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Es war am 23. Juni achtzehnhundertsoundsoviel – die gelben Postkutschen fuhren noch viele Jahre –, genau um neun Uhr abends, als Anna Hagen, die bei Amtsrichter Mendels diente, an der Schwedenschanze spazierenging und dort den Burschen sitzen sah, der auf das träumende Städtchen im Grunde blickte. Sie wäre still, wie es sich für ein sittsames Mädchen gehört, vorübergegangen, hätte der Mensch nicht, ohne indes das Wort an sie zu richten, ganz laut gesagt: »Mein Gott, ist das schön!«
Das tat dem Mädchen wohl, zumal der Ausruf ihrer Heimat galt. Da, wer so aus seines Herzens Tiefe heraus zu sprechen vermag, unmöglich ein schlechter Mensch sein kann, blieb sie stehen, tat, als hätte das Wort ihr gegolten, und sagte: »Ja, das ist wohl schön.« Dabei sah sie dem sitzenden Manne ins Gesicht. Die Stirn war weiß, glatt und schön gewölbt. Langes, schlichtes Blondhaar lag wohlgeordnet über dem schmalen Kopf. Zwischen versonnenen, kindlich gut blickenden blauen Augen stand eine grade, schmalrückige Nase, deren feine Flügel sich lebhaft bewegten. Unter der Nase prahlte auf der Oberlippe ein Schnurrbart, der allerdings etwas voller hätte sein dürfen. Der ganze Mensch erinnerte in seiner Feinheit und Sauberkeit an die Figuren, die in Frau Amtsrichters Glasservante standen und über die sie beide Hände hielt.
»Fräulein,« sagte der Mann, ohne sich von seinem Platze an der blühenden Heckenrose zu erheben, »Sie wissen gar nicht, wie schön das ist.«
»Warum sollte ich das nicht wissen?«
»Sind Sie hier geboren?«
»Ja, das bin ich, aber meine Leute sind tot.«
»O, dann haben Sie Schweres durchgemacht.«
Es war ein Weilchen still zwischen den beiden, und Anna Hagen dachte: Was ist das für ein merkwürdiger Mensch! Es tut einem alles so gut, das, was er sagt und wie er ist.
Heinrich Pimpfel begann wieder, ohne den Blick von dem Lande zu lösen: »Sehen Sie, wenn Sie hier geboren sind, dann wissen Sie das wirklich nicht. Um das zu begreifen, muß man vergleichen können, und das können Sie nicht. Sie haben keine anderen Bilder.«
»Die habe ich zwar nicht,« bestätigte das Mädchen, »aber ich freue mich trotzdem.«
»Freuen ist nicht das Richtige.« Der Mann hob seine Augen und sah Anna von unten her ins Gesicht. Es war ein so strahlender, frommer Blick, daß dem Mädchen dabei immer wohler ums Herz ward. »Man muß nicht sagen: Freuen, wenn man beten möchte.«
»So meinen Sie das? Daran habe ich nicht gedacht, aber – –«
»Es geht Ihnen geradeso?«
»Ich weiß es nicht, aber es kann schon so sein. Bloß sagen kann man das nicht.«
Heinrich Pimpfel nickte. Er wies mit dem Finger hinab in das schmale, vielgewundene Tal. »Das ist die Saale?«
»Ja, das ist die Saale, und da drüben der Berg heißt die Hemmkoppe, und links davon, das ist das Gottesrödel.«
»Fräulein, haben sie einen Uhrmacher im Städtchen?«
»Freilich. Meister Hempel ist Uhrmacher.«
»Ob er wohl einen Gehilfen brauchen könnte?«
»Das könnte am Ende sein. Er ist alt und seine Hände zittern.«
»Ich möchte gern hier bleiben. Wie groß ist denn das Städtchen?«
»Ach, da wohnen nicht viele Leute. Es sind am Ende nicht einmal zweitausend.«
»Das sind allerdings nicht viele.«
»Aber wir haben wenigstens zwanzig Dörfer hier herum, aus denen die Leute alle nach Langenbrück kommen, und Meister Hempel kann es schon lange nicht mehr allein machen.«
»Dann will ich morgen einmal vorsprechen.«
»Das wird recht sein. – Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Fräulein, und ich danke Ihnen.«
»Da ist nichts zu danken. Wenn Sie übrigens drunten über Nacht bleiben wollen, dann gehen Sie zu Mutter Hübner, gleich, wenn Sie hinunterkommen, das rechte Haus an der Ecke, und sagen Sie, daß ich Sie geschickt hätte.«
»Da muß ich doch auch wissen, wer Sie sind.«
Da lachte das Mädchen. »Sagen Sie nur, die Anna vom Schlosse.« Sie wies mit der Rechten auf das hohe, burgähnliche Haus, das links drüben über die Bäume lugte. »Das ist das Schloß, das heißt, das war es früher einmal. Ich glaube, es sind nun bald tausend Jahre her. Jetzt ist es das Amtsgericht, und da diene ich bei Amtsrichter Mendels. – So, und nun muß ich gehen.«
Sie ging weiter, der Weg bog nach rechts ab auf die Bergwiese zu. Heinrich Pimpfel sah die Davongehende schon nach wenigen Schritten nicht mehr und schickte die Augen wieder über das stille Land. Er war weit gewandert, hatte manch schönes Fleckchen Erde gesehen, aber nie ein so wundervolles Zusammenklingen von Natur und Menschensiedlung, von Berg, Wald, Wasser und Wiese. Drei Höhenzüge bauten sich hintereinander auf. Immer war es, als wallten lange, schön geschwungene Wellen heran an den Thron eines Großen. Jeder der Höhenzüge war durch eine Bergkuppe abgeschlossen. Ernster Nadelwald deckte Berge und Hänge. Drunten floß die Saale in tiefer, schmaler Rinne. Tausend und tausend weiße Schaumflocken blühten auf dem dunklen Wasser, das da von einem Wiesenstreifen gesäumt ward, dort dem Walde unmittelbar benachbart war, indes sich an anderen Stellen zernarbte Felsen trotzig heranschoben. Ein Stern stand hoch über dem Flusse und leuchtete wider aus der leicht bewegten Flut.
Es war aber nicht nur des Landes Schönheit allein, die den sinnenden Mann gefangennahm, es war etwas Unsagbares. Vielleicht könnte man es die Seele des Landes nennen. Das mochte es sein. Des Landes Seele, die ebenso reich, so weich, so träumerisch und gütig war wie die Heinrich Pimpfels. Und noch etwas anderes. Es langte eine Hand ungesehen vom Himmel her und hielt den Wandernden an, und er vernahm, ungehört, eine Stimme: Hierher habe ich dich geführt; denn hier will ich dein Leben vollenden.
Der Schauende aber vernahm weder die Stimme noch fühlte er die haltende Hand. Er sah hinab und hinaus und wieder hinaus und hinab, vergaß das Mädchen, das vor ihm gestanden, und war glücklich. Nichts weiter als glücklich und ganz ruhig in sich, weil alles so schön und so friedevoll war.
Das Mädchen aber, das nur etliche hundert Schritte gegangen war und sich dann auf einer einfachen Bank niedergelassen hatte, war um so unruhiger. Sie stand vor einer schweren Entscheidung, und die war durch das Zusammentreffen mit dem blonden, feinen Burschen noch schwerer geworden. Ob sich auch Anna Hagen dagegen wehrte, es half nichts, es war schwerer geworden. Paul Würfel, der Kutscher drunten in der Nähermühle, hatte sie gestern gefragt, ob sie seine Frau werden wolle. Sie hatte weder mit Ja noch mit Nein geantwortet, sondern erklärt, sie werde es sich überlegen und ihm übermorgen Antwort geben. Eigentlich hatte sie das nicht sagen, sondern mit einem schlichten »Ja« antworten wollen, aber auf einmal war es nicht gegangen. Nun hatte sie den ganzen Tag darüber gegrübelt, warum es nicht gegangen war und das Ja hundertmal vor sich hingesagt. Warum denn auch nicht? Würfel war, soweit man wußte, ein fleißiger, sparsamer Mensch. Seine Leute hatten drüben in Liebenberg, rechts von der Hemmkoppe, eine kleine Bauernwirtschaft. Immer einmal hatte sich das Mädchen im Laufe des Tages selbst ausgelacht. Wenn er jetzt vor ihr stünde, der Paul Würfel, würde sie Ja sagen. Dann war es abermals ganz merkwürdig. Bis zum Ja-Sagen reichte der Mut. Wenn sie aber dann daran dachte, daß ihr der Mann den Arm um die Schultern legen, sie an sich ziehen und küssen würde, war der Mut weg und mit ihm das Ja. Nun plagte sie sich mit dem Warum, zumal eine solche Zwiespältigkeit gar nicht in ihrer Natur lag. Sie war wahrhaftig keine Träumerin. Das Leben hatte sie gezaust und geschüttelt, aber sie hatte sich nicht unterkriegen lassen, sondern fest zugegriffen.
Auf dem abendlichen Spaziergange hatte sie mit sich ins reine kommen wollen, von vornherein entschlossen, den törichten inneren Widerstand zu überwinden. Und nun saß sie am Hange und war unentschlossener als zuvor. Nein, einen solch komischen Menschen wie den Fremden hatte sie noch nie gesehen. Er hatte nicht viel gesagt, aber es war alles wie Musik gewesen. Kaum angesehen hatte er sie, und doch war es ihr gewesen, als versänke sie in den Augen. Es war ein wohliges Versinken, so, als ob einen laues Wasser wohltuend überrieselt. Und das war wiederum doch nicht alles, oder vielmehr, es war überhaupt etwas anderes. Aber das ließ sich nicht fassen, nicht denken, am wenigsten sagen. Wollte man versuchen, irgendwie damit zurechtzukommen, dann könnte man es vielleicht so deuten, als wäre ihr gewesen, es stünde ein Kind vor ihr, das sie in den Arm nehmen, streicheln und behüten müsse. Geradezu verdreht war es, und Anna Hagen war auf dem besten Wege dazu, zornig über sich selbst, den ganzen Plunder aus sich hinauszuwerfen, den Fußsteig zur Linken einzuschlagen, nach der Nähermühle zu gehen und Würfel zu sagen: Da bin ich, und nun bestelle meinetwegen das Aufgebot.
Da vernahm sie kurze, harte Schritte. Keuchend und kurzatmig stieg einer den Hang herauf. Es war Meister Hempel. Er kam von Possek und hatte drei der in den Bauernhäusern gebräuchlichen Wanduhren auf dem Buckel hangen. »Je, je,« sagte der Mann, wischte sich den Schweiß von der Stirn und blieb stehen. »Je, je. Es wird einem sauer. – Guten Abend, Anna.«
»Guten Abend, Meister Hempel.«
»Wenn doch die Leute nicht immer so viel verlangten, aber zwei Uhren liefert man ab, und drei geben sie einem wieder mit.«
Das Mädchen lachte. »Ist das nicht recht, Meister? Das gibt doch Geld und Arbeit.«
»Ja, doch, nun ja. Ich brauche nicht viel Geld, und die Arbeit wird mir sauer. Warum sich in aller Welt kein Uhrmacher nach Langenbrück verläuft!«
»Dazu kann Rat werden, Meister. Droben sitzt einer.«
»Was sagst du, Mädel?«
»Ja, droben an der Schwedenschanze sitzt einer. Vorhin habe ich mit ihm geredet, und morgen will er Euch aufsuchen.«
»Aber Mädel! Warum sagst du denn das nicht gleich?«
»Konnte ich's denn noch eher sagen?«
»Freilich! Gleich, wie du mich gesehen hast! Und warum will er morgen erst kommen? Warum kommt er nicht heute?«
»Es ist doch schon so spät.«
»Morgen wird er über alle Berge sein. Das kenne ich. Wie du mir das auch antun konntest, Anna! – Wo war er? An der Schwedenschanze?«
Das Männlein hastete ohne »Gute Nacht« den ansteigenden Weg dahin. Anna Hagen aber sah hinter ihm drein und lächelte. Und dann ward sie ernst. Sonderbar, sonderbar! Nun kam auch noch Meister Hempel und langte mit beiden Armen nach dem Manne. Sie gab es auf, nach dem Warum zu fragen. Nur das eine ward ihr noch klar: Wenn jetzt Paul Würfel ebenso zufällig kam wie Meister Hempel, dann sagte sie ihm: »Ich kann nicht. Warum? Das weiß ich selber nicht.« – So weit kam sie noch, dann stützte sie den rechten Ellenbogen auf die Banklehne, legte die Wange in die Hand und sah, wohlig gedankenlos, den Hang hinab. Erst eine ganze Weile später ward ihr bewußt, daß sie einem Rotkehlchen zuschaute, das, auf- und niederwippend, auf dem Aste des Haselnußstrauches saß.
Indes war Meister Hempel vorwärtsgehastet, immer mehr in Sorge, daß der junge Mann, den er treffen wollte, inzwischen weitergewandert sei. Jetzt bog er um die Ecke, und – da saß der Bursche noch. Saß, träumte hinaus in das Land und hörte weder Meister Hempels Schritt noch das Keuchen des halb eingerosteten Blasebalgs in der Brust des Alten.
Er ward erst aufmerksam, als der Meister zornig sagte: »Du hättest mir auch die paar Schritte entgegengehen können.«
Das Männlein war auch nicht versöhnt, als sich ihm ein lachendes Gesicht entgegenhob und eine wohlklingende Stimme sagte: »Ich habe doch gar nicht gewußt, daß Ihr kommt.«
Nein, der Meister war nicht versöhnt, sondern nun, nachdem die Angst ausgestanden war, gerade eben darum, weil er sie hatte überstehen müssen, zornig.
»Ach was,« sagte er, legte die drei Uhren in das Gras und rupfte seinen dünnen, ungleichmäßigen Vollbart, »du willst doch zu mir. Und es wäre wahrhaftig nicht zuviel verlangt gewesen, daß du mir entgegenkamst.«
»Woher wußtet Ihr denn überhaupt, daß ich hier saß?«
»Jetzt fragt er auch noch woher? Ich glaube, du willst dich über mich lustig machen. Das machen sie alle. Ich weiß es schon. Und du bist geradeso.«
»Das ist doch wohl nicht gut möglich, Meister. Vor einer Viertelstunde wußte ich noch gar nicht, daß in dem Städtchen überhaupt ein Uhrmacher wohnt.«
Das stimmte Meister Hempel nachdenklich, aber er gab auch das Rückzugsgefecht noch nicht verloren. »Die Anna hat es dir doch gesagt.«
»Das hat sie, aber sie hat mir nicht gesagt, daß Ihr hier heraufkommen würdet.«
»Du bist ein Rechthaber. Also da bin ich. Wie ich heiße, weißt du, wer ich bin, auch. Da sind drei Uhren. Zwei nimmst du, eine ich. Und nun können wir heimgehen.«
»Ihr wollt es also mit mir versuchen?«
Um ein Haar hätte Meister Hempel gesagt: Ich mit dir? Ich denke, du willst es mit mir versuchen. Er überlegte aber, daß das seiner Würde Abbruch tun möchte. So warf er sich denn in die Brust und sagte gönnerhaft: »Ich habe zwar viel Zulauf. Jeder möchte bei mir Geselle sein, aber du bist mir von Anna empfohlen, und damit ist die Sache glatt.«
»So, das Fräulein hat mich Euch empfohlen?«
»Ja. Sie sagte, du wärst der geschickteste Mensch, den sie bisher gesehen.«
»Woher weiß sie denn das?«
»Die Anna? Woher die das weiß? Nun ja, freilich, hm ja. Die – guckt einen bloß an, und dann weiß sie alles. Hat sie dir gefallen?«
»Ich weiß gar nicht, ob ich sie überhaupt angesehen habe.«
»Jetzt lügst du, und das ist nicht schön. Nein, das ist nicht schön.«
»Ich lüge nicht, Meister.«
»Wohin hättest du denn dann geguckt?«
»Auf das Land da drunten.«
»Was ist denn da zu sehen? Berge und Bäume und die Saale, weiter nichts.«
»So im einzelnen muß man das nicht herzählen. Man muß alles zusammennehmen. Das ganze Land auf einmal.«
»Ja, ja, das ganze Land auf einmal. Dazu haben wir am Sonntag Zeit. Jetzt müssen wir heimgehen.«
Mit raschem Schwunge warf sich Meister Hempel eine der Uhren auf den Rücken, daß die Schlagfeder laut klirrte, und trippelte davon, sich jedoch nach jedem dritten oder vierten Schritt umwendend, um sich zu vergewissern, daß ihm der Vogel, den er gefangen, nicht doch noch auf- und davonfliege.
Der Steig mündete auf die breite Fahrstraße. Da wartete der Meister, bis der andere neben ihn trat. Er war jetzt wieder, der er von Natur aus war, ein lieber, bescheidener, immer ein wenig ängstlicher Mensch. Seine Fragen nach dem Namen, nach Woher, nach Vater und Mutter brachte er schüchtern heraus, und wenn Heinrich Pimpfel einen Schritt machte, so legte Meister Hempel zwei zurück. Es dauerte nicht lange, so ward, was Hempel vorhin als Gunst zu verteilen geneigt getan, deutlich zur Gunst, um die er bat. Als er merkte, daß der Geselle so viel Gefallen an dem Städtchen im Engtale und an dem Lande rundum fand, lobte er beide über den grünen Klee. Der Bürgermeister von Langenbrück war eine Leuchte von Weisheit und Güte, die Bürger waren Engel, das Land ein Paradies.
Unter diesen Engeln gab es einen einzigen, der keiner war, Meister Hempel, und in dem Paradies ein einziges Fleckchen, das keines war, Meister Hempels Haus. Als er von dem letzteren sprach, da war jedes Wort eine Bitte um Verzeihung. Es kam alles stockend heraus. Daß er Junggeselle sei, nicht einmal eine Haushälterin habe, jeden Tag Ordnung mache und doch nie in Ordnung käme, daß er, das klang fast weinerlich, das sei, was die Menschen einen Sonderling nennten. Er sammele allen möglichen Kram, alte Krüge und Schüsseln, Leuchter und Becken aus Zinn, weil es ihm in der Seele weh täte zu sehen, wie die Klempner den schönen Hausrat, auf den einst so viel Liebe und Sorgfalt verwendet worden sei, mit ihren groben Blechscheren zerschnitten. Dann sammle er auch alte Bücher und Bilderhefte, – Gartenlauben habe er jetzt wohl mehr als hundert Stück, – aber wenn Heinrich das nicht wolle, dann werde Meister Hempel die Hefte verbrennen. Ja, das werde er. Überhaupt werde nun alles ganz anders und viel schöner werden.
Der Mund über dem zerzausten Vollbart ging wie ein Mühlenrad. Meister Hempel, das große Kind, schwatzte, aber Heinrich Pimpfel verzog nicht einmal den Mund zu einem Lächeln darüber. Es gab nichts zu lachen. Aus dem ganzen, hastig durcheinander geworfenen Kunterbunt klang eine rührende Herzlichkeit. Des Mannes Leben war von Tragik umwittert. Heinrich Pimpfel spürte es, und als ihm Hempel, tränenfunkelnden Auges, die Hand entgegenstreckte: »Du bleibst doch bei mir?« da legte der junge Mann seine Hand in die des Alten: »Ja, ich bleibe.« Sowenig der eine wußte, was er forderte, so wenig wußte der andere, was er versprach. Was tat es! Es hatten sich zwei Herzen ineinander gesenkt.
Als er das Ja erhalten, war Meister Hempel so übermütig, daß er vorschlug, bei Mutter Hübner einen Krug Bier zu trinken, obwohl er im Jahre kaum zweimal in ein Wirtshaus kam. Heinrich Pimpfel bat, das auf morgen zu verschieben. Jetzt wäre es ihm lieber, wenn sie heimkamen. Der Meister lenkte in den schmalen Steig ein, der rechts abbog und ziemlich steil hinabführte. Rundhölzer waren in bestimmten Zwischenräumen über den steinigen Weg gelegt, um das Regenwasser aufzuhalten und nach der Seite hin abzuleiten. Ein Geländer aus Stangen, die durch vieles Anfassen langst glatt geworden waren, schützte nach der Hangseite zu. Strauchwerk, Haselnußbüsche, Hartriegel, Bergholunder stand unter hohen Eichen, Buchen und einigen Fichten. Der ganze Bestand war regellos und fast ungepflegt. Zwischen dem Strauchwerk schwangen heute Tausende von Glühwürmchen ihre Fackeln.
Heinrich Pimpfel stolperte des öfteren, weil er bald hinauf nach dem Schlosse mit seinem gewaltigen steilen Dache sah, bald hinab nach dem Stadtbache, dessen kleine Wellen im Lichte des Sommerabends schimmerten, bald auf das Gauklervolk, das um Büsche und hochstengelige Blumen tanzte. Als er einmal beinahe auf Meister Hempel gefallen wäre, fragte der, mit welchem Bein er gestolpert sei.
»Mit dem linken,« sagte Pimpfel.
»Dann bedeutet es etwas Gutes,« erklärte der alte Uhrmacher.
Sie kamen, den Bach auf schmaler Brücke überquerend, auf den Marktplatz. Ach, was ist der Marktplatz von Langenbrück schön! Hätte Meister Spitzweg die Hauser rund herum bauen dürfen, er hätte sie kaum anders geschaffen, als sie dastanden, abgesehen etwa von Nachbar Sorges gradlinigem Kasten, und sie sicher auch nicht anders angeordnet, als es die Bürger nach dem großen Brande im Dreißigjährigen Kriege getan hatten. Aus der Zeit stammten die Hauser, und nur das Stadttor, das den Marktplatz links abgeschlossen hatte, war niedergerissen worden. Der Platz stieg nach der Kirche St. Bartholomäi zu an und war so wundervoll bucklig, daß das Mondlicht übermütig von Stein zu Stein hüpfte, und mitten auf dem Markte blühte ein rotgesäumtes Gänseblümchen. Die Kirche sah von oben her auf den Platz und das Städtlein. Ein Ziegel, den man bei der letzten Ausbesserung gefunden, trug die Jahreszahl 1224. Vor dem Jahre 900 hatte sich nachweislich überhaupt kein christlicher Sendbote in die engen, walddüsteren Täler der oberen Saale und ihrer Nebenflüsse gewagt, und noch heute führt nur eine Straße von sieben Kilometer Länge an dem Wege entlang, den das lustige Kind des Fichtelgebirges macht, und der, die vielen Bogen gerechnet, etliche hundert Kilometer lang ist. Die Straßen gehen alle draußen auf den Hochflächen und kämpfen sich da noch mühsam genug durch das Land.
Wie eine breite, behäbige, immer gütige und weise Großmutter sah die Kirche St. Bartholomäi auf das Städtlein, und wer Ohren dafür hatte, hörte sie in der Nacht Zwiesprache halten mit dem Türmchen des steilgiebeligen Rathauses, das, sehr viel leichtsinniger als der dicke Nachbar von St. Bartholomäi, als übermütiger Reiter auf dem Dache saß. Im übrigen schwang dieses Türmchen die Zeitenpeitsche genau so gut wie der Turm von St. Bartholomäi. Niemand nahm es wichtig, und es war doch so unerhört hart, den Menschen Minute um Minute, Stunde um Stunde zu nehmen und sie in die immer offene Hand der Ewigkeit zu legen. Die Uhr tat es so zart, so helltönend, daß niemand den bitteren Ernst ihres Tagewerkes spürte. Niemand, außer Meister Hempel, hatte Not um der Uhr willen. Der aber hatte sie dafür um so mehr. Er fürchtete sich nicht, aber es gab angenehmere Wege als den über den finsteren Rathausboden, auf dem einen aus hoch aufgestapelten Akten die Jahrhunderte anstarrten. Damit fand sich der Meister ab. Aber die Treppen! Die schmalen, steilen Treppen mit ihren insgesamt wohl fast hundert Stufen!
Das kecke Rathaustürmchen sollte, so ging die Mär, stille Liebschaften haben, und zwar einmal mit den beiden halbrunden Steinbänkchen in den Nischen an Meister Hempels hochbogiger Haustür, zum anderen mit der Toreinfahrt gegenüber an Nachbar Reuters Hause, an der einst eine längst vermoderte Hand allerlei kunstvolles Figurenwerk in den Stein gegraben. Wenn man nun noch das Kramlädchen der Witwe Berndt nimmt, zu dem vierzehn Stufen hinanführen, und Gottfried Schneiders Gehöft, dessen Miststelle bis an die Straße vorstößt, sich aber schamhaft hinter einem braun gestrichenen Plankenzaune verbirgt und ihr Dasein nur der Nase verrät, dann hat man den ganzen Marktplatz von Langenbrück. Auf dem stand jetzt Heinrich Pimpfel, lachte aus vollem Halse und sagte, das alles stamme gewiß noch von Anno Tobak her, und wenn die Menschen so seien wie die Häuser, dann müsse es sich hier gewiß gut und behaglich wohnen lassen.
Meister Hempel aber zog den Gesellen fort. Er wollte den Vogel erst völlig im Käfig haben. Solange das nicht der Fall war, traute er dem Frieden nicht; denn – eben der Käfig! Ja, wahrhaftig, man hätte eigentlich Flugstangen anbringen und von einer zur anderen springen müssen. Ein Trödelladen war gegen Meister Hempels Haus eine wohlgeordnete gute Stube. Und der Mann machte alle Tage Ordnung!
Heinrich Pimpfel hatte sich bislang keine Gedanken über das Heim seines neuen Brotherrn gemacht. Wie würde es sein? Nun, ein Uhrmacher wohnt gewöhnlich nicht in einem Schlosse. Also es mag ruhig klein und bescheiden sein. Aber!!
Meister Hempel schließt die Tür auf. Der Schlüssel hat einen breiten Bart mit drei Zacken. Die Einschnitte zeigen Kreuzform. Es ist einer der alten Erbschlüssel, durch deren Ring man in der Silvesternacht Blei gießt. Das Schloß kreischt widerwillig, weil es aus seiner Ruhe aufgeschreckt wurde. Eine Schelle bimmelt. Meister Hempel langt in die Nische zur Linken und holt eine zinnerne Öllampe heraus. Das Schwefelholz streicht er an der Wand an. Der Docht brennt und rußt. Schüchtern kriecht das Licht den langen, gangartigen Hausflur entlang und stößt überall an. Wie sollte es auch nicht! Da steht ein Korb voller Bücher und Blätter, daneben ein Sack Kartoffeln, der sich müde gegen einen Mahagonitisch mit schönen, aber blinden Messingbeschlägen lehnt. Und Kisten und Truhen und große eiserne Mörser und Kannen und Krüge stehen da. Es ist ein Durcheinander, bei dem jeder Versuch, Ordnung hineinzubringen, von vornherein aussichtslos erscheint. Zwischen all dem Gerümpel bleibt ein Steg, der gerade so breit ist, daß man zur Not einen Fuß vor den anderen setzen kann. Vorsichtig, den großen Korb voller Papiere umschreitend, kommt man zur Stubentüre an der linken Seite. Die Stube erhält ihre Note durch den Arbeitstisch an den beiden kleinen Fenstern, weist die Absicht, behaglich zu sein, durch ein Sofa aus, auf dem die Wellen etwa bei Windstärke acht erstarrten, und verrät eine lange, stille Liebe durch eine Vitrine aus Kirschbaumholz, die voller bunter Porzellanfigürchen steht. Der Tisch vor dem Sofa ist eine besondere Merkwürdigkeit. In seine dunkle Nußbaumplatte sind lauter alte Kacheln eingelegt. Auf der einen reißt Simson dem Löwen, der sich gegen sein Bein stemmt, den Rachen auf, auf der anderen reicht Eva ihrem Manne den Apfel, die dritte zeigt das üppige Weib Potiphars, die den keuschen Joseph umgarnen will. Es sind im ganzen vierzig Kacheln. Meister Hempel hat sie in mehr als dreißig Jahren zusammengetragen. Der Ofen ist zwar nicht mehr der alte Bienenkorb, der einst hier stand und so unendlich viel Holz fraß, wohl aber sind dessen dunkelgrün glasierte Kacheln verwendet, die man Spucknäpfe nennt.
Die Stube ist das Abbild einer weltfernen, poetischen, kindlichen Seele, die sich jeden Tag ihrer Heimlichkeiten und Herrlichkeiten freut.
Hempel brennt die Petroleumlampe an und nötigt den Gesellen auf das Sofa. Heinrich Pimpfel hat Glück. Er landet in einem Wellentale. Und nun wuselt der Meister hin und her, schleppt heran, was der Speiseschrank in der Ecke birgt, fängt an zu schmatzen und zu schwatzen und bebt innerlich davor, daß der Geselle sagt, in einer solchen Hundetürkei könne er nicht bleiben. Hempels Haus heißt in ganz Langenbrück nur die Hundetürkei.
Heinrich Pimpfel aber spricht das Wort nicht. Er lacht mit Mund und Augen, überblickt die Stube, läßt die Augen auf des Meisters zerzaustem Vollbart ruhn und sagt: »Ich weiß gar nicht, mir ist so – –«
»Wie denn? Sag's doch. Ich weiß schon.«
»Nein, nein, Ihr wißt es nicht.«
»Sag doch nicht immer Ihr. Ich sage ja auch du. Wärst du doch mit zu Mutter Hübner gegangen.«
»Nein, nein, das ist es ja gar nicht. Ich weiß bloß nicht, ob ich das alles träume.«
»Zwick dich doch ins Ohrläppchen.«
»Es geht auch ohne das, aber es ist alles so – so – wie verwunschen.«
»In meinem Hause geht's nicht um. Da brauchst du keine Angst zu haben.«
»Ach deswegen. Aber – –«
»Du willst morgen wieder weitergehen?«
»Nein. Warum sollte ich denn?«
»Richtig, ja. Das Land gefällt dir doch.«
»Auch das Haus gefällt mir, und Ihr – du – gefällst mir auch.«
»Ach Gott, das habe ich lange nicht mehr gehört.«
»Wie kommt das, ich denke, die Leute sind hier so gut.«
»Das sind sie ja auch, natürlich, aber – sie könnten doch besser sein. Bist du satt?«
»Ja. Und es hat gut geschmeckt.«
»Dann will ich abräumen. Willst du schlafen gehen?«
»Nein. Ich bin nicht müde.«
»Dann erzähle mir ein bißchen von dir. Du hast sehr viel gesehen?«
»Nein. Ich komme aus dem Oldenburgischen und bin durch die Lüneburger Heide gewalzt. Aber lösch doch die Lampe aus. Warum sollen wir das teure Petroleum unnütz verbrennen?«
Es war dunkel im Stübchen. Heinrich Pimpfel berichtete von seiner Jugendzeit. Die Mutter war eine tapfere Frau, die mit allem fertig zu werden wußte. An den Vater, der Schreiber gewesen war, wußte er sich wenig zu erinnern. Hempel war, außer dem Lehrherrn, der dritte Meister, den der sechsundzwanzigjährige Mensch hatte.
Das Rathausglöcklein raffte die Zeit und überreichte sie, von Viertelstunde zu Viertelstunde gebündelt, der Ewigkeit. Meister Hempel saß schweigend auf einem Wellenberge und war so geübt im Reitsitz, daß er weder hüben noch drüben herunterrutschte. Er schaukelte nicht einmal. Heinrich Pimpfels Bericht hatte nichts Trübes. Meister Hempel unterbrach ihn nicht mit einer einzigen Frage. Das Männlein saß ganz still, und, so lächerlich es ist, es rann ihm eine Träne um die andere die Wangen herab. Kein Schluchzen kam über die Lippen, kein tieferer Atemzug hob die Brust. Der alte Mann weinte nicht um Heinrich Pimpfels willen, er weinte über sich. Über sein Schicksal weinte er. Wiederum hatte dies Schicksal nicht darin bestanden, daß er durch irgendeinen harten Schlag aus der Bahn geschleudert worden wäre. Nein, es war alles durchaus alltäglich hergegangen, soweit es sich um die rein äußerliche Lebensgestaltung handelte. Er war das einzige Kind bescheidener, fleißiger Ackerbürger, die sich von allem Drum und Dran des Lebens zurückhielten, weil sie keine Freude daran hatten. Sie waren beide besinnliche Naturen. Die Mutter steckte voller Märchen und Sagen und alter Weistümer, die sie auch dann nicht abtat, als sie aus der Mode kamen. Der Vater war klein und schmal. Der Sohn erreichte nicht einmal die Länge des Vaters. Die ganze Schulzeit über war er der Liliput der Klasse und schon darum ebenso das Ziel harmloser Neckereien wie häßlicher Hinterhältigkeiten, wobei die letzteren überwogen. Das Kleinbleiben war sein erstes Unglück. Das zweite bestand darin, daß der Junge weitaus klüger war als die anderen. Es ist wahr, daß sich seine Eltern von Anfang an um seine häuslichen Aufgaben gekümmert hatten, aber das war nicht wahr, daß ihm die Mutter noch bis zur Schulentlassung die Arbeiten machte. Die Behauptung war, wie jede Schulstunde erwies, erlogen. Aber mache einer etwas gegen die böswillige Meinung, die sich in die Hirne engherziger Menschen gefressen hat. Meister Hempel war heute fünfundsechzig Jahre alt. Als er fünf Jahre gewesen, war die kleine Sache geschehen, der er seinen Spitznamen verdankte. Der war also heute sechzig Jahre alt, war so läppisch, wie nur irgend etwas sein konnte, aber er starb nicht, und ich weiß gewiß, solange noch ein Mensch in Langenbrück lebt, der den kleinen Mann mit dem zerzausten Vollbart kennt, wird auch der Name leben, ja, man wird noch an des Alten Grabstein sagen: Ach richtig, das war ja der Kreuzweis!
Der Kreuzweis? Nun, das Büblein war fünf Jahre alt und hatte es durch langes Bitten durchgesetzt, daß ihm seine Mutter ein Paar Hosenträger und die dazu gehörigen Höschen kaufte. Adölfchen wollte durch die Hosenträger erringen, was ihm infolge seiner Kleinheit versagt blieb, die Achtung der anderen. Ernst genommen wollte er sein. Nun fügte es sich, daß das Büblein, als es mit seinen Eltern auf dem Felde war, zu einem natürlichen Geschäfte beiseitegehen mußte. Er setzte sich, wie es sich gehört, in den Straßengraben und kam nachher nicht mit den Hosenträgern zurecht. Indes er sich vergeblich plagte, kam der alte Hindemit vorbei, lachte und sagte: »Komm her, Adolf. Deine Arme sind zu kurz. Wo sind denn die verdammten Hosenträger? Ach, da.«
»Du mußt sie aber kreuzweis anknöpfen,« sagte der Kleine mit seinem Vogelstimmchen.
Hindemit lachte schallend auf. »Freilich, kreuzweis. So, nun sind sie kreuzweis geknöpft, du Kreuzweis.«
Abends erzählte der Alte das kleine Erlebnis daheim am Tische. Am anderen Tage war es in der Schule, am dritten auf der Gasse. Da läuft der Kreuzweis heute noch und wird bestimmt mindestens hundert Jahre alt werden, nur daß er sich die letzten Jahrzehnte an Meister Hempels Grabstein lehnen wird.
Also seine Klugheit ward Adolf Hempel ebenso zum Verhängnis wie seine Kleinheit.
Das dritte, das ihm schadete, war sein weltfernes goldenes Kindergemüt. Daß aus dem Kinde niemals ein Mann wurde, daran waren die Eltern ebenso schuld wie eine natürliche Veranlagung. Hempel traute niemand etwas Böses zu, weil er selber niemals etwas Niederträchtiges tat oder auch nur einen schmutzigen Gedanken hatte. Er stand mitten unter Menschen, die voller Ecken und Kanten waren, aber er stieß sich an deren keiner. Wohl aber war es ihm längst zur Selbstverständlichkeit geworden, daß sich andre an ihm stießen. Die Ursache dazu sah er niemals in bewußtem Übelwollen, sondern – es war eben sein Schicksal.
Dafür war er der kleine Kreuzweis aus der Hundetürkei, den niemand ernst nahm, niemand achtete, der es sich als Vergünstigung anrechnen mußte, wenn er selbst eine Hypothek auf sein Haus nehmen durfte, um einem anderen zu helfen. Ein vom Leben Beiseite-Gestellter war der fleißige, geschickte, versonnene, kindlich gute alte Mann. Das war der Schmerz seiner Kindertage gewesen, wurde das Leid des Jünglings und der Jammer des Mannes. Es gab Leute, die einen klugen Rat von ihm annahmen, dessen Vater aber in dem Augenblick, in dem sie den Rat empfangen hatten, verleugneten. Sie waren so klug gewesen. Hempel? Was hat der Kreuzweis zu präsentieren!
All das zusammengenommen, die Bitternis fünfundsechzig langer Jahre, ließ den Mann vor dem Gedanken erzittern: Sobald der Geselle erfährt, wer und was ich bin – und er wird es schon morgen wissen –, lacht er vorerst genau so über mich, wie es alle andern tun, dann aber geht er davon, wie er gekommen ist. Es nutzt alles nichts. Auch wenn ich tue, was ich ihm an den Augen absehen kann, auch wenn ich ihm schon morgen mein Haus verspreche, es nutzt nichts, beim Kreuzweis bleibt er nicht.
Das Haus! Was macht sich ein Mensch aus dem alten Hause, das sich genau so in den Winkel duckt, wie sich sein Herr unter den Menschen ducken muß. Wahrhaftig, gäbe es nicht einen Menschen, der Hempel ganz ernst nahm, der Pfarrer, und etliche, die ihn, sagen wir, mitleidig ernst nahmen, der Bürgermeister und der alte Rektor, gäbe es darüber hinaus nicht einige Gutmütige, die dann und wann mit ihm scherzten, ohne ihn von vornherein zu verspotten, er hätte längst zum Strick gegriffen. So fielen wenigstens einige Sonnenstrahlen auf seinen Weg, wenn auch nur ein einziger wirklich gerader darunter war.
Es lag dem alten Mann auf der Zunge, Heinrich Pimpfel zu sagen: Wenn du bei mir bleibst, gebe ich dir das Haus mit allem, was drin ist und was dazu gehört. Dazu gehörten zwanzig Morgen Feld, die der wackere Nachbar Reuter gepachtet hatte und gut in Ordnung hielt. Im Hause selbst aber waren Schätze aufgestapelt, von deren Größe ihr Besitzer nicht die leiseste Ahnung hatte. Seit Jahren hatte er sich aus reiner, närrischer Liebhaberei mit dem alten Plunder bezahlen lassen oder hatte ihn gekauft, den die Leute auf dem Boden in den hintersten Dachwinkel geschoben hatten, den sie in der Geschirrkammer zur Aufbewahrung von Wagenschmiere benutzten, den sie zerhacken wollten, weil er ihnen im Wege stand. Nicht die geringste Ahnung hatte der Sammler von dem Werte der Dinge. Er sammelte aus Neigung, er ließ sich von seinem natürlichen Schönheitssinn, in der Hauptsache aber vom Mitleid leiten. Du arme, entzückende kleine Schäferin mit den wunderfeinen Porzellanfingern, du sollst dem tollpatschigen Jungen als Spielzeug gegeben werden? Dazu bist du zu schade. Du alter, ehrwürdiger bunter Krug sollst zu weiter nichts mehr gut sein als dazu, die schwarze Schmiere aufzunehmen? Wie mag sich dein Schöpfer gefreut haben, als seinen Fingern all die Männer gelangen, die er auf dir formte! Weiß Gott, das sind die zwölf Apostel, die heiligen zwölf Apostel! Und niemand schämte sich der Schande, sie verschmutzen zu lassen. Auf dem großen Zinnhumpen steht die Jahreszahl 1632. Wißt ihr nicht, daß gerade in dem Jahre die Schweden das Land brandschatzten? Der Junge hat einen noch größeren bereits zerschnitten und zu Bolzenköpfchen eingeschmolzen? Dann gebt mir wenigstens den da. Es tut einem ja zu leid!
Manche Sturmnacht hat Meister Hempel keuchend über die Berge wandern sehen. Was trug er auf seinen Schultern? Ach, auf dem Boden der Windorfer Kirche stehen schon seit wenigstens zweihundert Jahren die alten Figuren, die sich bei jedem Weihnachtsläuten den Spott der Dorfjugend gefallen lassen müssen. Der Maria hat so ein Flegel die Nase abgeschlagen. Es tut einem zu leid. Meister Hempel fragt, rein aus Erbarmen, ob er den alten Krempel haben kann. Freilich kann er ihn haben. Er muß sich nur verpflichten, die Turmuhr zehn Jahre lang umsonst in Ordnung zu halten. Das tut er. Der Handel wird fertig. Die Gemeindevertretung hat wieder einmal die Interessen ihres Dorfes glänzend gewahrt. Es ist überhaupt nicht einer unter denen, die mit Adolf Hempel schachern, der, wenn Der Mann weg ist, sich nicht die Hände rieb. Der alte Narr! Daß er sich doch jedesmal über das Ohr hauen läßt! Aber, wenn er das durchaus so haben will, dann verdient er es auch nicht besser.
Hempel hat in der Tat allerlei Plunder zusammengeschleppt, aber die Dinge von Wert, teilweise von großem Wert, überwiegen bei weitem. Aber oft genug ist gerade der Plunder dem Alten lieber als das Wertstück. Er fragt überhaupt nicht nach Wert. Wie ein Kind sammelt er, wie ein Kind hütet er. Sein Haus steckt er voll von unten bis oben. Er besitzt sowohl den Apostelkrug wie den Kurfürstenkrug, den Perlenkrug wie den Akrobatenkrug. Die Humpen stehen dutzendweise umher, der alten Gläser mit der unverwüstlichen Emaillemalerei und den oft scherzhaft derben Sprüchen sind es wohl über zweihundert.
Dafür aber gibt es auch im Umkreis von zehn Stunden kein Dorf, das Hempel nicht wenigstens oberflächlich abgeklopft hätte. Heut ist es so weit, daß, wenn irgend jemand eine Uhr zum Reparieren bringt, er gleichzeitig irgendein altes Stück unter der Joppe hervorzieht und damit bezahlt.
Geld hat der Alte wenig und braucht er noch weniger. Reuter zahlt für die zwanzig Morgen Feld im Jahre zweihundert Mark Pacht. Das ist eine Riesensumme. Langenbrück und etliche Dörfer geben je einen bestimmten Betrag für die Instandhaltung ihrer Turmuhren. Einen Anzug trägt Adolf Hempel gute zehn Jahre, ohne daß er darin schäbig aussähe. Das Essen kostet herzlich wenig. Man ißt ja doch jede Woche auch so und so oft auf den Bauernhöfen.
Äußerlich steht also alles ganz gut. Aber innerlich! Beiseitegestellt, einsam, einsam! Das ist schlimmer als die Hölle, in der es wenigstens Gesellschaft gibt.
Heinrich Pimpfel hat seinen Bericht längst beendet. Es ist ganz still in der Stube. Nur fünf oder sechs Uhren ticken, aber das hört ein Uhrmacher nicht mehr. Es ist still. Draußen geistert der Mondschein, die Glocke von St. Bartholomäi brummt, das Rathausglöcklein zappelt. Still stehen die Berge, schweigend träumen die Bäume, lautlos tanzen die Glühwürmchen, und lautlos wandert die Zeit.
»Wir wollen schlafen gehen,« sagt Meister Hempel, nimmt den Fremdling an der Hand und leitet ihn, wie ein Lotse das Schiff zwischen Klippen hindurchleitet, zwischen all dem Zeuge von Wert und ohne Wert, auf knarrender, schmaler Stiege in das andere Stockwerk. Die Lampe hat der Alte nicht wieder angebrannt. Es könnte sein, daß ihm doch noch ein Tröpflein an den Augenwimpern oder im Barte hinge. Wozu das den Neuen sehen lassen? In der Kammer aber braucht man erst recht kein Licht anzuzünden. Da liegt der Mondschein so behaglich auf den Dielen wie der Großvater am Sonntagnachmittag auf dem Kanapee.
Jede Kammer des Hauses ist voller Krimskrams gestopft, auch die Heinrich Pimpfels. Er achtet nicht darauf, und der leise, leichte Modergeruch stört ihn nicht.
»Da ist dein Bett,« sagt Meister Hempel.
Es ist ein hoch aufgebautes Federbett, seit dreißig Jahren nicht benutzt, nur dann und wann einmal aufgeschüttelt. Heinrich Pimpfel sagt dem Meister gute Nacht. Der trippelt durch die Tür in die Nebenkammer, beginnt sich auszuziehen, kehrt noch einmal zurück und sagt: »Versuch's wenigstens vierzehn Tage.«
»Nein,« versichert Pimpfel, »nicht vierzehn Tage, sondern vierzehn Jahre.« Dabei streckt er sich behaglich im Bett aus. Wenn er nur ein klein wenig herumrutscht, kann er durch das Fenster das Schloß auf dem Berge sehen, um das der Mondschein wie ein ruhiges Wasser fließt. Das Fenster steht offen, drunten plätschert leise der Bach, steil ragt der Berg auf, und tausend Glühwürmchen tanzen. Es ist alles wie im Märchen.
Pimpfel kann lange nicht einschlafen. Den Blick auf das Schloß gerichtet, beginnt er an das Mädchen zu denken, ohne das alles nicht so gekommen wäre, wie es kam. Wie war sie eigentlich? Schön oder häßlich? Der Sinnende weiß es nicht, aber er beschließt: Natürlich war sie schön. Aber welcher Art war die Schönheit? War sie fein und zart oder war sie herb und derb? Es ist, als gäbe es eine Vergleichsmöglichkeit, als wäre er einem ähnlichen Menschen nicht nur schon begegnet, sondern als stünde ihm der geradezu nahe, gehöre zu ihm. Er läßt sie alle an sich vorüberziehen, die er kennt, nur eine nicht, seine Mutter. Als die Mühe vergeblich ist, beginnt er zu merken, daß er nur darum mit dem Vergleich nicht zurechtkommt, weil er sich an das Aussehen hält. Das geht nicht; denn er weiß wahrhaftig nicht, war das Mädchen groß oder klein, hatte sie ein schmales oder breites Gesicht, war sie dick oder dünn. So fangt er an, sich von Gesicht und Gestalt zu lösen, grübelt Sprache und Tonfall, Bewegung und Art nach und – kommt auf einmal auf seine Mutter. Das ist es! Sie ähnelt der Mutter. Ihre Sprache hat denselben Klang und verrät dieselbe Klarheit und freundliche Nüchternheit. So bewegt auch die Mutter die Arme, so schreitet sie, so wirft sie den Kopf rasch von einer Seite zur anderen. Die Erkenntnis tut wohl und hat zugleich ein Tröpflein Bitterkeit; denn die Mutter hat ihn noch, bildlich gesprochen, an den Ohren genommen, als er achtzehn Jahre war, hat ihn auf Wanderschaft gejagt und hat erklärt, viel würde ja aus ihm, dem Träumer, überhaupt nicht werden, aber wenn er sich nicht draußen die Nase putzen ließe, dann würde gar nichts aus ihm. Also hinaus!
Heinrich Pimpfel schlief ein und schlief traumlos, bis ihm die Sonne einen herzhaften Nasenstüber gab. Da wachte er auf, war aber zu faul aufzustehen und tröstete sich damit, daß es noch nicht spät sein könne, der Meister sicher auch noch schlafe. So studierte er vorerst seine Zudecke. Eine merkwürdige alte Zudecke. In dem Hause war überhaupt wohl alles alt und merkwürdig. Pimpfel strampelte vorerst, bis er die Zudecke umgedreht hatte, das Fußende am Kopfe war. Nun konnte er die in den Überzug gewebten Bilder studieren. Sie lagen in drei breiten Bändern quer über die Decke. Das wiederholte sich der ganzen Länge nach. Auf dem ersten Bilde sah man die Stadt Jerusalem. Große, vieltürmige Kirchen, hohe Eingangshallen, breites Mauerwerk. Darunter stand Anno 1793. Auf dem nächsten Bilde war die Stadt Hebron zu sehen, die sich von Jerusalem nur dadurch unterschied, daß ihre Kirchen weniger Türme hatten und ihre Hallentore nicht so groß waren. Auf dem dritten Bande sah man die Kundschafter aus dem Heiligen Lande zurückkehren. Vor und hinter ihnen geschlossene Gruppen, zwischen diesen Josua und Kaleb, eine Weintraube auf dem Stecken tragend, die so groß war, daß sie fast die Erde berührte. Diese drei Bildbänder waren kunstvoll eingewebt und wiederholten sich.
Ihr Studium nahm geraume Zeit in Anspruch. Als es aber schließlich doch beendet war, begann der Faulpelz seine Augen durch die Stube wandern zu lassen. Von der Decke herab hing ein kleiner, zinnerner Kronleuchter, aus der Ecke her sah eine Maria ohne Nase und hatte das Kind auf dem Arme. An der fand Pimpfel nichts, gar nichts, das ihm gefallen hatte. Das pausbäckige Gesicht reizte ihn im Gegenteil zum Lachen. Behäbig protzte zu Füßen der Maria ein breiter Humpen. Der neben ihm stehende kleine Kaffeekessel sah weit zierlicher aus. Und Gläser und Teller und Schüsseln standen umher. Alles bunt, und alles blind vor Alter und Staub.
Es mußte doch nun allerhand Zeit vergangen sein. Ob der Meister noch schlief? Was war er für ein putziger Mann. Er schien richtige Angst davor zu haben, daß er, Pimpfel, wieder wegginge. Dabei dachte er gar nicht daran. Das Land, das Haus, der Meister, sie gefielen ihm. Auch die alten Dinge machten Spaß. Aber das wußte er: Geld hätte er dafür nie und nimmer ausgegeben.
Langsam stand er auf und warf einen Blick durch die offene Kammertür. Das Bett war leer. Nun beeilte er sich. So vorsichtig er nachher den Hausflur entlang schritt, er eckte da und dort an, landete aber schließlich in der Stube.
Da saß der Meister vor dem Werktisch und rieb an einem alten Kruge. Dabei strahlten seine Augen, er lachte Pimpfel entgegen, hob den Krug und sagte: »Sieh her, das ist etwas ganz Rares.« Es war ein Krüglein aus Eschenholz, in das Zinnarabesken eingelegt, dessen oberer Rand und Fuß mit Zinn eingefaßt waren und dessen Deckel ganz aus Zinn bestand und neben etlichen Buchstaben die Jahreszahl 1748 aufwies.
Der Meister freute sich wie ein Kind, strich liebkosend mit spitzen Fingern über die Arabesken und fragte, ohne den Blick von dem Kruge zu lösen, wie Heinrich geschlafen und was er geträumt habe. Als er hörte, daß der Schlaf traumlos gewesen sei, kicherte er, und in seiner Stimme schienen die Motten geradeso gesessen zu haben wie in seinem Barte.
Nachdem die beiden ihr knappes Frühstück gegessen, schlug Hempel vor, nun erst einmal Ordnung zu machen. Damit war Pimpfel nicht einverstanden. Er wollte an die Arbeit gehen. Meister Hempel erschrak richtig. Dann müsse er wohl auch mit arbeiten? Er hatte so gern den Krug erst geputzt. Es tue einem ja zu leid, all den Schmutz auf so einem schönen Stück zu lassen. Pimpfel beruhigte ihn. Er möge erst den Krug putzen, dann Ordnung machen, solange er wolle. Der Geselle aber wolle nachsehen, was denn mit den Uhren los sei.
Also putzte Hempel vorerst zwei Stunden an dem Kruge und machte nachher zwei Stunden Ordnung, wobei er nur den Standort der Dinge wechselte. So wurde es elf.
Er trat also, sich den Schweiß abwischend, wieder in die Stube und erklärte, jetzt müßten sie die Uhren aufziehen. Heute ginge er, der Meister, mit, von morgen ab möge es Heinrich allein machen.
Inzwischen hatten sich in Witwe Berndts Lädchen die Gäste eingefunden, die so regelmäßig kamen, wie etwa die Wochentage oder die Stunden einander folgen. Als erste kam Pauline Heinert. Die kam pünktlich um einhalb zehn und ging um eins. Ihr Mann hatte eine kleine Landwirtschaft und kam trotz allen Fleißes Jahr um Jahr rückwärts. Kein Tag verging, an dem er seiner Frau nicht gesagt hatte, daß sie daran schuld sei. Es war so weit gekommen, daß er sie geschlagen hatte. Jetzt rührte er sie nicht mehr an, bat nicht mehr, fluchte nicht mehr. Er hatte sich scheinbar in das Unabänderliche gefügt; denn die Drohung, daß er einmal die Witwe Berndt samt ihrem Kramladen und ihren Klatschbasen in die Luft sprengen werde, war nicht ernst zu nehmen. Es mochte regnen oder schneien, drängende Zeit oder faule sein, um halbzehn kam Pauline Heinert. Um zehn tappte Lina Karsten die Steintreppe herauf, um halb elf Olga Krause. Die Parzen waren zusammen und spannen Schicksal. Was die Frau Lehrer Schmidt gestern für einen Hut getragen! Es sei ein Spuk und eine Schande! Die Berta Männer ginge übrigens ganz gewiß mit Arno Wolf. Daß das die Alten zugeben! Und mit Amalie Hübner habe man es nun. Sie hätten es ja immer gesagt. Nun müßte sie heiraten. Nein, nein, so ein Sündenbabel wie Langenbrück gäbe es nicht zum zweitenmal.
Guckt doch, wen hat denn der Kreuzweis da aufgegabelt? Mein Gott, das Gesicht hat man ja überhaupt noch nicht gesehen. Das kann gar nicht von hier herum stammen. Hier sind so blonde Haare nicht Mode. Auch das ganze Gesperre, die Gestalt, gibt's nicht her, daß er aus der Nähe stamme. Hier sind die Leute alle kurz und gedrungen. Soweit sie aber lang sind, sind sie eckig und kantig. Hm. Was soll denn das heißen? Und davon hat der Heimtücker, der Kreuzweis, nichts gesagt? Man hat nichts gewußt und wird einfach vor die fertige Tatsache gestellt?
Amtsrichters Anna tritt ein. Sie kauft Reis und Zucker und Stärke, aber – sie hat das alles und geht doch nicht, sondern hält sich auf. Keine der drei Frauen denkt sich etwas dabei, aber jede ist entrüstet, als sich die Sache aufklärt. Anna geht in demselben Augenblick, in dem Hempel und Pimpfel die Rathaustreppe herunterkommen. Das kann Zufall sein. Nein, es ist kein Zufall! Wehe, wehe, was tut sich da! Anna geht auf die beiden zu, lacht, streckt ihnen schon von weitem die Hand entgegen. Lacht immer noch, schreitet mit ihnen den Marktplatz hinab. Also kein Zufall, sondern die gewollte Fortsetzung von etwas Vorausgegangenem. Die Parzen stieben auseinander. Heinert kriegt heute sein Mittagbrot rechtzeitig. Daß es angebrannt ist, wer kann dafür? Pauline Heinert sah gerade Emma Wagner auf der Straße gehen und mußte sie anhalten, die Treppe hinabrennen und fragen, ob sie's denn schon wisse. Nein. Was denn? Die Anna von Amtsrichters hat einen Schatz. Ja, wahrhaftig. Einen Fremden. Er ist beim Kreuzweis in der Hundetürkei. Wenn das die Frau Amtsrichter – – Nein, nein, so niederträchtig kann man nicht sein. Aber – mit der Zeit kommt's ja doch heraus. Man hat gedacht, sie und der Würfel von der Nähermühle – – Die Welt, die Welt!
Also der Kreuzweis hat einen Gesellen! Adolf Hempel holte sich jeden Mittag den Kirchenschlüssel in der Pfarre. Dahin hatte er heute Heinrich mitgenommen, damit der wisse, wo der Schlüssel hing.
Zufällig kam der Pfarrer die Treppe herab.
»Morgen, Herr Pfarrer!«
»Morgen, Meister Hempel. Wen bringen Sie denn da mit?«
»Das ist mein Geselle.«
»Was, Ihr Geselle?« Der Pfarrer reicht Pimpfel die Hand.
»Ist das wahr?«
Pimpfel verneigt sich ein wenig, lacht den Geistlichen aus strahlenden blauen Augen an, streicht das Blondhaar zurück und versichert, daß es tatsächlich wahr sei. Nach ein paar kurzen Fragen: Woher? Was war der Vater? Wie alt? ein kräftiger Händedruck des Pfarrers: »Das freut mich für unseren wackeren Meister Hempel. Die Wege werden allmählich sauer. Nicht wahr, Herr Nachbar? Ja, ja, es geht mir ebenso. Ich wollte, ich könnte auch so leicht eine junge Kraft zu meiner Hilfe einstellen. Man muß nicht klagen. Gott befohlen! Nachbar, haltet den Vogel fest, daß er Euch nicht wieder davonfliegt.«
Der Pfarrer geht um die Ecke. Er hat etwas mit dem Bürgermeister zu besprechen. Rathaus und Pfarre sind unmittelbar benachbart. Pimpfel und der Meister schreiten zur Kirche hinauf. Um sie an dem Platze erbauen zu können, den einst Menschen, die ihren Gott und sein Haus mitten unter sich haben wollten, auswählten und der in der Tat der beste im ganzen Engtale ist, hatten die Felsen zum guten Teil abgetragen werden müssen und stiegen nun wildzackig, von Sickerwasser überrieselt, stellenweise von grünem Moos gepolstert, steil an. In diese Felsnische drückte sich der Turm, der ebenso gradlinig, klotzig und trutzig war wie das Schloß auf dem Berge gegenüber. Dicht unter dem Dache waren etliche gotische Fenster als Schallöcher angebracht.
Die Männer hatten die ungefüge, knarrende Uhr aufgezogen, traten an die Fenster und sahen hinaus auf das Land, über dem die heiße Sommersonne stand. Langenbrück lag in einem Engtale, durch das der Bach der Saale zurauschte. An der endete eigentlich das alte Städtchen. Was sich heute links der Straße, unmittelbar am Fuße des Hanges, weiter hinaus an der Saale entlang hinzog, war, bis auf das Schützenhaus, neu. Es mochte nunmehr auch hundert Jahre alt sein, aber was hieß das gegen das sechshundertjährige Städtchen selbst!
Heinrich Pimpfel war heute ebenso entzückt und entrückt wie gestern abend. Er hätte sich am liebsten auf eine der steinernen Fensterbänke gesetzt, die Beine hinabbaumeln lassen und in das Land hinausgeträumt. Die Pflicht rief, die Rathausuhr wartete.
Inzwischen war im Rathaus bekannt geworden, daß Meister Hempel einen Gesellen habe. Der Pfarrer hatte es dem Bürgermeister in aufrichtiger Freude erzählt. Der hatte lachend den Kopf geschüttelt. »Der Kreuzweis hat einen Gesellen? Na, viel Spaß in der Hundetürkei. Er ist ein guter Kerl, der Alte, weiß schon, Herr Pfarrer, aber ein komischer Kauz bleibt er. Sagen Sie mir bloß, wovon die beiden leben wollen. Wenn der Geselle zum Meister paßt, hungern sie alle beide, und wenn er nicht zu ihm paßt, ist er in acht Tagen wieder über alle Berge. Ja doch, Herr Pfarrer, daran zweifelt ja niemand, daß der alte Hempel eine kreuzbrave Haut ist, aber er ist doch kein Arbeiter. Das müssen Sie mir zugeben. Er hat für nichts Sinn als für die alten Töpfe und Schüsseln, mit denen ihn die Leute über das Ohr hauen. Jede alte Zinnlampe liest er vom Aschenhaufen auf. Ich hab's ihm oft genug gesagt, er soll eine ordentliche Arbeit abliefern, pünktlich, wie es sich gehört, und sich ebenso bezahlen lasten. Es nutzt nichts. Meinetwegen. Im Grunde kann mir's egal sein, was er macht. Zur Last wird er ja der Stadt nicht fallen. Es sind immer noch das Haus und die Grundstücke da. – Leben Sie wohl, Herr Pfarrer!«
Nach diesem Gespräch also war es kein Zufall, daß, als Hempel und sein Geselle die Bodentreppe im Rathaus herabkamen, da der Bürgermeister stand. Er musterte den Fremden und kam zunächst nicht zurecht. Abenteuerlich sah er nicht aus, nüchtern und alltäglich auch nicht. Die Mädel würden Gefallen an ihm finden. Er war ein hübscher Kerl mit gesunden, kräftigen Gliedern, aber eben weil er das war, stimmte dazu der fast jungenhafte Gesichtsausdruck nicht. Das eine schien also dafür zu sprechen, daß der Mensch nicht zu dem alten Sonderling paßte, das andere dafür, daß er doch am rechten Platze sei. So oder so. Wenn die Papiere in Ordnung waren, ging die Sache den Bürgermeister nichts an. Er sprach nachher lachend mit dem Stadtsekretär über Hempels Errungenschaft, und die beiden waren sich einig darüber, daß die Wirtschaft in der Hundetürkei jetzt entweder noch toller oder aber endlich besser werden würde. Das Letztere schien ihnen bei Hempels Verdrehtheit das Unwahrscheinlichere.
Und nun das dritte Zusammentreffen, das auf dem Marktplatze! Obwohl Heinrich Pimpfel auch an den beiden anderen nichts auszusetzen hatte, war ihm dies doch bei weitem das angenehmste.
Anna Hagen kam auf sie zu. »Guten Morgen, Meister Hempel. Er hat also doch noch dagesessen, als Ihr an die Schwedenschanze kamt?«
»Freilich, freilich, Anna.«
»Kann er denn nun auch etwas?«
Da sah Hempel seinen Gesellen erschrocken an. »Kannst du auch was?«
Pimpfel lachte. »Die drei Uhren von gestern sind fertig.«
»Was?« Hempel sprang gleichzeitig mit beiden Beinen in die Lust. »Was? Fer–tig?« Er sah seinen Gesellen mißtrauisch an.
Der nickte ihm zu. »Es war doch gar nicht viel daran.«
Hempel ergriff Annas Hand und zog sie hinter sich her. »Komm nur, komm!« Die wehrte sich lachend, da sie keine Zeit habe. »Das ist doch – nicht – möglich! Fertig?« Eine Träne schoß ihm ins Auge, er blieb stehen. »Heinrich, warum mußt du denn gleich am ersten Tage lügen?«
Pimpfel ward rot. Ärger stand ihm im Gesicht. »Ich lüge nicht.«
»Das ist – doch – nicht – möglich! Drei Uhren!«
Anna Hagen erkannte, daß sich die Sache zuspitzte. Warum sollte der Geselle die Arbeit, die, wie er sagte, unbedeutend war, nicht tatsächlich fertiggebracht haben? War es der Fall, dann mußte er sich verletzt fühlen. Es war dem unbeholfenen Meister zuzutrauen, daß er durch sein Ungeschick schon morgen wieder ohne Gesellen war. Das hätte ihr leid getan.
Also zog nun sie den Meister hinter sich her. »Die Uhren sind drin in der Stube, nicht hier auf dem Marktplatze.«
Sie hingen, eine neben der anderen, an der Wand und gingen. Pimpfel war wirklich verletzt. Mit kurzer Handbewegung wies er auf die Uhren: »Da sind sie.« Damit trat er hinter Hempel und Anna Hagen zurück.
Der Meister aber stand da mit offenem Munde, fuhr sich durch den Bart und wagte erst nach einer Weile schüchtern zu Anna aufzusehen. Der Blick war so kindlich traurig, daß das Mädchen hell auflachte. Da sie aber zugleich die Bitte fühlte: So hilf mir doch! schlug sie den Meister lachend auf die Schulter. »Gelt, das hattet Ihr nicht gedacht.« Sie wendete sich um. »Sie müssen das dem Meister nicht weiter übelnehmen. Er hätte ein Vierteljahr gebraucht.« Und wieder zu Hempel: »Nicht wahr, das ist doch ungefähr die Zeit, die ein richtiger Uhrmacher braucht? – Nun muß ich aber gehen. – Bloß das will ich noch sagen: So kann das hier wirklich nicht bleiben. Was steht da bloß für Gerümpel herum! Kein Mensch kommt mehr durch. Seit wann gehören die Erdäpfel in den Hausflur? Die gehören in den Keller. Und die Körbe mit den Heften kommen auf den Boden.«
»Ja,« sagte Hempel und nickte. »Du hast schon recht. Ich habe gar nicht daran gedacht. Anna – kannst du mir nicht noch etwas sagen? Ich mache alle Tage Ordnung.«
»Ach, Ordnung! Unordnung macht Ihr, bloß daß die heute so aussieht und morgen so. Ich soll Euch sagen, wie man Ordnung macht? Wenn der junge Mann wäre wie der alte, wäre es vielleicht nötig. Aber der ist nicht so. Also!«
»Heinrich,« Hempel sprach leise, »kannst du Ordnung machen?«
»Selbstverständlich kann ich Ordnung machen, aber wenn du mich gleich zum Lügner machst, ist es besser, ich gehe wieder meiner Wege.«
Da trat Hempel zitternd an den Gesellen heran, sagte kein Wort, nahm seine Hand und strich immer darüber, die Augen wieder auf das Mädchen gerichtet: Hilf mir doch! Die sah Pimpfel blitzend an: »Das wäre eine Schande, einen alten Mann, der den Umgang mit Leuten beinahe gar nicht mehr gewöhnt ist, im Stich zu lassen, weil ihm der Mund einmal durchging. Das sage ich Ihnen: Wenn Sie das machen, dann halte ich nicht so viel von Ihnen.« Sie schnippte mit dem Finger und ging festen Schrittes aus der Tür.
Hempel aber stand und hielt Heinrich Pimpfels Hand noch immer fest in der seinen. Nach seiner Ansicht hatte es Anna grundverkehrt gemacht, und es war durchaus verständlich, daß sich die Falte über Heinrichs Nase vertiefte. Und dann auf einmal tat der einen langen, tiefen Atemzug, lachte und sagte ganz glücklich: »Grade wie meine Mutter!«
Damit war die Sache abgetan, Meister Hempel bereitete das Mittagbrot, Heinrich Pimpfel begann inzwischen Ordnung zu machen. Das Mittagessen bestand aus Kartoffeln und Hering. Es unterschied sich damit nicht von annähernd zweihundert Mittagbroten im Jahre. Die einzige Abwechselung bestand darin, daß Montag und Donnerstag die Tage für geräucherten, Dienstag und Freitag die für marinierten, Mittwoch und Sonnabend die für Brathering waren. Auf das Essen selbst legte der Meister keinen Wert. Zumeist ward es ihm gar nicht bewußt, was er eigentlich aß; denn der geistige Genuß überwog während des Essens den leiblichen. Er bestand darin, daß der alte Liebhaber mit den Augen einen alten Krug oder ein Glas liebkoste oder sich still in ein Bild der Gartenlaube versenkte. Unter denen waren ihm die Darstellungen aus tropischen Ländern die liebsten. So konnte es geschehen, daß er eine geschlagene halbe Stunde muffelte und malmte und zuletzt feststellte, daß er überhaupt nichts weiter als trockene Kartoffeln gegessen hatte.
Heute nun war Bratheringstag, denn es war Mittwoch. Frau Berndt hatte das Töpfchen mit Hering und Brühe längst zurechtgestellt. Sie war schon halb verzweifelt, als der Meister eine Stunde später als sonst kam. Ihre Brust war für die Spannung fast zu eng geworden. Endlich konnte sie das Sicherheitsventil ziehen. Sie schwatzte, liebkoste ihr Doppelkinn mit Daumen und Zeigefinger, spitzte die Lippen und tauchte aus zuckersüßer Tiefe auf. Woher denn der Nachbar den Besuch habe? Ach was, ein Geselle? Und durch die Anna? An der Schwedenschanze, abends gegen halb neun? Ach was! Ein bildschöner Mann. Und gewiß von gutem Herkommen. Nein, so ein Glück für den Meister und, sie wolle ja nichts sagen, vielleicht auch für sonst jemand noch. Aber was sagt der Mühlenkutscher dazu? Der hat sich doch, man weiß ja nichts Gewisses, aber der hat sich da doch wohl auch gespitzt. Allerdings, wenn man bedenke – – Und das Zusammentreffen vorhin war doch gewiß verabredet. Ach, Meister, Ihr seid ein Schelm. Das wäre Zufall gewesen? So, so, zwei Heringe wolle er heute haben? Natürlich. Das ist also von jetzt ab immer so? Schön, der Auftrag wird bestens ausgeführt werden.
Am Abend gab es in Langenbrück niemand, der noch nicht von Meister Hempels neuem Gesellen gehört hätte. Inzwischen hatten die beiden bis gegen vier Uhr Ordnung gemacht. Der Kartoffelsack stand also im Keller, aber ausgeleert waren die Kartoffeln nicht, und als der Herbst kam, war der Sack, und mit ihm ein zweiter, vermodert. Die Körbe voller Zeitschriften standen auf dem Boden. Das aber war eigentlich das ganze Ergebnis des Ordnungmachens, wenn man davon absah, daß die alten Kirchenfiguren nun nicht mehr da und dort in den Ecken, sondern wie Soldaten in Reih und Glied standen, die Schüsseln aufgestapelt waren, die Humpen, soweit man sie erreichen konnte, eine Pyramide bildeten. Drei Stunden lang war es ein erbitterter Kampf gewesen. Heinrich Pimpfel hatte allerlei auf den Boden verbannen wollen, Hempel hatte um jedes Stück gerungen und meist gesiegt, weil er behauptete, er werde nie mit dem Gefühl, daheim zu sein, über die Diele gehen, in die Kammer treten können, wenn dies oder jenes Stück nicht an dem gewohnten Platz stünde. Dabei hatte er den Hausgenossen mit beredtem Munde auf Schönheit und Ehrwürdigkeit seiner Schätze aufmerksam gemacht. Dem war dabei eine Ahnung davon aufgegangen, daß die Stücke gar nicht um ihrer selbst willen dastanden, gesammelt und gehütet wurden, sondern daß sie eine Seele hatten. Er wagte also nichts gegen des Meisters Eigensinn zu sagen. Was hätte er auch einwenden sollen? Im Grunde gingen sie beide die gleichen abseitigen Pfade, nur daß sie Hempel daheim, Pimpfel draußen wanderte.
Das erwies sich nachher deutlich, als sie die Uhren forttrugen und der Geselle in helles Entzücken über jeden tiefen Talblick, jeden weiten Ausblick auf die fernen Berge, jeden trotzigen Felsen, fast jeden himmelhohen Baum geriet, indes Meister Hempel davor ziemlich unberührt stand. Sie verstanden einander also zwar nicht, aber sie fühlten, daß sie doch ineinander mündeten. So gingen sie friedlich schiedlich nebeneinander her, einer den andern innerlich um seiner Absonderlichkeit willen bemitleidend, sich aber hütend, darüber ein Wort verlauten zu lassen.
Obwohl scheinbar alles beim alten blieb, traten doch sehr bald gewisse Änderungen ein. Heinrich Pimpfel begnügte sich auf die Dauer nicht mit Kartoffeln und Hering. Der Meister war es zufrieden, als der Geselle dann und wann Fleisch begehrte und kochte oder briet; er war nur ganz verwundert darüber, daß er daran nicht selber einmal gedacht hatte.