgen, vernachlässigte weder seine Arbeit, noch seine Erholung, die Jagd. Nur eines: Er war gern allein, und wenn er dann draußen allein war, die Berge schwiegen, die Winde leise sangen und die Wasser raunten, dann – war er nicht mehr allein. Nicht grade, daß sein Weib immer um ihn gewesen wäre. Das auch, aber darüber hinaus mehr. Schicksal. Dem sann er nach, den Warum, Wozu und Wohinaus, die der Menschen Geschlecht verfolgen, seit es auf der Erde wandelt. Das Schicksal hat es dem Sepp erspart, des Oberlechners Richter zu werden. Er hätte nicht so gerichtet, wie es der Nägeli tat. Dem im Morast steckenden Manne hätte er geholfen, auch wenn er sich dabei selber gefährdete, dafür aber den Gesunden an dem Tage, an dem es halt hätte sein müssen, erbarmungslos zur Strecke gebracht. Wer das Rechte erkennt und will, dabei saubere Hände und ein sauberes Gewissen behält, der muß auch, wenn kein anderer Weg bleibt, mitleidlos zusehn können, wie einer – im Morast versinkt. – Wie schön der Wald dies Jahr wieder einschläft, wie weiß und rein die Berghäupter wieder leuchten!
Das Herz krampft sich dem Sepp zusammen. Das aufgeben müssen? St. Thomas, du liebe, große, schlichte, von Glück und Not durchflutete Einsamkeit, wo ist dein Erlöser? Es ist bitter für einen Mann, der bereit ist, zu kämpfen, der es sich zutraut, seine Kraft zu verdoppeln, sobald er nur einen Punkt sieht, an dem er sie ansetzen kann, mit gebundenen Händen dastehn zu müssen. Auch der Sepp sieht nichts weiter als die Naturgewalt, die nicht zu bändigen, das unselige Verhängnis, das nicht abzuwenden ist. In St. Thomas beginnt das grausame Wort: Umsiedeln, umzugehn. Der Brunner hat dem Moosbacher, der seit einem halben Jahre der Bürgermeister ist, davon gesprochen, der dem Siebenlehner, der einem anderen, und so rollt das Wort jetzt zu jeder Haustür hinein und wird aus jeder mit einem Fußtritt hinausgeschleudert. Umsiedeln? St. Thomas soll sich selber umbringen? Sakra! Und: Heiliges Kreuz! Und: Der Teifi hol's Wort! – Gut. Aber wer weiß denn etwas anderes? Sie brauchen nichts anderes, sie denken überhaupt nicht nach, klagen nicht an, verlangen kein Wunder vom Herrgott, sie – bleiben.
Der Sepp ist der einzige, der den Mut hat, dem unbarmherzigen Worte ins Gesicht zu sehn und es als das zu nehmen, was es ist, einen Urteilsspruch, gegen den es keine Auflehnung gibt. Ähnlich nimmt es der Loisl, aber der ist jung, und so bejaht er trotzdem das Wunder, das eintreten kann, und das der Sepp zwar auch nicht restlos zu verneinen wagt, auf das zu hoffen er aber ablehnt. Es kann sein, daß die Lawine, von unten aus gesehn zur Linken, auf Fels stößt, und dann wieder nach rechts ausbiegen muß, kann, wird aber nicht sein.
Und dann: Umsiedeln!
Weil der Sepp das alles klar, ohne sich zu belügen, sieht, darum kostet er die Tage doppelt aus. Er, der Brunner, der Moosbacher, der Siebenlehner haben sich zusammengetan, den Schreck gemietet, Kastanien gekauft und angefahren, Heu aufgebracht, und hinter des Brunners letztem Stadel gegen den Kugler hin eine Wildfütterung eingerichtet. Die Hirsche haben das Futter angenommen, und so kommen sie jetzt jeden Nachmittag wie eine Herde Kühe zum Melken und pünktlich wie ein Eisenbahnzug aus den Wäldern herab. Genau siebzig Stück sind es, Hirsche, Kühe, Kälber, und ein Sechzehnender ist darunter. Es ist ein herrliches Bild, die Tiere kommen und gehn, sich forkeln und sich vertragen zu sehn. Nicht nur das Herz des Jägers, das Herz jedes Menschen, sofern er überhaupt eines in der Brust hat, muß dabei höher schlagen. Oft und oft steht der Sepp neben dem Schreck, wenn der Futter gestreut und sich dann an den Stadel zurückgezogen hat, oft und oft beobachtet er auch die Tiere von weitem durch das Glas, freut sich, setzt das Glas still ab: Wie lange noch?
Indes geht der Winter wieder über die Erde, der zweite, seit der Loisl wieder daheim ist. Der arbeitet genau so wie im vergangenen, es hat sich ein vierter, der Karl Sixt, hinzugefunden, die Sägen knirschen, die Späne fliegen, der Leim siedet, aber – es geht sehr selten laut und lebhaft her. Der Loisl ist still geworden. Zweierlei macht ihn still. Das eine ist das drohende Schicksal der Gemeinde. Man muß einen Ausweg finden! Das andere ist – die Zenzi. Heiliger Gott, sie ist nicht seine Schwester, wie er einmal getan hat. Sie ist ein Dirnlein, das immer schöner aufblüht, nach dem die Burschen zu schaun beginnen, das – einmal einen heiraten wird, einen, aber nicht ihn, den armen, verwaisten Alois Schirmer, dessen Vater nichts weiter als ein Holzknecht war. So wird es kommen, und dann – hat das Leben kein Licht mehr für den Loisl, und dann ist es schon am besten – – Die Bischkopfwände sind grade das Richtige.
Der Toni Oberlechner hat eine aus Rauth geheiratet. Sie ist arm, aber sie ist gut und hätte vielleicht den Toni gewandelt, aber nach einem Jahre stirbt sie und nimmt ihr eben geborenes Kind wieder mit.
Der Winter vergeht, die Törle-Lawine ist klein, vom Umsiedeln spricht niemand mehr. Dem Winter folgt ein Sommer, in dem der Loisl zwar wieder oft, aber nicht ganz so oft wie im vergangenen, auf den Bergen ist, dem folgen zwei Winter und zwei Sommer, in denen nichts geschieht, außer daß in St. Thomas acht Leute schnitzen, darunter zwei, die das Zeug zu tüchtigen Bildschnitzern haben. Der Loisl ist inzwischen vierundzwanzig gewesen, die Zenzi achtzehn. Sie ist in diesem Sommer mit der alten Brenner-Lies auf der Stockalm, die dem Vater gehört, weil der das halt für richtig hält. Das Warum gesteht er nur sich selber ein. –
Fünf Jahre hat Dr. von Wenzel ausbleiben wollen. Zehn sind es geworden. Er ward, wie der Sepp aus der Zeitung gelesen hat, inzwischen Minister und hat nun wohl noch mehr Arbeit als früher.
Jetzt ist er wieder da, grau geworden und abgearbeitet, aber sonst wie früher auch, frisch, zäh und freundlich.
Über den Loisl weiß er Bescheid. Das hat ihm der Antonius Mayer ehrlich und eingehend geschrieben. Was an dem Bericht fehlte, sieht er selber, und das Letzte sagt ihm der Wirt. Der zeigt ihm die Madonna, die der Loisl der Wirtsmutter geschenkt hat. Der Minister macht große Augen. »Hat er das allein fertiggebracht?«
»Nein,« erklärt der Sepp, »aber die Hauptsach.«
Der Doktor lächelt. »Die Hauptsache eben nicht. Wenn der Antonius Mayer überhaupt etwas daran getan hat, dann hat er die Hauptsache gemacht. Aber da kann man halt nichts tun, und es ist ja auch recht, wie es ist. Ich werde manchmal mit dem Loisl zusammen sein, und dann habe ich schon mein Urteil. Aber Ihr St. Thomas, Huber, das ist eine Sache für sich. Ich habe das Gutachten gelesen. Wenn ich auch in den Dingen durchaus kein Sachverständiger bin, scheint es mir doch eingehend, gründlich und richtig zu sein. Nun, noch steht St. Thomas, noch kann ein Wunder geschehn, aber wenn das Wunder ausbleibt, dann – – Ihr Wort gilt in der Gemeinde. Wenn es nötig sein sollte, dann reden Sie vernünftig mit den Leuten.«
»Herr Minister – –«
»Ich weiß schon. Es gibt nur ein St. Thomas, es ist Ihre Heimat, und was man sonst noch sagen mag. Alles richtig. Ich würde Ihnen auch gerne helfen; denn ich muß gestehn: Ich kenne zwar viel, aber auch ich kenne keinen zweiten Ort, der das, was man ihm darbringt, so reich lohnt. Ich würde gern alles für St. Thomas aufbieten, stehe durchaus nicht auf dem Standpunkt, daß sich die Aufwendungen für das kleine Bergdorf nicht bezahlt machten, aber hier bin ich ohnmächtig. Eine Lawine kann ich nicht aufhalten. – Lassen wir es. Wir verderben uns die Augen mit dem Blick in die Zukunft. Halten wir uns an die Gegenwart. Ich will viel steigen, aber ich gehe allein. Keine Sorge, Huber. Über die Unbesonnenheiten bin ich hinaus, und – unter Menschen bin ich lange genug gewesen. Ich will allein sein.«
So wanderte denn der Minister, wie und wohin er wollte, kehrte gegen Abend zurück und erholte sich zusehends. Ab und an saß er auch einmal mit dem Loisl zusammen, ließ sich von ihm erzählen, nannte ihn einen Ganz-Schlauen, weil er sein Leben so eingerichtet, wie er es eben getan, erfuhr bei der Gelegenheit auch von dem großen Smaragd und bat den Sepp, ihn zu holen, weil er ihn gern einmal sehn möchte. Nach langem Suchen fand ihn der Sepp. Der Minister sah den Stein an, sah den Loisl an. »Den hast du verschenkt?«
»Warum nicht?«
»Freilich. Hast schon recht.« Es ging ein ganz kleines Lächeln um des Ministers Mund. Der Loisl sah es nicht, aber der Sepp sah es und – schmunzelte ein wenig.
»Huber,« der Minister sah dem Sepp in die Augen, »ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Ich nehme den Stein mit. Was ich damit tu, ist meine Sache, aber an dem Tage, an dem die Zenzi –, wir verstehn uns wohl? kriegt sie ihn wieder zurück. Einverstanden? Du auch, Loisl?«
»Ich mein halt, da hätt' bloß eins was zu sagen, die Zenzi.«
»Der ihr Einverständnis setzen wir voraus,« erklärte der Minister lachend und steckte den Stein in die Tasche.
Drei Wochen war Dr. Wenzel in St. Thomas, da versuchte er, den Bischkopf von der Dreiecksalm aus zu ersteigen.
Der Loisl hatte der Zenzi auf der Stockalm zweimal ein: Grüß! gesagt, aber das hatte wirklich nichts auf sich. Die Brenner Lies war da, und außerdem war eines der beiden jungen Menschen so scheu wie das andere.
Als der Loisl zum dritten Male kam, war die Lies drunten in St. Thomas, und vielleicht wäre das Wort gefallen, das den Loisl gegen allen Verstand im Halse würgte; denn der Verstand riet klar und deutlich davon ab, wäre nicht ein Ungeheures dazwischengekommen. Der Loisl war mit dem Hieronymus Steine suchen gewesen, der gleich weiter ins Tal gewandert, der Bub aber auf ein: Grüß! zur Stockalm hinübergegangen, weil – sie halt gleich am Wege lag. Da aber benahm er sich so tolpatschig, als habe er in seinem Leben nicht bis drei zählen gelernt, und die Zenzi hatte so viel zu tun, daß sie kaum auf einen Augenblick neben dem Loisl niederhocken konnte. So nahm denn der vor lauter Verlegenheit sein Spektiv vor die Augen und schaute nach den Bischkopfwänden hinüber, als ob die ihn jetzt etwas angingen. Und sie gingen ihn, gegen alles Erwarten, an. Der Loisl setzte das Glas ab, putzte es rasch, nahm es wieder vor die Augen, schrie auf: »Da hängt einer!«
Die Zenzi kam gesprungen. »Wo?«
»Da, nimm das Spektiv, schau. Hast ihn?«
»Ja. Alle Heiligen!«
»Er läßt ein Tuch fliegen.«
»Ja.«
»Heiland! An der Wand! B'hüt, Zenzi. Ich muß schaun –«
»Loisl, ich bitt dich, nimm den Ronymus mit.«
»Das leidet's nicht. Derweil ich den hol, ist der drüben abgestürzt.«
»Aber das kannst doch nicht allein.«
»Leicht nicht. Die Wand! Zenzi, ich muß! Er ist ein Mensch.«
»Und leicht sind's nachher zwei, die fallen.« Die Zenzi hatte die Augen voller Wasser und umklammerte des Loisl Linke mit beiden Händen.
»Zenzi!« sagte der Loisl mit einem schweren Schnaufer, riß sich los, erraffte Rucksack und Bergstock, stand einen Augenblick: »Zenzerl! – Bet ein Vaterunser.«
In langen Sätzen sprang er davon, quer durch das Holz zur Dreiecksalm, – es war kein allzu weiter Weg, – an das Steinhaus. »Aushalten!« schrie er hinauf. »Ich komm!« Hastig prüfte er die Wände noch einmal mit dem Glase und ohne das Glas. Heiland und Teifi! Ausgerechnet an der Stell! Er sah wieder durch das Glas, hatte vor lauter Erregung den, der da droben auf schmaler Kanzel stand, bis jetzt nicht erkannt, erkannte ihn nun. Der Dr. Wenzel! Nun also erst recht. »Aushalten! Noch eine kurze Weil. Ich komm von droben!«
Von unten aus hätte der Loisl an die dreihundert Meter zu steigen gehabt, von oben hatte er nur reichlich hundert herabzuklettern, aber die Wand! Und der Steinschlag! Es muß sein, und es muß gehn! Entweder stürzen sie beide oder es stürzt keiner.
Keuchend stürmt der Loisl links vom kleinen Ruchen zum Bischkopf hinan, gegen alle Vernunft quer über den Gletscher, den er sonst nie allein überschreitet. Es ist zwei, als er droben steht. Gott sei Dank, daß er dem Hieronymus Seile, Strickleiter und Einschlageisen abgenommen hat. Ohne das alles wäre jetzt nichts anzufangen. Die Joppe wirft der Bub ab, steigt ins Gewände. Zenzerl, liebes! Er klettert rechts vom Doktor, damit, wenn er Steine auslöst, – und das ist nicht ganz zu vermeiden, – die den nicht treffen. Immer einmal hält er an und ruft hinab: »Aushalten! Gleich bin ich da!« Und dann, ganz der Höflichkeit vergessend: »Stehst noch? Ja? Ich komm.« Jetzt dreißig Schritte links. Er muß grade über dem Doktor sein, schlägt die Eisen ein, hängt die Strickleiter auf und wirft sie hinab.
»Langt's?«
»Nein, noch reichlich vier Meter.«
»Alsdann, gleich haben wir's.« Teifi, Teifi, das ist schon ein schweres Stück Arbeit! Bald du jetzt den Kopf verlierst, Loisl, nachher seid ihr alle beide verloren. Vier feste Punkte, drei mit Händen und Füßen, den vierten im Herzen. So. Der Loisl schlägt wieder ein, wirft die Leiter. »Langt's jetzt?« »Ja.« »Bleib, ich bring das Seil.« Der Loisl knotet es an einen der beiden Leiterhaken, steigt hinab. »Da bin ich, und jetzt bist stad. Nicht hinab und nicht hinauf schaun. Grad bloß her zu mir. Anseilen! Gleich unter den Armen. So. Ich halt. Den Fuß jetzt daher. Mußt kein Bangen haben. Ich bin doch da. Alsdann jetzt den andern Fuß. Stad. So, so. Steigen! Eine Hand am Seil, die andre an der Leiter. Reißt schon keins. Die Leiter nicht und das Seil erst recht nicht. So. Da bleibst stehn. Das geht. Da fest andrücken. Ich häng die Leiter ein, nachher komm ich wieder.« Als sie das zweite Mal die Leiter hinaufgestiegen sind, sagte der Loisl: »So. Jetzt wär halt die Leiter nimmer nötig. Ich seil mich auch an und steig vorweg. Nachher kommst nach. Ich zieh schon, wann's nimmer geht. Ist gleich geschafft.«
Das letzte Stück mußte der Loisl den Minister fast ganz und gar ziehn. Der war am Ende seiner Kräfte, und als er droben lag, schloß er eine Weile die Augen.
Der Loisl kniete neben ihm. »Halt, wenn wir jetzt einen Wein hätten.« Der Minister wies auf seinen Rucksack. Hastig wühlte der Loisl, hielt ihm die Flasche an den Mund. »So. Noch einmal. Tut schon gut. Jetzt die Kletterpatschen aus. Nachher, wann's mögen, Herr Doktor, steigen wir nach der Stockalm ab. Ganz stad. Haben Zeit. Wie mich das schon g'freut! Ist gar nicht zum Sagen. Hätt's dem Schreck grad nicht vergönnt, wenn der den Herrn Minister geholt hätte. Kaum dem Ronymus.«
Bislang hatte der Minister noch kein Wort gesprochen. Nun stand er langsam auf, legte dem Loisl beide Hände schwer auf die Schultern, sah ihm lange in die Augen, atmete tief. »Komm, Loisl. Zu danken gibt es da nichts. Ich muß halt schaun – –«
Sie stiegen ab, gingen angeseilt über den Gletscher, und der Loisl erzählte unterwegs, wie es ihm gewesen war, als er selber in der Wand hing, und daß sie ihm zwar alle nahe gewesen, die Mutter, die Wirtseltern, der Herrgott, auch – die Zenzi ein bißchen, daß ihm aber eigentlich nur des Hieronymus vier Punkte geholfen hätten.
Auf der Stockalm kehrten die zwei, nachdem sie inzwischen einige Male gerastet hatten und der Minister wieder beieinander war, ein. Der Loisl befahl der Zenzi geschäftig, eine Milch zu bringen und einen Schmarren zu backen. Am liebsten hätte er ein Rind geschlachtet. Dr. Wenzel jedoch wehrte ab. »Ein Glas Milch meinetwegen. Mehr nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Loisl, was hab ich denn bloß gemacht?«
»Nichts. Halt ein bissel verstiegen. Wenn Sie ein bissel mehr links gegangen wären, nachher konnt nichts passieren. Rein gar nichts.«
»Und wenn du nicht auf der Stockalm gewesen wärst – –«
»Das hat grad sein müssen. Zwanzigmal geh ich dran vorbei –«
»Ja,« fiel die Zenzi ein, »wenn Sie leicht meinen, Herr Doktor –«
»Aber wie sollt ich denn, Zenzi? Gar nichts mein ich. Bloß freuen tu ich mich.«
»Das kann ich glauben. Und wie das alles gekommen ist! Dagehockt hat der Loisl. Rein gar nichts wie dagehockt.« Ei, ei, der verlegene Eifer der Zenzi! Und was für eine Hilfe er dem erschütterten Manne ist. Es ist förmlich ein Sprung mitten in das liebe Leben hinein.
»Aber Loisl!«
»Ja,« eiferte die Zenzi weiter, »ich hab meine Arbeit gehabt – –«
»Gibt auf einer Alm viel Arbeit, müssen's wissen, Herr Minister,« erläuterte der Loisl wichtig, aber die Zenzi eiferte ihm wieder dazwischen: »Ist gar nicht so schlimm. Das Vieh ist so geduldig, und Verstand hat's mehr als die Leute manchmal.«
»Will ich meinen.« Der Minister nickte. »Hab's heut selber bewiesen, wie weit es manchmal mit dem Verstand her ist.«
»Aber, Herr Doktor, wie können's jetzt so was sagen!«
»Also dagehockt hat der Loisl.« Der Doktor überhörte den Einwurf der Zenzi.
»Ja, egal dagehockt und mich arbeiten lassen. Und weil ihm das halt gar zu langweilig worden ist –«
»'s Arbeiten?« fuhr es dem Loisl heraus.
»Du!« Die Zenzi blitzte ihn an, schlug aber die Augen gleich nieder und ward rot. »'s Arbeiten!« sagte sie vorwurfsvoll. Und ein bißchen patzig: »'s Zuschaun! Weißt wohl, wie ich's meine, aber –«
»Ja, Zenzi«, mischte sich der Minister wieder ein, »was hätt' er denn nachher machen sollen, der Loisl?«
Da war die Zenzi verlegen. »Ach, gibt immer einmal was. Aber dagehockt hat er. Da!« Sie wies auf die Bank. »Und wie's ihm zu langweilig worden ist, da hat er das Spektiv genommen –«
»Jetzt kommen wir hin, Dirndel.« Der Minister legte seine Hand auf die der Zenzi. »Schau, das hat doch alles sein müssen. Wenn der Loisl gearbeitet hätt, nachher hätte er doch das Glas nicht genommen, und wenn er das Glas nicht genommen hätt' –«
»Jesus, Herr Doktor! Das kann man sich gar nicht ausdenken, was das jetzt geworden wär!«
»Nicht wahr. Ein braves Stück Arbeit hat er geliefert, der Loisl. Vier Stunden hab ich schon droben mehr gehangen als gestanden. Lange hätt's nicht mehr dauern dürfen, und wenn ich auch nicht grade die Ruhe verloren hatte, allein hätte ich mir doch nicht helfen können.«
»Das ist einmal gewiß,« sagte die Zenzi schwer.
»Ich meine fast, Dirndel, müßtest es von hier aus haben sehn können.«
»Von da aus sieht man's nicht so gut. Dort hab ich gestanden.« Die Zenzi wies auf einen kahlen Rücken links von der Alm. »Dort hab ich die ganze Zeit gestanden.« Der Loisl paffte derweile so drauflos, daß er förmlich in einer Wolke steckte.
»So,« wiederholte der Minister, »dort also. Und die Arbeit derweile?«
Die Zenzi spürte, daß sie auf Glatteis gegangen war. »Da war doch die Lies wiedergekommen,« sagte sie hastig. »Und wenn's leicht meinen, Herr Doktor –«
»Stad, Dirndel. Freilich mein ich was. Jetzt schau den Buben an. Sitzt er nicht da, als könnt er nicht bis drei zählen?«
»So sitzt er immer, wenn er einmal zufällig auf die Alm kommt.«
»Loisl, das mußt du dir abgewöhnen. Auf einer Alm gibt's immer viel Arbeit.«
»Seh's grad jetzt,« trotzte der Loisl.
Die Zenzi aber belferte ein »Wieso?« heraus.
»Weil's die ganze Zeit dahockst.«
»Ach so. Das vergönnst mir etwa nicht?«
»Vielleicht meint er mich,« neckte der Minister.
»Grad das nicht,« wehrte der Loisl ab. »Nein, das müssen's ja nicht denken,« und die Zenzi bekräftigte: »Mit so einem, der wo egal durch das Spektiv guckt!«
»Ich denke, damit sind wir fertig, Zenzi,« sagte der Doktor. »Mit dem andern noch nicht, und das grade wüßt ich gern. Also dort hast du gestanden?« – »Ja.«
»Und was hast du nachher die ganze Zeit gemacht?«
»Geschaut halt.«
»Schon. Nicht auch ein Vaterunser etwa?«
»Nein.«
»Nicht? Wo du doch gesehn hast, wie schwer es war, und daß es an einem Haar hing. Nicht?«
Die Zenzi schüttelte den Kopf. »Wenn ich doch nicht gekonnt hab.« Sie sah in ihren Schoß, in den ein paar rasche Tränen rannen.
»Nicht gekonnt?«
»Ja, vor – – Weil halt das Herz so gepumpert hat.«
»Ach so.«
»Wenn ich doch solche Angst hatte!«
»Aber nein. Um Ihnen, Herr Doktor. Der Loisl –«
»Ist halt bloß der Loisl,« mampfte der neben der Pfeifenspitze heraus.
»Dagegen wirst du nichts tun können,« sagte der Minister, »der Loisl bist und bleibst du.«
»Ja, aber wenn sie so daherredet, die Dirn.«
»Hab nicht dahergeredet, aber bald du was weißt, womit mir wehtun kannst, nachher –«
»Pst,« mahnte der Doktor. »Nicht so herb sein, Zenzi. Ich hab noch was auf dem Herzen. Deinen Smaragden möcht ich mitnehmen.«
»Ich hab keinen Smaragden.«
»Den grünen Stein mein ich, den dir der Loisl geschenkt hat.«
»Ach – den. Der – liegt –«
»Hab ihn schon, Zenzi.«
Da fuhr die Zenzi auf. »Schon haben?«
»Ja. Dein Vater hat ihn herausgesucht.«
»Der Vater? Ist nicht recht vom Vater, daß er mir den Stein nimmt.«
»Ist er dir so viel wert?«
»Das – nicht, aber –«
»Der Vater war damit einverstanden und der Loisl auch.«
»Der hat nichts einverstanden zu sein, wo er ihn mir geschenkt hat, aber –«
»Sollst ihn ja wiederkriegen.«
»Nein, wenn der Loisl damit einverstanden war, nachher will ich ihn gar nicht wiederhaben.«
Da mußte der Minister denn doch hell auflachen. »Kinder,« sagte er, »das hab ich grade gebraucht nach der Not! Das hat mich wieder auf die Beine gebracht.«
Die beiden sahen den lachenden Mann verlegen an. Jedes ahnte, was er meinte, und jedes tat, als verstünde es ihn ganz und gar nicht, und jedes war rot vor Verlegenheit.
»Gehn wir halt wieder,« sagte der Loisl.
»Ja, gehn wir,« bestätigte der Minister und streckte der Zenzi die Hand hin. »B'hüt, Dirndl. Bist mir nicht böse?«
»Aber, Herr Doktor –«
»Minister heißt's,« platzte der Loisl herüber, der schon halb im Davongehn war.
»Herr Minister Doktor.«
»Dann ist's gut, Dirndel. Loisl!« Der war schon an die zehn Schritte gegangen. »Das wär jetzt eine Art. Daher! Ein bissel lange Schritte. So, du – – Und jetzt gibst der Zenzi die Hand. So. Und jetzt sagst –«
»Nichts sag ich.«
»Dann sag du's, Zenzi.«
»Was soll ich denn sagen?« fragte die.
»Saudummer Bub, soll du sagen.«
»Dummer –«
» Saudummer!«
»Saudummer Bub!« zwischen Lachen und Weinen.
Ein kleines, ein bißchen wehmütiges Lachen spielte um des Ministers Mund. Er nahm den Loisl am Arm und zog ihn fort. »Komm, Bub. Die Zenzi muß jetzt arbeiten.« Und fünfzig Schritte weiter. »Jetzt ist dir's grad leid, daß du mich heruntergeholt hast?«
»Aber nein, Herr Minister. Jetzt g'freut's mich noch viel mehr.«
»Warum?«
»Ja, wenn ich das nur sagen könnt.«
Sie kamen mit dem Nachtwerden nach St. Thomas. Die Zurückhaltung zweier junger Menschen, die einander liebhatten, es zu verbergen suchten und es grade durch ihre Widerborstigkeit verrieten, hatte dem Minister in ihrer schönen Menschlichkeit weit leichter und gründlicher über seine Erschütterung geholfen, als es philosophische oder religiöse Erwägungen vermocht hätten, obwohl Dr. Wenzel beides war, ein Philosoph und ein gottgläubiger Mensch. Er hatte unterwegs zu erforschen versucht, womit er dem Loisl eine Freude machen könne, aber er hatte gespürt, daß jede sogenannte Freude, also etwa ein Geldgeschenk oder eine reiche Werkstatteinrichtung, die wirkliche Freude nur totschlagen würde. Die wirkliche Freude war die Genugtuung – nicht der Stolz darauf –, daß er, der Loisl, etwas gekonnt und daß er grade dem Manne sein Können beweisen durfte, dem er zu danken hatte, und den der alte Antonius Mayer nicht genug rühmen konnte. Sie hing aber auch mit dem kleinen Geplänkel auf der Stockalm zusammen. Für die Genugtuung, die er haben durfte, war der Loisl dem Schicksal dankbar, zugute tat er sich nichts darauf. Wenn er aber an die Zenzi dachte, dann war ihm halt so, als hätte sie trotz des befohlenen: Saudummer Bub, »lieber Bub« gesagt. Der Freude aber war der Schmerz wieder benachbart. Der Wirtsvater leidet's nicht. Nein, wenn er auch noch so gut ist, das leidet er nicht. Und – man kann es ihm nicht verdenken. Der Loisl hat eine tiefe Falte in der Stirn vor Nachdenken. Zweierlei, erwägt er, gibt es, das mir helfen würde. Entweder ich muß ein Geld verdienen, so viel, daß ich sagen kann: Schau, Wirtsvater, jetzt kannst nicht sagen, daß die Zenzi herabstiege. Oder: Tun müßt er etwas können, der Loisl, das gradsoviel wäre wie ein Geld. Aber – wie soll er so viel Geld verdienen? Wie soll er das machen? Mit dem Schnitzen geht es nicht, und wenn er Tag und Nacht arbeitet, sogar den Sommer drangibt, und etwas anderes weiß und kann er nicht. Und tun? Was soll er denn tun? Und wenn er jeden Tag einen vom Berge holte, so wär's auch noch nichts.
Der Minister zeichnete den Loisl an dem Abend in keiner Weise aus. Er saß allein, er aß allein, und der Loisl saß mit dem Schreck und dem Grimm, der aus Rauth heraufgekommen war, zusammen und plauderte. Sosehr auch Dr. Wenzel achtgab, die drei steckten weder die Köpfe zusammen, weil der Loisl, wenn auch im Flüsterton, berichtete, noch sah einer der drei zu ihm herüber, etwa festzustellen, was der Herr Minister nun für ein Gesicht mache. Es war eine Prüfung des Loisl, und er bestand sie. Was die Öffentlichkeit nachher erfuhr, erfuhr sie durch den Minister selber.
Der Sepp wunderte sich an dem Abend, daß der Dr. Wenzel so lange sitzenblieb. Auch das war sonst nicht seine Art, daß er des Sepp zwar belanglose, aber freundliche Fragen nur mit einem Ja oder Nein abfertigte, also deutlich bewies, daß er allein und nicht gestört sein wollte.
Es war kurz vor elf, der letzte Gast war gegangen, da winkte der Minister den Sepp heran. »Würden Sie mir die Freude machen, noch ein Weilchen bei mir sitzenzubleiben? Ja? Dann holen Sie bitte die beste Flasche Wein herauf, die Sie im Keller haben.«
Die Flasche stand auf dem Tische, der Sepp war gespannt. Der Minister schenkte ein, ließ sein Glas an das des Sepp klingen. »Auf den Alois Schirmer.«
»Was sagen's jetzt, Herr Minister?«
»Trinken Sie erst. Nachher. Also auf den Loisl.«
»Wenn Sie halt meinen. Auf den Buben.«
Dr. Wenzel trank sein Glas auf einen Zug leer, wehrte ab, als der Sepp wieder eingießen wollte, zündete sich eine Zigarre an, schob dem Sepp die Tasche zu, neigte sich ihm entgegen. »Waren Sie schon einmal auf dem Bischkopf?«
»Dreimal schon.«
»Auch einmal von der Dreiecksalm aus?«
»Nein, Herr Minister. Ich halte das für –«
»Einen Unfug.«
Der Sepp wiegte den Kopf hin und her. »Ist leicht ein bissel viel gesagt, aber –«
»Sagen wir also eine Kraftprobe.«
»Meinetwegen, aber dann –«
»Eine unnütze. – Über Nützlichkeit läßt sich streiten. Es gibt eine Nützlichkeit, die mit dem, was Sie Zweck und Nutzen nennen, nichts zu tun hat, und die man doch nicht verneinen kann, ja, Huber, die man im Gegenteil bejahen muß. – Also ich habe heute versucht, von der Dreiecksalm aus auf den Bischkopf zu steigen.«
»Und?« Der Sepp saß nur noch halb auf seinem Stuhle.
»Hatte mich rettungslos verstiegen.«
»Heiland! Und?«
»Der Loisl hat mich herunter- oder vielmehr hinaufgeholt. Ohne ihn – – Na ja. Gießen Sie uns noch einmal ein, Huber. – Auf den Buben!«
»Halt mit, Herr Minister. – Und jetzt, wenn Sie mögen, wüßt ich's halt gern genauer.«
Eine Weile später lehnte sich der Sepp zurück und schüttelte den Kopf. »Das hätt' kein anderer fertiggebracht. Ich nicht, der Schreck nicht, leicht nicht einmal der Ronymus. – Von der Stockalm aus hat er Sie gesehn?«
»Ja.«
»Wie – kommt er denn auf die Stockalm? Ist er etwan öfter da?«
Der Minister lächelte. »Das dritte Mal heute.«
»So. Ist nicht grad viel, aber es g'langt.«
»Wir müssen ein bissel drüber reden, Huber.«
»Ich mein, da gibt's nicht zu reden.«
»Oder vielmehr, darüber haben Sie bloß zu reden, nicht ich, weil in dem Falle der Vater auch dem Minister noch vorangeht.«
»Herr –«
»Lassen wir es gut sein. Sie haben ja recht, und wenn es so ist, wie der Loisl zu vermuten scheint –«
»Was scheint er denn zu vermuten?«
»Daß er Ihnen zu gering ist.«
»Hat er das gesagt?«
»Nein, aber er ist so treuherzig, daß es wirklich nicht ministerlicher Schläue bedurft hätte, um ihm auf die Sprünge zu kommen. Es war ein Kinderspiel, ihn ein bißchen auszuhorchen und – die Zenzi auch.«
»Die Zenzi?«
»Huber, hier sind zwei Menschen, an denen der Herrgott seine Freude haben muß, sauber bis ins Herz hinein, herb, scheu. Das – ich weiß, es ist viel, was ich jetzt sage – gedeiht nur noch hoch über den – Tälern. Wenn Sie mich recht verstehn wollen. Ich hätte auch sagen können über den Niederungen. Es ist ein Unterschied zwischen dem Sich-sauber-halten aus Wissen um die Gefahr heraus, oder aus dem Willen heraus, weil es anders unwürdig ist, – und das bedeutet schon eine Stufe, zu der wir erziehn, – und der natürlichen, weder auf, nennen wir es Furcht, noch Wollen, sondern einzig auf eine rein menschliche Keuschheit gestützten Sauberkeit. Wir kommen ohne das erste nicht aus, wir fördern das zweite, wenn aber das dritte einmal erblüht, dann tut man am besten, die Sache allein dem Herrgott zu überlassen. – Ich will nur eins wissen: Ist Ihnen der Loisl wirklich zu gering?«
»Hab ihm zu solcher Meinung noch nie Ursach gegeben, aber – Zeit laß, Herr Minister! Zeit laß! Die Zenzi ist achtzehn, ganze achtzehn!
»Keine Sorge. Die zwei lassen sich Zeit. Hoffentlich nicht einmal zuviel. Er ist ja so glücklich ungeschickt, der Bub! – Ich möchte gern etwas für ihn tun, aber – was denn?«
»Nichts, Herr Minister.«
»Es wird wohl auch nichts weiter übrigbleiben. In solchem Falle ist es der beste Dank, Schuldner zu sein.«
»Wird nichts von Schuld wissen, der Loisl, wie ich ihn kenne. Wird weiter nichts als eine Freude haben, und die sollt man ihm halt lassen.«
»Ich lasse sie ihm auch. Huber, ich wünsche nicht, daß meine Rettung ein Geheimnis bleibt, ja, ich wünsche sogar, daß sie bekannt wird, solange ich noch hier bin, aber – es soll gleichzeitig eine letzte Prüfung des Loisl sein. Sie schicken bitte morgen in aller Frühe auf die Stockalm.«
»Geh gleich selber.«
»Aber keine Dummheiten, Huber.«
»Will mich schon hüten.«
»Und schärfen beiden, der Zenzi und auch der Lies ein, daß keine ein Wort über das verliert, was sie wissen.«
»Soll sein.«
»Dann halten wir beide in den nächsten drei Tagen hier Augen und Ohren offen. Sie können leicht auch des Buben Spezi, den Fabian, ein bissel aushorchen, wenn's paßt. Spricht er selber davon, der Loisl, ist nichts dagegen zu sagen und – ist doch nicht ganz das, was ich mir denken könnte. Spricht er aber nicht davon, Huber, dann – – Schade, wir könnten die Sorte gut drunten brauchen, aber es ist wie mit den Zirben. Gedeihn tun sie auf die Dauer nur hier oben. – Dann werde ich dafür sorgen, daß die Sache bekannt wird. Es ist keine Schande für mich, daß ich mich an den Bischkopfwänden verstieg, und etwas bin ich dem Loisl wenigstens schuldig. – Huber, wir haben uns verstanden?«
»Ich meine schon, Herr Minister. Und was das andere betrifft, was Sie meinen, – ich bin auch nicht blind gewesen, wenn ich auch so getan hab – wenn's recht geht und die Zeit dazu da ist – – Von mir aus, ich hab's meinem Weibe versprochen, und ich halt's. Nur wär halt da noch St. Thomas.«
»Huber, hier können wir nur hoffen. Nichts weiter. Das ginge über die Macht auch des Mächtigsten unter den Menschen.«
»Unsere arme Gemeind!«
»Kopf hoch, Huber. Ein Mann wie Sie findet auch eine zweite Heimat, wenn es durchaus sein muß.«
»Ein Unterkommen leicht und zur Not überall, aber eine Heimat ohne das Törle und den Bischkopf und – – Nein, eine Heimat nicht wieder.«
»Gute Nacht, Huber. Ich will schlafen.«
»B'hüt, Herr Minister.«
Als der Sepp am anderen Morgen kurz mit der Zenzi sprach, gab es zwar ein paar rasche Tränen und ein patziges: »Er braucht überhaupt nicht wiederzukommen, der Loisl,« aber – unglücklich fühlte sich die Dirn nicht. Es waren da so Zwischentöne gewesen und ein Schwingen in des Vaters Stimme und ein Licht in seinen Augen. Das alles miteinander wußte die Zenzi zwar nicht zu deuten, aber, dessen war sie gewiß. Ungutes verhieß es nicht. Nur der Loisl selber! Ihr so weh zu tun! Die Zenzi hätte zwar die Frage, womit er ihr denn weh getan, nicht beantworten können, aber es war halt so, er hatte ihr weh getan.
Der Loisl bestand die Prüfung. So schlau es auch der Sepp anfing, den Hieronymus, den Schreck, den Bastian auszuhorchen, er erfuhr nichts, weil sie nichts wußten. Der Ronymus schimpfte ein wenig. Seit drei Tagen sei der Loisl nicht mit ihm auf die Berge zu bringen gewesen, sondern arbeite in seiner Werkstatt. Es sei halt einmal kein Verlaß mehr auf die Leute. Na, er sei früher allein gegangen, ginge er halt jetzt auch wieder allein.
Am vierten Tage ließ der Sepp den Loisl rufen, drückte ihm ein Zeitungsblatt in die Hand, wies auf eine Überschrift und sagte: »Lies das einmal.« Die Überschrift lautete: Minister Dr. von Wenzel aus schwerer Bergnot gerettet. Dann kam eine kurze Schilderung des Verhängnisses und dann eine ausführliche der Rettung durch den vierundzwanzigjährigen Alois Schirmer aus St. Thomas, wobei der Alois zwar nicht in den Himmel gehoben und zum Helden gestempelt wurde, wobei aber auch nicht mit der Würdigung einer männlich kühnen Tat gespart ward.
Dem Loisl zitterte die Hand ein wenig, als er las. Er legte das Blatt auf den Tisch und knurrte ein: »Ist ja viel zu viel. Wär überhaupt nicht nötig gewesen.«
»Aber wahr ist's?« fragte der Sepp.
»Wahr ist's schon.«
»Warum hast dann nichts gesagt? Oder hast es bloß mir nicht gesagt?«
»Überhaupt keinem.«
»Warum nicht?«
»Weil's halt nichts weiter ist.«
»Würdest es also alle Tage wieder machen?«
»Wenn's sein müßt, ja.«
»Und wenn's nicht sein muß, steigst du nicht wieder von der Dreiecksalm auf den Bischkopf?«
»Nein.«
»Warum nicht? Ist's denn so schwer? Hab's doch auch gemacht.«
»Dann weißt ja, wie's ist. Mir g'langt's. Bin einmal als Bub halb da oben gewesen, einmal mit dem Ronymus ganz und jetzt. Es g'langt mir, daß ich weiß, was ich kann, wenn's sein muß.«
»So. Aber da steht, du wärst auf der Stockalm gewesen. Ich mein, die liegt doch nicht grad am Wege.«
Da sah der Loisl den Wirt mit blitzenden Augen an. »Versteh schon, was du meinst. Der Holzschnitzer Loisl, wo nichts hat und nichts ist –«
»Saudummer Bub,« fuhr der Sepp auf, »hab ich das gesagt?«
»Es langt, daß du's meinst. Ich hab kein Extraweg auf die Stockalm zu gemacht, das sag ich. Mit dem Ronymus kam ich vom Törle her. Aber – – Die Alm liegt jetzt weit von meinem Weg, und,« der Loisl schlug mit der flachen Hand auf das Papier, »g'freun tut mich das jetzt schon gar nicht. B'hüt!«
»Loisl!« sagte der Sepp befehlend, weil der Bub schon halb in der Tür stand, »das da stammt vom Herrn Minister, ich weiß es, und er läßt dir sagen –«
»Gar nichts hat er mir sagen zu lassen.«
»Sakra! Jetzt gehst daher!« Der Loisl trat mit hängenden Schultern wieder heran. »Bin ich noch der Wirtsvater oder bin ich's nicht?«
»Bist es schon noch.«
»Alsdann – hab ich auch noch dem Buben was zu sagen, nicht bloß dem Bübele zu sagen gehabt. Der Herr Minister will, daß du, solange er noch da ist, an jedem Abend mit ihm ißt. Verstanden? Also das erste Mal heute abend um acht. – Und: Ich bin noch nicht von der Dreiecksalm die Wände aufgestiegen. Hab vorhin gelogen. Hast dich brav gehalten, Bub, und – hast St. Thomas einen Freund erhalten, wie 's bloß einen hat. – B'hüt!«
Der Loisl ging, knirschte und – – Wenn ihm doch einer hätte sagen können, ob er jetzt mehr im Himmel oder mehr in der Hölle wäre. Es war aber niemand da, der es ihm hätte sagen können, und er selber wußte es nicht.
Der Loisl hatte nur einen Neider in St. Thomas. Alle anderen waren zwar nicht grade stolz darauf, daß einer der Ihren ein schweres Stück Arbeit geleistet, dazu stellten sie selber zu große Anforderungen an sich, und dazu gingen ihnen die Worte zu schwer vom Munde, aber sie zeigten es doch in ihrer Art, daß sie sich mit dem Loisl freuten. Der Neider war der Toni Oberlechner. Der aber neidete ihm wiederum nicht Auszeichnung und Anerkennung, er neidete ihm, worauf er selber die Augen zu werfen begann, die Zenzi, zu der Auszeichnung und Anerkennung den Weg frei machen konnten, der sonst dem armen Holzschnitzer nach des Tonis Meinung vermauert war.
Der Loisl kam nicht mehr auf die Stockalm. Jetzt kam der Toni Oberlechner. Immer rein zufällig und immer als der bedauernswerte arme Vater und Witwer. Den Kopf stützte er in die Hand und seufzte und klagte das Schicksal an, das ihm die seelengute Frau und das liebe Büblein, kaum daß es da gewesen, wieder genommen. Man könne das Leben manchmal rein satt kriegen. Erst das Auge verloren, dann die Mutter, dann den Vater auf so schreckliche Weise und nun auch noch Frau und Kind. Satt kriegen könne man das Leben, aber da sei der große Besitz, das schöne Haus, und – man sei doch selber wahrlich auch noch nicht alt.
Alles mußte die Zenzi bestätigen, liebe, tröstliche Worte fand sie, und doch fror sie innerlich, wenn der Toni dasaß, und schaute verlangend über die Alm, ob denn der Loisl nicht bald wieder einmal käme. Er mußte doch spüren, daß sie ihn brauchte, obwohl der Toni wirklich weder etwas sagte noch tat, das ihren inwendigen Hilfeschrei begründet hätte.
Der Loisl kam, weil er der Zenzi etwas zeigen mußte, aber er kam nur bis an den Zaun, und der Oberlechner Toni war grade nicht da. Eine Medaille hatte der Loisl angesteckt. Die alpine Rettungsmedaille, und die wollte er der Zenzi zeigen. Sie schlug wie ein fröhliches Kind in die Hände, als sie die schöne Auszeichnung sah, aber der Loisl sagte, er habe sie ihr nur grad zeigen wollen, und jetzt stecke er sie wieder in die Tasche.
»Das tust nicht!« blitzte ihn die Zenzi an.
»Warum nicht?«
»Weil ich's nicht haben will! – Und warum bleibst denn am Zaun draußen? Magst nicht ein Milch trinken?«
»Möcht schon, aber ich darf nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil – ich's halt versprochen hab.«
»Wem hast es versprochen?«
»Deinem Vater.«
»Dem Vater? Jetzt, das wär was! Dann soll der Vater nur gleich dem Toni sagen, daß der erst recht nichts auf der Stockalm verloren hat.«
»So, der Toni kommt? Immer einmal wohl?«
»Dreimal ist er schon da gewesen und jammert daher, was mich nichts angeht, und worin ich ihm nicht helfen kann.«
»Was jammert er denn?«
»Daß ihm die Theres gestorben ist und –«
»Ach so. Sucht halt eine neue Theres und grad auf der Stockalm.«
Da flammte die Zenzi auf. Schämen müsse sich der Loisl, daß er so etwas sage, und nun sei er nicht bloß ein dummer, jetzt sei er ein schlechter Bub. Jawohl, die Zenzi weinte, ein schlechter, und wenn einer so sei, dann solle er ja keine Medaille tragen; denn dann dächten die Leute akkurat falsch von ihm. Damit ließ die Zenzi den Loisl stehn und lief quer über die Alm zur Hütte.
Als aber der Toni am anderen Tage wiederkam und ihr gar ein Kettlein von seiner Mutter mitbrachte, da machte sie mit dem reinen Tisch. »Was willst eigentlich, Toni?« fragte sie ihn. »Was du sagst, hab ich schon dreimal gehört. Tust mir leid, und wenn ich dir helfen könnt –«
»Kannst mir ja helfen,« sagte der Toni weich.
»Dann sag's geschwind, damit es aus ist«.
»Ich hab fünfzig Tagwerk ohne die Almen.«
»Weiß ich. Und?«
»Das schöne große Haus.«
»Unseres gefällt mir besser, aber –«
»Das könnt man ja leicht machen lassen, wie es dir gefällt.«
»Meinetwegen ändern lassen?«
»Man könnt doch drüber reden. Und die Hauserin, ich will ihr ja nichts nachsagen, aber – Da hab ich dir eine Kette mitgebracht. Ist von meiner Mutter.« Und sehr geschickt fügte der Toni hinzu, daß sie einmal viel Geld gekostet habe.
Die Zenzi war weiß wie eine Kalkwand, als sie die Kette wieder zurückschob. »Gib sie wem anders, Toni. Ich brauch keine Kette.«
»Zenzerl –« sagte der Toni nunmehr entschlossen.
»Zenzerl? Die Zenzi bin ich, kein Zenzerl.«
»Ja, Dirndl, begreifst denn noch nicht?«
»Ja,« schleuderte die Zenzi flammend heraus, »jetzt begreif ich. Und bald du jetzt noch ein Wort sagst, nachher renn ich grad zum Vater, gleich wie ich bin.«
Zeit laß! dachte der Toni, und milde sagte er: »Hab dir doch nicht weh tun wollen. Bist freilich noch arg jung.«
Da schluchzte die Zenzi auf: »Wenn man halt kein Mutterle mehr hat! – Geh, Toni, gleich auf der Stelle geh, und die Kette steck ein oder ich muß sie dort hinabschmeißen.«
Der Toni stutzte. Er stand auf und fragte lauernd: »Wann etwa der Loisl dagesessen hätt's, hätt'st dann auch so gesagt?«
»Was ich gesagt hätt', geht dich nichts an, aber der Loisl wird nicht dort sitzen. Das magst wissen. Und jetzt geh, geh!«
Der Toni ging, schalt sich zwar ein bißchen, aber nicht gar arg, weil ihm schien, die Zenzi sei nicht abweisender gewesen, als man es ihrer Jugend zugute halten müsse. Er hätte besser getan, ihr mehr Zeit zu lassen, es sei also seine Schuld, daß seine Werbung schiefgegangen. Des Loisls wegen aber brauche er sich keine Sorgen zu machen.
Er rieb sich zwar an dem, als er ihn etliche Tage darauf auf der Straße traf, indem er fragte, wo er denn seine Blechmarke habe, aber der Loisl sah ihn scharf an. »Weißt, wer Blechmarken trägt? Die Wachhunde. Leicht, daß einmal einer an der Stockalm wär.«
Da lachte der Toni höhnisch und ging davon, aber wohl war es ihm dabei nicht ums Herz.