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Die Geliebte des Teufels

Vor fünfzehn Jahren trieb mich die Not, eine Kapellmeisterstelle in einer britischen Provinzialstadt anzunehmen. Die verhältnismäßig geringe Bosheit der Menschen in meiner Vaterstadt hatte mir gestattet, ein ziemlich zwangloses Leben mit dem Besuch der Salons zu verbinden. Ja, ich durfte mir erlauben, dorthin einen leichten Duft von draußen zu bringen und gewisse Vorrechte eines verwöhnten, unartigen Kindes zu beanspruchen. Das ist nun ein halbes Menschenalter her. Aus dieser Umgebung sah ich mich plötzlich in die bürgerlichste englische Atmosphäre versetzt, deren Charakter das Wort respectability durchaus bezeichnet.

Stellen Sie sich eine Stadt vor, deren Häuser mit einem rauchigen Schwarzrot bestrichen und durch winzige Fenster von kümmerlicher Gotik erhellt sind. Zum Öffnen werden die Scheiben hinaufgeschoben, so daß der sich herausbeugende Kopf gewissermaßen unter einer Guillotine liegt. Denken Sie sich Straßen von ungesunder, gleichsam desinfizierter Sauberkeit, die an die kranke Fadheit gewisser nie schweißabsondernder Häute erinnert, deren Poren gegen Ausdünstung geschlossen sind.

In diesen Straßen bewegt sich eine lautlose Bevölkerung. Alle sind peinlich korrekt gekleidet. Die Männer tragen Anzüge von der Farbe schmutziger oder vom Regen aufgeweichter Landstraßen. Die Gesichter müssen einmal im Augenblick verzweifelter seelischer Stumpfheit, von einem fürchterlichen Ereignis entsetzt, stehengeblieben sein.

Überall glaubt man Versteinerungen zu sehen. Keine Kaffee- und Speisehäuser beleben die Straßen, nur heftig riechende Whiskyausschänke. Meine Tage spielten sich daher in einem boarding-house ab, an dessen Tafel sich eine Gesellschaft spärlich blonder lymphatischer Mensch versammelte. Die roten Pusteln in den wässerigen, bartlosen Gesichtern, die langen Gliedmaßen, und besonders die wie von einer Maschine hervorgebrachten wärmelosen Stimmen erweckten in mir anfangs nur kaltes Starren.

Fast den ganzen Tag wurden durch die in ihrer Düsterkeit endlos scheinenden Gänge und Speiseräume von verschwiegenen Bedienten zugedeckte Schüsseln und Platten mit riesigen, blutenden Braten getragen. Bereits um neun Uhr morgens hatte man dicke Ragouts und schwere Pasteten verzehrt, so daß ich mich schon früh in jenem dumpfen Zustand befand, der einen nach zu reichlicher Mahlzeit überkommt. Ein breidickes, schwarzes, bitteres Bier lockt den gradlinig denkenwollenden Geist in einen Sumpf. Das Blut verdickt sich bis zur Stagnation, man fühlt das Gehirn wie eine warme, schwere Masse im Kopfe lasten, in der ein spitzes böses Ding fest steckt: der Spleen.

Meine Tätigkeit bestand in der Leitung eines nach deutschem Muster begründeten musikalischen Klubs, in dem sich die Gesellschaft von H. angeblich zur Pflege klassischer Komponisten versammelte. Die eigentliche Ursache der Zusammenkünfte war jener geistlose Flirt, den das provinziale englische Bürgertum so über alles liebt, worin es beständig die Instinkte verflüchtigt, ohne nach stärkeren Entladungen zu verlangen.

Die hartnäckige Weigerung, sonst an der Geselligkeit teilzunehmen, meine ziemlich extravaganten Halsbinden und Westen setzten bald die zweifelhaftesten Gerüchte über mich in Umlauf. Obwohl mir, dem interessanten Fremden, alle Häuser dieser vor Neugier und Langeweile vergehenden Stadt offenstanden, fühlte ich mich nur zu einem Kreis ein wenig hingezogen, der für die Gesellschaft überhaupt nicht da war, da ihm die verachtetsten Menschen angehörten. In einem Keller der übelsten Vorstadt versammelten sich nachts die Mitglieder einer kleinen hungrigen Schauspielertruppe, deren groteske, oft recht abgeschmackte Sitten mich immer noch mehr anzogen als die abgezirkelten jener blutlosen Gesellschaft.

Diese Schauspieler, zum Teil verkommene Talente, hatten sich der einzigen Panazee ergeben, die gegen den Jammer des englischen Lebens besteht: dem Whisky.

Ich verbrachte mit ihnen, meist nüchterner als sie, in dem rauchigen trüben Keller eine Reihe von Winternächten, die mich vielleicht sonst zum Selbstmord getrieben hätten, und nicht eher verließ ich die hagern, pathetischen Zecher, als bis ich sie mit verzerrten Gesichtern in der Emphase der Betrunkenheit ihre Lieblingsrollen durcheinanderschreien hörte.

Wenn ich dann, von Müdigkeit übermannt, diese Stimmen nicht mehr ertrug, stieg ich in die reine Winternacht empor und unterschied noch in dem ferndumpfen Geheul unter dem harten Schnee Verse aus Hamlet und König Lear. Oft beklagte ich selbst diese Ausschweifungen, die mich halbe Tage verschlafen ließen. Aber immer wieder floh ich zu den Schauspielern, denn wenn der Abend kam, jener feucht-neblige Abend, mit seinen Schauern der Kälte und des Schreckens, dann trat in mein Zimmer das dümmste der Gespenster, dessen Namen wir uns schämen einzugestehen, das es besonders auf die germanischen Rassen abgesehen zu haben scheint: die Sentimentalität.

Wie oft hatte ich die Nachmittage über einem Buche verbracht, das mich weit von der Wirklichkeit entfernte, aber leise, wenn die Dämmerung kam, fühlte ich, wie sich die feucht-kalten Hände des Gespenstes, die zu liebkosen scheinen möchten, um meine Stirn, über die Augen legten und mich am Weiterlesen hinderten. Ein Wort hatte vielleicht begehrliche Schwächen in mir erweckt, und nun war ich für den Abend der grausamen Macht verfallen. Oder zwischen mein Klavierspiel tönte eine gleichgültige Stimme vom Vorplatz herein, oder ich atmete den Duft des Tees, einer Zigarette, und ich war ein Sklave der nie in ihrer Entsetzlichkeit genannten Gewalt. Man begnügt sich, vor ihr wie über eine süße Torheit zu lächeln.

Ich aber behaupte, daß uns dieser hinterlistige Feind in den Rausch stößt, wenn wir gern nüchtern blieben, daß er Angst vor uns selbst, vor dem Alleinsein erweckt. Wir wissen, daß er dort auf den Möbeln liegt, Düfte aus gottlob vergessenen Stunden erweckt, alberne Melodien aus dem Flügel lockt und auf den Blumen der Tapeten Gestalten schaukeln läßt, die uns zurufen, und zwar mitleidig, daß wir das Leben versäumt haben.

Wir halten das nicht aus, wir rennen davon, und alles, was uns der Zufall entgegenwirft, ist uns recht, um über einige Stunden hinwegzukommen. Und dieses unsinnige Wesen daheim tut dann beleidigt, als verletzten wir unser Bestes, und aus Widerspruch gegen dieses altjüngferliche Gespenst Sentimentalität besudeln wir uns nach Kräften.

Täglich wartete ich auf einen Umschwung in meinem Leben. Ich konnte mir nicht denken, daß diese ernsthaften, vorsichtigen Händlerfamilien ihre musikalischen Bedürfnisse lange Zeit durch ein so zweifelhaftes Wesen, wie ich war, befriedigen würden.

Eines Morgens unterbrach ein außerordentliches Ereignis diesen Winter. Ich erhielt einen Brief mit dem Poststempel der Stadt. Die Schrift war offenbar verstellt. Unter der üblichen steifen Korrektheit der englischen Kalligraphie beobachtete ich eine auffallende Beweglichkeit der Züge, phantastisch angelegte Majuskeln, die mich überraschten. Ich suchte vergeblich nach einer Unterschrift. Das Schreiben lautete:

»Zweifellos, mein Herr, sind Sie der bemerkenswerteste Mensch in H., was übrigens nicht viel heißen will. Seit voriger Woche bin ich von einer Reise zurück und beobachte überall, daß sich die Einbildungskraft dieser Stadt fast ausschließlich mit Ihnen befaßt. Ich habe Sie nicht gesehen, aber man sagt mir, daß Sie totenhaft häßlich sind. Ich möchte Sie kennenlernen. Da mich das Äußere eines Menschen – besonders der nicht angelsächsischen Rassen – sehr leicht abschreckt, möchte ich mich mit Ihnen unterhalten, ohne Sie zu sehen. Wie, das lassen Sie meine Sorge sein. Vorläufig schreiben Sie mir nur, ob es Ihnen der Mühe wert scheint, die Bekanntschaft einer Persönlichkeit zu machen, die Ihnen nichts anderes verrät, als daß sie eine Dame ist.«

»Es scheint mir der Mühe wert«, schrieb ich ohne Zögern, denn selbst ein schlechter Scherz hätte meinem Leben Abwechslung gebracht. Ich brauchte nicht lange nach der Baumhöhle im James Park zu suchen, wo ich meine Antwort niederlegen sollte.

»Ich halte Sie für klug genug,« so endete der Brief, »den Reiz dieses Abenteuers nicht durch Belauern des Abholers zu stören. Sollten Sie die Geschichte durch eine Unklugheit verderben, so hätte ich eine mißglückte Unterhaltung zu bedauern.«

Am nächsten Tag erhielt ich folgende Einladung: »Montag nachmittag sechs Uhr erwartet Sie Ecke Pier Road und King Street ein Coupé, das Ihnen der Kutscher auf die Parole Miramare öffnen wird.«

In der Tat fand ich dort an dem bestimmten Tag in der Dunkelheit des frühen Winterabends unter einem Gasarm ein Coupé. Der Kutscher starrte, einer ägyptischen Basaltgottheit ähnlich, regungslos vor sich hin. Auf den Ruf Miramare sah ich ihn eine kurze Handbewegung machen. Der Wagen öffnete sich von selbst. Das elektrisch beleuchtete Innere war in Resedafarbe gepolstert und strömte einen leichten Verbenengeruch aus. Sofort schloß sich hinter mir die Tür, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Auf einem Eckbrett fand ich Zigaretten. Ich wollte auf den Weg achten, doch als ich die Vorhänge zurückschlug, bemerkte ich, daß statt der Fenster hell polierte Holzplatten in die Wagenschläge eingelassen waren. Zum Öffnen der Türen gab es keinerlei Handhaben. Ich war also ein Gefangener, bis es dem basaltnen Kutscher einfiele, auf den Knopf zu drücken. Nur ein undurchsichtiger Ventilationsapparat an der Decke verband mich mit der Außenwelt. Die fast lautlose Bewegung der Gummiräder machte es mir unmöglich zu unterscheiden, ob ich über Pflaster fuhr, oder ob wir die Stadt etwa verlassen hätten. Die Fahrt dauerte erheblich länger als eine einfache Strecke in der kleinen Stadt. Doch der Kutscher konnte ja den Auftrag haben, durch Umwege meine Vermutungen irrezuleiten. Mein Aufenthalt in der duftenden Helle dieses rollenden Boudoirs war indessen durchaus erträglich. Ich versuchte die Zigaretten, deren auserlesene Qualität ich feststellte. Plötzlich hielt der Wagen an. Während ich draußen Stimmen vernahm, erlosch die elektrische Birne. Der Schlag öffnete sich. Ich sah ein verschneites Gehölz, ein Stück Nachthimmel und ein anderes Coupé. In wenigen Sekunden glitt geschmeidig wie ein fremdländisches Tier eine schwarzgekleidete Gestalt herein, die so dicht verschleiert war, daß ich weder Alter noch Statur erkennen konnte. Sofort schloß sich der Schlag hinter ihr, der Wagen führ weiter. Das Wesen hatte sich in der Finsternis neben mir niedergelassen. Ich beschloß, sie zuerst reden zu lassen. Vorläufig war nichts wahrzunehmen als das Knistern und der Duft schwerer Seide. Dann sagte eine sichere, ziemlich tiefe Frauenstimme: »Geben Sie mir bitte Ihre Streichhölzer.«

Ich fühlte ihre Hand an meinem Arm. Sie verbarg meine Zündhölzer vermutlich in ihrem Kleid.

»Geben Sie mir Ihren Revolver!« sagte sie darauf kurz und bestimmt. »Ihren Revolver«, drängte sie.

Ich versicherte ihr, daß ich nie einen bei mir führe, da ich mir bei meiner Erregbarkeit mehr Unheil als Schutz damit schaffen würde.

»Außer heute«, bemerkte sie halb ironisch.

»Ich hatte schlimmstenfalls einen boshaften Scherz zu erwarten«, erklärte ich, »dazu hätte mir dieser Stock genügt. Mit Vergnügen liefere ich ihn aus.«

»Danke, vor einem Stock habe ich keine Angst.«

»Aber vor einem Revolver?«

»Solch ein Instrument«, erwiderte sie rasch, »gibt einem Abenteuer so leicht den Anstrich von faits divers für die Morgenzeitung.«

In diesem Augenblick bemerkte ich, wie sie etwas Hartes auf das Wandbrett legte. Leise erhob ich die Hand, um den Gegenstand zu befühlen, und machte dabei unvorsichtigerweise ein Geräusch.

»Was tun Sie?« fragte sie.

»Ich suche meine Handschuhe.«

Sofort bereute ich diese dumme Ausflucht.

»Ich hätte Lust, Licht zu machen«, rief sie lachend, »um zu sehen, ob Sie jetzt erröten.« Ich kam mir vor wie ein Schulknabe.

»Ich gestehe, mir eine Blöße gegeben zu haben,« sagte ich, »aber verrät es nicht auch eine Schwäche, daß Sie für nötig hielten, einen Revolver mitzubringen, während ich waffenlos kam?«

»Insofern haben Sie sogar schon einen Sieg zu verzeichnen,« antwortete sie, »als Sie mein Vertrauen besitzen. Ich glaube Ihnen nämlich, daß Sie waffenlos sind.«

»Darf ich Ihnen die Hand drücken?«

»Damit Sie mich mit einem Mal durchschauen? Nun, ich habe Pelzhandschuhe an. Hier haben Sie eine maskierte Hand, deren Gestalt nichts verrät.«

Ich konnte bereits merken, daß ich es mit keiner Bovary zu tun hatte, sondern mit einer ganz bewußt handelnden Frau von abgefeimter Spitzfindigkeit. Manchmal schwieg ich minutenlang, das machte sie nervös.

»Sie haben wohl heute einen schlechten Tag?« fragte sie.

»Im Gegenteil, den besten, seit ich in H. lebe. Und Sie?«

»Ich langweile mich ein wenig.«

»Zu Ihrer Erheiterung will ich Ihnen verraten, daß Sie in diesem Augenblick genau dasselbe erleben, was der Mann so oft vor Frauen empfindet. Aus Scheu vor Banalität fürchten Sie, die notwendigen ersten Worte auszusprechen. Ich weiß, Frauen amüsiert diese Angst der Männer sehr, denn sie merken, daß man sie zu ernst nimmt. Sie würden ja gar nicht nachdenken, ob es banal ist, wenn man über das Wetter spräche. Ich will nun auch einmal kritiklos wie eine Frau sein. Fragen Sie mich doch einfach, wie es mir in H. gefällt, ob es in Deutschland ebenso schön ist ...«

»Aber Sie können das alles doch auch ungefragt sagen«, erwiderte sie verblüfft, fast gekränkt.

»Mir kommt es ja gar nicht darauf an zu reden«, sagte ich lachend. »Es langweilt mich nicht im geringsten, mit einer Unbekannten, unter der ich mir nach Belieben eine Semiramis oder die Otéro vorstellen kann, schweigend durch unbekannte Gegenden zu rollen und ihr zu überlassen, mir die außerordentlichsten Überraschungen zu verschaffen. Aber wenn Sie sprechen wollen, stehe ich gerne zur Verfügung.«

»Ist das eigentlich eine Unhöflichkeit?« fragte sie naiv.

»Da ich Sie selbst noch nicht kenne, finde ich es interessanter, an Cleopatra zu denken, als an eine Gouvernante aus den Romanen von Mrs. Bradford.«

»Nun will ich Ihnen freiwillig meine Hand geben«, sagte sie plötzlich. »Ich glaube, mir von dem Abenteuer etwas versprechen zu dürfen.«

Langsam schoben sich kühle, trockene Finger auf die meinen. Ich fühlte eine jener schlanken, fast etwas zu knochigen Hände mit langen, an den Gelenken etwas ausbuchtenden Fingern, deren zitternde Beweglichkeit stets andere Formen hervorzubringen scheint.

»Glauben Sie, daß ich schön bin?« fragte sie, während ich im Dunkeln mit ihrer Hand spielte, die sich langsam in der meinen erwärmte.

»Nein«, erwiderte ich, »aber Ihre Hand verrät eine Seele, die das Schönsein überflüssig macht.«

»Ah«, rief sie entrüstet, überrascht und verlegen zugleich. Sie rückte weg. Da ich mich gleich ihr schweigend in die Ecke lehnte, begann sie wieder nervös: »Warum, glauben Sie, habe ich diese ganze Geschichte eingeleitet?«

»Vermutlich aus Neugier?«

»Vermutlich? Halten Sie mich etwa für temperamentlos?«

Statt einer Antwort schlang ich heftig die Arme um sie, während sie sich wehrte, bahnte ich mir den Weg zu ihrem verschleierten Antlitz und drückte meine Lippen auf die ihren. Der Widerstand wurde immer schwächer unter einem Kuß, währenddessen ich den Pudergeruch von nicht mehr in allererster Jugend blühenden Wangen einsog. Ihr dünner feiner Mund jedoch hatte etwas so naiv Anschmiegendes, daß ich den – vielleicht irrigen – Eindruck empfing, als entdeckte sie zum ersten Mal die Wonnen eines Kusses.

Plötzlich stieß sie mich von sich, als hätte ich sie durch irgend etwas verletzt. »Sie gefallen mir nicht mehr.«

»Weil sich ihre Neugier nicht so schnell befriedigen läßt, als Sie glaubten?«

»Und Sie? Sind Sie zufrieden?«

»Noch lange nicht!« erwiderte ich kühl.

»Und das sagen Sie so ruhig?«

»Durchaus, weil ich der Befriedigung gewiß bin.«

»Das ist stark.«

»Finden Sie?« Ich preßte sie wieder in die Arme. Sie suchte sich loszumachen.

»Lassen Sie mich, oder ich schelle dem Kutscher.«

»Schellen Sie!«

Ohne daß ich eine Bewegung von ihr wahrgenommen, hielt der Wagen. Im selben Augenblick öffnete sich der Schlag, um sie hinauszulassen, und schloß sich wieder. Die elektrische Birne erglühte, der Wagen setzte sich in schnelle Bewegung. Ich fand mich wieder als einsamer Gefangener in der duftenden Helle des Boudoirs. Sollte ich mir durch zu schnelles Vorgehen das Abenteuer verdorben haben, währenddessen ich vielleicht das Idol meiner Träume umarmte oder eine antike Kurtisane zu mir herabgestiegen war? Am meisten neigte ich jedoch dazu, mir eine grünäugige Perverse mit kleinen Katzenzähnen vorzustellen. Plötzlich unterbrach das Anhalten des Wagens meine Gedanken. Der Schlag öffnete sich, ich stieg aus und befand mich an der bekannten Straßenecke. Noch ehe ich Zeit gefunden, dem Kutscher eine Münze zu geben, fuhr der Wagen davon. Ich stand am Weg wie ein Bettelknabe, der, aus einem Märchentraum erwacht, sich in der Wirklichkeit noch nicht wieder zurechtzufinden weiß.

Eine Woche lang mochte ich über das Abenteuer gegrübelt haben, als mir eines Morgens wieder ein Brief der Unbekannten gebracht wurde. In einem von dem vorigen weit entfernten Stadtviertel würde mich ihr Coupé am nächsten Abend um dieselbe Stunde erwarten.

Wieder war ich während einer halben Stunde ein Gefangener in dem hellen, rollenden Boudoir. Als der Wagen anhielt, erwartete ich eine Wiederholung der Vorgänge des letzten Zusammentreffens. Statt dessen befand ich mich in dem Hof eines palastähnlichen Gebäudes. Vor mir stieg eine Freitreppe, die von zwei Kandelabern erleuchtet wurde, zum Hochparterre hinauf. Oben erwarteten mich zwei Diener, die stumm ein Glasportal öffneten, durch das ich in ein helles, durchwärmtes Treppenhaus trat. Man schob mich gewissermaßen durch eine Flügeltür in ein dunkles Zimmer. Meine Füße fühlten einen dichten Teppich. Ich atmete jenen seltsamen Duft von feinem Holz und schweren Seidenstoffen, der in üppigen, wenig betretenen Räumen herrscht. Langsam tastete ich mich bis zu einem Sessel. Dann hörte ich, wie an einer entfernten Wand eine Tür auf- und zugeschoben wurde.

»Wo sind Sie, mein Freund?« fragte die mir bekannte tiefe Stimme mit einem Ton von Vertraulichkeit, der mich nach unserem letzten Abschied überraschen mußte. »Bleiben Sie, ich werde Sie finden.«

Ich vernahm, wie sie über den Teppich herankam, dann fühlte ich ihre Hände in meinem Haar.

»Folgen Sie mir«, flüsterte sie.

Wieder umschloß ich jene magere Hand, die mich führte. Ich atmete die vertrauliche Atmosphäre, die Frauen ausströmen, welche ganze Wintertage unter leichten Gewändern in ihren warmen, parfümierten Gemächern geblieben sind. Wir traten in ein anstoßendes, sehr heißes Zimmer, worin feuchte tropische Pflanzen leben mußten. Sie zog mich auf einen Divan. Das Dunkel war so undurchdringlich, daß ich nicht einmal vermuten konnte, auf welcher Seite sich die Fenster befanden.

»Ich habe Sie nun gesehen«, begann sie, »man hat Sie mir gezeigt.«

»Das ist ein Kompliment«, erwiderte ich.

»Wieso?«

»Daß Sie dennoch das Abenteuer fortsetzen.«

»Ich finde Sie in der Tat totenhaft häßlich. Aber das ist Ihre Chance bei mir.«

»Dann sind Sie ja lasterhaft.«

»Und das Laster, Sie zu lieben, heißt Satanismus«, sagte sie leise lachend.

»Ich fürchte, Ihre Lasterhaftigkeit ist nur literarisch«, erwiderte ich plötzlich skeptisch.

»Das verstehe ich nicht.«

»Sie haben vielleicht in London oder in Paris in literarischen Kreisen gelebt, wo es noch vor kurzem für sehr elegant galt, seltenen Lastern zu frönen.«

»Niemals. Nur Finanzleute und bestenfalls Seeoffiziere sind in meine Nähe gekommen. Ein Teil meines Lebens habe ich in Amerika zugebracht. In Paris war ich nie, möchte auch gar nicht hin, ich stelle es mir zu albern vor. In London hielt ich mich nur vorübergehend auf. Mein Vermögen hat mir ein paar Exzentrizitäten gestattet, aber ich habe bis jetzt noch nicht erfahren, was literarische Lasterhaftigkeit ist.«

»Um so besser«, erwiderte ich, »aber woher wissen Sie etwas von Satanismus? Das Wort gehört doch nicht in das Vokabularium amerikanischer Salons?«

»Es macht mir Spaß, Ihnen das zu erzählen«, begann sie behaglich.

»Schon als Kind reizte mich die Phantastik des Katholizismus, aber glauben Sie mir, es ist nicht mehr als ein Sport für mich – ich gebe im Grund keinen Penny dafür –, ich bin Protestantin, und zwar aus Überzeugung. Später kaufte ich mir aufs Geratewohl katholische Schriften mit vielversprechenden, beinahe indezenten Titeln, die mich dann freilich meist enttäuschten. Das reizte mich um so mehr. Es ärgerte mich, daß diese Autoren die Geheimnisse, welche sie zu wissen vorgeben, von denen der Protestantismus nichts sagt, für sich zu behalten schienen. Wahrscheinlich ist das alles Gerede, sagte ich mir oft, aber ich wollte durchaus hinter die Schliche dieser Leute kommen. So fiel mir ein Buch über Dämonialität von dem Pater Sinistrari d'Ameno in die Hände...«

»Den kennen Sie?« unterbrach ich überrascht.

»Da fand ich die Beschreibung geheimer Zusammenkünfte von Frauen mit sehr sinnenstarken Wesen, genannt Inkubus. Niemals hatte ich etwas gehört, was meine Einbildungskraft mehr entflammte. Irgendwo außerhalb der Gesellschaft einen übersinnlichen Verkehr zu haben, der mit keinem menschlichen Maß zu messen ist, der darum auch keine menschlichen Sittengesetze verletzen, noch eine Dame gesellschaftlich kompromittieren kann – denn was der katholische Verfasser da von Todsünde spricht, gilt ja nicht für uns Protestanten –, das schien eine so unerhört geniale Idee, eines wirklich vollkommenen Gottes würdig, um besonders intelligente Gläubige zu belohnen, die ihre Handlungen vor der Öffentlichkeit zu verbergen lieben. Mein Leben hatte von jetzt an nur noch den Zweck, dieses außerirdische Glück zu kosten. Jahrelang lauschte ich auf alles Außergewöhnliche, das in meine Kreise drang, bis mir vor einiger Zeit eine Chiromantin weissagte, das außerordentlichste Ereignis meines Lebens würde in diesem Jahr eintreten. Ich begab mich auf Reisen, um dem Wunderbaren zu begegnen. Ermattet und enttäuscht kam ich jüngst zurück.«

»Was mögen Sie auf dieser Reise alles angestellt haben«, warf ich belustigt ein.

»Unterbrechen Sie mich nicht.« Aufgeregt fuhr sie fort: »Wo ich hier in H. hinkam, hörte ich von Ihnen. Es war beängstigend. Ihr Name verfolgte mich, wenn ich allein war. Ich war überzeugt, Sie müßten mit dem erhofften Ereignis in Verbindung sein. Unter allen Umständen sollten Sie mir Rede stehen. Vielleicht wären Sie bestimmt, mein Werkzeug zu sein, vielleicht redete der Pater Sinistrari nur symbolisch. Man könnte ja in eine beinahe übersinnliche Beziehung auch zu einem lebendigen Wesen treten, indem man, um den Enttäuschungen und Gefahren der Sinnenwelt zu entgehen, einfach die Augen zumacht. Meinen Sie nicht?«

Mir war überhaupt nicht zumute wie jemand, der zu einer Schäferstunde gekommen ist. Diese Mischung kalter berechnender Lasterhaftigkeit mit kasuistischer Spekulation und protestantisch-bürgerlicher Beschränktheit konnte einen wirklich aus dem Gleichgewicht bringen. Dazu kam das unbehagliche Gefühl, als Werkzeug zu dienen, gewissermaßen herbefohlen zu sein. Um ein peinliches Stillschweigen zu vermeiden, sagte ich: »Sie haben sich leider alle Möglichkeit zur Befriedigung Ihrer Phantasie geraubt, indem Sie meinen Anblick gesucht haben.«

»Wie hätte ich Sie denn in mein Haus lassen können«, rief sie verwundert, »ohne zu wissen, daß Sie ein Gentleman sind?«

Ich konnte kaum das Lachen unterdrücken. Bis in die vierte Dimension trug diese Angelsächsin die Vorurteile ihrer Klasse.

»Und nun haben Sie diese Überzeugung gewonnen?«

»Nicht nur die«, flüsterte sie plötzlich wieder erregt. Ich fühlte, wie sie mir in der Dunkelheit ganz nahe war. »Ich weiß nun auch, daß Sie wirklich der Erwählte für mein Erlebnis sind. Ich habe die Lichter gelöscht, damit Sie sich vorstellen können, Ihr Idol zu umarmen – nicht eine Frau, an der Sie tausend Kleinigkeiten stören würden. Diese Urliebkosungen, die sich an keiner Wirklichkeit abnutzen, will ich mir stehlen – ein Diebstahl! Ich habe Sie gesehen, so wie Sie sind, habe ich mir den Satan gedacht!«

Sie war atemlos.

Ich schlang heftig die Arme um sie und war plötzlich von der namenlosen Begier erfüllt, mich mit geschlossenen Augen in den vor mir gähnenden Abgrund zu stürzen. »Still ... kein Wort mehr ...«, stöhnte ich wie in dunkler Angst vor dem Erwachen. »Zerstöre das nicht!« und preßte ihr die Lippen zusammen. Widerstandslos, schweigend gehörte sie mir. Ich fühlte mich in undurchdringlicher Nacht, hinter der ich phantastisch traumhafte Landschaften vermuten konnte. Zum ersten Mal hielt ich das Weib im Arm, dieses dunkle, große, ferne Ewige, das eine Frau niemals ganz verkörpern kann. Alles glühte auf, was sonst ohnmächtige Träume und enttäuschende Wirklichkeiten in mir verschüttet hatten. Ich habe mich niemals so sinnlos bis zum Gefühl der Auflösung verschwendet, als an diesem mageren, geschmeidigen, fremdartigen Leib, der für mich keine Persönlichkeit enthielt, der wirklich das Idol war. Wie sie später behauptete, soll ich bisweilen laut fremdartige und barbarische Worte gerufen haben, ähnlich den Naturlauten, die sie von wilden Völkern bei ihren bewußtlosen heiligen Tänzen gehört hatte, ein unwillkürliches Klangwerden höchster Erregung der Seele, die in das Geheimnisvollste tastet.

Sie hatte diese Laute vergessen. Sie müßten ihr aber, meinte sie, wieder einfallen, wenn sie den Geschmack gewisser Gifte auf der Zunge spürte, so wie manche Erinnerungen mit Melodien oder Gerüchen verknüpft seien. Ich selbst kann meine Gefühle nur mit denen vergleichen, die ich einmal hatte, als ich in den Alpen mit den Fingerspitzen über einem Abgrund hing und angesichts des Todes mein Leben, von rückwärts beginnend, in einem Augenblick an mir vorüberziehen sah. So kamen in dieser Umarmung alle Frauen an mir vorbei, die ich gekannt, und ich hatte das Gefühl, alle, alle zu besitzen. Erlebte Umarmungen wiederholten sich in vollkommeneren Vereinigungen, mißglückte Abenteuer gestalteten sich neu. Einst begehrte, unnahbare Königinnen sanken in meine Arme, und zum Schluß kamen wundervolle, verschleierte, traumhafte Frauen. Das waren die Geliebten meiner Knabenträume, denen ich früher und glühender gehuldigt als jenen Lebendigen. Nur wer als Kind solche phantastischen Sehnsüchte gekannt, der mag die Erfüllungen dieser Stunde an der Stärke seiner damaligen, alle wirkliche Liebessehnsucht übersteigenden Wünsche messen.

Ich weiß nicht, wie und in was für Augenblicken ich in den Armen dieser Frau schlummerte, plötzlich erwachte ich, noch eben hatte ich heiße Wohlgerüche gespürt. Nun vernahm ich ein Rauschen von Gewändern, das Schieben einer Tür, um mich erglühten zahllose Lampen. Ich erschrak, als ich mich auf einmal in einem engen, grell erleuchteten Raum befand, wo mich von allen Seiten scheußliche Larven angrinsten, die ihre braunen behaarten Gesichter zwischen riesenhaften Schießbogen, bunten Federbüschen und anderen phantastischen Geräten wilder Volksstämme herausstreckten. Das war das Boudoir meiner Freundin.

Ich trat in das Nachbarzimmer zurück und befand mich in einem hellen, wenig eigenartigen Salon Louis XV. in Erdbeerfarbe. Ein Diener trat ein und sagte: »Madame ist leidend. Sie bedauert, heute nicht empfangen zu können.«

Ich folgte ihm in den Hof, wo mich das Coupé erwartete. Der Kutscher brachte mich wieder an die Straßenecke zurück.

Alle vier bis fünf Tage erhielt ich nun ähnliche Einladungen nach den verschiedenen Vierteln, aber stets brachte mich das Coupé an dasselbe Ziel. Wir sprachen immer weniger zusammen. Was hätten sich auch zwei Menschen sagen sollen, die sich nur gegenseitig ihrer Körper bedienten zum Vorwand für die Orgien der Phantasie. Nicht mich, sondern den Satan liebte diese Frau. Und wenn sie in der Dunkelheit vor mir lag und schweigend litt, wie ich ihre Linien mit der Hand suchte, wenn mir war, als hätte ich im Gras des Gartens eine umgestürzte Statue gefunden, die unter meiner Berührung lebendig ward, dann liebte ich Lais, dann loderten Städte um mich auf, in die auf den Wink dieser Frau Brandfackeln geflogen waren, wie in meine Seele. Und nichts war mir ferner als der Wunsch, sie selbst einmal zu besitzen.

Vor allem schaffte sie mir zum ersten Mal im Leben die Befriedigung meiner quälenden Einbildungskraft. Die Liebesräusche der Vergangenheit und der Dichtung, die mir immer unerhörter, geheimnisvoller erschienen waren als die meinen, brauchte ich nun nicht mehr als schwächlicher Spätgeborener zu beneiden, ich wußte sie neu zu leben.

»Warte bis heute abend«, sagte ich mir, wenn sich die Phantasie in müßigen Bildern verschwendete, und es kamen Nächte, wo ich die Adria an die Marmorpaläste schlagen hörte, wo ich dichten Samt neben ihrer Haut fühlte, prunkenden Samt, unter dem ihre Glieder anzuschwellen schienen. Eine bös-schöne Dogaressa spielte mit mir und freute sich, daß ich um ihretwillen den Tod verachtete, den ihre Liebe kosten kann.

Oder aus ihrem Haar stieg der Duft der fränkischen Wälder, ihre Linien wurden weich wie die Lieder, die einst deutsche Mädchen abends am Brunnen sangen. Mädchen, die ihre Liebe scheu der Muttergottes abbetteln müssen, dann einmal alles vergessen können, sogar die heimliche Kapelle ihrer Kindergebete, und doch froh sind zu wissen, daß dort die Madonna lächelt, auch dann noch, wenn sie spät zu ihr zurückkommen werden, wenn er draußen in der Fremde ist und blendendere Frauen liebt.

Launenhafte Stunden kamen. Da rief das spitze kleine Gelächter meiner Geliebten kecke Herzoginnen der Régence hervor; ein fast herb duftender Puder gab ihrer Haut eine kranke Glätte. Und mir war, als sei das Gemach um uns hell und eng, eine Nuß, in der wir auf einem nicht ganz echten, jedenfalls sehr wenig wilden Meere schwammen. Und unsere Umarmung war wie von dünnen Goldfäden durchwirkt und umsponnen mit kleinen Schnörkeln, welche die Form von Mandeln hatten. An solchen Tagen war meine Geliebte sehr kitzlig.

Diese Ereignisse wären nicht möglich gewesen, hätte sie nicht eine Eigenschaft besessen, die man sonst einer Frau nicht leicht verzeiht. In Wirklichkeit war sie nämlich selbst gar nicht fühlbar; keine Laune, kein Scherz, kein Einfall, keine Wünsche, nichts Unvorhergesehenes.

Das, was sie brauchte, fand sie – ohne mein Zutun. Etwas mußte mich aber doch verstimmen. Wenn ich sie auch als mein Werkzeug betrachtete, so war ich noch mehr das ihre. Winkte sie, so kam ich, war sie meiner müde, so entließ sie mich. Erschien ich einmal aus Laune nicht, dann verlor sie darüber kein Wort. Nach einigen Tagen kam immer eine neue Einladung. Dieser Gleichmut ärgerte mich, ich beschloß, sie zu reizen, sie wütend zu machen, indem ich alberne Gründe für mein Wegbleiben erfand. Aber wenn dann ihr Haar duftete, als müsse es in der Sonne rot leuchten, wenn mich ihre hageren Formen in nervöser Hast umkrampften, daß ich nicht wußte, ob sie höchste Qual oder Lust empfand, ob sie mich liebte oder züchtigen wollte, dann vergaß ich allen Ärger, alle Absichten. Dann fühlte ich mich als der Beichtvater, der die Zelle einer jungen Hexe betritt, die morgen brennen muß und heute noch einmal von der Wollust in sich hineinschlingen will, was sie nur noch fassen kann. Die noch schnell so viel fremde Kraft aufzusaugen, zu zerstören begierig ist, als ihr irgend möglich. Mein Überlegenheitsdünkel verstummte, wenn ich sie träge und regungslos fand, wie eine Bajadere, die sich eines heißen Morgens im Schatten bizarrer Gewächse gewälzt und gedankenlos zu viele fadsüße Früchte verschlungen hat. Dann roch sie nach indischen Blumen, sie wußte seltsame Bauchbewegungen, so daß sie mir fast zu üppig vorkam. So vergaß ich gern, daß mich vielleicht eine nichtige Dame zum besten hielt. Sie existierte ja gar nicht. Manchmal kam mir der Gedanke, sie zu gewissen erregenden Worten in ihr fremden oder in toten Sprachen abzurichten. Aber ich merkte rechtzeitig, das dadurch die Lebendigkeit meiner Idole Literatur, Theater geworden wäre, ein kleiner Scherz, den jede Dirne hätte erlernen können.

Natürlich machte ich mir eine bestimmte Vorstellung von ihr, aber ich kann nicht sagen, ob ich sie mir schöner oder häßlicher dachte als die mir begegnenden Frauen, hinter denen ich sie bisweilen vermutete. Die Außerordentlichkeit meiner Freuden war gar nicht an einem wirklichen Niveau zu messen.

Obwohl also alle Berührungen mit dem Alltag fern lagen, in denen die Todeskeime der menschlichen Beziehungen liegen, nahm diese außerordentlichste aller Liebesgeschichten ein so dummes triviales Ende wie eine Sergeantenliebschaft. Die Dame wurde eifersüchtig – auf meine Idole. Eines Tages fragte sie mich wie eine kleine Näherin, ob ich sie liebe. Und damit ist die Geschichte eigentlich zu Ende. Sie hatte herausbekommen, daß meine Freuden doch glühender und mannigfaltiger waren als die ihren. Durch ihre vorzeitige Neugier waren ihre Sinne nun einmal an meine Gestalt gebunden. Sie war es müde, immer dasselbe Wesen zu küssen, wenn sie es auch in den Flitterwochen Satan genannt hatte. Ich war boshaft genug, sie merken zu lassen, daß sie ohne ihre ›ladylike‹ Vorsicht und Neugier gleich mir über ein Serail verfügen könnte, daß sie dann heute einen delikaten George Brummels, morgen einen römischen Gladiator umarmt hätte. Solche Worte trieben sie in ohnmächtige Wut.

»Sie sollen mich nun doch auch kennenlernen«, sagte sie einmal empört, »und wir wollen sehen, ob Sie dann noch Ihre Idole vorziehen.«

Ich erriet, daß sie das Licht aufdrehen wollte. »Bitte nicht!« rief ich, »ich laufe fort.«

»Sie wollen mich nicht sehen?«

»Sie können unmöglich so schön sein, als ich glauben möchte.«

»Das ist unerhört.«

»Sie wollten doch den Weihrauch eines Idols empfangen.«

Nun hatte sie wohl doch Angst, mich zu enttäuschen. Ohne zu reden, verließ sie mich.

Ich erhielt nun keine Einladung mehr. Wochen vergingen, und ich fühlte eine große Lücke in meinem Leben, das in ununterbrochener Trostlosigkeit weiterging. Ich war traurig, als sei mir eine gute Geliebte gestorben, aber sobald ich an diese Frau dachte, verging mir alle Sehnsucht. Ich fühlte etwas wie leisen Hohn, eine Art Verachtung für allzu große Unterlegenheit, an die zu denken kaum der Mühe wert ist.

Eines Abends war ich allein in dem einzigen Restaurant der Stadt, wo man nach dem Theater speisen konnte. An einem Tisch hinter mir saßen Leute, die bei meinem Kommen noch nicht da waren: zwei Herren in korrekter schwarzer Abendkleidung. Einer hatte einen fast weißen Bart mit ausrasiertem Kinn, der andere war ein blonder junger Mensch mit frischem, sehr englischem Knabengesicht. Zwischen ihnen saß eine blasse Frau von etwa fünfunddreißig Jahren. Sie hatte dunkles Haar, das geradlinig in regelmäßigen Löckchen die Stirn abschloß, ein mageres Gesicht von keltischem Typus mit stillen, fast starren braunen Augen. Eine außerordentliche Distinguiertheit lag über ihr. Den fast zu langen schmalen Mund schmückten sehr weiße, auffallend kleine Zähne – ein Gesicht, von dem man meinen könnte, daß es einmal schön war; doch etwas fehlt, und das schreibt man den Jahren zu. Wahrscheinlich aber fehlte es immer. Die Hände waren groß, doch schlank und mit mehreren Opalen geschmückt. Diese drei Menschen hatten eine selbstverständliche anspruchslose Vornehmheit ohne aufdringende Eigenart, wie man es bei Nachbarn im Theater oder Table d'hôte gern hat, die durch nichts stören, nicht einmal Interesse erwecken. Dennoch fühlte ich einen Zwang, mich nach ihnen umzudrehen. Ich glaubte zu bemerken, daß mich die Dame gleichfalls beobachtete. Vielleicht ist es die Unbekannte, dachte ich gleichgültig, aber dieser Gedanke kam mir natürlich bei sehr vielen Frauen. Ich bestellte Kaffee und benutzte die Gelegenheit, während der Kellner abdeckte, meinen Platz zu wechseln, so daß ich die Fremden vor Augen hatte. Ich bemerkte, wie die Dame unruhig wurde und mit plötzlichem Eifer zu dem alten Herrn sprach. Dieser beglich die Rechnung, die drei verließen das Restaurant.

Am folgenden Tage erhielt ich zwei Briefe. »Die Komödie ist aus«, lautete der eine in der gewohnten Schrift, »ich fühle mich erkannt, lassen wir die Masken fallen.« Der andere trug ähnliche, doch natürlichere, offenbar unverstellte Züge. Er enthielt eine förmliche Einladung zum Ball bei einer mir völlig unbekannten Dame. Auf unsere phantastischen Orgien schien diese Frau willens, einen unvermeidlichen Flirt zu setzen oder vielleicht wirklich gar eine Liebschaft. Ich aber zog vor, meine phantastische Geliebte nicht aus dem Grab zu erwecken.

Helena war in die Immaterialität zurückgekehrt. Um den angebotenen Ersatz anzunehmen, war ich im Augenblick doch zu verwöhnt. Bald verließ ich H. Ich habe die Dame nie wieder gesehen.

*

Der Erzähler schwieg. Ich hatte das trostlose Gefühl, daß nun etwas fertig, unwiederbringlich vorbei sei. Ein Leben hörte auf, ohne daß ich tot war. Die anderen schienen Ähnliches zu empfinden.

»Eine neue Geschichte«, rief jemand, »diese Leere ist ja unerträglich!«

Wir lagen wie blind in einer dunklen Höhle, hungrig nach der menschlichen Stimme.

Unser Leben, unser Wille war erstarrt. Nur die Einbildungskraft wachte und verlangte – selbst unfruchtbar –, daß ein anderer, Stärkerer, Nüchterner sie mit Vorstellungen füllen solle.


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