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Am Abend desselbigen Tages saßen in dem großen Gemache neben der Arbeitsstube Heinrichs in Poplitz der Kandidat Moldenhauer und Fräulein Antoinette beim Schachspiele einander gegenüber. Sie hatten einen kleinen Tisch nahe ans Fenster gerückt, und die Abendsonne warf ihre rosigen Strahlen gerade auf das Antlitz der jungen Dame, die über einen schwierigen Zug nachsann.
Der Kandidat wandte seine Aufmerksamkeit dem Spiele weniger zu; er beobachtete vielmehr verstohlen seine Partnerin. »Wie ist sie schön!« dachte er, und dabei seufzte er tief auf.
Ach, der arme junge Mann hatte in der jüngsten Zeit gar oft und gar tief geseufzt! Er hatte an sich die Schmerzen erfahren, von denen der große Dichter in seinem erhabenen »Trost in Tränen« redet; denn auch für ihn galt ja das Wort: Die Sterne, die begehrt man nicht – man freut sich ihrer Pracht. Leider, leider mußte es gelten, denn seine Neigung war fast hoffnungslos. Das erkannte er ganz klar. Es war eine Schranke zwischen ihnen, die nicht nur Stand und Geburt aufrichteten. Solche Standesschranken waren ja schon früher oft übersprungen worden; der Kandidat kannte mehrere adlige Damen, Freiinnen, Gräfinnen, die gerade Pastoren ihre Hand gereicht hatten. Aber das Fräulein von Krosigk war nicht zur schlichten Pfarrfrau geschaffen, das mußte er mit jedem Tage, den er in ihrer Nähe verbrachte, deutlicher einsehen. Sie achtete das Kleid, das er trug, aber des Königs Rock stand ihr weit höher. Sie sprach mit Interesse über Fragen der Theologie oder des praktischen Christentums mit ihm, aber ganz anders leuchteten ihre Augen, wenn sie von Taten kriegerischen Mutes hörte. Sie lebte ganz in der Geschichte ihres Hauses und erzählte von nichts so gern, wie von Krosigkschen Großtaten im Felde. Dabei konnte sie in wahre Begeisterung geraten. Christian Siegfried von Krosigk, der bei Collin den Heldentod gestorben war und noch im Sterben gerufen hatte: »Kinder, ich kann nicht mehr, ihr müßt das übrige tun!« – der war ihr Lieblingsheld. Sie war eben durch und durch ein Soldatenkind, und ein Mann, dessen Beruf das Predigen des Friedens war, konnte ihr niemals in dem Maße imponieren wie einer, der den Degen trug.
Ja, sie war ihm unerreichbar, ihre Welt war nicht die seine. Er war vorsichtig und scharfblickend genug, sich das ganz klar jeden Tag zu sagen, und er war zugleich entschlossen und tatkräftig genug, seine Neigung mit Ernst zu bekämpfen. Nichts sollte ihr verraten, was in ihm vorging, er hatte sich ihr Urteil über Werther wohl gemerkt. Aber bei dem täglichen, oft stundenlangen Zusammensein mit ihr hatte er sich doch nicht immer ganz und gar in der Gewalt. Besonders wenn er den Damen vorlas und manchmal in den Versen der Dichter mit geheimem Schrecken seine innersten Gedanken ausgesprochen fand, dann hätte wohl ein anderes Mädchen aus dem bebenden Tonfalle seiner Stimme oder aus einem scheuen Blicke, der verstohlen zu ihr hinüberschweifte, mancherlei erraten können.
Antoinette von Krosigk konnte das nicht. Der Gedanke, der Kandidat der Theologie Johann Philipp August Moldenhauer trüge sich ihr gegenüber mit Liebesgedanken, hätte sie ebenso peinlich wie lächerlich berührt, wenn ihn jemand ernstlich ausgesprochen hätte. Sie hielt ihn für einen gescheiten Menschen, mit dem es sich gut reden und disputieren ließ, und der ungewöhnlich belesen und unterrichtet war. Sie sah auch ein, daß sie geistig sehr viel von ihm profitiere, und daß er es in ausgezeichneter Weise verstand, die mannigfachen Lücken ihrer Bildung auszufüllen und sie zu belehren, ohne pedantisch und langweilig zu erscheinen. Sie achtete ihn sogar als Mann, besonders seit er sich dem aufgeregten französischen Major gegenüber kaltblütig und unerschrocken gezeigt hatte. Aber sie vergaß es doch keinen Augenblick, daß ihr Geschlecht unter Karl dem Großen in dieses Land gezogen war, und daß es eine Zeit gegeben hatte, wo die von Krosigk denen von Anhalt und denen von Wettin vollkommen ebenbürtig gewesen waren. Hochmütig war sie bei alledem nicht; ihre Gesellschafterin Lisette Schicht schwärmte für sie und konnte gar nicht genug Rühmens davon machen, wie wohltätig sie in der Stille unter den armen Leuten der Krosigkschen Dörfer wirke. Einer alten Tagelöhnerfrau hatte sie, da der Arzt nicht zur Stelle war, die niedrigsten Wärterinnendienste geleistet, und in dem Hospital, das einer ihrer Vorfahren bei Poplitz gestiftet hatte, war sie täglicher Gast. Aber sie tat das alles, weil sie es für eine Pflicht der adligen Frau hielt, die Elenden und Armen zu unterstützen, und sie war es gewöhnt, ihre Pflichten ernst und streng zu erfüllen. Sie entwickelte dabei sogar die Gabe, liebreich und freundlich mit den Niedrigerstehenden zu reden und ihnen auch mit Worten wohlzutun. Immer aber fühlte sie sich wie eine Fürstin, die Gnaden austeilt, und sah alle Menschen und das ganze Leben durch den Reif der siebenzackigen Krone an. Am allerwenigsten hätte sie je daran gedacht, sich einem Manne hinzugeben, der sie in eine schlichtere oder sogar niedrigere Sphäre des Lebens hinabgeführt hätte. Ebensowenig fiel es ihr ein, daß ein anderer, und nun noch dazu ein verständiger und kluger Mensch, auf derartige Ideen verfallen könne. Deshalb bemerkte sie von der stillen Verehrung Moldenhauers nicht das Geringste und hätte wohl selbst dann nichts davon wahrgenommen, wenn sein Verhalten auffälliger gewesen wäre.
Die Geheimrätin dagegen sah gar wohl, welchen Eindruck, die stolze und schöne Tochter auf den jungen Geistlichen hervorbrachte, und sie sah es mit tiefem Bedauern. Im Anfange war es ihr wenig lieb gewesen, daß ihr Sohn den Kandidaten während seiner Abwesenheit nach Poplitz gesetzt hatte, sie wäre viel lieber mit ihrer Tochter allein geblieben. Aber sein höfliches, taktvolles Wesen hatte ihm schnell ihre Gunst erworben. Die gutherzige alte Dame hatte eine nicht ganz geringe Schwäche für äußeren Schliff, für feine Formen des Umganges, und sie sah mit Erstaunen, wie sicher der Kandidat, der beim ersten Anblick einen etwas burschikosen, ländlichen Eindruck machte, die Umgangsformen der guten Gesellschaft beherrschte. Auch die Unterhaltung mit ihm zog sie mehr und mehr an. Sie war sehr verschieden von der Konversation, die in ihren Kreisen gemacht wurde, und die sie eigentlich von Jugend auf gewöhnt war. Religiöse und künstlerische Fragen wurden da kaum gestreift. Die Herren redeten wohl unter sich auch von ernsten Dingen, vor allem von Politik und mehr noch von den Angelegenheiten des Heeres; denn sie waren fast alle entweder noch aktive Offiziere oder hatten doch wenigstens in früheren Jahren den Rock des Königs getragen. In Gegenwart der Damen dagegen war jedes ernste Gespräch verpönt, wenn nicht ein besonderes Ereignis die Gemüter derartig bewegte, daß man es nicht gut umgehen konnte. Man sprach über das, was sich im Kreise zugetragen, über Familienverhältnisse bekannter und verwandter Käufer, besonders gern auch über den Hof und alles, was mit ihm zusammenhing. In leichtem, anmutigem Flusse glitt die Unterhaltung dahin, selten frivol, selten aber auch anregend und erhebend, denn wenn ja einmal eine ernstere Meinungsverschiedenheit zutage trat, so wurde das Gespräch auf der Stelle in ein anderes Fahrwasser gelenkt, damit nur ja kein Mensch sich aigriere und jedes Echauffement peinlichst vermieden werde. So war es daheim gewesen auf Samtleben, dem Gute ihres Vaters, des braunschweigischen Edelherrn von Cramm, so hatte sie es im Saalkreise wiedergefunden. Auch in der Familie kam es selten zu einer eingehenden Behandlung emster Fragen des geistigen Lebens. Ihr Gatte war dazu schon viel zu sehr durch seine Geschäfte in Anspruch genommen; denn er war ein Landrat gewesen, der sich in hervorragender Weise um den Saalkreis verdient gemacht hatte und der von seinem Könige deshalb mit dem Titel eines Geheimen Regierungsrates ausgezeichnet worden war. Außerdem hatte er sieben große Güter zu verwalten, so daß er froh war, wenn er sich bei einem harmlosen kleinen Jeu oder auf der Jagd von seinen Berufslasten erholen konnte. Die erwachsenen Söhne kamen nur selten nach Haus; Dedo, der älteste, bezog früh die Schule, dann die Universität und wurde Jurist bei der Regierung, die anderen traten nach ihrer Konfirmation als Fahnenjunker bei irgend einem Regimente ein. Die Töchter waren viel zu wenig unterrichtet, um schöngeistige Neigungen pflegen zu können, obwohl sie alle von hellem und schnellem Verstande waren. Sie lernten mit Hilfe einer Nonne fließend französisch parlieren, die Schätze der vaterländischen Dichtung blieben ihnen bis ins reife Jungfrauenalter fast unbekannt. Erst durch ihren Bruder Heinrich, der in Berlin Schillers Dramen kennen und verehren gelernt hatte, war Antoinette darauf gebracht worden, die Werte der schönen Literatur zu lesen. Aber sie hatte kein großes Mitteilungsbedürfnis, was sie bewegte und begeisterte, besprach sie nicht gern mit einem andern Menschen, auch nicht mit ihrer Mutter.
Nun hatte Moldenhauer die langen Winterabende dazu benutzt, die Damen mit den zahlreichen Erzeugnissen der zeitgenössischen Dichter und Schriftsteller bekannt zu machen, und er hatte damit bei der Geheimrätin noch mehr Anklang gefunden, als bei ihrer Tochter. Der alten Dame war es zunächst eine Wohltat, daß ihre Gedanken in so edler Weise einmal abgelenkt wurden von der unaufhörlichen Sorge um die im Felde stehenden Söhne, eine Sorge, die sie zwar vor Menschenaugen tapfer verbarg, aber doch beständig mit sich herumtrug. Zuerst gelang ihr dieses zeitweilige Vergessen sehr schwer, und sie war eine ziemlich unaufmerksame Zuhörerin. Allmählich aber gewann diese Art der Unterhaltung einen großen Reiz für sie. Mit wahrer Andacht ließ sie sich einführen in die neue Welt, die sich da vor ihren Blicken erschloß, und bald kam es ihr vor, als habe sie bisher etwas Herrliches entbehrt. Sie hatte bei aller Festigkeit des Charakters ein feines, sinniges Gemüt, und sie war trotz ihrer grauen Haare im Innersten jung geblieben. Kein Wunder, daß ihr das Herz aufging bei dem vielen Schönen und Großen, das sie nun kennen lernte. Die tiefe Glaubensinnigkeit der Schleiermacherschen Reden und die bei aller Glätte der Form so machtvolle und lebenswarme Poesie Goethes überwältigte sie in gleichem Maße.
Kein Wunder aber auch, daß sie den jungen Mann, der ihr das alles nahe brachte, weit überschätzte. Sie hielt den Kandidaten für einen bedeutenden Menschen, weil er ihr so Bedeutendes mitteilte, und da er zugleich ein so höflicher, stets dienstbereiter Mensch war, betrachtete sie ihn mit einer Art mütterlichen Wohlwollens. Sie sah es wohl, wie er unter seiner tapfer bekämpften Neigung litt, und deshalb behandelte sie ihn mit ganz besonderer Güte und Freundlichkeit, ja mit einer Rücksicht und Zartheit, über die ihre Tochter manchmal die Stirne kraus zog.
In den letzten Tagen freilich hatte sich auch zwischen ihr und ihrem Schützling innerlich eine Kluft aufgetan, und zwar seit dem Tage, an dem ihr Sohn Ernst auf Poplitz eingetroffen war. Der Rittmeister kam eines Tages ganz unvermutet an, machte in seinem ganzen Wesen einen überaus aufgeregten Eindruck und schloß sich gleich nach seiner Ankunft mit Mutter und Schwester zu einer stundenlangen Beratung ein. Nachher ward auch der Kandidat ihm vorgestellt, und man dinierte zusammen. Aber es war ein ungemütliches Mahl; die Geheimrätin saß schweigend und gedrückt auf ihrem Stuhle, das Fräulein schien die gewohnte Lebhaftigkeit ganz verloren zu haben, und der heimgekehrte Sohn des Hauses sprach kaum ein paar Worte, starrte zumeist finster vor sich nieder und beachtete den Gast des Hauses so gut wie gar nicht. Gleich nach Tisch zogen die Herrschaften sich wieder zurück, und noch vor Abend verließ der Rittmeister das Schloß so schnell, wie er gekommen war. Für den Rest des Tages blieben die Damen unsichtbar, und in der folgenden Zeit zeigten sie sich wie verwandelt, Antoinette weniger, aber ihre Mutter ganz und gar. Nicht einmal mehr forderte sie den Kandidaten zum Vorlesen auf, blieb viel in ihren Gemächern allein und hatte hin und wieder verweinte Augen.
Kein Zweifel, der Rittmeister hatte eine schlimme Nachricht ins Haus gebracht, und die beiden Damen trugen seitdem eine Last auf ihrer Seele. Es kränkte Moldenhauer über die Maßen, daß er von der Ursache ihres Kummers auch nicht ein Sterbenswörtchen erfuhr. Er hätte ihnen so gern mit Rat und Trost und, wenn es sein mußte, auch mit der Tat zur Seite gestanden und empfand ihre Verschlossenheit als Mangel an Vertrauen, auf das er Anspruch zu haben glaubte. Manchmal kam er sich nun so überflüssig vor, und seine Lage erschien ihm so schief und unwürdig, daß er am liebsten auf und davon gegangen wäre. Aber er fühlte sich durch das Versprechen gebunden, das er dem Baron gegeben hatte, und da dessen Rückkehr erwartet wurde, so wollte er nun die paar Wochen auch noch aushalten. Es wäre ihm wohl auch herzlich schwer geworden, aus eigenem Entschlüsse sich von hier loszureißen, und das war wesentlich mit ein Grund seines Bleibens, wenn er sich's auch nicht klar gestand. Glücklicherweise war in den letzten Wochen Werkmeister erkrankt und mußte sich, da kein anderer zur Hand war, wohl oder übel von ihm vertreten lassen. Das gab ihm Arbeit und eine erwünschte Ablenkung seiner Gedanken. Er machte sich viel zu tun und entzog sich nun auch oft der Gesellschaft der Damen, so daß man sich manchmal außer bei den Mahlzeiten überhaupt nicht sah. Heute war es nach langen Tagen das erste Mal, daß ihn Antoinette wieder zum Schachspiel aufgefordert hatte, und daß er wieder einmal so dicht in ihrer Nähe saß. Sie plauderte dabei so heiter und unbefangen mit ihm, wie schon lange nicht, und er fühlte allen Groll und alles Gekränktsein über ihr Schweigen mehr und mehr aus seiner Seele schwinden. Aber auch seine Liebe zu dem schönen Mädchen, die er bisher so tapfer bekämpft hatte, wallte von neuem mächtig in ihm empor. Sie war ihm nie so anmutig und liebreizend erschienen wie jetzt, wo sie vom leuchtenden Abendglanze umflossen ihm gegenüber am Fenster saß, und er preßte die Lippen fest aufeinander, um sich nicht durch ein Wort oder einen Seufzer zu verraten. Seine Augen jedoch hatte er weniger in der Gewalt, und als Antoinette einmal in die Höhe sah, begegnete sie einem Blicke, vor dessen Glut sie den ihren senkte und zusammenzuckte. Der eine Moment brachte sie zur Erkenntnis, daß die mannigfachen bedeutsamen Anspielungen ihrer Mutter, die sie halb lachend, halb ernstlich geärgert stets zurückgewiesen hatte, doch wohl auf Wahrheit beruhten. Dieser Mann, den sie schätzte und werthielt, beging die unbegreifliche Narrheit, sie zu lieben. Der Gedanke hatte für sie etwas unaussprechlich Peinliches; denn von kleinlicher Fraueneitelkeit, die sich eines billigen Triumphes freut, lebte keine Spur in ihr. Es kam ihr vor, als habe er sich in ihren Augen etwas entwürdigt. Sie wollte dergleichen nicht, es war ihr geradezu widerwärtig. Zugleich dachte sie mit lebhaftem Bedauern daran, daß nun die vielen schönen Stunden unbefangenen Geistesaustausches ein Ende haben mußten. Denn nach diesem stummen Bekenntnis seiner – Schwachheit konnte sie nie wieder mit ihm allein verkehren. Das fehlte gerade noch, daß er seine Blicke etwa in Worte übersetzte und somit eine beschämende Zurückweisung provozierte. Das durfte nie geschehen, dazu achtete sie ihn zu sehr, war ihm auch zu viel Dank schuldig.
Am liebsten hätte sie sofort das Spiel abgebrochen, aber das ging nicht an. Man mußte diesen Blick ignorieren. Sie begann daher, als hätte sie gar nichts bemerkt, mit forcierter Lebhaftigkeit zu reden über alles, was ihr gerade in den Sinn kam, und wünschte dabei nichts sehnlicher, als ihre Mutter möchte eintreten und die Szene beenden.
Das geschah nun zwar nicht, aber die Erlösung nahte in anderer Weise. Es wurde kräftig an die Tür gepocht, und auf ihr Herein erschien statt des Dieners, den sie erwartet hatte, ein langer, schmaler Herr in tadellosem Gesellschaftsanzuge auf der Schwelle. Sie stieß einen kleinen Schrei der Überraschung aus, denn diesen Herr hätte sie am wenigsten hier vermutet. Es war der Besitzer von Piesdorf, Landrat von Wedell, den die Franzosen im Mai mit mehreren anderen hervorragenden Männern des Saalkreises kurzerhand verhaftet und nach Frankreich transportiert hatten. Es hieß damals, er und die anderen hätten mit dem Könige von Preußen heimlich konspiriert, und sie würden wohl allesamt erschossen werden. Daß er nun glücklich zurückgekehrt war, wußte man auf Poplitz noch nicht.
Doppelt freudig überrascht sprang deshalb Antoinette auf und rief: »Herr Landrat! Welche Überraschung! Wie sind Sie denn hereingekommen? Wir haben Ihren Wagen gar nicht gehört.«
»Ich bin zu Pferde gekommen, meine Gnädigste, und schon in der Allee abgestiegen, wo sich einer Ihrer Reitknechte herumtrieb. In diesem verzauberten Schlosse fand ich niemanden, der mich melden konnte, und so bin ich auf eigene Faust hereingedrungen. Hoffentlich störe ich nicht.«
»Aber bitte, es ist mir eine Freude, Sie zu sehen, wohlbehalten wiederzusehen. Darf ich Ihnen diesen Herrn vorstellen? Herr Kandidat Moldenhauer aus Peißen, den uns mein Bruder während seiner Abwesenheit als Schloßhauptmann und Statthalter hier eingesetzt hat.«
Wedell neigte das Haupt freundlich gegen den Kandidaten und bot ihm die Hand. »Ja, ich habe Sie schon kennen gelernt, «sagte er; »Krosigk stellte Sie mir an dem Abend vor, an dem wir die Nachricht von Hassenhausen erfuhren. Aber wie sagen Sie, mein gnädiges Fräulein? Während seiner Abwesenheit? Ist er denn noch nicht zurück?«
»Leider noch nicht; aber wir können ihn jeden Tag erwarten.«
Der Landrat schüttelte den Kopf. »Merkwürdig. Der Pastor Werkmeister, den ich vorhin traf, sagte mir, er hätte ihn vor einigen Tagen an seinen Fenstern vorüberreiten sehen.«
»Das war gewiß mein Bruder Ernst!« rief Antoinette. »Aber auch der ist wieder abgereist, und Sie können nur Mutter und mich sprechen.«
»Schade, schade!« sagte Wedell. »Pardon, natürlich ist es mir eine Ehre – aber ich hätte Ihren Bruder so gern gesprochen. Es lag mir unendlich viel daran. Sehr bedauerlich, daß ich ihn verfehle. Ihre Frau Mutter ist aber wohl hier? Ist sie nun ganz wiederhergestellt?«
»Gott sei Dank, ja,« erwiderte Antoinette, indem sie den Gast zum Sitzen einlud.
»Ich darf vielleicht die Frau Geheimrätin von Ihrem Eintreffen benachrichtigen, Herr Landrat?« mischte sich Moldenhauer in das Gespräch.
»Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie das tun wollten,« entgegnete Wedell.
»Zugleich darf ich mich wohl dem Herrn Landrat empfehlen?«
»Adieu, mein lieber Herr Kandidat. Hat mich gefreut. Sie zu sehen. Besuchen Sie mich einmal in Piesdorf.« Er drückte ihm die Hand, und Moldenhauer entfernte sich.
Während er nun mit der jungen Dame allein saß, erzählte er ihr auf ihre Fragen von seinen Erlebnissen in Frankreich. »Man hat uns,« so schloß er, »niemals brutal, niemals auch nur hart gehalten, vielmehr ließ man uns alle Bequemlichkeiten zuteil werden, die man sich selber gönnte. Ich habe sogar auf diese Weise Paris gesehen und gründlich gesehen, wohin ich sonst wohl nie gekommen wäre. Aber es ist doch ein entsetzliches Zeichen unserer Knechtschaft, daß unsere Abführung überhaupt geschehen konnte. Man reißt hochangesehene Gelehrte wie Niemeyer, Edelleute von Distinktion wie den Major von Heyden und den Geheimen Rat von Madeweiß, nachts aus ihren Betten, schafft sie fort, trennt sie Monate hindurch von ihren Familien, das alles nur aus Mutwillen, ohne irgend eine juristisch begründete Unterlage zu haben. Eine Schmach ist das, mein gnädiges Fräulein, eine Schmach, die ich im Innersten fühle.« Sein gewöhnlich bleiches und ruhiges Antlitz rötete sich vor Zorn.
Indem trat rasch und lebhaft die Geheimrätin ein und begrüßte den Gast sehr freundlich und wortreich; denn Wedell gehörte zu den Leuten der jüngeren Generation, die ihr am meisten sympathisch waren. »Sie müssen mit uns vorlieb nehmen, lieber Landrat,« sagte sie; »aber eine Flasche vom Besten sollen Sie doch auch mit uns Damen austrinken. Wir feiern Ihre glückliche Rückkehr aus Feindesland.«
»Bitte nicht, meine verehrte Freundin,« wehrte Wedell ab. »Wein um diese Tageszeit ist mir nicht zuträglich. Ich meide ihn deshalb.«
»Nun, dann wenigstens ein Täßchen Mokka,« schlug die alte Dame vor.
»Wie? Sie haben noch welchen im Hause?« fragte Wedell erstaunt. »Den heben Sie ja auf, er wird rar werden. Setzen Sie ihn von nun an nur Ihren distinguiertesten Gästen vor.«
»Sie, lieber Landrat, rechnen wir immer zu unseren distinguiertesten Gästen,« versetzte die Geheimrätin lächelnd.
»Nun, gegenwärtig bin ich nur ein armer Landedelmann,« erwiderte Wedell. »Mit der Landräterei ist es nämlich aus.«
»Aus? Wieso?« fragte die Geheimrätin bestürzt.
»Erstens einmal deshalb, weil man mich wegen meiner bekannten Gesinnung in einer solchen Stellung weiterhin nie dulden würde, zweitens aber deshalb, weil es von nun an links der Elbe keine Landräte mehr gibt. Ja, ja, meine verehrte Freundin, ich muß Ihnen sonderbare Dinge verkündigen.«
»Aber bitte, nehmen Sie doch Platz, Herr Land – Herr von Wedell. Mein Gott, was ist denn geschehen?«
»Unser gemeinsamer Freund von Schele hat vor ein paar Tagen eine Vorladung nach Cassel erhalten, um mit den drei französischen Regenten zu konferieren. Dort ist ihm mitgeteilt worden, daß alle die Gerüchte auf Wahrheit beruhen, die jetzt im Lande umlaufen. Wir werden nicht zu Sachsen geschlagen, werden auch keine französische Provinz. Es wird vielmehr aus den preußischen Gebieten, Hessen und Braunschweig ein besonderes Königreich gebildet.«
»Französisch werden wir nicht? Gott sei Dank! Das wäre doch das Schlimmste!« rief Antoinette.
»Meinen Sie?« fragte Wedell. »Nun, da bin ich ganz anderer Ansicht. Das Königreich, das hier entsteht, wird ein Scheingebilde, weder Fleisch noch Fisch.
Der König, den der Korse über uns setzt, wird nichts, als ein französischer Präfekt in Purpur. Wir müssen doppelt zahlen, darin besieht unser Vorzug vor den Gebieten, die dem Kaiserreiche direkt einverleibt worden sind. Denken Sie einmal, meine verehrte Frau: die Hälfte der Domänen behält sich der Blutsauger in Paris vor, um seine Marschälle damit zu dotieren. Von der riesigen Kontribution wird kein Pfennig erlassen, kein Pfennig. Und die Zivilliste des neuen Monarchen soll jährlich mindestens fünf Millionen Franks betragen.«
»Gerechter Gott!« rief Frau von Krosigk und schlug die Hände zusammen.
»Das ist noch nicht alles,« fuhr Wedell fort. »Das Königreich Westfalen – so wird es nämlich sinnloser Weise genannt – stellt rund fünfundzwanzigtausend Mann zum Rheinbund. Und, meine verehrte Freundin, wer muß diese verrückten Summen aufbringen? Auf dem Papiere heißt es: alle Staatsbürger ohne Unterschied. In Wahrheit sind die Hauptleidtragenden wir, der grundbesitzende Adel. Denn unsere Industrie, unser Handel, unser Bergbau sind ja nicht der Rede wert. Der Grundbesitz zahlt also, und damit die Schraube rücksichtslos angezogen werden kann, sieht die Konstitution eine Grundsteuer bis zu zwanzig Prozent der Einkünfte vor. Und dazu, merken Sie wohl, verlieren wir noch einen guten Teil unserer bisherigen Arbeitskräfte, denn von bäuerlichen Hand- und Spanndiensten, von Frohnden und Arbeitsleistungen irgend welcher Art soll nicht mehr die Rede sein. Adelige Untertanen gibt es nicht mehr.«
Die beiden Damen sahen ihn jetzt mit starrem Schrecken an. Keine sagte mehr ein Wort. In dem Gesichte Wedells lag ein unheimlicher Ausdruck unterdrückter Wut, der die seinen Züge entstellte. Die Geheimrätin hatte diesen Mann, den sie seit seinen Kinderjahren kannte, noch nie so gesehen. Stets hatte er etwas Gemessenes, Verbindliches, und nie hatte sie wahrgenommen, daß irgend eine Leidenschaft über ihn Herr würde.
Nach einer kurzen Weile hatte er sich gefaßt und fuhr fort: »Reformen mußten kommen. Das wußten wir, und ich wäre der letzte gewesen, der sich ihnen widersetzt hätte. Daß sie aber so kommen, Hals über Kopf, unvorbereitet, von heute auf morgen, das ist für uns ein furchtbarer Schade, für die Befreiten selbst ein Fluch. Grundbesitz zu verwalten, dazu gehört langjährige Erziehung. Läßt man Leute selbständig wirtschaften, die nicht zur Selbständigkeit erzogen sind, so stabiliert man die Herrschaft der Hypothekengläubiger und Landwucherer. Und die wird kommen.«
Er stierte wieder finster vor sich hin, dann sagte er, wie aus einem Traume auffahrend: »Sie begreifen wohl nun, verehrteste Freundin, weshalb ich unverzüglich nach Poplitz eilen mußte, obwohl meine Frau daheim krank liegt.«
Die Geheimrätin sah ihn etwas erstaunt an. »Ich nehme an, doch nur, um mir diese Hiobsposten zu bringen, lieber Wedell,« erwiderte sie.
»Nein, aber um das alles mit Heinrich zu besprechen. Ich glaubte, er sei längst zurück. Kommt er, dann bitte ich dringend, ihn zu mir zu senden oder mich seine Ankunft wissen zu lassen.«
»Wir werden Sie zu uns bitten, werter Freund; denn Heinrich soll noch recht erholungsbedürftig sein, und die Strapazen der Reise werden ihn wohl sehr zurückbringen,« sagte sie, und in Gedanken setzte sie hinzu: »Anderes, was auf ihn einstürmte, wohl noch viel, viel mehr.«
»Wie? Er ist krank? Doch nicht etwa verwundet?« rief Wedell.
»Ach, Sie wissen noch nicht, daß er eine Kugel bei Eylau erhalten hat? Es war keine bedeutende Verwundung, aber er war schon vorher sehr geschwächt durch eine furchtbar stürmische Seereise und ging als Halbgenesener in die Schlacht.«
»Das sieht ihm ganz ähnlich,« murmelte Wedell.
»Er hat dann lange auf dem Schlachtfelde gelegen und tagelang in einer elenden Baracke. Nur Gottes besondere Gnade hat ihn uns erhalten.«
»Ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen dazu,« antwortete Wedell. »Aber doppelt wünschenswert erscheint es mir nun, daß er alle die Dinge, die ich Ihnen mitteilte, zuerst durch mich erfährt.«
»Warum doppelt wünschenswert?« fragte die Geheimrätin verwundert.
Wedell zögerte einen Augenblick mit der Antwort; dann sagte er langsam, als ob er jedes einzelne Wort erwöge: »Offen gesagt: ich möchte es verhindern, daß er in der ersten Wut etwas tut, was sich dann schwer oder gar nicht redressieren läßt.«
»Aber bester Wedell, Heinrich ist doch kein Knabe mehr!« rief die Geheimrätin fast gekränkt.
»Ich bitte, verehrte Frau, verstehen Sie mich nicht falsch. Sie wissen, wie sehr ich Heinrichs eisernen Charakter und seine großen Fähigkeiten schätze und bewundere.
Er ist uns allen überlegen, das weiß ich wohl. Aber sein Fehler ist mir auch nicht verborgen, er liegt in seinem stürmischen, leidenschaftlichen Temperament. Für ihn gibt es keine Vermittlung, er ist allzu wenig Diplomat. Sein Haß gegen das Schlechte ist so unbezähmbar, daß er sich vielleicht sofort in schroffsten Gegensatz zu dem Usurpator und seiner Regierung stellt und damit nicht nur sich, sondern auch unserer guten Sache empfindlich schadet. Besonders zu fürchten wäre das alles, wenn er etwa noch krankhaft gereizt sein sollte.«
Die alte Dame sah ihn aufmerksam an. »Sie mögen recht haben,« rief sie, und indem sie ihre Hand leicht auf seinen Arm legte, fügte sie hinzu: »Sie sind ein offener und redlicher Freund!«
Wedell neigte das Haupt. »Das bin ich, und er weiß das auch. Deshalb, meine ich, wird er auf meinen Freundesrat einiges Gewicht legen, und mein Rat ist der, daß er sich nicht weigert, wenn der Antrag an ihn gestellt wird, in die Dienste des neuen Königreiches zu treten.«
Die Geheimrätin fuhr zusammen, und ihn scheu von der Seite anblickend, fragte sie: »Werden Sie das auch tun, Herr von Wedell?«
»Nein, aber nur aus dem Grunde, weil man meiner Dienste nicht begehren wird. Ich bin zu graviert. Ihn aber wird Schele, der selbst Unterpräfekt wird, zum Maire des Kantons Alsleben vorschlagen.«
Die Geheimrätin schüttelte den Kopf.
»Sie meinen, er wird es nicht tun?« fuhr Wedell fort. »Ja, in der ersten Aufwallung des Zornes sicherlich nicht, da wird er vielleicht den brüskieren, der ihm das vorschlägt. Sehen Sie, eben das will ich verhindern. Denn, meine Gnädige, was soll aus dem Volke werden, wenn wir uns von den Staatsgeschäften zurückhalten? Der neue Herr – es wird der jüngste Bruder des Kaisers sein, Hieronymus Bonaparte – ist dann genötigt, alle Stellen mit Franzosen zu besetzen oder mit niedrigen, feilen Kreaturen, die sonst unsere Knechte waren. Nur dann können wir hoffen, eine bessere Zeit mit vorzubereiten und das Volk in geheimer Anhänglichkeit an unseren alten Herrn zu erhalten, wenn wir die Stellungen von Einfluß, soweit möglich, in unserer Hand behalten. Denn Preußen wollen wir im Herzen immer bleiben und wollen es auch einst wieder vor aller Welt werden. Deshalb müssen wir jetzt zunächst alle Verschwörer werden; und wer das nicht kann, der muß es lernen.«
Die Geheimrätin war während seiner Rede in ihren Stuhl zurückgesunken und schaute vor sich nieder, ohne etwas zu sagen. Antoinette aber schlug mit der Hand auf den Tisch und rief mit zornblitzenden Augen: »Das ist ja eine ganz niederträchtige, entwürdigende Lage für deutsche Edelleute! Das lernt mein stolzer Bruder niemals!«
»Doch,« sagte Wedell, »denn es ist nötig, und Ihr Herr Bruder ist nicht nur stolz und tapfer und ohne Menschenfurcht, er ist auch klug, und er ist vor allem Patriot. Seinem Könige, seinem Vaterlande wird er auch dieses schwerste Opfer bringen. Ich gebe zu –«
»Was ist denn das?« unterbrach ihn das Fräulein und trat rasch ans Fenster. Draußen war ein Planenwagen, gezogen von zwei starken Pferden, in den Hof gefahren und hielt nun. Einige Leute waren neugierig nähergetreten, unter ihnen der alle Schröder. Der hatte kaum mit dem Fuhrmann ein paar Worte gewechselt und das Verdeck zurückgeschlagen, als er spornstreichs auf das Schloß zugelaufen kam.
»Was ist's, Schröter?« rief Antoinette, das Fenster aufreißend.
»Ach Gott, gnädiges Fräulein, der Herr Baron!« antwortete der Alte. »Er scheint sehr krank!« setzte er hinzu, indem ihm die Tränen in den grauen Schnurrbart liefen.
In höchster Bestürzung eilte alles hinaus. Der alten Dame wankten die Knie; sie mußte sich schwer auf Wedells Arm stützen.
Auf ein paar Bunden Stroh und ein paar Pferdedecken lag Heinrich von Krosigk totenblaß mit geschlossenen Augen. Plötzlich fuhr er empor. »Vorwärts, Grenadiere!« keuchte er. Dann sank er röchelnd zurück.
»Tragt ihn ins Schloß!« rief Antoinette, kaum minder bleich als der Kranke. »Und Schröder – sofort zum Arzte.« Sie faßte mit ihren zitternden Händen das Haupt des Bruders und die Schultern an, unterstützt von Moldenhauer, der auch hinzugetreten war.
Wenige Minuten später galoppierte Schröder nach Alsleben, und kurz nach ihm preschte der Kandidat auf dem schnellsten Pferde des Stalles in den dämmernden Abend hinein, um Reil, den bewährten Freund und großen Arzt, an das Lager des totkranken Schloßherrn von Poplitz zu holen.