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Auf dem Wiener Kongreß vollzog sich das verblüffende Wunder, daß Talleyrand, der Vertreter seines tief gedemütigten Vaterlandes, schon nach wenigen Wochen eine so stolze Sprache führen durfte, daß Kaiser Alexander sagte, er gebärde sich nicht wie der Abgesandte des geschlagenen Frankreichs, sondern wie der Minister Ludwigs XIV. Wie war das zu erklären? Nicht nur durch sein diplomatisches Geschick, sondern vor allem durch sein unvergleichliches Werkzeug: die französische Sprache. Auch die anderen Staatsmänner, wie der Freiherr vom Stein, beherrschten sie; überhaupt wird keine zweite Sprache von so vielen Fremden gut gesprochen wie die französische. Gar manchem hört man den Ausländer nicht an, aber zum mächtigen Werkzeug wird diese Sprache doch nur im Mund des geborenen Franzosen, der von Kindheit an und ausschließlich in ihr gedacht hat.
Darum war bisher wirklich – was man meist für eine höhnische Übertreibung hielt – die Kenntnis des Französischen das erste Erfordernis für einen Diplomaten. Wer diese Sprache am besten spricht, zwingt den andern bereits in eine schwierige Lage. Wer dagegen die Sprache des Fremden gebraucht, kommt diesem schon bis zu einem gewissen Grade entgegen. Solange französisch verhandelt wird, bleiben den Franzosen immer Hintertüren, denn die französische Sprache besitzt einen geradezu unerschöpflichen Reichtum an feinen Unterscheidungen und Abstufungen.
Für den Beobachter der Gesellschaft bedeutet der Wiener Kongreß eine Wasserscheide. Wenn auch das, was man früher die »Große Welt« nannte, im Jahre 1789 bereits den Todesstoß erhalten hatte, so tauchte sie doch in ihrem ganzen Glanz im Jahre 1814 in Wien noch einmal auf, nachdem der Erzfeind Bonaparte, der Vollstrecker der Revolution, unschädlich geworden schien. Noch einmal erscheinen die großen Herren in Schnallenschuhen und seidenen Strümpfen, in kurzen Hosen und mit Wasserfällen von handbreiten Spitzen über der Brust. Auch die Puderperücke war noch sichtbar. Gleichzeitig aber sah man bereits das Sinnbild des Herrn im 19. Jahrhundert: den schwarzen Frack, den uns England beschert hat. So standen neben der Fata Morgana einer versunkenen oder versinkenden Welt bereits festgeprägte Gestalten einer neuen Zeit. Der Begriff der Großen Welt verblaßte, und ein neuer wurde geschaffen: der Begriff Europa.
Der Feind und Schrecken Europas, Bonaparte, hatte den ganzen Erdteil gegen sich vereinigt und so zum erstenmal das Bewußtsein einer europäischen Kulturzusammengehörigkeit geschaffen. Sie macht sich trotz allen kleinlichen Eifersüchteleien und Ränken auf dem Kongreß deutlich fühlbar. Dieser Begriff des Europäertums hat mit dem verbleichenden Bild der Großen Welt noch das Weltbürgerliche gemeinsam, unterscheidet sich aber doch dadurch von ihm, daß er viel weniger gesellschaftliche als Kulturbande betont. Auch die Große Welt des 18. Jahrhunderts war zweifellos europäisch gewesen, aber dieses Europäertum war eigentlich nichts anderes als ein über den Erdteil ausgedehntes Franzosentum. Die gute Gesellschaft Frankreichs gab den Ton an. Diese Gesellschaft hatte starke geistige Liebhabereien, und so wurde es in ganz Europa guter Ton, gesellschaftliche Bestrebungen mit geistigen zu verquicken. Die französische Vorherrschaft wurde durch die Besiegung Napoleons gebrochen, und das Europa, das sich nun plötzlich erhob, zeigte, daß es bei aller Gemeinsamkeit aus grundverschiedenen Völkerpersönlichkeiten bestand, die sich weder staatlich noch in ihrer Sitte künftig von Frankreich beherrschen lassen wollten. Das aufstrebende Preußen hatte bereits eine eigene Geistigkeit, deren besonders edler Vertreter Wilhelm v. Humboldt als Sekretär des preußischen Kanzlers Hardenberg den Kongreßverhandlungen beiwohnte. Der russische Kaiser Alexander I. war selbst noch ein Schüler des Franzosen Laharpe, aber bereits unter seiner Regierung bezeichnte der Name Puschkin den Beginn einer ganz eigenartigen russischen Kultur, die von der französischen im 18. Jahrhundert ebenso verschieden war wie die deutsche. Dieses Europa, das sich dort auf dem Wiener Kongreß zum ersten Male eins fühlte, war eine bedeutend vielgestaltigere Einheit als jene etwas eintönige »Große Welt« der Vergangenheit. Frankreich selbst schien anfangs zu der neuen Einheit nicht zu gehören, aber Talleyrand erzwang für sein Land die Aufnahme. Die französischen Waffen waren geschlagen, aber Frankreich siegte noch einmal durch die Sprache.
Gleich bei den ersten Besprechungen wehrte es sich gegen das Wort »Verbündete«. Was sind das für Verbündete, gegen wen gibt es Verbündete seit dem Sturz Bonapartes? Und die gegen Frankreich Vereinten mußten ihm zugeben, daß dies nur eine Redensart sei. Talleyrand setzte durch, daß sie fallen gelassen wurde, und es zeigte sich, daß es gerade diese Redensart war, die Frankreich bisher aus der Gemeinschaft ausgeschlossen hatte. Schritt vor Schritt verstand es Talleyrand, in dieser Gemeinschaft Boden zu fassen, schließlich Österreich auf seine Seite zu ziehen gegen Rußland, das ein neues Königreich Polen gründen und mit dem Zarentum vereinigen wollte, gegen Preußen, das ganz Sachsen beanspruchte. So gehörte auch Frankreich, das tief gedemütigte, nun wieder in die europäische Gemeinschaft. Frankreichs geistiger Welteinfluß allerdings war gebrochen; das aber gereichte nicht nur den übrigen europäischen Ländern in ihrer eigenartigen Entwicklung zum Vorteil, sondern Frankreich selbst. Im 19. Jahrhundert hat es noch einmal auf allen Gebieten des geistigen Lebens, besonders in Dichtung (Balzac und Verlaine) und Malerei (Delacroix und Manet) Hervorragendes geleistet, was sich wesentlich unterscheidet von jener Kultur der Großen Welt, in der es im 18. Jahrhundert bereits zu verblassen gedroht hatte. Während die klassische Kultur Frankreichs die Nichtfranzosen wie Barbaren verachtete, hat sich die französische Romantik vom Ausland, besonders von Deutschland, tief beeinflussen lassen, und das ist ihr ausgezeichnet bekommen. Frankreich wurde gezwungen, Europa als Kulturquelle, nicht nur als Kulturgefäß anzuerkennen.
Trotz alledem waren die Waffen, mit denen auf dem Kongreß gekämpft wurde, noch die der alten Großen Welt. Nicht die neuartigen, von dem Geist der Zukunft gefüllten Gestalten, Stein und Humboldt, hatten das Übergewicht. Aber wenn auch die alte Diplomatenkunst siegte, ja vielleicht den glänzendsten Sieg davontrug, den sie jemals erreicht hat, so war es doch auch zugleich der letzte. Varnhagen von Ense, der sich ebenfalls in Wien befand, erzählt, daß die Unbeliebtheit der Diplomaten, deren Tätigkeit die frühere Zeit ehrfürchtig bestaunte, von dem Wiener Kongreß herstammt. Damals fühlten die Völker zum erstenmal klar, daß es verhältnismäßig leicht sei, am grünen Tisch zu verhandeln, nachdem Hunderttausende ihre Haut zu Markt getragen hatten. Dazu kam, daß die Verhandlungen nur sehr langsam vorwärtsgingen, während Berichte über die fabelhaften Vergnügungen der Kongreßteilnehmer ganz Europa erfüllten. Freilich war es noch mehr Metternich als Talleyrand, der das Bild des Diplomaten so sehr getrübt hat. Talleyrand hat tüchtig arbeiten müssen. Metternich dagegen verbrachte zwei Drittel des Tages mit Geselligkeit. Stein schreibt von ihm, daß er sich bei der Anordnung von Hoffesten und lebenden Bildern mit allen Kleinigkeiten beschäftigte und müßig dem Tanz seiner Tochter zusah, während Castlereagh und Humboldt ihn zu einer Sitzung erwarteten. Als man ihn holen ließ, fand man ihn damit beschäftigt, den Damen Rot aufzulegen. »Metternich«, sagt Stein, »hat Verstand, Gewandtheit, Liebenswürdigkeit; es fehlt ihm an Tiefe, an Kenntnissen, an Arbeitsamkeit, an Wahrhaftigkeit. Er liebt Verwicklungen, weil sie ihn beschäftigen und es ihm an Kraft, Tiefe und Ernst fehlt für Geschäftsverhandlungen im großen und einfachen Stil.« Das ist allerdings das Bild des Diplomaten, wie ihn sich mancher heute mit Unmut vorstellt.
Talleyrand hatte eine höchst eigentümliche Vergangenheit. Aus dem alten Fürstengeschlecht der Talleyrands de Périgord stammend, war er während der Revolution Bischof von Autun geworden. Er war der erste hohe Geistliche, der den dritten Stand anerkannte; eine Zeitlang gab er sich sogar als Jakobiner. Dann wurde er Gefolgsmann des Kaisers Napoleon, und auf dem Wiener Kongreß vertrat er den von ihm neu begründeten Standpunkt der Legitimität – auch ein Wort, das er als Hauptwaffe benutzte gegen die Landansprüche der anderen. Solange das Königtum in seinen Rechten nicht angezweifelt war, brauchte es kaum eine grundsätzliche Begründung. Erst aus dem bedrohten Königtum entwickelte Talleyrand den Begriff der »Legitimität«. Niemals war das Gottesgnadentum so sehr betont worden, ehe es zu wanken begann. Talleyrand sagte zu den versammelten Fürsten, denen die französische Revolution keinen geringen Schrecken eingejagt hatte: »Ich bringe Ihnen mehr, als Sie besitzen; den Gedanken der Legitimität. Ich habe nicht nötig, geheimnisvoll zu handeln.« Was Wunder, daß sie auf diesen Mann hörten, der in klaren, geschichtlich und logisch begründeten Sätzen ihnen das ausdrückte, was sie selbst nur verschwommen fühlten. Dieses neue Wort: Legitimität, mit dem er so viel Erfolg hatte, gab Talleyrand seine ungeheure Sicherheit, und er sagte einmal: »Das ist der Vorteil der Leute, die nur auf Grund von Prinzipien verhandeln.« So täuscht er alle mit einem wohlklingenden Ausdruck. Auf Grund dieses glücklichen Wortes verlangt er Neapel für die Bourbonen zurück, beileibe nicht, um Frankreichs Macht zu vergrößern, sondern weil die Bourbonen die legitimen Fürsten sind. Durch dieses Wort verhindert er Rußland und Preußen, ihre Ansprüche auf Polen und Sachsen durchzusetzen, denn das Recht der Macht wagte man damals noch nicht offen für sich in Anspruch zu nehmen, obwohl es immer die Geschichte gelenkt hat.