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Frau Gesche Brandis saß an einem offenen Fenster ihres Hauses und blickte auf den Markt hinunter. Es war ein heller, heiterer Sommertag; die alte Linde vor dem Rathause prangte in lichtem Grün, und das Geschlecht der Spatzen, das in ihren Zweigen nistete, lärmte, schrie und zankte sich, wie sich das für die trotzigen, wohlgenährten Hildesheimer Stadtsperlinge so gehörte und unter ihnen von alters her üblich war. Die ebenso trotzigen und wohlgenährten kleinen Stadtjunker, die um den Rathausbrunnen spielten, machten ihnen das getreulich nach. Sie lärmten, schrien und zankten sich noch lauter als die gefiederten Bewohner der Ratslinde. Einige kletterten auf den Brunnen hinauf und spritzten aus seinem Becken Wasser auf die Köpfe der anderen, die sie dafür in die Waden zwickten und an den Beinen herabzuziehen versuchten.
Die stattliche Frau da droben hätte sonst an diesem Bilde ihre Freude gehabt, denn ihre eigenen Buben waren mitten darunter, und die Palme der Wildheit und Keckheit gebührte ihnen ohne Zweifel. Aber sie achtete nicht darauf, sah und hörte gar nichts, was da unten vorging. Das Herz war ihr über die Maßen schwer, und eine Angst lag auf ihrer Seele, deren sie trotz aller Anstrengung nicht Herr zu werden vermochte. Von Zeit zu Zeit faltete sie die Hände und begann zu beten, aber sie fand die Worte nicht, ihre Gedanken verwirrten sich. Ihre Aufregung war so groß, daß es ihr unmöglich war, Herz und Sinne zu Gott zu erheben. Sie lauschte immer wieder nach dem Rathaus hinüber, ob wohl ein Ton oder ein Geräusch von dort an ihr Ohr dränge. Aber der große graue Bau lag stumm und friedlich da, überstrahlt von dem Glänze der Nachmittagssonne, und niemand sah ihm an, daß in ihm ein Kampf ausgefochten wurde, der entscheidend werden mußte für die Stadt auf viele Jahre hinaus. Keine der gewöhnlichen Ratssitzungen wurde abgehalten, in denen es sich handelte um Ausgaben und Einnahmen oder um unbedeutende Fehden mit Wegelagerern und Helden der Landstraße. Heute hatte da drüben der Kampf wieder begonnen, der Hildesheim schon einmal schwer erschüttert hatte, der Kampf zwischen dem alten und dem neuen Glauben, und ihr Vater hatte ihn entfesselt.
Sie wußte das seit der vergangenen Nacht. Gestern gegen Abend war einer der Ratsboten im Hause erschienen und hatte ihrem Manne einen versiegelten Zettel gebracht. Tilo war, nachdem er gelesen, sehr still und schweigsam geworden, hatte sehr wenig gegessen, was bei ihm eigentlich nur dann vorkam, wenn er vorher des Guten zu viel getan hatte, und war dann zum Vater gegangen. Den hatte er, wie sie nachher erfuhr, nicht daheim getroffen, war, um ihn zu finden, in mehreren Trinkstuben gewesen, aber unverrichtetersache wieder heimgekehrt, als sie eben das Lager aufgesucht hatte. Sie war klug genug gewesen, ihn nach nichts zu fragen; aber tief in der Nacht, als er den Schlaf nicht finden konnte, hatte er ihr das Geheimnis anvertraut. Ihr Vater wolle den Rat bereden, dem Herzog von Wolfenbüttel wider die Schmalkaldner Hilfe zu leisten mit der ganzen Macht der Stadt. Dafür werde er vielleicht eine Mehrheit finden beim Rate. Aber ihr Vater wolle noch mehr. Er habe in Erfahrung gebracht, daß Christof von Hagen viele Bürger vereinigt habe zu einem geheimen Bunde, wie das ja auch jedermann wisse. Solche geheime Bündnisse von Bürgern seien nach altem Stadtrecht streng verboten und unter schwere Strafe gestellt. Darum sollten Christof von Hagen und einige andere auf der Stelle verhaftet und in die »Lilie« gebracht werden, das turmähnliche Gefängnis an der Südseite des Rathauses. Dann solle jeder einzelne Bürger vor den Rat gefordert und vernommen werden, ob er dem Bunde angehöre und bereit sei, ihm zu entsagen und dem Rat von neuem Treue und Gehorsam zu schwören. Wer sich weigere, solle aus der Stadt verbannt werden. Ob aber dafür der Bürgermeister eine Mehrheit erhalten werde, sei zweifelhaft, denn wenn die gemeinen Bürger sich nicht überrumpeln ließen, könne es dadurch zum Bürgerkriege kommen.
»Wissen es viele, daß der Vater solches vorhat?« hatte Frau Gesche ihren Mann gefragt.
»Bis jetzt nur seine Vertrauten. Der Rat und die Vierundzwanzig sollen selber überrascht werden«, war die Antwort Herrn Tilos gewesen, und nach einer Weile hatte er unter schwerem Seufzen hinzugesetzt: »Bei deinem Vater weiß man nie, ob er nicht die Leute zu seinem Willen zwingt. Aber mir schwant, er wird seinen Willen nicht durchsetzen, und es ist mir zweifelhaft, ob ich übermorgen noch Ratsherr bin, und ob er noch Bürgermeister ist. Es steht alles auf einer Karte. Wehe, wenn sie gegen uns schlägt!«
»Es steht alles auf einer Karte« – dieses Wort kam jetzt Frau Gesche wieder in den Sinn, als sie drüben vor dem Rathause eine Rotte bewaffneter Knechte aufziehen sah. Die waren jedenfalls von ihrem Vater bestellt, damit sie sogleich zur Verhaftung der Rädelsführer abgesandt würden, wenn er die Einwilligung der Versammlung erhalten hatte. Aber würden der Rat und die Vierundzwanzig ihm die Einwilligung erteilen?
Frau Gesches Angst ward so groß, daß sie beinahe in Tränen ausgebrochen wäre. Da war es ihr denn eine große Beruhigung, als sie jemand auf ihr Haus zukommen sah, mit dem sie sich über ihre schwere Besorgnis aussprechen konnte. Es war ihr jüngerer Bruder Jost, der schnellen Schrittes herankam. Der junge Mann weilte schon seit zwei Monden wieder in der Stadt, und er war in dieser Zeit seinem Vater nähergetreten, als jemals in früheren Zeiten. Er war sein Vertrauter geworden, mit dem er fast alles besprach, und den er zu wichtigen Dingen verwendete. Das hatte ihn auch in den Augen seiner älteren Schwester sehr gehoben, während er ihr früher als ein windiger und unsteter Mensch erschienen war, dessen sie mit geringem Stolze gedachte.
»Weißt du etwas?« rief sie ihm entgegen, als er das Gemach betrat.
»Was soll ich denn wissen?« entgegnete er verwundert.
»Nun, wie es drüben im Rathause steht.«
»Das kann niemand wissen, als die im Rathause verhandeln. Wie siehst du denn übrigens aus? Bist du krank?«
»Nein, Jost, ich bin nur in großer Angst und Sorge. Ach, wie wird das ausgehen!«
»Du weißt, worüber heute verhandelt wird?«
Sie nickte. »Wer hat dir's denn gesagt?« fragte er.
»Wer wohl anders als Tilo.«
Jost Wildefüer schüttelte den Kopf. »Ei, das hätt' ich nicht gedacht von meinem Herrn Schwager, daß er seiner Frau solche Dinge erzählt. Wärst du ein Plappermaul und hättest eine liebe Gevatterin in der Nahe, so könnte die Sache zu früh in der Leute Mäuler kommen.«
»Ich bin aber kein Plappermaul und schwatze nicht mit Gevatterinnen über solche Dinge, und deshalb kann mein Mann mir alles erzählen«, erwiderte sie abweisend. Beinahe hätte sie hinzugesetzt: »Bei deinem Weibe wäre das freilich nicht möglich«, aber sie bändigte im letzten Augenblick noch ihre scharfe Zunge.
»Wenn du es denn nun einmal weißt,« sagte er ruhig, »so kannst du auch wissen, daß der Vater im Rate eine Mehrheit hat. Wir saßen gestern bis in die Nacht bei Burchard Meier, und da haben wir das festgestellt.«
»War der Vater wirklich seines Sieges sicher?«
»Das war er. Zum wenigsten schien es so. Du weißt ja, wie er ist: Je näher der Gefahr, um so ruhiger. Nur trank er ungeheuer viel Rotwein. Es mögen wohl die vier Quart gewesen sein.«
»Um Gottes willen!« rief Frau Gesche.
»Ja, ich hätte ihn fast gebeten, etwas weniger zu trinken. Aber wie kann ich das als sein Sohn?« fuhr Jost Wildefüer fort. »Burchard Meier, sein alter Kumpan, der könnt' es ja. Aber der schenkte ihm immer wieder ein und trank selber noch mehr als er.«
»Es fehlt eben unsere Mutter«, sagte Gesche leise. »Solange sie lebte, trank er höchstens bei Festen viel, wie alle Männer tun.«
»Der Wein vertreibt den trüben Mut, und der Vater ist oft in schwermütigen Gedanken«, erwiderte der Bruder. »Ich verstehe sehr wohl, daß er seinen Trost im Kännlein sucht. Aber gestern wurde ich selber bedenklich, ob nicht der schwere Wein dem schweren Manne könne zum Schaden sein. Doch ging er munter und aufgeräumt mit mir nach Hause. Ja, als wir voneinander schieden, erzählte er einen Scherz. Das hat er lange nicht getan. Mir war's, als sei er wieder so, wie er damals war, als wir miteinander zu Base Lisbeths Hochzeit nach Hannover fuhren. Das ist nun sieben Jahre her. Weißt du noch?«
Er erhielt keine Antwort auf seine Frage, denn Frau Gesche hatte sich weit aus dem Fenster gereckt und betrachtete offenbar etwas, woraus sie nicht klug werden konnte, denn sie schüttelte mehrmals den Kopf. Endlich sagte sie: »Komm einmal her, Jost. Was mag denn das zu bedeuten haben?«
Er öffnete das Fenster neben ihr und sah, daß aus dem Tore des Knochenhauer-Amtshauses ein Trupp von Leuten herausgetreten war, die Sturmhauben auf den Köpfen und Spieße in den Händen trugen. Stadtknechte waren das nicht. Es waren Bürger in ihrer Wehr, ausgerüstet, als ob sie die Torwache beziehen wollten. Zuerst waren ihrer nur wenige, aber immer mehr vergrößerte sich der Haufe, bald waren wohl zwanzig Mann beisammen.
Jetzt rief der Fähnleinführer der Stadtknechte vom Rathause zu ihnen hinüber: »Kurt Wittkopp, was wollt ihr hier? Was habt ihr hier zu verrichten?«
Der Bader und Herbergswirt Kurt Wittkopp antwortete mit seiner lauten, breiten Stimme: »Wir sind hierherbestellt!« – »Vom Bürgermeister!« setzte eine quäkende Stimme hinzu, worauf ein brüllendes Gelächter erfolgte.
Der Führer der Stadtknechte schritt nun langsam und würdevoll über den Markt, wahrscheinlich, um dem bewaffneten Bürgerhaufen zu befehlen, auseinander- und heimzugehen. Aber als er in die Mitte des Platzes gekommen war, blieb er unschlüssig stehen. Denn vom Molkenmarkte her aus der Seilwinderstraße rückten jetzt auch Bewaffnete auf den Markt. Von und vor der Ratsapotheke her ward Rufen und Geschrei hörbar.
Die beiden Geschwister am Fenster des Brandisschen Hauses blickten einander an, bleich, verstört, keines Wortes mächtig. Endlich flüsterte Gesche: »Was hat das zu bedeuten, Jost? Gott steh' uns bei! Das ist ein Aufruhr.«
Ihr Bruder nickte. »Du hast recht. Ich gehe sogleich hinüber und warne den Vater.«
»Ja, gehe, gehe!« erwiderte sie zitternd. »Gott stehe dem Vater bei und uns allen!«
Der junge Mann flog die Treppe hinab und eilte durch die Diele auf die Straße. Dort aber traf er mit einem Volkshaufen zusammen, der aus der Judengasse herausquoll. An seiner Spitze schritt Christof von Hagen, in Eisen gekleidet vom Kopf bis zu den Füßen, sein Schwert entblößt in der Rechten tragend.
»Sieh da, Jost Wildefüer!« rief er. »Wo willst du hin?«
»Aufs Rathaus, zu meinem Vater.« »Das trifft sich gut. Dahin wollten wir auch, und wir wollen dich mitnehmen. Ich habe schon nach dir geschickt in dein Haus. Um so besser, daß wir dich hier treffen! Wir brauchen dich bei dem, was wir vorhaben.«
»Ich wüßte nicht, was ich mit dir zu schaffen hätte«, gab Jost trotzig zur Antwort.
»Du wirst es bald genug erfahren«, lachte Hagen. »Georg Leist und Meister Kuntze, nehmt ihn in die Mitte und laßt ihn nicht entwischen! Vorwärts!«
Jost Wildefüers Hand fuhr nach seinem Schwerte, aber des alten Gerbers eiserne Faust faßte ihn am Gelenk, so daß er sich nicht rühren konnte. Georg Leist aber sagte spöttisch: »Laßt Euren Bratspieß stecken, Junkerlein, und geht gutwillig, wohin wir Euch führen. Ihr möchtet sonst erleben, was Euch sehr unlieb wäre. Denn mit Euch und Euresgleichen wird von heute an in Hildesheim wenig Federlesens mehr gemacht.«
Zum handgreiflichen Beweis der Wahrheit dieser Worte gab einer dem Bürgermeistersohn von hinten einen derben Stoß in den Rücken. Da merkte Jost Wildefüer, daß jeder Widerstand vergeblich sei, und folgte, finster vor sich hinstarrend, den Führern der Rebellen aufs Rathaus.
Droben auf der Freitreppe hemmte Christof von Hagen noch einmal seinen Schritt und sah sich um. Der größte Teil des Marktes war bereits mit bewaffneten Männern angefüllt, und von allen Seiten strömten sie noch herzu. Ein stolzes Lächeln flog über sein Antlitz, denn er gedachte des Tages, da er als Angeklagter da droben vor den Herren der Stadt gestanden und als Gerichteter dieses Haus verlassen hatte. Nun war der Tag der Vergeltung da. Erst vorgestern abend war er in die Stadt zurückgekehrt, da er eine Gewalttat Wildefüers gefürchtet hatte. Aber der Bürgermeister hatte seine Heimkehr scheinbar unbeachtet gelassen. Gestern abend nun war einer bei ihm erschienen, der zu Wildefüers Vertrauten gehörte, aber schon lange den Judas spielte. Der hatte ihm haarklar alles mitgeteilt, was der Bürgermeister plante. War es ein Zufall, daß Wildefüer so unmittelbar nach der Rückkehr seines Feindes zu seinem großen Schlage ausholte? Wahrscheinlich nicht. Er hatte wohl nur darauf gewartet, daß der Führer des Heimlichen Bundes in die Stadt käme, damit er ihn mit ergreifen könne. Oder Heinz von Wolfenbüttel hatte so dringlich um Hilfe geschrieben, daß der Bürgermeister nicht länger hatte warten können.
Nun, dem mochte sein, wie ihm wolle – ihm war diese Ratssitzung höchst gelegen gekommen. Der Herzog war allen, die der neuen Lehre anhingen, aber auch vielen anderen äußerst verhaßt; überall im Lande erzählten sich die Leute seine Schandtaten und Ruchlosigkeiten. Für den sollte die Stadt eintreten, vielleicht gar eine Belagerung um seinetwillen auf sich nehmen? Wer dagegen auftrat, der hatte die ganze Gemeine hinter sich. Diese Lage wollte er benutzen und dabei dem Evangelium zum Siege verhelfen. Stellten sich die Ratsherren, wie bisher immer, auf die Seite ihres Oberhauptes, so flogen sie alle von ihren Stühlen herab. Es wurde alles mit einem Schlage anders in Hildesheim, ihn selbst trug die Woge der Volksgunst hoch empor, vielleicht stand er sehr bald auf dem Platze, wo Wildefüer jetzt stand. Dann kam Bugenhagen nach Hildesheim und richtete hier die neue Ordnung ein, wie er sie schon in so vielen Städten eingerichtet hatte. Und mit ihm kam aus Wittenberg seine Lucke, die sich geweigert hatte, in der Fremde sein Weib zu werden, die ihm erst angehören wollte, wenn sein Werk in der Heimat vollendet war. Nun, er stand dicht vor der Vollendung seines Werkes, und so sollte denn Hildesheim noch in diesem Monat eine Hochzeit sehen, von der noch die Enkel der jetzt Lebenden erzählen würden.
In solchen Gedanken stieg er, gefolgt von etwa einem Dutzend seiner bewaffneten Anhänger, die Treppe des inneren Rathauses empor. In dem großen Bankettsaale, der sich vor dem Sitzungszimmer des Rates dehnte, kam ihm der Bürgermeister Sprenger entgegen, der nachsehen wollte, was es gäbe. Von den Stadtknechten hatte keiner die Herren droben benachrichtigt, daß ein Sturm wider sie heranziehe, sie hatten sich alle still und eilig beiseitegedrückt. Aber es war doch ein fernes Lärmen und Tosen, ein Rennen und Laufen von der Straße her an ihr Ohr gedrungen, und Sprenger, der sehr neugierig war, hatte sich erboten, zu erkunden, was das zu bedeuten habe.
Seine feisten, rosenroten Wangen wurden blaß, als er die Bewaffneten erblickte, aber er rief in einem Tone, der scherzhaft klingen sollte: »Ei, Christof von Hagen, was tut Ihr hier als gewappneter Mann? Wollt Ihr ein Blutvergießen anrichten unter den Ratsherren von Hildesheim?«
Mit schwerem Ernst erwiderte Hagen: »Es wird von Euch abhängen, Herr Harmen Sprenger, ja, ganz wesentlich von Euch, ob die Sache ohne Blut abgeht oder nicht.«
Der kluge und geschmeidige Sprenger erfaßte sofort die Lage, zumal da vom Markte her ein wunderliches Brausen und Klirren heraufdröhnte. Ohne ein Wort der Erwiderung neigte er sich tief, schritt dann Hagen voran und öffnete ihm eigenhändig mit einer zweiten Verbeugung die Tür zum Ratszimmer und ließ ihm den Vortritt.
So stand Hagen dem Bürgermeister Wildefüer gegenüber, der mitten im Reden war und nun plötzlich abbrach und ihn anstarrte. Es ward mit einem Male kirchenstill in dem weiten Gemache. Von den Ratsherren fuhr keiner empor; alle saßen da, als habe sie eine plötzliche Lähmung überfallen.
Aber Wildefüer ermannte sich rasch, und ehe Hagen noch den Mund auftat, rief er mit lauter Stimme: »Was soll das? Was hast du hier zu tun, Christof Hagen? Wie kannst du dich erfrechen, hier einzudringen bei währender Sitzung des Rates? Und was soll diese Verkleidung? Wir treiben keine Fastnachtsscherze hier. Hebe dich weg! Du hast im Rate nichts zu suchen.«
»Spart Euch die Mühe, mich einzuschüchtern, Bürgermeister Wildefüer«, erwiderte Hagen scharf und kalt. »Sie ist durchaus vergeblich. Und ändert Euren Ton gegen mich, Bürgermeister Wildefüer, das rate ich Euch ernstlich. Christof von Hagen steht vor Euch, nicht Henning von Hagen, das bedenkt. Und ferner bedenkt, daß da unten achthundert Bürger stehen in ihrer blanken Wehr. Das Haus ist umstellt, es kommt keiner hinaus und herein. Es kommt Euch auch keiner zu Hilfe, denn Rotten ziehen durch die Stadt und nehmen Euren Freunden die Waffen weg.« Dann wandte er sich von ihm ab und rief mit lauter Stimme:
»Ratsmannen von Hildesheim! Ich stehe hier als erwählter Sprecher der großen Bäuerschaft, die Gemeine will durch meinen Mund zu Euch reden. Wollt Ihr sie hören?«
»Nein!« schrie Wildefüer. »Die Gemeine ist nicht berufen, hat also hier nichts zu reden. Und du bist nicht Sprecher der Gemeine, denn deine Wahl ist null und nichtig. Du hast vor dem Rate nichts zu suchen. Hört ihn nicht, Ratsgesellen! Weist ihn ab! Will die Gemeine reden, und wollt ihr das zulassen, so soll sie uns einen senden, der mit Fug und Recht für sie reden darf.«
»Noch einmal, Ratsmannen von Hildesheim! Wollt ihr mich hören?« rief Hagen.
Tiefes Schweigen. Dann sagte Harmen Sprenger vorsichtig: »Hören müßten wir ihn doch wohl, liebe Ratsgesellen.«
Wildefüer fuhr nach ihm herum und warf ihm einen wilden Blick zu, aber Sprenger wich seinen Blicken aus und wandte den Kopf zur Seite. »Ein Narr, wer die Saite zu straff spannt! Sie platzt dann«, murmelte er und ließ sich, seinem Amtsgenossen den Rücken kehrend, auf seinem Sitze nieder.
Wildefüer richtete sich hoch auf und ließ seine Blicke im Kreise umhergehen. Überall sah er gebeugte Häupter, keiner wagte ihm ins Antlitz zu blicken, und von allen Seiten her erklang verlegenes Räuspern und Gemurmel. Ein alter Ratsherr, der in einer Ecke saß, wiederholte Sprengers Wort: »Ein Narr, wer die Saiten zu straff spannt!« Viele nickten Beifall.
»Ihr wollt also die Gemeine hören durch dieses Menschen Mund?« fragte er noch einmal. Aber er erhielt keine Antwort. Endlich sagte der Kämmerer Hinrich Blome kurz und entschlossen: »Es geht nicht anders.« Und nun sprang Harmen Sprenger jäh von seinem Sitze auf und rief: »Ratsgesellen, er hat die Gewalt, und gegen die Gewalt kommt keiner auf. Hören wir ihn denn! Wer dagegen ist, hebe die Hand auf.«
Zwei oder drei hatten den Mut, ihre Hände zu erheben, aber sie ließen sie schnell wieder herabsinken.
Da ward Hans Wildefüers Antlitz, das vorher hochrot gewesen war, fahl und bleich, und mit tiefster Verachtung blickte er über die Ratsherren hin. Dann griff er hinter sich nach seinem Barett und sagte: »So bin ich denn euer Bürgermeister gewesen, Ratsmannen von Hildesheim! Hört, wen ihr wollt, und tut, was ihr wollt! Mich aber lasset heimgehen!«
Damit wandte er sich dem Ausgange zu. Aber an der Tür senkte Georg Leist seine Partisane und rief: »Hier kommt Ihr nicht durch, Bürgermeister Wildefüer! Das fehlte noch, daß Ihr uns entliefet. Man wird Euch noch mancherlei zu fragen haben. Dem stehet Rede und Antwort!«
»So ist es! Dageblieben!« schrien nun auch andere. »Aus dem Hause kommt jetzt keiner. Wer die Suppe eingebrockt hat, der soll sie auch auslöffeln!« schrie eine starke Stimme, und mehrere Lanzenschäfte wurden drohend auf den Boden gestampft.
Hagen hörte das mit geringer Freude; er hätte den Bürgermeister am liebsten ziehen lassen. Aber er mußte auf die Stimmung seiner Anhänger Rücksicht nehmen und durfte ihnen nicht entgegentreten. Es war am Ende auch besser, daß der gestürzte Regent der Stadt jetzt hierblieb, denn es konnte niemand wissen, was die Volksmasse auf dem Markte etwa gegen ihn unternommen hätte, wenn er plötzlich da draußen erschienen wäre.
Hans Wildefüer erkannte, daß Widerstreben ihm nichts mehr nütze. So nahm er, ohne ein Wort zu sprechen, das Barett wieder von seinem Haupte herab, setzte sich auf seinen Stuhl und lehnte sich weit zurück, indem er den Blick an die Decke des Saales heftete. Er wollte dadurch an den Tag legen, daß er sich um niemanden im Saale mehr zu kümmern gedenke, und auch um nichts, was etwa hier geredet würde. Lange vermochte er freilich diese Haltung nicht zu bewahren, denn das, was Hagen nun sprach, wurde mehr und mehr zu einer persönlichen Anklage gegen ihn. Gewollt war das nicht, denn es lüstete Hagen nicht mehr nach einer Auseinandersetzung mit Wildefüer. Wozu auch? Der Mann hatte sich ja selbst ausgeschaltet. Wäre er in einen Wortstreit mit ihm geraten, so hätte er das schwerste Geschütz gegen ihn aufgefahren. Er hätte dem Rate erzählt, was vielleicht keiner von allen Ratsherren wußte, daß ihr Bürgermeister Mitschuldiger geworden war an der Sünde des Wolfenbüttlers, die dem Volke als die allergreulichste erschien. Er hatte es geduldet, daß der unseligen Eva von Trott eine Zuflucht in Hildesheim gewährt worden war. Erst vor einer Woche hatte er sie von Bewaffneten unter Führung seines Sohnes des Nachts aus der Stadt nach der Liebenburg geleiten lassen. Das war Hagen durch seine Späher und Kundschafter hinterbracht worden, und wenn das dem Rate erzählt wurde, so war der Bürgermeister in den Augen der ehrbaren Ratsherren mit einem abscheulichen Makel behaftet. Aber das war ja nun gar nicht mehr nötig. In Wildefüers Antlitz zuckte keine Muskel, als Hagen sich an den Rat wandte und sagte: »Der Bund, der Anno zweiunddreißig mit dem Herzog Heinrich von Wolfenbüttel geschlossen worden ist, und der Hildesheim verpflichtet, ihm in Kriegsläuften dreihundert Knechte zu stellen, ist der Gemeine nicht bekanntgegeben, sie ist darum nicht befragt worden. Somit hat er keine Gültigkeit. Vollends, daß unsere Stadt ihm noch mehr leisten soll, das lehnen wir ab, und dagegen protestieren wir. Die Gemeine will, daß Hildesheim sich nicht einmische in den Handel zwischen dem Bluthund von Wolfenbüttel und den Schmalkaldenern. Der Rat wolle das beschließen; es geht sonst nicht gut.«
Einige Ratsherren und mehrere von den Vierundzwanzig wagten es, diesen Worten lauten Beifall zuzurufen. Auch da veränderte Wildefüer seine Haltung nicht. Darauf fuhr Hagen fort: »Die Gemeine fordert aber noch etwas ganz anderes vom Rate. Es ist in unserer Stadt verboten, das reine Evangelium frei und offen zu bekennen. Die es predigen, werden mit schwerer Strafe belegt und aus der Stadt getrieben. Sie müssen in Winkel kriechen, wenn sie sich miteinander erbauen wollen an Gottes Wort, und sogar das ist unter schwere Strafe gestellt. Die Heilige Schrift im Hause zu haben, gilt bei uns als ein Verbrechen. Ein unmenschlicher Druck liegt auf den Gewissen der armen Leute, die doch gern wollen selig werden.«
Hier unterbrach ihn ein heiseres Gelächter Wildefüers. Er lag noch immer in seinen Stuhl zurückgelehnt, den Blick starr an die Decke geheftet, aber seine Züge waren von Hohn und Haß verzerrt.
»Was lacht Ihr, Bürgermeister Wildefüer? Wißt Ihr es besser?« rief Hagen scharf.
»Ja, das weiß ich besser!« Mit einem jähen Ruck fuhr Wildefüer empor und schrie, blaurot im ganzen Gesicht: »Verfluchte, erstunkene Lüge! Gewissen? Gewissen? Nehmt solche Worte nicht in den Mund! Redet nicht von Gold, wenn ihr Dreck meint! Was wollen denn die Buben, die das Volk aufhetzen? Die Leute selig machen? Nein, sie wollen die Stühle der Ratsherren und vor allem das Geld und Gut der Geistlichen! Selig werden? Ha, ha! Das himmlische Leben gilt allen Lutherischen so viel und nicht mehr als eine Kanne voll Quark.«
»Das ist nicht wahr, Bürgermeister Wildefüer!« rief Hagen laut und gellend. »Das lügt Ihr wider besseres Wissen. Oder wißt Ihr nicht von solchen, die selig werden wollten durch Gottes Wort? Wo ist meine Bibel? Ihr habt sie noch. Wer hatte sie geholt? Für wen wurde sie geholt? Für eine Sterbende, die selig werden wollte. Euer Weib, Frau Mette« –
Ein furchtbarer Laut aus Wildefüers Munde ließ ihn verstummen. Unwillkürlich sprang er ein paar Schritte rückwärts, denn der Bürgermeister hatte beide Fäuste hoch emporgehoben, als ob er sich auf ihn stürzen wolle. Aber mit einem Male sanken ihm die Arme schlaff herab, und wie ein gefällter Eichenstamm stürzte er vornüber. Gurgelnd und röchelnd fuhr er mit den gespreizten Händen auf dem Boden umher, als wolle er sich in den harten Estrich eingraben.
Laut aufschreiend, stieß Jost Wildefüer den vor ihm stehenden Georg Leist beiseite und warf sich neben seinem Vater nieder. Mit entsetzten Gesichtern fuhren die Ratsherren von ihren Sitzen auf und drängten sich heran.
»Er hat einen Schlag!« rief der Bürgermeister Sprenger. »Tragt ihn in die Bürgermeisterstube! Und schnell zum Arzt in der Judengasse! Der soll ihm zur Ader lassen!«
»Nein, zu mir hinüber!« rief Tilo Brandis, der schnell hinzugesprungen war und sich mühte, den schweren Körper seines Schwiegervaters aufzurichten, während ihm die Tränen übers Gesicht liefen.
»Ja, zu Brandis!« sagte der alte Burchard Meier, indem er sich gleichfalls niederbeugte, um seinen Freund emporzuheben.
So wurde denn der Bewußtlose von sechs Ratsherren aus dem Rathause getragen. Als sie mit ihm auf dem Markt erschienen, und als das Volk begriffen hatte, was geschehen war, da wich die Menge links und rechts zurück, so daß eine breite Gasse entstand. Die meisten nahmen ihre Sturmhauben ab und entblößten ihre Häupter, und über den Platz, der noch eben von Geschrei und Lärmen erfüllt gewesen, breitete sich ein tiefes Schweigen.
Noch tiefer war das Schweigen droben im Rathaussaale. Alles blickte auf Hagen, der blaß und an allen Gliedern zitternd dastand und nach Fassung rang. Endlich sagte er, und seine Stimme klang so leise, daß sie am Ende des Saales kaum noch zu vernehmen war: »Es ist mir leid, daß Hans Wildefüer so hat enden müssen. Ich kann heute mit Euch nicht mehr verhandeln. Gelobt Ihr, daß ihr morgen früh um die neunte Stunde alle wieder wollet hier sein und bis dahin Einlager halten wollt in Euren Häusern?«
»Wir geloben es«, erwiderte der Bürgermeister Sprenger. »Ist einer dawider?«
Es erhob sich keine Hand. »So lasset uns jetzt heimgehen!« sagte Hagen, verneigte sich kurz und verließ den Saal.
In der Morgenfrühe eines trüben Septembertages schritt Frau Gesche Brandis ungeduldig in der Diele ihres Hauses auf und nieder. Sie war feiertäglich gekleidet, trug um ihr Haupt das Kopf- und Kinntuch von weißer Seide und um den Hals die feine Kette von Gold und das Kreuz, das einst ihrer Mutter gehört hatte. Sie hatte den Schmuck mit besonderer Absicht angelegt, denn heute war der Namenstag der lieben Verstorbenen, und sie stand eben im Begriff, in die Sankt-Andreas-Kirche zu gehen und ihr Grab zu schmücken. Drei mächtige Kränze, aus Astern und anderen Herbstblumen gewunden, lagen auf dem Tische. Den einen wollte sie selber tragen, den anderen sollte die alte Trine, die in ihr Haus übergesiedelt war, für den schwerkranken Vater auf das Grab legen, der dritte war ihrem Manne zugedacht; aber der war ins Rathaus gegangen und kam und kam nicht wieder. Länger als eine halbe Stunde könne heute die Sitzung gar nicht dauern, hatte er gesagt, als er Abschied genommen, aber aus der halben war eine ganze Stunde geworden, und er war noch immer nicht wieder daheim. Geduld gehörte nicht zu Frau Gesches hervorstechendsten Eigenschaften, und so stieg ein Ärger in ihrem Herzen auf über ihren lieben Mann, zumal der Verdacht nahe lag, daß die Ratssitzung zwar längst zu Ende sei, aber eine unamtliche und unnötige Fortsetzung erfahren habe drunten in des Rates Trinkstube. Das war nicht selten schon vorgekommen, und so erwog sie in ihrem Gemüte, ob sie es wagen könne, ihren ältesten Buben hinüberzuschicken, um den Vater heimzuholen. Daher hörte sie nur mit halbem Ohr hin auf das, was die geschwätzige alte Trine erzählte, und was sie sonst nicht wenig gespannt angehört haben würde. Denn die Alte hatte gestern abend den Einzug Christof Hagens und seiner jungen Frau mit angesehen, ein Ereignis, das ganz Hildesheim in Aufregung versetzt hatte. Die Hochzeit selber war in Goslar gefeiert worden. So hatte es Lucke gewollt, und ihr Verlobter war klug genug gewesen, ihr nachzugeben. Er mußte sich ja sagen, daß die Feier, wenn sie in Hildesheim begangen wurde, ein höchst eigentümliches Gepräge hätte tragen müssen. Von seinen Standesgenossen wäre nicht einer erschienen, auch von denen nicht, die einst seine Freunde gewesen waren.
Seit jenem Auftritt im Rathause, der den Bürgermeister auf das Krankenlager geworfen hatte, war er unter den Vornehmen Hildesheims wie geächtet. Keiner verkehrte mehr mit ihm, keiner bot ihm einen Gruß. Auch Hermann Sprenger und seine Gesippten und Gefreundeten hatten sich von ihm abgewendet, seitdem sie gemerkt hatten, daß sie ihre Ratsstühle auf die Dauer ebensowenig behalten würden wie die Anhänger des gestürzten Bürgermeisters Wildefüer. Hagen wollte das nicht; er hätte gern mit ihnen gearbeitet, denn er wußte wohl, daß er allein mit lauter der Geschäfte unkundigen Leuten die Stadt nicht werde regieren können. Aber seine Genossen, die mit ihm die Rebellion gemacht hatten, drangen mit jeder Woche heftiger darauf, daß mit dem ganzen alten Rate ein Ende gemacht werden müsse. Ihnen war es nicht genug, daß die Freiheit des Evangeliums erreicht war, und es erboste sie fast, daß der Rat in alle Vorschläge der Gemeinde gefügig einwilligte. Sie wollten selbst dahin, wo jetzt die Herren noch saßen; sie, die Handwerksmeister, wollten Ratsherren werden, in pelzverbrämten Samtmänteln und Baretten aufs Rathaus gehen und dort tagen und reden und regieren, und ihre wackeren Ehehälften sehnten den Tag herbei, an dem es ihnen vergönnt sein sollte, die golddurchwirkte Schaube zu tragen, die nach Herkommen und Gesetz nur die Frauen der Ratsherren tragen durften. Bis jetzt hatte Hagen die Begehrlichkeit seiner Genossen hingehalten, aber lange ging dies nicht mehr an, das fühlte er wohl. Jetzt schon, wenige Wochen nach dem Aufstande, machte er die bittere Erfahrung, daß jeder, der seine Macht dem Volke verdankt, bald nach der Pfeife des Volkes tanzen muß, wenn er nicht Einfluß und Ansehen gar schnell wieder verlieren will.
Unter sotanen Umständen war er sehr bereitwillig auf Luckes Vorschlag eingegangen, die Hochzeit in Goslar zu feiern, wo seine Braut Freundinnen und Gespielinnen besaß, und wo man geneigt war, ihn als den Bringer des reinen Evangeliums nach Hildesheim zu ehren. So hatte sie denn im Hause der getreuen Muhme Bröcker stattgefunden mit großer Pracht und Üppigkeit, und drei Tage lang waren die regierenden Herren von Goslar aus dem Weinrausch nimmer herausgekommen. Am vierten Tage hatten sie dem jungen Paare mit sechzig Pferden das Geleit gegeben, und so hatte sich der Einzug der Neuvermählten in Hildesheim überaus glanzvoll gestaltet. Die ganze Stadt war zusammengeströmt, um das prächtige Schauspiel mit Augen und Ohren zu genießen; nur von den Geschlechterherren und ihren Frauen und Kindern hatte sich niemand erblicken lassen.
Die alte Magd hatte ihrer Herrin schon gestern vieles berichtet und fing nun zum dritten und vierten Male an zu erzählen: »Ein großer Wagen mit Zinkenisten und Pfeifern fuhr voraus. Nachher kam einer im feuerroten Mantel, der ritt auf einem Schimmel und warf silberne Pfennige unter das Volk. Nachher kam der Wagen mit dem Hochzeitspaare. Unser junger Herr Christof hatte ein Gewand von grauem lübischen Tuche an, das mit Purpur verbrämt und ausgeschlagen war.« –
»Du sollst nicht sagen ›unser junger Herr‹«, unterbrach Frau Gesche ihren Redestrom unwillig. »Er hat sich von uns geschieden und geht uns gar nichts mehr an. Und nun höre auf zu schwatzen und nimm deinen Kranz. Du und ich, wir wollen nur immer hingehen. Mein Mann kommt doch nicht zur rechten Zeit; er mag uns dann mit seinem Kranze nachfolgen. Wir können nicht länger warten, denn es hat keine Art und Schicklichkeit, wenn wir die Kränze erst gegen Mittag hinlegen.«
Sie ergriff ihren Kranz und schritt der Tür zu, und die Alte folgte ihr mit gekränkter Miene. Aber als Frau Gesche eben die Hand an das Schloß legte, wurde die Tür von außen heftig aufgerissen, und ihr Mann stand vor ihr.
Der zornige Vorwurf, den sie für ihn bereit hatte, erstarb ihr bei seinem Anblicke auf den Lippen. Sie erkannte auf der Stelle, daß ihm etwas Unerfreuliches zugestoßen war, denn sein Gesicht war bleich und seine Bewegungen hastig, während er sonst mit ruhiger Würde einherzuschreiten pflegte.
»Was ist dir?« rief sie erschrocken.
Tilo Brandis antwortete nicht sogleich. Er ließ sich auf eine Bank in der Nähe der Tür niedersinken, fuhr sich mehrmals mit der Hand über die Stirn und starrte wie geistesabwesend vor sich hin.
»Geh hinter in die Küche!« wandte sich Frau Gesche an die alte Magd, denn sie meinte, ihr Mann wolle in Gegenwart der Alten nicht sagen, was geschehen war. Aber nun fuhr er mit einem Ruck empor und stand mit einem Male kerzengerade da. »Es ist kein Geheimnis«, sagte er hart. »In einer halben Stunde weiß es sicher die ganze Stadt. Der ganze Rat hat abgedankt.«
Frau Gesche schrie auf und wich zurück wie vor etwas Unfaßbarem. »Wie?« stammelte sie. »Es war doch gar kein Rumor auf dem Markte.«
»Aber es sollte morgen einer werden«, fiel er ihr ins Wort. »Morgen sollte das Volk auf dem Markte sich versammeln und uns zur Abdankung zwingen. Dem sind wir zuvorgekommen. Nun mögen sie sehen, wie sie ohne uns fertig werden. Keiner von uns allen rührt noch eine Hand. Da mag der neue Bürgermeister Hagen zusehen, wie er die Stadt regieren kann mit lauter Schustern und Badern und Handschuhmachern. Das geht keine drei Monate, dann sind sie am Ende!«
»Hagen ist Bürgermeister?«
»Sie wollen ihn dazu küren, und er wird's ja annehmen. Gut, daß der Vater nicht bei Sinnen ist. Das kränkte ihn, wenn er's erführe, bis ins tiefste Herz hinein.« Er hielt inne und atmete tief auf. »Ich muß jetzt für mich eine Weile allein sein«, fuhr er dann fort. Ich kann jetzt nicht mit dir in die Kirche gehen, mag keinen Menschen sehen. Vielleicht gehe ich am Abend an das Grab, wenn's dunkel ist. – Sage nichts. Ich weiß ja, daß unser Verzicht dich wurmt wie mich selber. Aber wir wollen später darüber reden, nicht jetzt.«
Damit schritt er aus dem Gemache, und sie machte nicht den Versuch, ihm zu folgen. Sie wußte es, jetzt schloß er sich ein und vertrug keines Menschen Trostesworte, auch die ihren nicht. Er war nun einmal so, daran war nichts zu ändern. Darum faßte sie sich, so gut es ging, wischte sich die Tränen des Zornes aus den Augen und wandte ihr erblichenes Gesicht der alten Dienerin zu, die mehrmals die Hände vor Entrüstung zusammengeschlagen hatte und nun offenbar im Begriffe stand, ein großes Lamento über die Schlechtigkeit und Undankbarkeit der Welt anzuheben. Sie öffnete und schloß den Mund mehrmals hintereinander, wie ein Karpfen, der nach Luft schnappt, aber ihre Herrin hemmte den Strom ihrer Rede.
»Nimm die Kränze und folge mir!« gebot sie. »Und sprich kein Wort. Ich kann jetzt nichts hören.«
Sie trat mit schnellen Schritten aus der Tür ihres Hauses und ging so eilig den Markt hinunter, daß die Alte ihr kaum nachzukommen vermochte. Es war ihr lieb, daß ein feiner Sprühregen vom Himmel herniederrieselte und die Leute von den Straßen vertrieb. Sie mochte niemandem begegnen; am liebsten hätte sie sich eingeschlossen wie ihr Mann. Sie kam sich vor wie eine Gebrandmarkte und trug das Haupt tief gesenkt. So war die Tochter Hans Wildefüers noch nie durch die Straßen ihrer Heimatstadt gewandelt. Als sie die Tür der Andreaskirche öffnete, schlug ihr eine scharfe, dumpfe Luft entgegen. Denn überall in dem weiten Raume, an allen Pfeilern, Bänken und Emporen hingen verwelkte Kränze und Blumengewinde. Sie waren noch nicht wieder herabgenommen seit dem Tage, an dem der Wittenberger Gottesmann Johannes Bugenhagen hier die erste evangelische Predigt gehalten hatte. Das war ein großer Tag gewesen für Hildesheim. Der Bürgermeister Sprenger mit mehreren Herren vom Rat hatte ihn feierlich eingeholt, und das riesige Gotteshaus hatte die Menge des Volkes nicht fassen können, das zusammengeströmt war, um Luthers Lehre zu hören und Luthers Lieder zu singen. Sie aber und ihr Mann waren still daheimgeblieben. Sie hingen ja längst heimlich der neuen Lehre an, aber solange ihr Vater am Leben war, wollten sie nicht tun, was ihn tief geschmerzt haben würde, wenn er es in seinem umnachteten Geiste hätte fassen können. Ach, sie hatte sich einst den Tag ganz anders vorgestellt, der ihrer Vaterstadt das Licht des reinen Evangeliums bringen sollte! Die bürgerlichen Unruhen in der Stadt, die fortwährende Bedrohung des Rates, die mancherlei Gewalttaten gegen Priester und Mönche, aber auch gegen Reiche und Vornehme, hatten ihr die Freude an diesem Tage gründlich vergällt. Sie empfand keine Genugtuung, als sie beim Betreten der Kirche bedachte, daß ihre Mutter nun in einem lutherischen Gotteshause schlummere. Vielmehr schoß ihr der Gedanke durch den Kopf: Wäre doch lieber alles beim alten geblieben, und herrschte noch über Hildesheim die eiserne Hand, die jetzt gelähmt und kraftlos war!
Mit düsterem Blick und herb geschürzten Lippen trat sie auf den Seitenaltar zu, den ihr Vater vor Jahren schon gestiftet hatte, und vor dem unter einer mächtigen Sandsteinplatte der Sarg ihrer Mutter stand. Aber als sie um den zweiten Pfeiler bog, blieb sie plötzlich stehen, und das Blut schoß ihr zum Herzen. Auf dem Grabstein ihrer Mutter lag ein prächtiger Kranz, und eine hohe Frauengestalt, anscheinend im Gebet versunken, kniete dort. Sie erkannte die Kniende, obwohl sie ihr den Rücken zudrehte, auf der Stelle. Solche goldrote Haare, wie sie dieser unter dem Hute hervorquollen, hatte nur ein Weib in der ganzen Gegend. Es war Lucke von Hary oder, wie sie seit einigen Tagen hieß, Lucke von Hagen.
Mit erschreckender Deutlichkeit trat vor Frau Gesches Augen der Vorgang, der sich abgespielt hatte, als dieses junge Weib in das Haus ihrer Eltern gekommen war. So, wie sie jetzt vor dem Leichensteine kniete, so hatte sie damals vor dem Lehnstuhle der Mutter gekniet. Es war ihr, als sehe sie die schlanken weißen Hände der Verstorbenen, wie sie damals dem Mädchen über das Haar strichen, und dasselbe Gefühl wallte in ihr auf wie in jenem Augenblicke, rasende Eifersucht, zu der sich nun noch heiße Empörung gesellte. Wie konnte Christof Hagens Weib nach allem, was geschehen war, es wagen, hierherzukommen! Wie durfte sie sich erfrechen, Blumen zu legen auf das Grab einer Frau, deren Gatten ihr Mann den Todesstoß versetzt hatte! Wie eine schnöde Entweihung der heiligen Ruhestätte ihrer Mutter erschien ihr der Kranz, der ihr von dem weißen Steine entgegenleuchtete.
»Hinweg!« rief sie und erschrak selber über den harten, lauten Klang ihrer Stimme. Sie hatte das Wort noch gar nicht aussprechen wollen; es hatte sich ihr unwillkürlich auf die Lippen gedrängt.
Das Haupt der Betenden fuhr herum, und dann stand Lucke Hagen langsam auf. Ihr Antlitz flammte in tiefer Purpurglut, aber offen und fest hielt sie den Blick auf Gesches Gesicht gerichtet, aus deren Augen ihr Abneigung und Haß entgegensprühten.
»Du weisest mich hinweg vom Grabe deiner Mutter?« fragte sie ruhig. »Warum? Habe ich dir etwas Übles angetan oder der Toten?«
»Mir und ihr«, gab Frau Gesche zurück. »Denn dein Haß hat mit dazu geholfen, daß mein Vater dem Tode verfallen ist. Darum ist hier für dich kein Platz. Fühlst du das nicht selbst?«
Lucke schüttelte den Kopf. »Ich habe deinen Vater nur eine kleine Zeitlang gehaßt, da er mir schweres Unrecht tat. Aber als ich frei geworden war, schwand mein Haß schnell dahin, denn ich erkannte, daß er als ein Werkzeug Gottes an mir gehandelt hatte. Gott wollte mich durch die Trübsal zu sich ziehen und reif machen zu seinem Leben. Es ist mir herzlich leid, daß dein Vater jetzt so schwer darniederliegt, und ich will mit dir beten, daß er gesunden möge. – Deine Mutter aber habe ich innig liebgehabt. Sie war so gut zu mir wie eine Mutter, und ich hatte ja so wenig von Mutterliebe erfahren in meinem Leben. Und wenn ich auch nur wenige Tage um sie sein durfte, ihrer Güte werde ich doch immer gedenken, solange ich lebe. Wie kannst du mir also verwehren, ihr Blumen zu bringen auf ihr Grab und für sie zu beten?«
Sie hatte mit großer Eindringlichkeit und Wärme gesprochen, und ihre Worte waren nicht ohne Eindruck geblieben auf das Herz ihrer Gegnerin. Die eisige Kälte, die Gesches Antlitz im Anfange der Unterredung zur Schau getragen, verschwand aus ihren Zügen. Lucke bemerkte es sogleich, und um den Eindruck ihrer Worte zu verstärken, setzte sie hastig hinzu: »Du weißt es ja wohl nun sicherlich, daß deine Mutter im lutherischen Glauben gestorben ist?«
Gesche bejahte durch ein Neigen des Hauptes.
»Aber du weißt es nicht, daß ich es war, die sie vor ihrem Tode noch getröstet hat aus Gottes Wort. Ja, ich habe ihr die Sprüche der Heiligen Schrift vorgelesen, nach denen sie sehnlich verlangte.«
Mit leuchtenden Augen blickte sie Gesche an, aber die Wirkung ihrer Worte war eine ganz andere, als sie gehofft hatte. Es wallte wieder die Eifersucht auf in Gesches Seele und diesmal noch viel stärker und heftiger als vorher. Ihre Hände krampften sich zusammen, und wie ein Stöhnen kam es über ihre Lippen: »Das hast du getan? Und ich, ich hätte es tun müssen! Ich Unselige! Ach, daß ich ihr fern war in ihrer letzten Not!«
»Da du es nicht tun konntest, tat ich's an deiner Statt. Willst du mir deshalb böse sein?« erwiderte Lucke, und mit einer bittenden Gebärde streckte sie ihr die Hand hin, aber Frau Gesche richtete sich steil auf. »Du bist Christof Hagens Weib, und ich bin Hans Wildefüers Tochter! Wir haben nichts miteinander zu schaffen«, sagte sie hart.
Lucke verstummte und senkte das Haupt. Dann entgegnete sie mit tiefer Traurigkeit in der Stimme: »Ich gehe, da du es so willst. Wir wollen nicht zanken und streiten am Grabe deiner Mutter, und ich will mich nicht erbittern lassen, ich will nicht. Gott gebe, daß du zu einer besseren Einsicht kommst!«
Damit wandte sie sich ab und ging. Frau Gesche stand einige Augenblicke regungslos da, als horche sie auf das Geräusch der verhallenden Schritte. Dann kehrte sie sich ihrer alten Dienerin zu, die mit ängstlichem Gesichte neben dem Pfeiler stehengeblieben war. Sie nahm schweigend aus ihrer Hand die Kränze und legte sie auf das Grab. Mehrmals streckte sie die Hand aus, um Luckes Kranz hinwegzustoßen, aber sie zog sie doch jedesmal wieder zurück, denn jedesmal war es ihr, als sähe sie die Augen ihrer Mutter bittend und vorwurfsvoll auf sich gerichtet, und als flüstere ihr Mund: »Was willst du tun? Darfst du mich dieses Zeichens der Liebe berauben?«
So ließ sie denn Luckes Kranz unberührt liegen und sank auf ihre Knie nieder, um für das Seelenheil der Entschlafenen zu beten. Aber sie vermochte es nicht. Immer wieder drängte sich vor ihre Seele das bekümmerte Antlitz des jungen Weibes, dem sie so weh getan hatte, und die Stimme ihres Gewissens fragte laut und vernehmlich: »Hast du recht gehandelt?« Ihr Stolz und ihr Groll erwiderten darauf: »Ja, du konntest nicht anders handeln. Du mußtest Christof Hagens Weib hinwegweisen von dieser Stätte.« Aber dann sprach wieder die anklagende Stimme in ihr: »Sollte der Haß, der die Menschen entzweit, nicht wenigstens an den Gräbern schweigen? Was hat dir denn Lucke von Hagen getan? Sie hat Unrecht erlitten von deinem Vater, das weißt du wohl, und doch bot sie dir die Hand zur Versöhnung. Ist sie nicht besser als du? Hat sie dir nicht wiederum bewiesen, daß mehr vom Geiste Christi in ihr ist als in deinem stolzeren und doch schwächeren Herzen?«
Mit zornigen Tränen in den Augen erhob sich Frau Gesche nach kurzer Zeit. Sie konnte jetzt nicht beten, sie konnte sich zu keiner Andacht zwingen. Am Abend, wenn sie ruhiger geworden wäre und sich gefaßt hätte, wollte sie das Grab ihrer Mutter noch einmal aufsuchen, so beschloß sie in ihrem Herzen.
»Was zwischen mir und Christof Hagens Weib geredet worden ist, erfährt niemand, hörst du?« wandte sie sich an die Alte, die hinter ihr kniete und sich nun auch erhob. Dann schritt sie dem Ausgange der Kirche zu und begab sich heim. Sie hatte dabei das Haupt noch tiefer gesenkt als beim Herwege, denn sie trug einen Stachel im Herzen, den sie nicht mehr entfernen konnte.