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Nun war man endlich am Ziel. Es hatte, wie allgemein festgestellt wurde, länger gedauert, als der Baumeister berechnet hatte. Dieser widersprach. »Was hab' ich denn g'sagt? Drei Stunden vom Eichwiesenweg aus. Daß wir um neun fortgegangen sind statt um acht, dafür kann ich doch nichts.« »Aber jetzt ist's halb zwei«, bemerkte Fritz. »Ja, seine Zeitberechnungen,« sagte traurig die Baumeisterin, »die stehen einzig da.« »Wenn Damen dabei sind,« erklärte ihr Gatte, »muß man immer fünfzig Perzent draufschlagen. Auch wenn man mit ihnen einkaufen geht, das ist eine alte G'schicht'.« Und er lachte dröhnend.
Der junge Doktor Bertram, der sich seit Beginn des Ausflugs stets in der Nähe Beatens gehalten hatte, breitete seinen grünen Mantel auf die Wiese hin. »Bitte, gnädige Frau«, sagte er und wies mit einem feinen Lächeln hinab. Seine Worte und Blicke waren sehr anspielungsreich, seit er vor vierzehn Tagen durch das Gitter des Tennisplatzes Beatens Finger geküßt hatte. »Danke,« erwiderte ablehnend Beate, »ich bin versorgt.« Und, auf einen Blick von ihr, rollte Fritz den schottischen Plaid, den er auf dem Arm trug, mit kühnem Schwunge auf. Aber der Wind strich so stark über die Alm, daß der Plaid flatterte gleich einem Riesenschleier; bis ihn Beate am andern Ende erfaßte und ihn mit Fritzens Beihilfe niederbreitete.
»Da heroben weht immer so ein Lüfterl«, sagte der Baumeister. »Aber schön ist es, was?« Und mit einer großen Handbewegung wies er in die Runde.
Sie befanden sich auf einer weithin gedehnten kurzgemähten Wiese, die, gleichmäßig abfallend, die Aussicht nach allen Seiten freiließ, blickten rings um sich und schwiegen eine Weile in beifälliger Betrachtung. Die Herren hatten ihre Lodenhüte abgenommen; Hugos Haar war noch zerwühlter als sonst, die gesträubten weißen Haarspitzen des Baumeisters rührten sich, auch Fritzens wohlgepflegte Frisur litt einigen Schaden, nur Bertrams niedergekämmtem hellblonden Scheitel vermochte der Wind, der unablässig über die Höhe strich, nichts anzuhaben. Arbesbacher nannte die einzelnen Bergkuppen mit Namen, gab die verschiedenen Höhenmaße an und bezeichnete einen Felsen jenseits des Sees, der von Norden aus bisher nicht erstiegen worden sei. Doktor Bertram bemerkte, dies sei ein Irrtum; er selbst habe jene Nordwand voriges Jahr erklettert.
»Da müssen Sie aber der erste gewesen sein«, meinte der Baumeister.
»Das ist möglich«, erwiderte Bertram beiläufig und lenkte die Aufmerksamkeit sofort auf eine andere Bergspitze, die viel harmloser aussähe und an die er sich doch noch niemals herangewagt habe. Er wisse eben ganz genau, wieviel er sich zutrauen dürfe; sei durchaus nicht tollkühn und habe gegen den Tod Erhebliches einzuwenden. Das Wort Tod sprach er ganz leichthin aus, wie ein Fachmann, der es verschmäht, vor einem Laienkreis groß zu tun.
Beate hatte sich auf den schottischen Plaid hingestreckt und sah zum mattblauen Himmel auf, an dem dünne weiße Sommerwolken hinzogen. Sie wußte, daß Doktor Bertram nur für sie sprach und daß er ihr all seine interessanten Eigenschaften, Stolz und Bescheidenheit, Todesverachtung und Lebensdrang gewissermaßen zur gefälligen Auswahl vorlegte. Aber es wirkte nicht im geringsten auf sie.
Die jüngsten Teilnehmer der Partie, Fritz und Hugo, hatten in ihren Rucksäcken den Proviant mitgebracht. Leonie war ihnen beim Auspacken behilflich, auch strich sie dann die Butterbrote, damenhaft und mütterlich, nicht ohne vorher die gelben Handschuhe abgestreift und in ihren braunen Ledergürtel gesteckt zu haben. Der Baumeister entkorkte die Flaschen, Doktor Bertram schenkte ein, reichte den Damen die gefüllten Gläser und sah an Beate vorbei mit absichtlicher Zerstreutheit nach dem unbezwingbaren Gipfel jenseits des Sees. Und alle fanden es köstlich, wie sie da oben, vom Bergwind umweht, sich an belegten Butterbroten und herbem Terlaner erlaben durften. Den Schluß des Mahles bildete eine Torte, die Frau Direktor Welponer heute früh zu Beate gesandt hatte, zugleich mit der Entschuldigung, daß sie und die Ihrigen nun leider an dem Ausflug doch nicht teilnehmen könnten, auf den sie sich schon so sehr gefreut hatten. Die Absage war nicht unerwartet gekommen. Die Familie Welponer aus ihrem Park hervorzulocken, das wurde allmählich zum Problem, wie Leonie behauptete. Der Baumeister brachte in Erinnerung, daß die verehrten Anwesenden sich auf ihre Unternehmungslust am Ende auch nicht viel einbilden müßten. Wie verbrachte man denn die schöne Sommerszeit? Man lahndelte, wie er sich ausdrückte, auf den Waldwegen herum, badete im See, spielte Tennis und Tarock; aber wievieler Vorbesprechungen und Vorbereitungen hatte es bedurft, bis man sich nur endlich entschlossen hatte, wieder einmal nach langer Zeit die Almwiese zu erklimmen, was doch wirklich nur als Spaziergang gelten konnte!
Beate dachte bei sich, daß sie selbst nur ein einziges Mal hier oben gewesen war, – mit Ferdinand, vor zehn Jahren schon, in demselben Sommer also, als sie die neugebaute Villa bezogen hatten. Doch sie vermochte es gar nicht zu fassen, daß es dieselbe Wiese sein sollte, auf der sie heute ruhte: so völlig anders, weiterhingestreckt und leuchtender, hatte sie sie in der Erinnerung bewahrt. Eine sanfte Traurigkeit schlich sich in ihr Herz. Wie allein sie doch war unter all den Leuten. Was sollte ihr die Lustigkeit und das Geplauder ringsherum? Da lagen sie nun alle auf der Wiese und ließen die Gläser aneinanderklingen. Fritz rührte mit dem seinen an das Beatens; aber dann, während sie das ihre schon längst geleert hatte, hielt er das seine noch immer regungslos in der Hand und starrte sie an. Welch ein Blick! dachte Beate. Noch verzückter und durstiger als die, mit denen er mich in den letzten Tagen daheim anzustrahlen pflegt. Oder scheint es mir so, weil ich so rasch hintereinander drei Glas Wein getrunken habe? Sie streckte sich wieder der Länge nach auf ihren Plaid hin, an die Seite der Baumeisterin, die fest eingeschlafen war, blinzelte in die Luft und sah ein schmales Rauchwölkchen elegant in die Höhe steigen, – von der Zigarette Bertrams jedenfalls, den sie im übrigen nicht sehen konnte. Aber sie spürte, wie sein Blick sich ihr entlang schmeichelte bis an ihren Nacken, wo sie ihn eine Weile körperlich zu empfinden glaubte, bis sie endlich merkte, daß es ein Grashalm war, der sie kitzelte. Wie von fern klang die Stimme des Baumeisters an ihr Ohr, der den Buben von der Zeit berichtete, da dort unten die kleine Bahn noch nicht verkehrt hatte; und obwohl seither noch keine fünfzehn Jahre verstrichen waren, wußte er um diese Epoche eine Atmosphäre von grauem Altertum zu verbreiten. Unter anderem erzählte er von einem betrunkenen Kutscher, der ihn damals in den See hineingefahren und den er daraufhin beinahe totgeprügelt hatte. Dann gab Fritz eine Heldentat zum besten; im Wiener Wald hatte er jüngst einen höchst bedenklichen Kerl einfach dadurch in die Flucht gejagt, daß er in die Tasche griff, als wenn er dort seinen Revolver verwahrt hätte. Denn auf Geistesgegenwart kam es an, wie er erläuternd bemerkte, nicht auf den Revolver. »Nur schad',« sagte der Baumeister, »daß man nicht immer eine sechsläufig geladene Geistesgegenwart bei sich hat.« Die Buben lachten. Wie kannte es Beate, dieses herzliche, doppelstimmige Lachen, an dem sie nun so oft daheim während der Mahlzeiten und in ihrem Garten sich freuen durfte: und wie recht war es ihr, daß die Buben sich so trefflich vertrugen. Neulich waren sie sogar zwei Tage lang zusammen fortgewesen, wohlausgerüstet, auf einer Tour nach den Gosauseen, als Vorbereitung für die geplante Septemberwanderung. Allerdings waren sie schon von Wien her enger befreundet, als Beate gewußt hatte. So hatte sie als eine Neuigkeit, die ihr Hugo törichterweise verschwiegen, unter anderen erfahren, daß die beiden zuweilen abends nach der Turnstunde in einem Vorstadtkaffeehaus Billard zu spielen pflegten. Aber in jedem Fall fühlte sie sich Fritz für sein Hierherkommen im Innersten dankbar. Hugo war nun wieder so frisch und unbefangen wie je, der schmerzlich gespannte Zug war von seinem Antlitz gewichen, und er dachte gewiß nicht mehr an die gefährliche Dame mit dem Pierrotgesicht und dem rotgefärbten Haar. Übrigens konnte Beate auch der Baronin das Zugeständnis nicht versagen, daß sie sich tadellos benahm. Vor ein paar Tagen erst hatte es der Zufall gefügt, daß sie auf der Galerie der Badeanstalt neben Beate stand, gerade als Hugo und Fritz, um die Wette wie gewöhnlich, aus dem offenen See herangeschwommen kamen; zugleich erwischten sie die glitschige Stiege, jeder mit einem Arm sich festhaltend, spritzten einander Wasser ins Gesicht, lachten, ließen sich sinken und tauchten erst ganz weit draußen wieder in die Höhe. Fortunata, in ihren weißen Bademantel gehüllt, hatte flüchtig zugeschaut, mit abwesendem Lächeln, wie dem Spiel von Kindern, und dann wieder über den See hingeblickt, mit verlorenen traurigen Augen, so daß Beate mit leiser Unzufriedenheit, ja, fast schuldbewußt, sich jenes merkwürdigen und immerhin etwas verletzenden Gespräches in der weißbeflaggten Villa erinnern mußte, das die Baronin selbst offenbar schon vergessen und verziehen hatte. Einmal abends, auf einer Bank am Waldesrand, hatte Beate auch den Baron gesehen, der wohl nur auf ein paar Tage zu Besuch gekommen war. Er hatte hellblondes Haar, ein bartloses durchfurchtes und doch junges Gesicht mit stahlgrauen Augen, trug einen hellblauen Flanellanzug, rauchte eine kurze Pfeife, und neben ihm auf der Bank lag seine Marinekappe. Für Beate sah er aus wie ein Kapitän, der aus fernen Landen kam und gleich wieder auf See mußte. Fortunata saß neben ihm, klein, wohlerzogen, die rötliche Nase vorgestreckt, mit müden Armen: wie eine Puppe, die der ferne Kapitän ganz nach Belieben aus dem Schrank holen und wieder hineinhängen konnte.
Dies alles ging Beate durch den Kopf, während sie auf der Almwiese lag, der Wind durch ihre Haare strich und Grashalme ihren Nacken kitzelten. Ringsum war es jetzt ganz still, alle schienen zu schlafen; nur in einiger Entfernung pfiff jemand ganz leise. Unwillkürlich mit blinzelnden Augen suchte Beate wieder nach der eleganten kleinen Rauchwolke und entdeckte sie bald, wie sie silbergrau und dünn in die Höhe stieg. Beate hob ein klein wenig den Kopf, da gewahrte sie den Doktor Bertram, der das Haupt auf beide Arme gestützt und seinen Blick angelegentlich in Beatens Halsausschnitt versenkt hatte. Er sprach übrigens auch, und es war nicht unmöglich, daß er schon eine geraume Zeit gesprochen, ja sogar, daß sein Reden Beate erst aus dem Halbschlummer erweckt hatte. Eben fragte er sie, ob sie wohl Lust verspüre zu einer wirklichen Bergpartei, zu einer ordentlichen Felsenkletterei, oder ob sie den Schwindel fürchte; es müßte übrigens nicht durchaus ein Felsen sein, auch irgendein Plateau genüge ihm vollkommen; nur höher als das hier sollte es sein, viel höher, so daß die anderen gar nicht mitkönnten. Mit ihr allein von einer Spitze ins Tal hinabzuschauen, das stellte er sich herrlich vor. Da er keine Antwort erhielt, fragte er: »Nun, Frau Beate?« – »Ich schlafe«, erwiderte Beate. – »So erlauben Sie mir, Ihr Traum zu sein, gnädige Frau«, begann er und sprach leise weiter: daß es keinen schönern Tod gäbe als durch Absturz in die Tiefe; das ganze Leben ziehe noch einmal vorbei in einer ungeheuren Klarheit, und das sei natürlich um so vergnüglicher, je mehr Schönes man vorher erlebt habe; auch fühle man nicht die geringste Angst, nur eine unerhörte Spannung, eine Art von . . . ja, von metaphysischer Neugier. Und er grub das ausgeglühte Zigarrenstümpfchen mit hastigen Fingern ins Erdreich ein. Im übrigen, fuhr er fort, käme es ihm nicht gerade aufs Abstürzen an, im Gegenteil. Denn er, der in seinem Berufe so viel Dunkles und Grauenhaftes schauen müsse, wisse alles Lichte und Holde des Daseins um so mehr zu schätzen. Und ob sich Beate nicht einmal den Krankenhausgarten ansehen wolle? Über dem schwebe eine ganz seltsame Stimmung; besonders an Herbstabenden. Er wohne jetzt nämlich im Krankenhaus. Und wenn Beate bei dieser Gelegenheit etwa den Tee bei ihm nehmen wollte –
»Sie sind wohl verrückt geworden«, sagte Beate, richtete sich auf und sah mit klaren Augen in die blaugoldene Helle ringsum, die die matten Berglinien aufzuzehren schien. Sonnendurchtränkt, überwach, erhob sie sich, schüttelte ihr Kleid und merkte dabei, daß sie zu Doktor Bertram ganz gegen ihren Willen wie ermutigend niederschaute. Eilig blickte sie fort, zu Leonie hin, die in einiger Ferne ganz allein stand, bildhaft, einen wehenden Schleier um ihren Kopf geschlungen. Der Baumeister und die Buben, mit untergeschlagenen Beinen auf der Wiese sitzend, spielten Karten. »Sie werden dem Hugo bald kein Taschengeld zu geben brauchen, gnä' Frau,« rief der Baumeister, »der könnt' schon heut' vom Tarock sein bescheidenes Auskommen haben.« – »Da wär' es ja ratsam,« erwiderte Beate näherkommend, »wir machten uns auf den Heimweg, ehe Sie ganz ruiniert sind.« Fritz sah zu Beate auf mit glühenden Wangen, sie lächelte ihm entgegen. Bertram, sich erhebend, ließ einen Blick zum Himmel aufsteigen und dann in kleinen Fünkchen über sie niedergehen. Was habt ihr nur alle? dachte sie. Und was hab' ich? Denn plötzlich merkte sie, daß sie die Linien ihres Körpers wie lockend spielen ließ. Hilfesuchend heftete sie den Blick auf ihres Sohnes Stirn, der eben mit leuchtendem Kindergesicht und unsäglich zerrauft sein letztes Blatt ausspielte. Er gewann die Partie und nahm vom Baumeister stolz eine Krone und zwanzig Heller in Empfang. Man rüstete zum Abmarsch, nur Frau Arbesbacher schlummerte ruhig weiter. »Laß mir's liegen«, scherzte der Baumeister. Aber in diesem Augenblick reckte sie sich auch schon, rieb sich die Augen und war schneller zum Abstieg fertig als die andern.
Zuerst ging es eine kurze Weile scharf bergab, dann beinahe eben zwischen Jungwald weiter, an der nächsten Biegung war der See zu erblicken und verbarg sich gleich wieder. Beate, die anfangs, in Hugo und Fritz eingehängt, mit ihnen vorausgelaufen war, blieb bald zurück; Leonie gesellte sich zu ihr und sprach von einer Segelregatta, die demnächst stattfinden sollte. Noch deutlich erinnerte sie sich der Wettfahrt vor sieben Jahren, bei der Ferdinand Heinold mit der »Roxane« den zweiten Preis gewonnen hatte. Die »Roxane«! Wo war denn die eigentlich? Nach so vielen Triumphen führte sie ein recht einsames und träges Leben in der Schiffshütte unten. Der Baumeister stellte bei dieser Gelegenheit fest, daß das Schifferlfahren heuer gerade so lässig betrieben werde wie jeder andere Sport. Leonie sprach die Vermutung aus, daß vom Hause Welponer irgend etwas Lähmendes rätselhaft seinen Ausgang nehme, dessen Einfluß niemand sich entziehen könne. Auch der Baumeister fand, daß die Welponers keineswegs zu einem gemütlichen Verkehr geschaffen seien, und seine Frau war der Ansicht, daß daran vor allem der Hochmut der Frau Direktor schuld sei, die es übrigens aus allerlei Gründen wahrhaftig nicht nötig habe. Das Gespräch verstummte, als an einer Wegbiegung auf einer wurmstichigen, lehnenlosen Bank plötzlich der Herr Direktor sichtbar wurde. Er erhob sich, und über seiner Piquéweste am schmalen Seidenband pendelte das Monokel. Er sei so frei gewesen, sagte er, den Herrschaften entgegenzugehen, und gestatte sich im Namen seiner Gattin, die Einladung zu einer kleinen Jause zu überbringen, die der müden Wanderer auf der schattigen Terrasse harre. Zugleich ließ er seine trüben Blicke von einem zum andern gleiten, Beate merkte, wie sie über Bertrams Antlitz sich auffallend verdunkelten, und sie wußte plötzlich, daß der Direktor auf den jungen Mann eifersüchtig war. Sie verbat sich das innerlich, als Anmaßung und Torheit zugleich. Ruhig, ohne Anfechtung wandelte sie durchs Dasein, in unbeirrter Treue jenes Einzigen denkend, dessen Stimme ihr heute noch, in der Erinnerung, hallender über die Höhe klang, als alle Stimmen Lebendiger zu klingen, dessen Blick ihr heute noch heller leuchtete, als alle Augen Lebendiger zu leuchten vermochten.
Der Direktor blieb mit Beate zurück. Er redete zuerst von den kleinen Angelegenheiten des Tages: von neu angekommenen flüchtigen Bekannten, vom Tode des Mühlbauern, der fünfundneunzig Jahre alt geworden war, von dem häßlichen Landhaus, das sich ein Salzburger Architekt drüben im Auwinkel baute, und kam wie zufällig auf jene Zeit zu sprechen, da weder seine eigne, noch die Heinoldsche Villa existiert und die beiden Familien sommerlang unten im Seehotel gewohnt hatten. Er gedachte gemeinsamer Ausflüge auf damals noch wenig begangenen Wegen, einer Segelpartie mit der »Roxane«, die gar gefährlich in Sturm und Wetter geendet, sprach von dem Einweihungsfest der Heinoldschen Villa, bei dem Ferdinand zwei seiner Kollegen unter den Tisch getrunken hatte, und endlich von der letzten Rolle Ferdinands in einem modernen, im ganzen ziemlich peinlichen Stück, worin dieser einen Zwanzigjährigen so vollendet dargestellt hatte. Was für ein unvergleichlicher Künstler war er doch gewesen, was für ein herrliches Menschenexemplar! Ein Jugendmensch durfte man wohl sagen. Ein wundervoller Gegensatz zu jener Art von Leuten, unter die er selbst sich leider rechnen müßte und die nicht geschaffen waren, sich oder andern Glück zu bringen. Und als Beate ihn fragend von der Seite ansah: »Ich, liebe Frau Beate, ich bin nämlich ein Altgeborener. Sie wissen nicht, was das heißt? Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Sehen Sie, wir Altgeborenen, wir lassen im Laufe unseres Daseins gleichsam eine Maske nach der andern fallen, bis wir, als Achtzigjährige etwa, manche wohl etwas früher, der Mitwelt unser wahres Gesicht zeigen. Die andern, die Jugendmenschen, und so einer war Ferdinand,« ganz gegen seine Gewohnheit nannte er ihn beim Vornamen, »bleiben immer jung, ja Kinder, und sind daher genötigt, eine Maske nach der andern vors Gesicht zu nehmen, wenn sie unter den andern Menschen nicht allzusehr auffallen wollen. Oder sie gleitet von irgendwoher über ihre Züge und sie wissen selber gar nicht, daß sie Masken tragen, und haben nur ein wunderliches dunkles Gefühl, daß irgend etwas in der Rechnung ihres Lebens nicht stimmen kann . . . weil sie sich immer jung fühlen. So einer war Ferdinand.« Beate hörte dem Direktor gespannt, aber mit innerem Widerstand zu. Es drängte sich ihr auf, daß er Ferdinands Schatten mit Absicht heraufbeschwor, als wäre er bestellt, über ihre Treue zu wachen und sie vor einer nahenden Gefahr zu warnen und zu behüten. Wahrhaftig, die Mühe konnte er sich sparen. Was gab ihm das Recht, was den Anlaß, sich in solcher Weise zum Anwalt und Schützer von Ferdinands Andenken aufzuwerfen? Was in ihrem Wesen forderte zu so verletzender Mißdeutung heraus? Wenn sie heute mit den Heitern mitzuscherzen und mitzulachen vermochte und lichte Farben trug wie früher einmal, so konnte doch darin kein Unbefangener anderes erblicken als den bescheidenen Zoll, den sie dem allgemeinen Gesetz des Weiter- und Mitlebens darzubringen schuldig war. Aber jemals Glück oder Lust zu empfinden, jemals wieder einem Manne anzugehören, an eine solche Möglichkeit konnte sie auch heute nicht ohne Widerwillen, ja ohne Grauen denken; und dieses Grauen, sie wußte es von mancher schlaflos einsamen Nacht her, durchwühlte sie nur tiefer, wenn unbestimmte Regungen der Sehnsucht durch ihr Blut rauschten und ziellos vergingen. Und wieder sah sie den Direktor, der nun schweigend an ihrer Seite einherging, flüchtig an, aber erschreckt beinahe spürte sie um ihre Lippen ein Lächeln, das aus dem Grunde ihrer Seele gekommen war, ohne daß sie es gerufen, und das untrüglich, beinahe schamlos, deutlicher als alle Worte, sprach: Ich weiß, daß du mich begehrst, und ich freue mich daran. Sie sah in seinen Augen ein Aufblitzen, wie eine heiße Frage, gleich darauf aber ein Sichbescheiden und Trübewerden. Und er richtete ein gleichgültig höfliches Wort an Frau Arbesbacher, die nur zwei Schritte vor ihnen ging, da die kleine Wandergruppe nun, da man dem Ziele sich näherte, allmählich wieder ineinandergeflossen war. Plötzlich war der junge Doktor Bertram an Beatens Seite und legte etwas in Haltung, Blick und Rede, als hätten sich auf diesem Ausflug die Beziehungen zwischen ihm und Beate enger geknüpft, und dies Ergebnis zu seinen Gunsten müßte auch von ihr empfunden und festgestellt werden. Sie aber blieb kühl und fremd, wurde fremder von Schritt zu Schritt. Und als man vor dem Gartentor der Welponerschen Villa angelangt war, erklärte sie zum allgemeinen und ein wenig auch zu ihrer eigenen Überraschung, daß sie müde sei und es vorziehe, sich nach Hause zu begeben. Man versuchte sie umzustimmen. Da aber der Direktor selbst nur ein trockenes Bedauern äußerte, drang man in sie nicht weiter. Sie ließ es dahingestellt, ob sie sich zu dem gemeinsamen Abendessen im Seehotel einfinden werde, das auf dem Wege verabredet worden war, hatte aber nichts dagegen, daß Hugo in jedem Falle daran teilnehme. »Ich werd' schon Obacht geben,« sagte der Baumeister, »daß er sich keinen Rausch antrinkt.« Beate empfahl sich. Ein Gefühl großer Erleichterung kam über sie, als sie nun den Weg nach Hause einschlug, und sie freute sich auf die paar ungestörten Stunden, die ihr gewiß waren.
Daheim fand sie einen Brief von Doktor Teichmann und verspürte ein leichtes Staunen, weniger darüber, daß der wieder ein Lebenszeichen von sich gab, als vielmehr, daß sie ihn im Laufe der letzten Zeit fast bis auf die Tatsache seiner Existenz vergessen hatte. Erst nachdem sie sich vom Staub des Tages befreit und im bequemen Hauskleid vor dem Toilettetischchen in ihrem Schlafzimmer saß, öffnete sie den Brief, auf dessen Inhalt sie durchaus nicht neugierig war. Am Beginn standen wie meistens Mitteilungen geschäftlicher Natur, denn Teichmann legte Beate gegenüber Wert darauf, vor allem als ihr Rechtsanwalt zu gelten, und mit etwas gewundenem Humor erstattete er Bericht über den Verlauf eines kleinen Prozesses, in dem es ihm gelungen war, für Beate eine unbedeutende Geldsumme zu retten. Am Schluß erwähnte er in absichtlich beiläufigem Tone, daß ihn seine Ferienwanderung auch an der Villa am Eichwiesenweg vorbeiführen werde, und wollte der Hoffnung sich nicht gänzlich verschließen, wie er schrieb, daß ihm durchs Gesträuch ein helles Kleid oder gar ein freundliches Auge entgegenleuchten und ihn zum Verweilen einladen könnte, wäre es auch nur zu einer Plauderstunde zwischen Tür und Angel. Er vergaß auch nicht Grüße beizufügen »an den biedern Baumeister und den gebieterischen Schloßherrn samt wertem Anhang«, wie er sich ausdrückte, und an die übrigen Bekannten, denen er anläßlich seines vorjährigen dreitägigen Aufenthaltes im Seehotel vorgestellt worden war. Beate empfand es als seltsam, daß ihr jenes vorige Jahr fern und wie unter einem andern Himmelsstrich ihres Lebens gelegen erschien, trotzdem sich ihr Dasein äußerlich kaum anders abgespielt hatte als in diesem Sommer. Auch an Galanterien von Seiten des Direktors und des jungen Doktor Bertram hatte es nicht gefehlt. Nur daß sie selbst zwischen all den Blicken und Worten wie unberührt dahingewandelt war, ja, daß sie sie damals kaum bemerkt hatte und nun erst in der Erinnerung ihrer bewußt wurde. Dies mochte freilich auch darin seinen Grund haben, daß sie in der Stadt mit all diesen Sommerbekannten kaum einen wirklichen Verkehr pflegte; dort führte sie seit dem Tode ihres Gatten, nachdem sich der frühere Kreis der Künstler und Theaterfreunde allmählich aufgelöst hatte, ein zurückgezogenes und einförmiges Leben. Nur ihre Mutter, die in einem Vorort das alte Stammhaus nahe der einst vom Vater geleiteten Fabrik bewohnte, und einige entferntere Verwandte fanden den Weg zu ihrem stillen und wieder sehr bürgerlich gewordenen Heim; und wenn Doktor Teichmann einmal zu einer Tee- und Plauderstunde erschien, so bedeutete das für sie schon eine Zerstreuung, der sie sich, wie sie jetzt mit einiger Verwunderung inneward, geradezu entgegenfreute.
Kopfschüttelnd legte sie den Brief hin und blickte in den Garten, über den die frühe Dämmerung des Augustabends sich breitete. Das Wohlgefühl des Alleingebliebenseins war allmählich in ihr abgeflaut; und sie überlegte, ob es nicht das klügste wäre, zu Welponers oder doch später ins Seehotel zu gehen. Aber gleich drängte sie diese Regung wieder zurück, etwas beschämt, daß sie den Reizen der Geselligkeit schon so völlig verfallen und der wehmutsvolle Zauber für immer verflogen sein sollte, der sie in vergangenen Sommern zu solchen einsamen Abendstunden oft umfangen hatte. Sie nahm ein dünnes Tuch um die Schultern und begab sich in den Garten. Hier kam allmählich die ersehnte linde Trauer über sie und sie wußte im tiefsten ihrer Seele, daß sie auf diesen Wegen, wo sie so oft mit Ferdinand auf und ab spaziert war, niemals am Arme eines andern Mannes wandeln könnte. Eines aber war ihr in diesem Augenblick über alle Zweifel klar: wenn Ferdinand sie in jenen fernen Tagen beschworen hatte, ein neues Glück nicht zu verschmähen, so hatte ihm gewiß keine eheliche Verbindung mit einem Menschen von der Art des Doktor Teichmann vorgeschwebt; irgendein leidenschaftliches, wenn auch flüchtiges Liebesabenteuer hätte von jenen seligen Gefilden aus viel eher seine Zustimmung gefunden. Und mit leisem Schreck merkte sie, daß es aus ihrer Seele mit einemmal emporstieg wie ein Bild: sie sah sich selbst oben auf der Almwiese im Dämmerschein des Abends in den Armen des Doktor Bertram. Aber sie sah es nur, kein Wunsch gesellte sich bei; kühl und fern, gleich einer Gespenstererscheinung hing es in den Lüften und verging.
Sie stand am untern Ende des Gartens, die Arme über den Zaunstäben verschränkt, und blickte nach abwärts, wo die Lichter der Ortschaft blinkten. Vom See her tönte der Gesang abendlicher Kahnfahrer mit wundersamer Deutlichkeit durch die stille Luft zu ihr herauf. Neun Schläge kamen vom Kirchturm. Beate seufzte leicht, dann wandte sie sich und ging langsam quer durch die Wiese dem Hause zu. Auf der Veranda fand sie die üblichen drei Gedecke vorbereitet. Sie ließ sich vom Mädchen ihr Abendessen bringen und nahm es ohne rechte Lust zu sich im Gefühl einer nutzlos zerronnenen Traurigkeit. Noch während des Essens griff sie nach einem Buch; es waren die Denkwürdigkeiten des französischen Generals, von denen sie sich heute noch weniger gefesselt fühlte als sonst. Es schlug halb zehn; und da die Langeweile ihr immer quälender ans Herz schlich, entschloß sie sich doch noch, das Haus zu verlassen und die Gesellschaft im Seehotel aufzusuchen. Sie erhob sich, nahm über ihr Hauskleid den langen Rohseidenmantel und machte sich auf den Weg. Als sie unten am See an dem Hause der Baronin vorbeiging, fiel ihr auf, daß es völlig im Dunkel lag; und es kam ihr in den Sinn, daß sie Fortunata schon einige Tage lang nicht gesehen hatte. Ob sie mit dem fernen Kapitän abgereist war? Doch als Beate sich nachher nochmals umwandte, glaubte sie hinter den verschlossenen Läden einen Lichtschimmer zu bemerken. Was kümmerte sie das weiter? Sie achtete nicht darauf.
Auf der erhöhten Terrasse des Seehotels, dessen elektrische Bogenlampen schon verlöscht waren, im matten Schein von zwei Wandlichtern um einen Tisch gereiht, erblickte Beate die von ihr gesuchte Gesellschaft. Aber ehe sie an den Tisch herankam, in der plötzlichen Empfindung, daß ihr Antlitz in allzu ernsten Falten lag, ordnete sie es zu einem leeren Lächeln. Sie wurde herzlich begrüßt, reichte allen der Reihe nach die Hand, dem Direktor, dem Baumeister, den beiden Frauen und dem jungen Herrn Fritz Weber. Sonst war, wie sie jetzt erst merkte, niemand anwesend. »Wo ist denn der Hugo?« fragte sie etwas beunruhigt. »Aber in dem Augenblick ist er weggegangen«, erwiderte der Baumeister. »Daß Sie ihm nicht begegnet sind«, fügte seine Frau hinzu. Unwillkürlich warf Beate einen Blick auf Fritz, der mit einem verzerrten Dummen-Jungen-Lächeln sein Bierglas hin und her drehte und offenbar absichtlich an ihr vorbeisah. Dann nahm sie Platz zwischen ihm und der Frau Direktor und, um die drohend in ihr aufsteigenden Gedanken zu übertäuben, begann sie mit übertriebener Lebhaftigkeit zu reden. Sie bedauerte sehr, daß die Frau Direktor den schönen Ausflug nicht mitgemacht hatte, fragte nach dem Geschwisterpaar Bertram und Leonie und erzählte endlich, daß sie daheim während des Abendessens in einem französischen Memoirenwerk gelesen habe, das sie fabelhaft interessiere. Sie lese überhaupt nur mehr Lebenserinnerungen und Briefe großer Männer; an Romanen und dergleichen fände sie keinen Gefallen mehr. Es stellte sich heraus, daß es den übrigen Anwesenden nicht anders erginge. »Liebesg'schichten, das ist für junge Leut',« sagte der Baumeister, »ich mein' für Kinder, denn junge Leut' sind wir ja gewissermaßen noch alle.« Aber auch Fritz erklärte, daß er nur mehr wissenschaftliche Werke, am liebsten Reisebeschreibungen lese. Während er sprach, rückte er ganz nahe an Beate, drängte wie zufällig sein Knie an das ihre, seine Serviette fiel herab, er bückte sich, sie aufzuheben und streifte dabei zitternd Beatens Knöchel. Ja, war er denn toll, der Bub? Und er sprach weiter, erhitzt, mit glänzenden Augen: Wenn er erst Doktor sei, werde er sich bestimmt irgendeiner großen Expedition anschließen, nach Tibet vielleicht oder ins innere Afrika. Das nachsichtige Lächeln der übrigen begleitete seine Worte; nur der Direktor, Beate merkte es wohl, betrachtete ihn mit düsterm Neid. Als die Gesellschaft sich zum Heimgehen erhob, erklärte Fritz, er für seinen Teil werde noch einen einsamen Spaziergang am See unternehmen. »Einsam?« sagte der Baumeister. »Das kann man glauben oder auch nicht.« Fritz aber erwiderte, solche nächtlichen Sommerspaziergänge seien seine besondere Passion; erst neulich einmal sei er gegen ein Uhr morgens nach Hause gekommen, und zwar mit Hugo, der gleichfalls ein Freund von solchen Nachtpartien sei. Und als er einen unruhig fragenden Blick Beatens auf sich gerichtet sah, fügte er hinzu: »Es ist ganz gut möglich, daß ich dem Hugo irgendwo am Ufer begegne, wenn er nicht gar auf den See hinausgerudert ist, was auch vorzukommen pflegt.« »Das sind ja lauter Neuigkeiten«, sagte Beate mit mattem Kopfschütteln. »Ja, diese Sommernächte«, seufzte der Baumeister. »Du hast was zu reden«, bemerkte seine Gattin rätselhaft. Frau Direktor Welponer, die den andern voraus über die Stufen der Terrasse hinabging, blieb einen Augenblick stehen, blickte wie suchend zum Himmel auf und senkte dann wieder in einer seltsam hoffnungslosen Weise den Kopf. Der Direktor schwieg. Doch in seinem Schweigen bebte Haß gegen Sommernächte, Jugend und Glück.
Kaum daß sie alle unten am Ufer angelangt waren, huschte Fritz davon wie zum Spaß und verschwand im Dunkel. Beate wurde von den beiden Ehepaaren heimbegleitet. Langsam und mühselig gingen sie alle den steilen Weg bergauf. Warum ist Fritz so plötzlich davongelaufen? dachte Beate. Wird er Hugo am Ufer finden? Ist er jemals mit ihm nachts auf den See hinausgerudert? Sind sie im Einverständnis? Weiß Fritz, wo Hugo sich in diesem Augenblick befindet? Weiß er? Und sie mußte stehenbleiben, denn es war ihr, als hörte ihr Herz plötzlich zu schlagen auf. Als wüßte ich nicht selber, wo Hugo ist. Als wenn ich es nicht schon seit Tagen wüßte! »Wär' halt gut,« sagte der Baumeister, »wenn s' da herauf eine Drahtseilbahn anlegen möchten.« Er hatte seiner Frau den Arm gereicht, was er, soweit sich Beate erinnerte, sonst nie zu tun pflegte. Der Direktor und seine Gattin gingen nebeneinander, in gleichem Schritt, gebeugt und stumm. Als Beate vor ihrer Türe stand, wußte sie mit einemmal den Grund, warum Fritz sich unten davongestohlen. Er hatte es vermeiden wollen, zur Nachtzeit im Angesicht all der andern mit ihr allein in der Villa zu verschwinden. Und sie empfand Dankbarkeit gegenüber der ritterlichen Klugheit des jungen Mannes. Der Direktor küßte Beate die Hand. Was immer dir begegnen mag, so zitterte es jetzt in seinem Schweigen, ich werde es verstehen und du wirst einen Freund an mir haben. – Laß mich in Frieden, erwiderte Beate wortlos wie er. Die beiden Ehepaare trennten sich voneinander. Der Direktor und seine Frau verloren sich mit sonderbarer Hast in das Dunkel, darin Wald, Berg und Himmel verrannen. Arbesbachers nahmen den Weg nach der andern Seite, wo die Gegend freier lag und über gelinden Höhen die sternblaue Nacht sich spannte.
Als die Türe sich hinter ihr geschlossen hatte, dachte Beate: Soll ich in Hugos Zimmer nachsehen? Wozu? Ich weiß ja doch, daß er nicht zu Hause ist. Ich weiß, er ist dort, wo früher das Licht hinter den geschlossenen Läden hervorschimmerte. Und es fiel ihr ein, daß sie jetzt eben im Heimgehen wieder an jenem Hause vorbeigekommen und daß es ihr ein Haus im Dunkel gewesen war, wie andere auch. Aber sie zweifelte nicht mehr, daß ihr Sohn zu dieser Stunde in der Villa weilte, an der sie gedankenlos und doch ahnungsvoll vorbeigegangen war. Und sie wußte auch, daß sie selbst daran die Schuld trug. Sie, ja sie allein: denn sie hatte es geschehen lassen. Mit jenem Besuch bei Fortunata hatte sie sich eingebildet, aller mütterlichen Pflichten auf einmal ledig zu werden, von da an hatte sie's gehen lassen, wie es ging; – aus Bequemlichkeit, aus Müdigkeit, aus Feigheit nichts sehen, nichts wissen, nichts denken wollen. Hugo war bei Fortunata in dieser Stunde, und nicht zum erstenmal. Ein Bild erstand in ihr, das sie erschauern machte, und sie verbarg ihr Gesicht in den Händen, als könnte sie's auf diese Weise verscheuchen. Langsam öffnete sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Eine Trauer umfing sie, als hätte sie eben von etwas Abschied genommen, das niemals wiederkommen konnte. Vorbei war die Zeit, da ihr Hugo ein Kind, ihr Kind gewesen war. Nun war er ein junger Mann, einer, der sein eigenes Leben lebte, von dem er der Mutter nichts mehr erzählen durfte. Nie mehr wird sie ihm die Wangen, die Haare streicheln, nie mehr die süßen Kinderlippen küssen können wie einst. Nun erst, da sie auch ihn verloren hatte, war sie allein.
Sie saß auf dem Bett und begann langsam sich zu entkleiden. Wie lange wird er ausbleiben? Wohl die ganze Nacht. Und im Morgengrauen, sehr leise, um die Mutter nicht aufzuwecken, wird er sich durch den Gang in sein Zimmer schleichen. Wie oft schon mag es geschehen sein? Wie viele Nächte ist er schon bei ihr gewesen? Viele schon? Nein – viele nicht. Ein paar Tage ist er doch sogar über Land gewandert. Ja, wenn er die Wahrheit gesprochen hat! Aber er spricht ja die Wahrheit nicht mehr. Schon lange nicht. Im Winter spielt er Billard in Vorstadtkaffeehäusern, und wo er sich sonst noch herumtreiben mag, wer kann das wissen? Und mit einemmal trieb ein Gedanke ihr das Blut rascher in die Adern: Ist er am Ende schon damals Fortunatens Geliebter gewesen? An dem Tag, da sie unten in der Villa am See ihren lächerlichen Besuch gemacht hat? Und die Baronin hat ihr nur eine erbärmliche Komödie vorgespielt und hat dann mit Hugo, Herz an Herzen mit ihm, über sie gespottet und gelacht? Ja . . . auch das war möglich. Denn was wußte sie heute noch von ihrem Buben, der in den Armen einer Dirne zum Mann geworden war. Nichts . . . nichts.
Sie lehnte sich an die Brüstung des offenen Fensters, blickte in den Garten und über ihn weg zu den finsteren Berggipfeln am jenseitigen Ufer. Scharf umrissen ragte der eine dort, den nicht einmal der Doktor Bertram sich zu ersteigen traute. Wie kam es nur, daß der nicht unten im Seehotel gewesen war? Hätte er geahnt, daß sie doch noch hinkommen würde, so hätte er gewiß nicht gefehlt. War es nicht seltsam, daß man sie noch begehrte, sie, die schon die Mutter eines Sohnes war, der seine Nächte bei einer Geliebten verbrachte? Warum seltsam? Sie war so jung, jünger vielleicht, als jene Fortunata war. Und mit einem Male, quälend deutlich und doch mit einer schmerzlichen Lust, vermochte sie unter ihrer leichten Hülle die Umrisse ihres Körpers zu fühlen. Ein Geräusch draußen auf dem Gang machte sie zusammenfahren. Sie wußte, das war Fritz, der jetzt nach Hause kam. Wo mochte der bis jetzt herumgelaufen sein? Hatte der am Ende auch sein kleines Abenteuer hier am Ort? Sie lächelte trüb. Der wohl nicht. Er war ja sogar ein bißchen verliebt in sie. Kein Wunder am Ende. Sie war ja gerade in den Jahren, um so einem grünen Jungen zu gefallen. Er hatte wohl seine Sehnsucht draußen in der Nachtluft kühlen wollen; und es tat ihr ein wenig leid für ihn, daß der Himmel heute gar so schwer und dunstend über dem See hing. Und plötzlich erinnerte sie sich einer solchen dumpfen Sommernacht aus längst vergangener Zeit, einer, in der ihr Gatte sie, die Widerstrebende, aus dem sanften Geheimnis des Ehegemachs mit in den Garten gezogen hatte, um dort, im nachtschwarzen Schatten der Bäume, Brust an Brust gedrängt, wilde Zärtlichkeiten mit ihr zu tauschen. Sie dachte auch des kühlen Morgens wieder, da tausend Vogelstimmen sie zu einer süßen schweren Traurigkeit erweckt hatten, und sie erschauerte. Wo war dies alles hin? War es nicht, als hätte der Garten, in den sie da hinausblickte, die Erinnerung jener Nächte besser bewahrt als sie selbst und vermöchte in irgendeiner wundersamen Art sie an Menschen zu verraten, die ins Stumme hineinzulauschen verstanden? Und ihr war, als stünde die Nacht selbst draußen im Garten, gespenstisch und rätselvoll, ja als hätte jedes Haus, jeder Garten seine eigene Nacht, die eine ganz andere, tiefere und vertrautere war als das besinnungslose blaue Dunkel, das sich im Unfaßbaren weit oben über die schlafende Welt spannte. Und die Nacht, die ihr gehörte, die stand heute voll von Geheimnissen und Träumen da draußen vor dem Fenster und starrte ihr mit blinden Augen ins Gesicht. Unwillkürlich, die Hände wie abwehrend vorgestreckt, trat sie ins Zimmer zurück, dann wandte sie sich ab, ließ die Schultern sinken, trat vor den Spiegel und begann ihre Haare zu lösen. Mitternacht mußte vorüber sein. Sie war müde und überwach zugleich. Was half alles Überlegen, alles Erinnern, alles Träumen, was alles Fürchten und Hoffen? Hoffen? Wo gab es noch eine Hoffnung für sie? Wieder trat sie zum Fenster hin und verschloß sorgfältig die Läden. Auch von hier aus schimmert's in die Nacht hinaus, in meine Nacht, dachte sie flüchtig. Sie versperrte die Türe, die auf den Gang führte, dann, nach alter vorsichtiger Gewohnheit, öffnete sie die Türe zu dem kleinen Salon, um einen Blick hineinzuwerfen. Erschrocken fuhr sie zurück. Im Halbdunkel, aufrecht in der Mitte des Zimmers stehend, gewahrte sie eine männliche Gestalt. »Wer ist da?« rief sie. Die Gestalt bewegte sich heran, Beate erkannte Fritz. »Was fällt Ihnen ein?« sagte sie. Er aber stürzte auf sie zu und ergriff ihre beiden Hände. Beate entzog sie ihm: »Sie sind ja nicht bei sich.« »Verzeihen Sie, gnädige Frau,« flüsterte er, »aber ich . . . ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.« »Das ist sehr einfach,« erwiderte Beate, »schlafen gehen.« Er schüttelte den Kopf. »Gehen Sie, gehen Sie doch«, sagte sie, ging in ihr Zimmer zurück und wollte die Tür hinter sich schließen. Da fühlte sie sich leise und etwas ungeschickt am Halse berührt. Sie zuckte zusammen, wandte sich unwillkürlich wieder um, streckte den Arm aus, wie um Fritz zurückzustoßen, er aber faßte ihre Hand und drückte sie an die Lippen. »Aber Fritz«, sagte sie milder, als es ihre Absicht gewesen war. – »Ich werde ja verrückt«, flüsterte er. Sie lächelte. »Ich glaube, Sie sind es schon.« – »Ich hätte hier die ganze Nacht gewacht,« flüsterte er weiter, »ich habe ja nicht geahnt, daß Sie diese Tür noch öffnen werden. Ich wollte nur hier sein, gnädige Frau, hier in Ihrer Nähe.« – »Jetzt gehen Sie aber sofort in Ihr Zimmer. Ja, wollen Sie? Oder Sie machen mich wirklich böse.« – Er hatte ihre beiden Hände an seine Lippen geführt. »Ich bitte Sie, gnädige Frau.« – »Machen Sie keine Dummheiten, Fritz! Es ist genug! Lassen Sie meine Hände los. So. Und nun gehen Sie.« Er hatte ihre Hände sinken lassen und sie fühlte den warmen Hauch seines Mundes um ihre Wangen. »Ich werde verrückt. Ich bin ja schon neulich in dem Zimmer hier gewesen.« – »Wie?« – »Ja, die halbe Nacht, bis es beinahe licht geworden ist. Ich kann nichts dafür. Ich möchte immer in Ihrer Nähe sein.« – »Reden Sie nicht so dummes Zeug.« Er stammelte wieder: »Ich bitte Sie, gnädige Frau Beate – Beate – Beate.« – »Nun ist's aber genug. Sie sind ja wirklich – was fällt Ihnen denn ein? Soll ich rufen? Aber um Gottes willen! Denken Sie doch – Hugo!« – »Hugo ist nicht zu Haus. Es hört uns niemand.« Ganz flüchtig zuckte wieder ein brennender Schmerz in ihr auf. Dann ward sie plötzlich mit Beschämung und Schreck inne, daß sie über Hugos Fernsein froh war. Sie fühlte Fritzens warme Lippen an den ihren, und eine Sehnsucht stieg in ihr auf, wie sie sie noch niemals, auch in längst vergangenen Zeiten nicht, empfunden zu haben glaubte. Wer kann es mir übelnehmen? dachte sie. Wem bin ich Rechenschaft schuldig? Und mit verlangenden Armen zog sie den glühenden Buben an sich.