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Achtes Kapitel.
In stillen Zelten

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Das gute Schiff Esperanza, das Dolly mit der Mutter und dem kleinen Paul in Begleitung von Nina nach Europa tragen sollte, durchrauschte schon seit ein paar Tagen die Wasserwüste des offenen Oceans. Die lange Fahrt längs der Küste, die Dolly vor kaum zehn Monaten mit so stolzen Erwartungen südwärts gemacht hatte, war nun in umgekehrter Richtung schon zurückgelegt, und während sie elend und seekrank in ihrer Kabine lag, drängten Gedanken und Vergleiche sich wirr und wild in ihrem fiebernden Kopfe.

Wie war alles doch so ganz anders geworden, als sie in ihren hochfliegenden Träumen erwartet hatte! Von Freude zu Freude wollte sie stürmen, das Leben sollte ein einziger schöner Festtag für sie werden, ein ewig heiterer Himmel sollte ihr lächeln! Aber die Freuden, die sie gesucht, hatte sie nicht gefunden, oder sie hatten sich ihr unter den Händen aus schönen Engelsgesichtern in grinsende Teufelsfratzen verwandelt, daß sie sich voll Entsetzen davon abwenden mußte. Und am heiteren Himmel ihrer Jugendtage waren schon so bald die düsteren Wolken des Kummers heraufgestiegen, und Gott der Herr hatte sie in die schwere Schule des Leidens genommen. Aber heute war sie dankbar dafür. Sie hatte sich zu Gott zurückgefunden, sie hatte sich auf sich selbst besonnen und auf ihren Lebenszweck, da hatte sie ihren Pflichtenkreis gefunden, und ihr Leben hatte einen Inhalt bekommen. Dolly war in dieser kurzen Zeit aus einem gedankenlos dahinlebenden Kinde eine besonnene Jungfrau geworden.

Und doch war sie glücklicher und heiterer als jemals, denn sie war mit sich selbst im Frieden. Sie hatte jetzt nur die eine Sorge, daß sie bald gesund sein möchte, um die Mutter und das Brüderchen pflegen und den treuen Freunden in Rio ausführliche Nachricht geben zu können.

Das Herz that Dolly weh, wenn sie an den Abschied an Bord des Schiffes dachte, wie der Onkel Georges so still dagestanden, wie seine Lippen gezittert hatten, wenn er etwas sagen wollte, wie seine Stimme ein unverständliches Flüstern geworden war. Und die ganze Tabakdose hatte er leergeschnupft oder auf die Planken des Schiffes verstreut, so daß Mademoiselle Virginie, die eine laute Lustigkeit zur Schau trug, ihn derb anfuhr und ihn fragte, ob er in seinen alten Tagen ein Verschwender werden wolle! Ach, wie deutlich stand sie wieder vor Dollys Augen, die geliebte alte Brillenschlange mit der großen Nase, der dicken Brille, dem ungeheuren Schildpattkamme! Sie hatte den weißen Crêpe de Chine-Shawl mit den langen Seidenfranzen, den sie nur an hohen Festtagen trug, angelegt und sah beinahe aus wie ein kleines Segelschiff, wenn der Seewind ihren weiten Umhang aufblähte.

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»Ich komme zu deiner Hochzeit, Prinzessin Uebermeer!« hatte sie Dolly ganz zuletzt unter Lachen und Thränen als großes Geheimnis in die Ohren geflüstert und war dann wie ein weißer Riesenvogel davongeflattert. Just im letzten Augenblicke, ehe das Schiff »Esperanza« die Anker lichtete und Dolly sich von ihrem Erstaunen über die Eröffnung erholen konnte ... Hochzeit! Daran wollte sie nicht mehr denken. Die bräutliche Myrte würde für sie wohl nicht blühen, aber das liebe stille Veilchen Zufriedenheit!

Dolly schaute durch das runde Fensterchen ihrer Kabine auf den Nachthimmel hinaus. Noch flammte das südliche Kreuz über dem weiten Meere, zum letzten Gruß aus der tropischen Heimat. Nur kurze Zeit, und die bleichen Nordlandssterne würden ihr wieder scheinen und das Land wie das Leben kühl und ernst und einförmig vor ihr liegen. Ein leises Bangen schlich sich in des Mädchens Herz. Aber nicht lange: sie dachte daran, daß es der himmlische Vater ist, der die Sterne des Südens entflammt und das blasse Licht des Nordens scheinen läßt, und der mit Vaterliebe die Geschicke der Menschen leitet unter allen Breiten, von Pol zu Pol.

Nach wenigen Tagen saß Dolly auf einer rebenumsponnenen Veranda am Hause der Madame Guizot in Funchal und schrieb einen Brief an Karen.

»Ja, liebe Freundin,« hieß es darin, »Du darfst mir glauben, daß ich noch nie eine so günstige Veränderung an einem Menschen wahrgenommen habe, wie an Deiner Schwester Astrid. Du liebe Zeit! Die hat ja Wangen so rosenrot und blühend wie ein frisches Bauernmädchen; ihre Augen strahlen vor Gesundheit und Glück, und sie ist so heiter wie eine Haidelerche im Frühling. Freilich ist sie auch eine glückliche Braut! Und die kleine Thora ist ganz reizend. Wir haben in einemfort von Dir gesprochen; sie nennt Dich nur »Schwester Karen« und sagt, Du müßtest sie durch große Liebe entschädigen, weil Du ihr das Herz des besten und ritterlichsten Bruders gestohlen! O, liebe Karen, wie freue ich mich über euer aller Glück! Aber ich habe auch eine Freudenbotschaft zu vermelden. Deine Nadine (sie ist einfach großartig!) hat Mamas Augen untersucht und uns viel Mut gemacht. Sie riet von der Kur in Wien ab, da die übermäßig in Anspruch genommene Berühmtheit, the grand old medical man, doch nicht in eigener Person die sehr langwierige Kur leiten würde. Sie empfahl eine Augenklinik in Hamburg, deren Direktor sie persönlich kennt und als ungewöhnlich tüchtig schilderte. So hat Mama den Vorteil, in der Nähe der Ihrigen zu sein (wir werden alle in Tante Berthas großem Hause unsere Zelte aufschlagen), und die Kur kann mit der nötigen Ruhe und Sorgfalt gemacht werden. Während Nadine mit Mama beschäftigt war, bin ich mit den beiden Mädchen auf den Kirchhof gegangen, um das Grab der lieben Frau Malten zu besuchen. Ach, Karen, ich habe niemals einen friedlicheren und schöneren Kirchhof gesehen! Es war wie in einem Gottesgarten. Leuchtende Blumenpracht, wohin das Auge schaute, schlanke Palmen, zarte Farne, uralte mächtige Pinien und Cypressen und darüber die strahlende Kuppel des blauen Frühlingshimmels, der Gesang der Vögel und das fröhliche Gaukelspiel buntschillernder Falter. Und hoch über dem Friedhof an der Brust der grauen Felsen die alten, unermeßlichen, rauschenden Wälder und in der Ferne der laute Pulsschlag des ewig unruhigen Meeres. Die heilige Stille hier war um so erhabener. Unter einem blühenden Magnolienbaum stand das schlichte Marmorkreuz auf Frau Maltens Grab. Es trug in großen Goldbuchstaben nur das eine Wort » Sursum!« und dann ihren Namen und das Datum ihrer Geburt und ihres Todes. » Sursum!« mußte auch ich denken, als ich an die engelreine Frau dachte, die, den Blick in die Höhe gerichtet, durch die Schatten des Erdenthales gewandelt ist. »Sursum!« sagte das weiße Kreuz und die schimmernden Kelche der Magnolienblüten, die wie sehnsüchtig gefaltete Hände in die Höhe strebten. Wir alle hoben unwillkürlich den Blick zu der lichten Himmelshöh', und es war mir, als schaue die Verklärte herab und spräche: »Seid getrost, ich bete für euch!« ... Astrid bestätigte, daß der Professor in einen geistlichen Orden getreten sei. Das Kloster liege in einem Seitenthale des Rheines, an einem großen, stillen See, mitten im Schatten alter Buchenwälder. Seiner Kunst habe er nicht zu entsagen brauchen, im Gegenteil: die frommen Mönche pflegten die schönen Künste nach Herzenslust im Dienste und zur Ehre des Höchsten. Daran mußte ich den ganzen Abend denken, als Deine Nadine uns mit unvergleichlicher Meisterschaft Schumanns ergreifenden »Aufschwung« gespielt hatte. Das Grab und das Erdenleid haben des vereinsamten Mannes Seele nicht herabgezogen und festgehalten: in demütiger Kraft steigt sie auf den Flügeln der Kunst zu Gott empor, sicher und sieghaft wie der königliche Adler, der zur Sonne fliegt. Auch für Nadine ist ihre Kunst zur Himmelsleiter geworden. Du solltest nur einmal die glücklichen und dankbaren Gesichter der armen Mütter sehen, die zur Zeit der unentgeltlichen Konsultation mit ihren Kindern aus Nadinas Wartezimmer strömen! Ich habe mich auf dem lebhaften Wunsche ertappt, Doktor Eckart möchte dieses edle Mädchen, diese »Kollegin« einmal in ihrem Berufe sehen, dann würde er gerade wie Dein Papa andere Ansichten über die gelehrten Frauen bekommen. Freilich, Nadina bleibt auch strenge in den Grenzen, die weibliche Würde und Bescheidenheit uns vorschreiben. Ich kann mir denken, was der Prediger antworten würde: »Wenn zweie dasselbe thun, ist es nicht dasselbe!« ... Aber das ist ja alles vorbei, und er wird wohl jetzt seiner glücklichen jungen Frau etwas vordozieren! ... Diesen Abend gehen wir wieder an Bord, und morgen mit dem Frühschein wird der Anker gelichtet. Der Abschied von dem schönen, lichten, sonnigen Zauberland wird mir schwer. Grau und ernst schaut mich die Zukunft an. Aber überall ist Gott der Herr, das giebt auch wieder Mut und Trost. Und nun zum Schluß die furchtbare Drohung, daß ich Dir die Freundschaft aufkündige, »für ewige Zeiten«, wie wir als Kinder sagten – wenn Du nicht mit Nadine auf der Rückreise von Astrids Hochzeit in Hamburg bei uns vorsprichst. Nadine für ihren Teil hat schon zugesagt; sie interessiert sich außerordentlich für Mamas Kur und hofft, daß dieselbe um jene Zeit schon glücklich beendet sein werde.«

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Auch an Hilde schrieb Dolly, an Tante Bertha und an die alten Getreuen in Rio.

In der vorgesehenen Zeit erreichte das Schiff die Küste des europäischen Festlandes. Die Flut der Erinnerungen durchströmte Dollys Herz; aber tapfer wehrte sie dem Versucher, der ihr wieder Dr. Eckarts Gestalt schön und herrlich wie die eines Herrschers in einem verlorenen Paradiesgarten vor die Seele zauberte. Mit doppelter Sorge und Liebe umgab sie die Ihrigen. Die Mutter schaute wieder hoffnungsfreudiger in die Zukunft; Nina konnte dem Kleinen nicht Wunderdinge genug von »Boba« erzählen, und die frohe Erwartung, bald wieder in die geordneten und festen Verhältnisse des eigenen Heims zu kommen, erfüllte alle Gemüter.

Es war am späten Abend eines für die Jahreszeit ungewöhnlich milden Tages. Das Schiff hatte die berüchtigte Fahrt durch den Golf von Biscaya zum größten Teil zurückgelegt; der Ocean, der an diesem Teile der Küste so oft rast und brüllt und sich bäumt wie ein gefangener Löwe, lag sanft und still da wie ein schlummerndes Lamm, und beruhigt hatten die Passagiere ihre Kabinen ausgesucht.

Nur Dolly war mit ihrer Mutter auf Deck geblieben. Frau Auweiler hatte den ganzen Tag an heftiger Migräne gelitten, auf den Rat des Arztes sollte sie noch ein Stündchen in der Abendkühle verweilen, ehe sie sich in die dumpfe Schlafstätte zur Ruhe begab.

Dolly hatte die Leidende in einen bequemen Faltestuhl gebettet und sorglich mit wärmenden Tüchern zugedeckt, und nun freute sie sich, zu sehen, wie bald ein ruhiger Schlummer die Mutter umfing.

Leise rückte Dolly ihren eigenen Stuhl näher an die Reling und schaute aufs Meer hinaus. Die Schatten der Nacht lagen dunkel und weich auf den Wassern, am Himmel war kein Mondschein, kein Sternenschimmer. Die gleichfarbige graue Wolkendecke hing tief herab wie ein schützender Fittich über der stillen Welt, und das leise Rauschen des Kielwassers klang schmeichelnd und lieblich wie ein beruhigendes Schlummerlied. Die Stimmen der Matrosen, welche die Wache hatten und sich gedämpften Tones Seegeschichten erzählten, waren verhallt, und Dolly verlor sich in stilles Träumen. Plötzlich wurden ihre Blicke durch ein seltsames Blitzen und Leuchten in die Höhe gezogen, und zu gleicher Zeit hörte sie den halblauten Ruf des Steuermannes: »Hilf, Himmel! Das heilige Feuer!« Erschrocken fuhr Dolly in die Höhe und starrte auf die Spitze des Großmastes, auf dem ein bläulich-weißes Licht in Büschelform hell erstrahlte. Gleich darauf wurde ein zweites leuchtendes Strahlenbüschel auf der Spitze des Fockmastes sichtbar, und Dolly erinnerte sich nun, daß sie einmal ein solch seltsames Feuer auf dem Klosterkirchturm hatte brennen sehen, und daß die Schwestern es das St. Elmsfeuer genannt hatten.

Das Erscheinen des zweiten Lichtes auf dem Fockmast schien indessen die Matrosen lebhaft beunruhigt zu haben, und Jochen Klaas, der älteste unter ihnen, ein biederer Mecklenburger, rief in düsterem Tone: »Dar is dat tweede Undirt ok as; nu ward de Danz wall losgahn!« Nach einem alten Seemannsaberglauben bedeutet das Erscheinen eines Elmsfeuers gutes Wetter; zwei gleichzeitig auftretende dieser elektrischen Lichterscheinungen sollen jedoch Sturm und böse Zeit anzeigen .... Nach Verlauf von fünf Minuten waren beide Lichtbüschel verschwunden, und alles lag wieder so schattenhaft und dunkel da wie vorher. Aber die Ruhe war aus Dollys Herzen gewichen und hatte einer tiefen Erregung Platz gemacht. Sie fühlte sich wie in eine fremde, überirdische Welt getragen, und das seltsame Feuer in der Höhe war ihr wie eine feierliche Botschaft von der Allmacht und Größe des Schöpfers, die der forschende Menschengeist wohl anstaunen, die er aber nie ergründen kann. Auch die Matrosen schienen in eine feierliche Stimmung gekommen zu sein.

»Ja, ja,« sagte der alte Jochen halblaut zu den Gefährten, »so 'n Elmsfeuer ist doch nur Kinderspiel gegen den Kalfattermann (Klabautermann)! Ihr könnt Gott dem Herrn danken, daß ihr sein Hämmerchen noch nicht gehört habt, Jungens!«

»Hast du ihn jemals gesehen?« fragte ein jüngerer Matrose in scheuer Bewunderung.

»Gesehen nicht, aber gehört, und das war gerade genug! Es ist schon lange her, und ich diente als junger Leichtmatrose auf einem Kauffahrer, einem Segler, der zwischen Rotterdam und Kapstadt fuhr. Wir hatten die Linie passiert und waren schon auf der Höhe von St. Helena, das wir anlaufen mußten. Ich werde den Abend in meinem Leben nicht vergessen. Es war ganz still und schrecklich schwül in der Luft, kein Lichtchen am Himmel; nur die See leuchtete stark. Wir hatten zu dreien die Wache: mein Vater, der als Vollmatrose mit mir auf demselben Schiffe diente, ein junger Heuer und ich. Wir saßen schläfrig und abgespannt da; keiner sprach ein Wort. Auf einmal fing es oben an der Bramstenge des Fockmastes durchdringend und rasch hintereinander an zu klopfen, wie wenn jemand mit einem Eisenhämmerchen auf hartes Holz schlägt; dann sprang das Klopfen über auf den Mittelmast und schließlich hörten wir es deutlich auf der großen Stenge des Besanmastes. Wir rückten unwillkürlich näher zusammen; denn wir merkten gleich, daß das Klopfen nicht mit rechten Dingen zugehe; aber wie wir auch unsere Augen anstrengten: wir sahen niemand in dem Takelwerk. Auf einmal tönte das Klopfen ganz in unserer Nähe; es lief die Bramstenge am Bugsprit entlang, und dann hörte es plötzlich ganz auf. Am anderen Tage lag unser Segler ganz still auf dem toten Wasser. Ueber uns war der Himmel glühend und wolkenlos, die Luft kochend, und kein noch so kleines Windchen regte sich, um uns Kühlung und unserem Schiffe Bewegung zu geben. Da wußten wir nur zu gut, was das Klopfen bedeutet hatte: der Klabautermann hatte uns das Verderben angekündigt; wir waren in den Kalmen, und es war keine Aussicht, daß wir so bald daraus entrinnen könnten. Drei Tage und drei Nächte haben wir so dagelegen in der glühenden Luft, Fieber in den Adern und Verzweiflung in der Brust. Am dritten Tage war unser Trinkwasser faul. Der Steuermann wurde wahnsinnig und sprang über Bord, und der Kapitän rief uns zusammen und betete laut mit uns um Hülfe vom Himmel. Endlich in der dritten Nacht zeigten sich Wolken; sie sammelten sich rasch: ein Gewitter ging nieder und der Südpassat trieb uns bald aus der Gluthölle hinaus. Ihr könnt denken, Jungens, mit welcher Wonne wir uns bis auf die Haut haben naß regnen lassen. Das ist das erste und einzige Mal, daß ich das Hämmerchen des Kalfattermannes gehört habe, und Gott der Herr bewahre uns alle davor!« schloß Jochen.

»Schade, daß Ihr ihn nicht gesehen habt,« rief einer der Matrosen, und auch Dolly, die von ihrem stillen Winkel aus gespannt der Erzählung des Alten gefolgt war, hätte gar zu gerne etwas Genaueres über das Seegespenst gewußt.

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»Ich habe keine Lust, ihn je vor Augen zu bekommen,« brummte Jochen; »aber mein Großvater hat ihn einmal gesehen. Es war oben im Eismeer, an der grönländischen Küste, wo sie beim Walfischfang waren. Da haben sie in einer Mondnacht das helle Klopfen gehört und auch das Männlein gesehen. Es war ein winziges Ding, kaum eine Spanne hoch, mit rotem Kopf und weißem Bart. Es trug gewöhnliche Matrosenkleider und schwang sein Hämmerchen so flink und geschickt wie ein gelernter Schiffszimmermann. Mein Großvater wollte nicht daran glauben, daß das Klopfen des Klabautermannes Unheil bringe, er hat es aber erfahren müssen. Sie gerieten am anderen Morgen in dichten Nebel, kamen von der rechten Straße ab und wurden in die »Schreckensbucht« an der Südostküste von Grönland geworfen, wo sie drei lange Wochen zwischen Packeis festlagen und jeden Augenblick fürchten mußten, von den Eismassen erdrückt zu werden. Schließlich mußten sie noch froh sein, mit heiler Haut, wenn auch ohne Beute, den Hafen von Reykjavik auf Island zu erreichen.«

Jochen schwieg, und keiner seiner Gefährten fand den Mut zu einer Entgegnung. Obwohl Dolly wußte, daß all diese Seemannsgeschichten vom Klabautermann, fliegenden Holländer usw. auf krassem Aberglauben beruhen, war sie doch mächtig bewegt und deshalb froh, als die Mutter erwachte und sie beide die stille Kabine aufsuchen konnten.

Im Kanal wurde das Wetter sehr schlecht; eine schlimme Bö brachte heftiges Schneegestöber, und der kleine Paul ließ das Köpfchen hängen wie eine Tropenblume, die jäh unter die bleiche nordische Sonne verpflanzt wird.

Mit Schrecken sah Dolly, daß das Kind matt und trübe aus den Aeuglein schaute, und die Mutter, die nicht sehen konnte, fühlte mit Herzensangst aus dem veränderten Wesen ihres Lieblings, daß er krank sein müsse.

Endlich, endlich lief die »Esperanza« in den Heimathafen ein. Die Tante stand zum Willkomm bereit, und bald waren alle in dem gastlichen Hause am Burstah untergebracht.

Noch am selben Abend siedelte die Mutter in die Augenklinik über. Dolly hatte sich auf ihren ausdrücklichen Wunsch mit Nina in dem Zimmer des kleinen Paul einquartiert, bei dem nach dem Ausspruch des gleich nach der Ankunft herbeigeholten Arztes der Scharlach ausgebrochen war.

Der betrübten Mutter, die mit halb verzweifeltem Herzen ihr Kind verlassen mußte, da sie es doch nicht pflegen konnte und dringend der eigenen Pflege benötigt war, hatte Dolly zum Troste immer wiederholt, daß der liebe Gott den kleinen Paul gewiß gesund machen werde, und daß nun die Zeit gekommen sei, wo sie selbst einen kleinen Teil ihrer großen Schuld an der lieben Mutter abtragen könne.

Trinchen Baum, die kleine Verwandte des Hauses, sollte als Gesellschafterin der Frau Auweiler während der Dauer der Kur in der Klinik bleiben, und Tante Bertha, die sich in sorgender Güte verzehrte, würde ihre Schwägerin täglich besuchen und die Vermittlerin der Nachrichten von hüben nach drüben sein. So konnte Dolly beruhigten Herzens die Mutter ziehen lassen ...

Es ist an einem lieblichen Abend zu Anfang des Mai. Die Fenster in Paulchens Krankenzimmer sind weit geöffnet: ein lauer Wind trägt den würzigen Duft der Kirschblüte und des jungen Laubes herein, und die Abendsonne übergießt mit warmem Schein das blasse, zarte Kind auf Dollys Schoße. Der liebe Gott hat Dollys Gebete erhört; er hat das Kind, das dem Tode nahe war, dem Leben zurückgegeben. Jetzt gilt es noch, die gesunkenen Kräfte zu heben, daß die bleichen Wänglein sich wieder rot färben und die Aeuglein strahlen wie ehedem. »Wie wird die Mutter glücklich sein, wenn sie ihr Kind in voller Frische wiedersieht,« denkt Dolly und drückt das Brüderchen in dankbarer Glückseligkeit ans Herz. »Nun muß der kleine Mann aber schön sein Eichen essen, damit er dem Mütterchen entgegen marschieren kann, so stramm wie ein Soldat!« überredet Dolly das Kind. Die Anspielung thut Wunder; augenblicklich nimmt der Kleine das Abendbrot aus Ninas Hand; denn in seinem kleinen Herzchen lebt eine große begeisterte Verehrung für die schönen bunten Soldaten, die in dem Bilderbuch stehen, das Tante Bertha ihm geschenkt hat. Bald liegt Paulchen behaglich in seinem schneeweißen Bettchen und lauscht mit Dolly dem Gesang der Schwarzamsel, die in der Spitze des Kirschbaumes ihr Abendlied singt.

»Das Vögelchen sagt dem lieben Gott »Gute Nacht«!« meint die alte Nina und schaut ihren Liebling erwartungsvoll an. Da faltet das Kind die Händchen und betet mit großen, ernsthaften, andächtigen Augen:

»Jesukindchen klein,
Mach mein Herzchen rein,
Laß niemand drin wohnen,
Als Jesus allein!«

Bei den letzten Worten schon fallen die müden Aeuglein zu, und bald liegt das Kind in erquickendem Schlafe. Die treue Nina sitzt mit glückverklärtem Antlitz am Bettchen des Knaben; Dolly aber schleicht leise davon und eilt, wohin ihr Herz sie treibt, zum erstenmale in die Augenklinik zum Besuche der Mutter.

Auch an dieser hatte Gottes Vaterliebe Wunder gethan. Die Kur war herrlich gelungen. Die geschwächten Augen mußten freilich noch eine Zeit lang geschont werden; Frau Auweiler mußte eine gefärbte Brille tragen, grelles Lampenlicht meiden und sich vorläufig noch des Lesens und Schreibens enthalten. Aber in kurzer Zeit sollte das alles auch nicht mehr nötig sein, wie ihr der Direktor verheißen hatte.

In dankbarster Freude saßen Mutter und Tochter beisammen. Dolly konnte der entzückten Mutter nicht genug von dem kleinen Paul erzählen, und diese fand keine Worte, um die zarte Sorgfalt, die Geschicklichkeit und Liebenswürdigkeit ihres Operateurs zu preisen. Inzwischen war die Dämmerung hereingeschlichen und der letzte Schimmer der untergehenden Sonne an den Fenstern erstorben. Vom Turme der nahen St. Paulikirche schlug es sieben Uhr. Da nahte von draußen ein schneller, elastischer Schritt; ein leises Anklopfen, und auf Frau Auweilers Einladung öffnete sich die Thüre und ein junger, schlanker Mann trat ins Gemach.

»Schon die Abendrunde, Herr Direktor?« fragte Frau Auweiler lächelnd.

»Ja wohl, gnädige Frau, die Nachtwächtertour!« Der Arzt wollte noch etwas hinzufügen, stockte aber plötzlich wie unter einem unerwarteten Eindruck, als seine Augen die zierliche Mädchengestalt auf dem Sofa neben der kranken Dame trafen.

»Herr Direktor Dr. Eckart – meine Tochter,« beeilte sich Frau Auweiler vorzustellen.

»Die Vorstellung ist schon längst abgemacht; hoffentlich erinnert sich das gnädige Fräulein des unausstehlichen Schiffsarztes mit etwas milderen Gefühlen!« sagte der junge Mann lachend, indem er sich tief und ritterlich vor dem Mädchen verbeugte.

Dolly war nicht im stande, zu antworten. Ihr Herz klopfte ganz unsinnig, ihre Lippen formten tonlose Worte und sie mußte sich begnügen, dem Arzte und Wohlthäter ihrer Mutter die zitternde Hand zu reichen. Einen Augenblick behielt der Direktor des Mädchens Hand in der seinigen, während er sie mit ernsten, teilnehmenden Blicken betrachtete.

Da gewann Dolly ihre Selbstbeherrschung wieder und fand die schlichten Worte des Herzens, um dem menschenfreundlichen Arzte für seine Mühe und Sorge um die liebe Mutter zu danken.

»Ich bin doppelt glücklich, daß ich gerade Ihrer Mutter dienen konnte, mein gnädiges Fräulein!« Seine Stimme bebte leicht, und Dolly fühlte tief, daß die alltägliche Phrase die Stimmung seines Herzens wiedergab.

Eine namenlose Seligkeit erfüllte ihr Herz. Aber nur einen kurzen Augenblick. Wie ein Blitz zuckte es vor ihr auf: Er ist der Gatte einer anderen! und eiskalt, in starrem Schrecken legte es sich auf ihr Herz.

»Aber wie in aller Welt kommen Sie nach Hamburg? Sie wohnen also nicht mehr in Wien?« versuchte sie leichthin zu plaudern; aber ein wehes Lächeln irrte um ihre Lippen.

»Nein,« sagte er mit einem schnellen Blicke schelmischen Einverständnisses auf Frau Auweiler, »ich stehe schon seit mehreren Monaten dieser Klinik vor, die mein verehrter Freund und Lehrer, der sich seines hohen Alters wegen zurückgezogen, mir übertragen hat. Aber wie Sie sich in der kurzen Zeit verändert haben, mein gnädiges Fräulein!« fuhr er fort, und seine leuchtenden Blicke verrieten, was die Bescheidenheit dem Munde zu verschweigen gebot.

»Ach, reden wir von etwas Interessanterem,« bat Dolly und dankte Gott, daß die Dämmerung die anderen verhinderte, die Glut zu bemerken, die ihr Stirn und Wangen überzog.

»Wie befindet sich Ihre Frau Gemahlin, Herr Direktor?«

»Ja, wenn ich das nur selbst wüßte! Vielleicht macht sie soeben Visite bei einem Mondfräulein oder spaziert auf dem Sirius umher. Jedenfalls wohnt sie im Märchenland.«

Dolly fuhr mit einem Ruck in die Höhe. Ihre Verlegenheit hatte dem Aerger Platz gemacht. Wollte er sie zum besten halten?

»Herr Eckart ist unverheiratet, liebe Dolly,« warf die Mutter erklärend dazwischen.

»Ah!« entschlüpfte es in tödlicher Verlegenheit den Lippen des Mädchens, und sie wünschte sich in diesem Augenblicke selbst in die entlegensten Sonnenfernen. Es war zum Verzweifeln! Warum konnte sie denn nicht ruhig bleiben! Was ging sie dieser Fremde an, von dem sie fast ein Jahr lang nichts gehört hatte! Und wie seine Blicke an ihr hingen! Gerade, als wenn er ein Recht auf sie hätte! Es war nicht mehr zum Aushalten! ...

Jählings erhob sie sich.

»Ich muß nach Hause, liebe Mama. Tante Bertha wartet sonst mit dem Abendessen. Aber morgen komme ich wieder, und am Sonntag holen wir dich im Triumphe ab. Der Herr Direktor haben doch diesen Tag als den Tag der Freilassung bestimmt?« fragte sie mit dem Versuche, einen scherzhaften Ton anzuschlagen.

»Aufzuwarten, gnädiges Fräulein, aber der Kerkermeister wird sich vorbehalten, sein Opfer auch im Zustande der Freiheit nicht ganz aus den Augen verlieren zu dürfen – und die liebenswürdige Pflegerin auch nicht,« fügte er leise und innig hinzu.

»Gnädige Frau gestatten, daß ich das Fräulein Tochter nach Hause geleite?« fragte er dann, und Dolly mußte wohl oder übel diesen Ritterdienst annehmen, da inzwischen völlige Dunkelheit hereingebrochen und das Straßengewirr in der großen Stadt ihr noch wenig bekannt war.

Draußen, wo sie dem Doktor nicht immer gerade ins Gesicht zu schauen brauchte, war Dolly bald wieder ganz sie selbst. Sie konnte nun unbefangen von allem plaudern, was sie beide interessierte, und bald war der gute alte Ton der letzten Zeit ihres Beisammenseins auf dem Schiffe wiedergefunden.

»Aber wie in aller Welt kamen Sie dazu, an meine Heirat zu glauben?« fragte der Doktor endlich, als Tante Berthas Haus schon in Sicht war. Als Dolly ihm von der Anzeige in der Kreuzzeitung erzählte, mußte er laut auflachen.

»Also mein gleichnamiger Vetter, der Dr. E. Eckart, Wald- und Wiesenarzt in Wien, ist an der heillosen Verwirrung schuld! Gott sei Dank, daß sie noch kein Unglück angerichtet hat!« fügte er innig hinzu, während Dolly ihm, für die Begleitung dankend, hastig die Hand zum Abschied reichte.

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Leicht, als wandele sie auf den Wolken des Himmels, stieg Dolly die Treppe zu ihrem Stübchen empor. Sie konnte jetzt keinem Menschen unter die Augen treten. Ihr Herz war zum Zerspringen voll von Glückseligkeit. Ungestüm warf sie sich vor ihrem Kruzifix auf die Kniee, und der heiße Dank ihres Herzens rang sich in wirrem, abgerissenem Beten zu Gott empor. »Er ist frei! Er ist frei!« tönte es den ganzen Abend wie Jubelgeläute durch ihre Seele, und »er liebt mich, er liebt mich«, sagte mit leisem, zagem Stimmchen die Hoffnung; aber der leidgeprüfte Wille schüchterte sie immer wieder ein und hielt sie in der tiefsten Tiefe des Herzens verborgen.

Die Tante Bertha aber schaute ein Stündchen später schmunzelnd, mit vielsagenden Blicken in der Nichte glückverklärtes Antlitz, und als die Rede auf die Begegnung mit Dr. Eckart kam, fragte die alte Dame scheinbar arglos, ob man das Fenster öffnen solle, es scheine Dolly zu warm zu sein!

Ja, ja, die alten Frauen!

An diesem Abend hörte Dolly zu ihrem Entzücken von der Tante, daß der Augenarzt schon gleich nach seiner Herüberkunft von Wien im Herbst des verflossenen Jahres Besuch bei ihr gemacht und auf ihre Einladung hin die Besuche immer wieder erneuert habe.

»Daß er nicht wegen mir alten Frau kam, war mir klar,« schloß die Tante; »er scheint sich sehr für die in Brasilien ansässigen Deutschen zu interessieren, und da konnte ich ihm allerdings mancherlei erzählen.«

Die Mutter war in ihr neues Heim zurückgekehrt, und auch der »Kerkermeister« war wiederholt zu freundschaftlichem Besuche erschienen. Er hatte Dolly in immer festere Ketten und Bande geschmiedet, aber die waren ihr lieber als die schrankenloseste Freiheit, nach der sie vor Jahresfrist so ungestüm sich gesehnt hatte. Kurze Zeit nach Frau Auweilers Heimkehr trafen Nadina und Karen zu achttägigem Besuche bei Dolly ein. Da gab es ein Erzählen von hüben und drüben, daß der Tag nicht Stunden genug hatte, und das Schönste von allem war, daß die kleine schelmische Karen sich als wirkliche, ernsthafte Braut entpuppte. Der tapfere Leutnant zur See Erick Thorskill hatte dem guten alten Herrn Svensson die kleine muntere Brigg im Sturm weggekapert. Um Weihnachten sollte die Hochzeit sein, – früher wollte der Vater sein Singvögelchen nicht ziehen lassen, und Dolly hatte versprechen müssen, eine der Brautjungfern zu werden. Nadina hatte sich herzlich an Frau Auweiler und Tante Bertha angeschlossen, und die ruhigen, heiteren Tage in dem gastlichen deutschen Hause thaten ihren müden Nerven wohl. Im Morgen besuchte sie mehrmals Dr. Eckarts Klinik. Sie hatte den Arzt bei seinem letzten Aufenthalte in der Pension der Mme. Guizot kennen und als Gesinnungsgenossen schätzen gelernt, und nun war die alte Freundschaft bald wieder erneuert.

Am Tage vor der Abreise der beiden Damen feierte Dolly ihren Geburtstag.

In aller Frühe war sie mit Mutter und Tante in der Messe gewesen und hatte dem lieben Gott das neue Lebensjahr und ihr ganzes Geschick mit kindlichem Vertrauen empfohlen. Nun saß sie allein, still sinnend in der Rosenlaube. Ihr Herz floß über von Dankbarkeit gegen die allgütige Vorsehung, die ihre Schicksale bisher so wunderbar gestattet hatte. Das Glück hatte sie suchen wollen! Es hatte ihr nah und verheißungsvoll gewinkt, und sie hatte in vorschnellem Begehren die Hand danach gestreckt wie ein Kind nach der unreifen Frucht. Aber Gott hatte die dunkele Wolke des Leids in ihren Weg geschickt, daß sie das glänzende Glück nimmer sah, und erst als die Frucht schön und herrlich ausgereift, und sie selbst fähig geworden, sie recht zu schätzen und mit demütigem Herzen zu genießen, schien es, als wolle Gottes Vaterhand sie ihr als köstliche Gabe in den Schoß werfen!

Ein heiliges, ein ernstes Geschenk: die Liebe eines edlen Mannes! Und Dolly durfte ihrer sicher sein. Wie wollte sie sich bestreben, des Geliebten würdig zu werden! ...

Da nahten Schritte, und die Mutter, Tante Bertha und die Freundinnen standen vor ihr. Alle waren mit Geschenken für das Geburtstagskind beladen.

Die Mutter überreichte ihr ein prächtig gearbeitetes Kreuz mit kostbaren Brillanten, das schönste Schmuckstück, das sie besaß. »Weil du Kreuz und Leid so großmütig mit uns getragen,« wollte sie sagen, aber die Stimme versagte ihr vor innerer Bewegung. Tante Bertha schleppte ein paar große Pakete herbei; Dolly durfte aber einstweilen nur das eine öffnen. Den Inhalt des anderen, ebenfalls ein Geschenk der guten Tante, sollte sie erst später enthüllen. Als es Dollys vor Eile und Aufregung zitternden Fingern endlich gelungen war, die Verknotung zu lösen, da lag eine märchenhaft schöne, lichtblaue Seidenrobe in irisierendem Farbenspiel vor ihren staunenden Augen.

»O Tante Bertha!« rief Dolly und schlug schamrot die Hände vors Gesicht. »Die alte Irisrobe! Wie ich mich schäme! ... Du bist viel, viel zu gut! Und ihr anderen alle,« fügte sie hinzu, indem sie die prächtigen Sträuße in Empfang nahm, die die Freundinnen ihr boten.

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Da kam an Ninas Hand der kleine Paul herbei. Die beiden hatten schon ihren Glückwunsch gesagt; aber das Brüderchen trug einige Briefe, die der Postbote soeben gebracht, und Nina schleppte ein schweres Holzkistchen mit überseeischem Stempel. Während Dolly die Glückwunschschreiben ihrer Hilde und anderer Freundinnen durchflog, hatte Tante Bertha das Kistchen geöffnet. Es enthielt in schweren Goldrahmen die Bilder von Dollys verstorbenen Eltern, meisterhaft von der Hand des Onkels Georges gemalt. Und auf dem Boden lag ein Brief in der verschnörkelten, altfränkischen Handschrift der Brillenschlange.

Die Damen konnten sich des Weinens nicht enthalten beim Anblick der teuren Züge ihrer heimgegangenen Lieben; aber Dolly faßte sich, der Mutter zuliebe, und fing an, aus Mademoiselle Virginies Brief vorzulesen. Sie war aber nicht weit gekommen, da stockte sie unter heftigem Erröten und reichte der Mutier das Schreiben. Diese las schweigend weiter:

»Ja, ja, ich habe so ein Vöglein singen hören. Und dazu sagt es mir meine Divinationsgabe. Auch das Herz einer alten Jungfer kann eine solche haben! Wir werden bald eine Hochzeit feiern, drüben im nebligen Deutschland, ma mignonne! Es sieht Dir ähnlich, solchen Schelmenstreich zu machen, und die arme alte Brillenschlange schon so bald zum Tanz aufzufordern und dazu zu Deinem Hochzeitstanz! Aber Wort halten werden wir – und im Vertrauen gesagt: je eher, desto lieber. Schon um des armen alten Georges willen. Er hat eine unerklärliche Neigung zu dem Postboten gefaßt. Merkwürdig, nicht wahr? Schon eine Viertelstunde, ehe der Brave erscheint, steht er am Fenster und schaut ihm sehnsüchtig entgegen. »Nichts aus Deutschland?« ... Das ist die Frage, die ich viermal des Tags bald in hoffnungsfrohem, bald in mutlosem Tone höre. »Es wird schon kommen,« sage ich ihm. »Beruhige dich, man muß den jungen Leuten Zeit lassen heutzutage. Du wirst schon noch auf ›ihrer‹ Hochzeit tanzen.« ... Dann brummt er etwas von beschwerlicher Reise für alte Leute; aber das thut er nur, damit ich nicht merken solle, wie froh, nein, wie überselig er ist bei der Aussicht, das Kind seines Herzens wiederzusehen. Hat er jemals nach mir Verlangen gehabt oder nach den alten Tanten in dem alten bretonischen Hause? Gott bewahre! ... Kommt da so ein Wirbelwind, so ein paar Käse hoch, so ein Fräulein d'Dutremer und verdreht diesem ehrsamsten aller ehrsamen alten Herren das sonst so wohl temperierte Gehirn! Und ich nichtsnutzige alte Frau muß ihn noch in seinen romantischen Anwandlungen unterstützen! Muß! sage ich; denn ich kann nicht anders. Also tanzen werde ich auf Deiner Hochzeit, wann immer sie sei, liebe kleine Wetterhexe, tanzen und singen, noch viel schöner und ausdrucksvoller, als wir es in dem stillen alten Hause gethan hätten, wenn Dein schnöder Mammon uns keinen Strich durch die Rechnung gemacht hätte! A propos altes Haus! Du mußt mir versprechen, daß Du Deine Hochzeitsreise in meine schöne, alte Heimat, in unsere Bretagne machen wirst, wo die breiten Ströme rauschen, und die alten Wälder euch den Willkomm flüstern. Und nicht zuletzt die beiden alten Leutchen, die Euch im alten Hause erwarten und vor Freude närrisch werden, wenn das alte Haus zu fragen aufhört: »Wann kommen sie?« Wenn es staunend auf das liebreizende Fräuchen blickt, das am Arme des besten Gatten seine Schwelle überschreitet.« ...

»Die treue Seele!« sagte Frau Auweiler und faltete lächelnd und doch unter Thränen den Brief zusammen, »das Herz läuft ihr davon vor lauter Liebe und Begeisterung, und sie überspringt Zeit und Raum wie mit Siebenmeilenstiefeln.« – Indem sie Dolly den Brief zurückgab, sagte sie leise: »Vertraue auf Gott, Kind, er wird alles wohl machen!« ...

Indessen verging der Morgen; aber er brachte kein Brieflein und keinen Gruß von dem Ersehnten.

Für den Nachmittag hatte Tante Bertha einen Ausflug zu Wagen nach dem eine Stunde entfernten Forsthaus »Hohenbusch« veranstaltet, zu dem auch Dr. Eckart geladen war.

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Er hatte freudig angenommen, konnte aber erst später nachkommen, da er vorher eine wichtige Operation vornehmen wollte, bei der zu assistieren, er Nadina eingeladen hatte.

Das alte, weit und breit berühmte Forst- und Wirtshaus lag mitten in einem prächtigen Buchenwald, der sich bis hart an das Ufer der Elbe ausdehnte. Von der Nähe und dem Gewühl der großen Stadt merkte man hier nichts. Die köstliche Ruhe und würzige Frische des Hochwaldes lockte die begüterten Städter alltäglich in großen Scharen hinaus.

Der Kaffee war eingenommen. Die beiden älteren Damen besprachen eifrig eine prächtige Stickerei für den Altar der kleinen Hauskapelle in Dr. Eckarts Augenklinik, die zum Fronleichnamsfeste fertig werden sollte. Karen ließ Paulchen unter Ninas Beihülfe die Pferde mit Zucker füttern, und Dolly saß schweigend da und schaute auf den Weg hinaus, auf dem Dr. Eckart mit Nadina kommen sollte. Um fünf Uhr hatten die beiden Nachzügler gehofft, bei der Gesellschaft zu sein. Jetzt war es schon sechs, und noch immer keine Spur von ihnen.

Eine unerklärliche Unruhe stieg in Dollys Herzen auf.

Er schien es wirklich nicht eilig zu haben, bei ihr und den Ihrigen zu sein, daß er so lange ausbleiben konnte, gerade heute, an ihrem Geburtstage! Am Ende war sie ihm doch nichts mehr, als eine gute Bekannte, ein Kind, mit dem man gerne schäkert und freundliche Reden tauscht! Dollys Herz wurde schwerer und schwerer. Wie gut er und Nadina sich verstehen mußten, da sie Zeit und Absprache vergaßen! Aber war das eigentlich zu verwundern? Beide begabt, feurigen Gemütes, von den edelsten Gesinnungen beseelt, demselben hohen, segensvollen Berufe dienend! ... Welch unbedeutendes Ding war sie im Vergleich zu der Aerztin! Ja, die Wahrheit flüsterte Dolly zu: »So ist es!« und sie war stark und gerecht genug, sich dieser Erkenntnis zu beugen. Das unthätige Sitzen ward ihr unerträglich. »Ich werde noch ein wenig Zucker bestellen für die braven Pferdchen,« sagte sie scherzend zu Paulchen und verschwand im Forsthause. Als sie ihre Bestellung ausgerichtet hatte, kehrte sie nicht zu den anderen zurück, sondern schritt durch die am entgegengesetzten Ende des Hauses liegende Küchenthüre in den Wald hinein. Sie mußte allein sein mit ihrer bitteren Erkenntnis; sie mußte sich sammeln und zu Gott um Hülfe flehen. Welches Anrecht hatte sie denn an den Arzt? Sie liebte ihn ja mit aller Macht ihres Herzens, das hatte sie in Angst und Bitterkeit erfahren; aber weil sie ihn so wahr und innig liebte, mußte ihr doch sein Glück über alles gehen! Vielleicht hatte er in den letzten acht Tagen, seit Nadina ihm näher getreten, erst sein Herz erkannt? Und würde er nicht unaussprechlich glücklich sein müssen an der Seite einer so auserwählten Frau, wie es Nadina war? Ach, warum war sie selbst so eigensüchtig und schlecht, daß sie sich nicht freuen konnte bei der Ueberzeugung, sondern bitteres, bitteres Weh in ihrem Herzen empfand? ... Weiter und weiter ging Dolly in den Wald hinein. Sie hatte den lauten Schwarm der Sommergäste schon lange hinter sich. Es war ganz stille um sie her geworden, nur eine kleine Meise sang ihre wehmütige Strophe, und eine verspätete Hummel flog mit geschäftigem Läuten vorbei. Ein schmaler Pfad zur Linken führte tiefer in das Dickicht hinein. Die dämmerige Kühle that Dollys aufgeregten Sinnen wohl und legte sich auf ihre heiße Stirn wie eine linde Mutterhand. Bald hörte sie ein mächtiges, einförmiges Rauschen, und durch die Zweige uralter, bemooster Buchen blitzten die Wellen des langsam dahingleitenden Stromes. Eine kunstlose Bank hart am Ufer lud zum Ausruhen ein. Dolly drückte sich in ein Eckchen, lehnte ihren Kopf an die moosige Rinde eines Buchenastes und weinte bitterlich. Ein wehes Gefühl der Verlassenheit war in wilden Wellen über ihr zusammengeschlagen. Sie vergaß, was sie der Mutter und dem Brüderchen war, vergaß der Freundinnen ihrer Jugend und der alten Getreuen in der fernen Heimat – sie wußte nur: sie konnte am Ende dem einen nichts sein, der für sie die ganze Welt war.

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Länger und länger wurden die Baumschatten; das Wasser schien in rötlichem Lichte zu brennen; die Meise war verstummt; aber Dolly sah und hörte nichts – bis eine liebe, ach so vertraute Stimme hart an ihrem Ohre klang und ängstlich bebend fragte: »Dolly, liebste Dolly, wer hat Sie so betrübt?« – bis ein starker Arm sie sanft und doch unwiderstehlich emporzog, bis sie an einem treuen Herzen geborgen lag sicher und fest, und die selige Gewißheit ihr stürmisch pochendes Herz durchzog: »Er liebt mich! Er liebt mich!« Und als er ihr mit stolzer Glückseligkeit in die Augen geschaut und leise gefragt hatte: »Und darf ich nun mein Fräulein Uebermeer, meine süße fremde Blume in den stillen Hafen führen, in das schlichte Gärtlein eines engen Heims?« Da hatte sie unter Thränen lächelnd zu ihm aufgesehen und gestammelt: »Wenn ich unnützes Ding dir nicht zu gering bin? ... Nadina« ...

Aber da hatte er ihr geschwind den Mund versiegelt und ihre Gedanken erratend, gesagt: »Nadina und Frauen ihrer Art bewundert und ehrt man. Sie haben sich weit über ihre Mitschwestern erhoben und ihr Licht, das Tausenden leuchten und sie erwärmen soll, ist zu hell, als daß es zur Herdflamme eines trauten Heims dienen könnte. Solche Frauen werden sich verzehren in dem Verlangen, ihre hervorragenden Gaben zu Nutz und Frommen der großen Menschenfamilie zu verwerten, und die engen Mauern ihrer eigenen Häuslichkeit werden ihnen zum schrecklichsten Kerker werden. Ein echter und rechter Mann wird wohl den guten Kameraden in solch' starken Frauen achten und lieben, selten aber das Weib seines Herzens aus ihnen wählen, das Kleinod, das er schützen und hegen und pflegen und – mit dem alten herausfordernden Kampfesblick auf Dolly – »dem er gelegentlich aus pädagogischen Gründen etwas vorpredigen kann!« ...

»Au! Au!« rief Dolly lachend, »wie mir das Letzte in die Ohren gellt! Nun, das Schützen und Hegen und Pflegen klingt ja ganz nett, und was das Predigen angeht, weißt du, ich bin von der langen Seereise mit einem gewissen jungen Naturforscher her noch immun.« ...

»Also willst du's mit mir wagen, meine Herzensdolly?« ...

»Ja, so wahr mir Gott helfe! Ich will dir ein treues Weib sein, Ernst!« ...

»Das walte Gott, mein Liebling!« sagte er bewegt, zog ihren Arm fest in den seinigen und trat mit ihr den Rückweg an.

Die Abendsonne umleuchtete die glücklichen Gesichter der beiden Menschenkinder wie mit einem Glorienschein, und es bedurfte keiner förmlichen Mitteilung an die zurückgebliebenen Lieben, um denselben beim Anblick des jungen Paares laute Jubelrufe und endlose Glückwünsche zu entlocken. Die Mutter und Tante Bertha zogen ihre Kinder tiefbewegt ans Herz; Nadine verlangte, daß Dolly als Fräulein Kollega ihr eine gute Kameradschaft fürs Leben verspreche, Karen wunderte sich, daß Dolly ihren schönen Namen Fräulein Uebermeer sobald schon mit dem ehrsamen einer Frau Dr. Eckart vertauschen sollte, denn Dr. Eckart erklärte, durchaus im Spätsommer noch heiraten zu wollen, und die alte Nina weinte aus Herzensgrund und wußte doch selbst nicht warum. Nur Paulchen nahm nicht so rechten Anteil an dem Familienjubel; sein Herzchen war mehr als geteilt, indem seine ganze Bewunderung und all seine Neigungen heute auf die Pferde gingen.

Unter den alten Bäumen in Tante Berthas festlich beleuchtetem Garten wurde später die Verlobung bei einer köstlichen Bowle gefeiert. Vorher hatte Dolly das geheimnisvolle Paket öffnen dürfen. Es enthielt schimmernde Seide aus weißem Atlas zu einem Brautgewande.

»Das Geschmeide darf auch nicht fehlen,« flüsterte Dr. Eckart der zu Thränen des Dankes gerührten Braut zu und hing ihr eine kostbare Kette aus indischer Goldfiligranarbeit, reich mit Perlen und farbigen Edelsteinen durchsetzt, um den Hals. »Ich hatte in meinem Herzensglück das Ding in meiner Tasche ganz vergessen. Du siehst, mein Lieb, der Prediger muß allmählich lernen, aus einem unleidlichen Menschen in einen ritterlichen Bräutigam sich zu verwandeln.«

Selbstverständlich wurde an diesem Abend auch herzlich der fernen Lieben über dem Meere gedacht, der Lebenden und der Toten. Und in derselben Nacht noch trug das große transatlantische Kabel die Nachricht von dem Glücke ihres Lieblings zu den beiden einsamen Geschwistern in Rio.

 

»Also in die Bretagne soll ich auf Befehl der »Brillenschlange« mein Schätzchen führen, an das große rauschende Meer? Wenn da nur nicht das Heimweh nach dem fernen Lande jenseits des Oceans bei dem einstigen Fräulein Uebermeer erwacht?« fragte der glückliche Bräutigam, während er ein Stündchen später mit seiner Verlobten langsam durch den blühenden Garten schritt.

»Ich werde sie nie vergessen, meine Heimat, mein Sonnenland Brasilien, das Land, wo Vater und Mutter begraben sind!« rief Dolly begeistert; »aber bei dir, mein Ernst, bin ich doch am aller- allerliebsten!«

Mit zärtlicher Bewunderung schaute Ernst seiner Braut in das erglühte Gesicht. Er war zu bewegt, um antworten zu können. Vor einem Stock herrlicher La France-Rosen blieb er stehen und pflückte die schönste von allen für Dolly.

»O, mein süßes Lieb, könnte ich dir das Schönste und Beste schenken, was Himmel und Erde bieten, wie glücklich würde ich sein!« ...

»Und ich bin deiner Liebe so wenig wert!« flüsterte Dolly in tiefer Scham; denn eine Scene vom vorigen Jahre war plötzlich vor ihrem geistigen Auge aufgetaucht.

»Denkst du noch an den Zweig wilder Rosen, Geliebter, den ich in meinem kindischen Zorn ins Meer warf? Ich glaube sicher, damals hatte ich dich schon lieb trotz allem und allem!« ...

»Und mir war die kleine wilde Rose tief, tief ins Herz gewachsen, und ihre Ranken haben mich nimmer losgelassen. Aber nun hat der himmlische Gärtner in seiner weisen Vatergüte eine herrlich blühende Edelrose aus ihr geschaffen, und ihm will ich sie dereinst schön und rein und glücklich zurückgeben, meine Dolly, meine süße Braut, bald das geliebte Weib meines Herzens, mein einstiges Fräulein Uebermeer!«

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