Maximilian Schmidt
's Almstummerl
Maximilian Schmidt

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VI.

Der Schönecker Bartl hatte inzwischen wieder sein gewohntes Leben fortgesetzt. »'s thuat ja eh nimmer der Müah a', daß i mi nomol verkehr!« Damit erstickte er jede Regung seines Innern, wenn eine solche in oft schlaflosen Nächten mit der Erinnerung an das stumme Mirdei Platz greifen wollte.

Nachdem er den betrunkenen Finanzwächter unweit des Marchgrabens zu Boden geschlagen, war er auf nur ihm bekannten Paschersteigen hinaus zum Innthale geflüchtet. Die Barschaft, welche ihm Mirdei in den Keiler (Joppentasche) gesteckt, befreite ihn ja für die erste Zeit von Nahrungssorgen und nebenbei hoffte er auch wieder ein kleines Schmugglergeschäft zu finden, das ihm erlaubte, sich auf »ehrliche Weise« durchzuschlagen. Wegen der Affaire mit dem Grenzjäger hielt er es für angezeigt, sich einen etwas entfernteren Standpunkt zu wählen und so war es zumeist das Revier um den Wendelstein und Miesing, welches er beim Hinüberschmuggeln von Kleinwaren, meistens Zigarren, benutzte.

Bei Schmugglerbanden, welche bewaffnet oft mit den Grenzwächtern förmlich Krieg führen, beteiligte sich der Schönecker Bartl nicht. Sah er sich von einem Aufseher 233 verfolgt, so flüchtete er, seine Ware im Stich lassend, meistens bequemeren Wegen zu und dachte nur an die Rettung seiner Haut. Mit der herankommenden rauheren Jahreszeit waren die Paschersteige im hohen Gebirge immer schwieriger und seltener zugänglich, je tiefer die weiße Schneedecke von den Spitzen und Schneiten der Berge sich herabsenkte an den Hängen und über die Riffe, Rinnen und Gräben.

Ein langer, anhaltender warmer Regen hatte Anfang Dezember die Schneemassen wieder geschmolzen und die Übergänge mehr oder weniger passierbar gemacht. Diese Gunst der Witterung wollte auch Bartl nicht unbenützt vorüber gehen lassen und deshalb übernahm er auf seiner Kraxe einen Transport Seidenwaren von Landl aus in der Richtung nach Neuhaus. Das Kloaschthal entlang suchte er zwischen der Auerspitz und der Maroldschneid an die Rotwand zu gelangen, um von hier aus nach Geitau abzusteigen. Es war am Tage des heiligen Nikolaus, als er beim Grauen des Morgens seinen Marsch begann. Das Wachthaus an der Grenze hatte er glücklich umgangen und einsam, aber rüstig schritt er zwischen den Felsbergen auf schmalen, schlüpferigen Steigen zwischen dem hohen Miesing und der Rotwand dahin.

Bartl bereute es alsbald, sich in dieser Jahreszeit zwischen die Felsen hineingewagt zu haben, denn hatte der laue Regen auch den Schnee von den hohen Graten und Schneiten genommen, in den Rissen und Rinnen saß er dennoch fest und Bartl hatte oft in der schwierigsten und gefährlichsten Weise die ihm allerdings wohlbekannten Steige zurückzulegen. Schon hatte er, den hohen Miesing umgehend, den Abstieg begonnen, als er auf dem Jägersteige 234 eines ihm gegenüberliegenden Berghanges zwei bayerische Grenzaufseher erblickte.

Diese hatten den Schmuggler im gleichen Momente erspäht und indem sie das Gewehr auf ihn anschlugen, riefen sie ihm ein gebieterisches »Halt!« zu. Dem Bartl kam dies so unerwartet, daß er samt seiner Ware zu Boden fiel, dabei mehrere Fuß hoch den Hang hinabglitt und so den Aufsehern aus den Augen kam. Schnell nahm er ein oben auf der Kraxe liegendes graues Leinentuch und wickelte sich in dasselbe. Die Pascher gebrauchen dies, um vom nackten Felsgestein nicht abzustechen und so das Auge der Verfolger zu täuschen.

235 »Bartl, bleib und wihrn ma uns!« rief jetzt von unten herauf eine andere Stimme, die er sofort als die eines andern gefährlichen Paschers, Namens Fletzberger, erkannte. Aber Bartl dachte nur mehr an seine persönliche Sicherheit, er ließ die Kraxe im Stich und kroch die Felsenwand entlang, jeden Augenblick anhaltend und horchend. Da erdröhnte ein Schuß. Wie ein rollender Donner hallte es an den Felsenwänden wieder. Es mußte dem andern Pascher gegolten haben. Bartl eilte unaufhaltsam vorwärts, aber das Weiterkommen war über alle Beschreibung anstrengend. – Völlig erschöpft kam er in der verlassenen Wildfeldalpe an. Es dunkelte bereits. So fand er es für geraten, die Nacht hier zuzubringen und sich eine Liegerstatt zu verschaffen. Da Thüre und Läden verschlossen waren, konnte er nur mit vieler Mühe über das Dach, welches er teilweise abdeckte, ins Innere des Kasers gelangen. Im Stalle fand er etwas Streu, und zum Tode ermattet warf er sich auf dieselbe. Zum Glück hatte er noch einen Schluck Branntwein in seiner Flasche. Er war in der schlimmsten Lage. Die wertvollen Seidenwaren hatte er für einen jüdischen Händler über die Grenze zu schwärzen, der ihm dafür hohen Lohn versprach – jetzt war der Lohn und die Ware verloren. Schon gegen vier Uhr nachmittags dunkelte es und eine Stunde später war es stockfinster. Heftige Winde pfiffen um die einsame Alm.

Bartl kroch unter die Streu und duselte so einige Stunden dahin. Plötzlich wurde er durch einen fürchterlichen Schlag aufgeweckt. Entsetzt sprang er auf, er fürchtete, die Grenzjäger hätten ihn entdeckt. Dann aber fühlte er, wie ihm sein Haar zu Berge stand, denn plötzlich fuhr es ihm in den Sinn, daß auf dieser Alm gleich jener im 236 Totengraben unheimliche Gesellen einziehen, wenn die Hütten im Winter verödet und verwunschenen Spukgeistern zum nächtlichen Unwesen überlassen sind. Gar sonderbar gruselnde Geschichten erzählt sich das Volk von dem höllischen Rumor, welcher oft hier herrschen soll. Es sind meistens die Geister jener Sennerinnen, welche einst hier gehaust und nicht zum Nutzen ihrer Dienstherrschaft gewirtschaftet haben sollen.

Der entsetzte Bartl fand seine Lage fürchterlich. Er wollte fort. Er tastete hinaus in den Kaser, stellte den Tisch an den Heuboden und hatte soeben den Kopf durch die Dachluke gesteckt, als er erschrocken zurückprallte. Er hatte an der Sennhütte eine große, schwarze Gestalt erblickt und sich bewegen sehen; seine gereizte Phantasie ließ ihn alles mögliche Unsinnige sehen und wie ein Gedanke durchzitterte es sein bißchen Gehirn, daß heute die »Niklo-Nacht« und da draußen vor der Hütte kein anderer als Knecht Ruprecht seiner warte. Wohl sah er ein, daß an ein Entfliehen nicht mehr zu denken war. Er ließ sich wieder in den Kaser herab und kroch in seine Streu, es war ihm zu Mute wie dem Delinquenten vor der Hinrichtung. Himmel und Hölle kamen ihm in den Sinn, namentlich aber die letztere. Zum Kreuze kriechen hielt er unter den gegebenen Umständen für das einzig Richtige und es mochte wohl schon recht lange her sein, daß er kein Vaterunser mehr gebetet, denn die Sätze kamen ihm, sei es aus Angst, sei es aus Vergessenheit, ganz durch. und ineinander. Während er so betete, hörte er deutlich an der äußeren Wand der blockähnlichen Sennhütte kratzen und scharren.

Der zum Tod geängstigte Bartl verlegte sich jetzt aufs Versprechen. Erst versprach er unserem Herrgott in kleinlicher, nachdem aber das Kratzen anhielt, in nobler Weise alles Mögliche und Unmögliche, Besserung, Geld, Wallfahrten, kurz, was ihm einfiel, er versprach, der Mutter 237 in Maria-Stein aus dem geschwärzten Seidenzeug einen neuen Mantel machen zu lassen, wenn er morgen seine Kraxe wieder bekäme und dieselbe nicht in die Hände der Aufseher geraten sei; von dem Gelde des Juden wollte er den zwölften Teil in Wachslichter nach Birkenstein verloben, dann den sechsten Teil und endlich die Hälfte. Jetzt fiel ihm gar sein Kind, die Burgl, ein. Er schwur heilig, sich derselben anzunehmen und daß es sein erster Gang sein solle, das Mädchen aufzusuchen und sich um seine Erziehung zu kümmern, wenn er überhaupt nur lebendig aus dieser Hütte käme. Das letztere Versprechen mußte gewirkt haben, denn trotz allen Lauschens hörte er nichts mehr. Er legte sein Ohr an den Boden und horchte mit angehaltenem Atem – alles schien ruhig, aber auch seine aufgeregten Nerven schienen sich beruhigt zu haben, denn dem tiefen Atmen nach zu schließen, mußte der Geplagte in Schlaf versunken sein. Wohl schreckte er öfters aus dem Schlafe auf, aber die Müdigkeit verursachte stets, daß er schnell wieder einschlief. Es träumte ihm, er sei ein ordentlicher Mann geworden, der sich seinen Lebensunterhalt durch Arbeit und nicht auf unredliche Weise verdiene. Er sah sich auf dem schönen ererbten Hofe, sah sich dort in einem neuen Anzuge, und die Leute, die ihn sonst verächtlich anblickten, grüßten ihn jetzt freundlich, und an seiner Seite stand ein mit dem Myrtenkranz geschmücktes Weib nahe bei ihm und hatte die Hand in die seine gelegt. Bartl sah ihr ins Gesicht und ein glücklicher Seufzer löste sich aus seiner Brust.

»Mirdei,« sagte er leise, »du bist es? du stehst neb'n dem Verachteten? du hast mir verzieh'n?« Die Traumgestalt blickte ihn freundlich an und nickte mit dem Kopfe.

238 »Und du hast mir verziehn?« fragte Bartl wieder, »alles verziehn?«

Wieder nickte die Traumgestalt und lächelte. Da hörte man das Läuten vom Kirchturme des nahen Pfarrdorfes und er ging an Mirdeis Seite zum Gotteshause, er ging zur Trauung; er war glücklich, selig, ein fröhlicher Juhschrei löste sich aus seiner Brust – und plötzlich erwachte er. Ach, es war nur ein schöner Traum! Und doch – hörte er nicht das Glöcklein läuten? Was war das? Es währte lange, bis er sich zurecht fand, dann aber war es ihm klar, daß das helle Geläute aus der nahen Valepp kommen müsse und daß es das Morgen-Ave Maria sei, zu welchem das Glöcklein so lieblich einlud. Auch Bartl probierte sein Gebetlein. Da nun endlich der Morgen anbrach, war ihm auch der Mut wieder zurückgekehrt und mit Schrecken gedachte er der vielen Versprechen bezüglich Maria-Stein und Birkenstein. Gar so genau, meinte er, brauche man ein solches Versprechen, das ja doch mehr Erpressung war, nicht zu nehmen.

Jetzt stieg er wieder zur Dachluke hinaus und mit mehr Kourage als gestern nacht steckte er den Kopf hindurch. Aber ein Ausruf des Entsetzens entfuhr auch jetzt seinen Lippen. Bei dem Grauen des Tages sah er alles mit tiefem Schnee bedeckt und ohne Unterlaß schneite es in großen Flocken fort. Auf seinen Schrei bewegte sich etwas an der Sennhütte und in mächtigen Sätzen eilte ein prächtiger Hirsch von dannen, der die Nacht über unter dem vorspringenden Dache, das den Schneefall abgehalten, seine Ruhe gesucht hatte. Er war der mitternächtige Geist gewesen!

Bartl hatte keine Zeit, sich über diese Entdeckung zu 239 freuen, denn der tiefe Schneefall trieb ihn an, sich zu retten. Rasch verließ er die Hütte und schlug den Weg in das Thal der roten Valepp ein. Er versank oft bis über die Mitte des Leibes im Schnee und kam ganz ermattet im Thale an. Aber auch hier war der Schnee schon mehrere Fuß hoch. Wohin sollte er sich wenden? Gegen den Spitzingsee und Neuhaus zu oder zur Kaiserklause. Er wählte das erstere, und so rasch er es vermochte, stieg er das enge Thal hinauf, aber bald war es ihm unmöglich, weiter zu waten. Die Schneemasse war fürchterlich. Er kehrte um und wollte zur Kaiserklause hinab, um von hier ins Innthal zu gelangen. Von Minute zu Minute wurde das Weiterkommen schwieriger. An der engen Klamm, wo die rote Valepp sich mit der weißen verbunden, war das Durchkommen fast schon eine Unmöglichkeit. Bartl arbeitete sich endlich auch hier durch und völlig erschöpft kam er in der Valepp an, wo die wenigen Ansiedler mit Schrecken den Schnee von ihren Häusern wegschaufelten, der so plötzlich und wider alle Erwartung in solch kolossaler Masse gefallen war.

Bartl begab sich natürlich sofort über die Brücke zu dem Forsthause, welches, wie wir wissen, zugleich Wirtshaus ist. Der Oberförster, welcher vor seinem Hause stand, empfing den Ankommenden mit den gerechtesten Vorwürfen und fragte ihn, wie er bei solchem Wetter in die Valepp kommen könne und was er überhaupt hier wolle.

Bartl log dem aufgebrachten Manne irgend etwas vor, aber dieser roch sogleich den Braten. Er merkte, daß er einen Pascher vor sich habe, den die Grenzjäger verjagt und der über das Gebirge flüchten wollte, aber vom Schneefall überrascht wurde und nun in der Valepp mit allen 240 andern Insassen gefangen sitze, bis der Schnee wieder auf irgend eine Weise beseitigt würde.

»Du alter Lump,« sagte der Oberförster, »was fang ich jetzt mit dir an, wenn wir einige Monate eingeschneit bleiben?«

Bartl wurde kreideweiß.

»Was? Eingschneit? Auf etli Monat? Gnad'n Herr Oberförster, dös waar wohl no' dös Schrecklichst. Sollt's aber sein, so reichn ma uns d' Hand, daß ma 's schwaar Schicksal mit anander trag'n und z'sammhalt'n im Unglück.«

Dabei wollte er dem Oberförster die Hand reichen. Dieser war aber nicht aufgelegt, mit dem Schlemmer einen Pakt abzuschließen.

»Aussehn thust nicht, als ob du ein Handwerk könntest,« sagte jetzt der Oberförster. »Ein groß's Unglück wär's grad auch nicht g'wesen, wennst aus dem tiefen Schnee heut nimmer rauskönna hättst. Ich mein, die Menschheit hätt's verschmerzt. Aber mach dich g'faßt, du kriegst saure Tage in der Valepp und du sollst dran denken zeitlebens. Wenn ich dich nur so anschau, du schmieriger Kittel, so juckt's mich völlig, d' Hundspeitschen tanzen z' lassen.«

»Was?« rief Bartl, der sich in seiner Menschenwürde verletzt sah, als der Oberförster so wegwerfend von ihm und mit ihm sprach. »Hörn's, Gnad'n Herr Oberförster, dös ist ja dengerscht koa' Benehmen geg'n unserein, an' Tiroler, an' Unterthan vom Kaiser z' Wean. Ja was moant's denn, wird der Kaiser von Östreich dazua sag'n?«

»Der ließ dir höchstens fünfundzwanzig hinaufpelzen,« meinte der Oberförster. »Ich will dir was sagen,« fuhr er fort, »dazu braucht man kein' Kaiser. Dahier bin ich jetzt Herr und Kaiser, und ich werd dir's rechtzeitig zeig'n, 241 daß ich die G'walt in der Hand hab. Weilst aber jetzt zu unserm aufrichtigen Leid einmal da bist, alter Lump, so sollst sofort an d' Arbeit. Da nimm d' Schaufel und hilf den andern Schnee schaufeln.«

»Was?« fragte Bartl überrascht, »i soll Schnee schaufeln – i? Verlaubens, Herr Oberförster, i bin koa' Taglöhner, i kaaf ma iatz a Glasl Wein und mach, daß i nacha dengerscht viellei außi kimm über d' Johannklausen nach Brandenberg. In meina Schreibtasch'n hon i scho' no' an etli Guldenzettel!« – Er suchte nach der Tasche – aber welch Verhängnis! sie war nirgends zu finden. Jetzt fiel es ihm zu seinem Entsetzen ein, daß er die Schreibtasche, worin sich auch mehrere Schriften befanden, nebst einigen Kleidungsstücken in der Kraxe aufbewahrt hatte, welche er gestern im Stiche gelassen. Diese Entdeckung war ihm um so mehr peinlich, als ihm schon mehrere Male der Gedanke kam, der gleich ihm versprengte Fletzberger könne die Kraxe und nun auch sein Geld sich angeeignet haben. Ein Fluch drang aus seinem Munde. Dann aber faßte er sich und griff in die Hosentasche. Einen alten beschmutzten Geldbeutel hervornehmend, sagte er. »Da hon i dengerscht no' fünf Zehnerl im Beutel, i muaß mei' Letzts aufwend'n zu meiner leiblichen Wohlfahrt. I bin ganz dadatert vor Kält, also laßt's mi eini, in die warm' Stub'n – i bin a Gast.«

In diesem Augenblicke rief der Forstgehilfe den Oberförster ab und dieser eilte, ohne des Schlemmers nochmals zu gedenken, eiligst fort. Bartl aber begab sich in die warme Gaststube und ließ sich »einen roten Tiroler« geben. Bald waren die fünf Zehnerl vertrunken und der Bartl machte sich auf den Weg gegen Brandenberg zu. Niemand achtete 242 seiner. Er kam nicht weit; schon in der Nähe der Kaiserklause, wo sich das Thal wieder verengt, sah er ein, daß ein Hinauskommen aus dieser Falle heute nicht mehr möglich sei und so kehrte er in ziemlich gedrückter Stimmung zurück in das Försterhaus in der Valepp, wo die Leute noch fortwährend Schnee schaufelten. Der Schneefall schien gar nicht mehr enden zu wollen. Man sah von der ganzen Gegend ringsumher nichts, nur dichte Schneeflocken wirbelten ohne Unterbrechung in außerordentlicher Menge hernieder.

Die Arbeiter kamen soeben zum Mittagsbrot herbei, das sie in der warmen Wirtsstube des Forsthauses zu sich nahmen. Bartl kam zur Thüre herein, als die dampfende Schüssel auf den Tisch gestellt wurde. Ein gewaltiger Appetit regte sich in ihm; außer dem Weine hatte er seit einem ganzen Tage nichts genossen. Er nahte sich dem Tische und mit etwas frech gutmütigem Tone fragte er: »Is 's erlaubt, mitz'essn?«

»Nein!« rief hinter ihm eine strenge Stimme. Der Oberförster war eben eingetreten und sah Bartls Beginnen. »Hast du Geld, so wird dir die Wirtschafterin bringen, was zu haben ist, hast du aber kein Geld, so kriegst auch nichts, bis du dir so viel verdient hast, daß du dein Essen bezahlen kannst. Du kannst Holz machen und wirst dann nach dem Ster bezahlt oder du kannst Schnee schaufeln. Vordersamst hast die Wahl.«

»Gnad'n Herr Oberförster,« stammelte Bartl, »ös werd's dengerscht an' Unterthanen vom östreichischen Kaiser nit zuamuat'n woll'n, daß er an' boarischen Taglöhner macht. Überhaupt bin i heunt scho' ganz matt und schlafri, i muaß mi a weng aufs Heu leg'n.«

»In d' Streuschupfen kannst dich 'nauslegen,« sagte 243 der Oberförster, »aber weder zu essen noch zu trinken kriegst ohne Geld. Verstanden? So, und jetzt probier's, wie lang du 's aushaltst.«.

»I bin a Mensch,« sagte Bartl, »und – sorgt unser Herrgott für die Spatzen auf 'm Dach und die Würmer in der Erd', so wird er aa für unseroan, für »Einen Menschen«,« setzte er hochdeutsch hinzu, »sorgen. Ja, wer mi daschaffen hat, der soll mi aa danihrn! I kann nit arbeiten und mit fufz'g Jahr lernt ma 's aa nimmer, folglich is 's schlechterdings a Schuldigkeit, daß unser Herrgott, wenn i da eingschneit bin und durchs Paschen nix vodean, für mi sorgt. Iatz geh i in d' Streuschupfen und steh nit ehnder auf, bis i was z' essen kriagt hon.«

Und er ging.

Der Oberförster lächelte ihm nach.

»Wart nur, Vogel,« sagte er, »du pfeifst morgen schon, wie ich's haben will.«

Bartl hatte sich in die Waldstreu eingegraben und wartete hier auf baldige Erlösung. Die Nacht war bald hereingebrochen und er schlief mit hungrigem Magen sehr gut. Beim Erwachen bemerkte er aber sehr unangenehm daß vom Himmel wirklich keine gebratenen Tauben für ihn herabgefallen seien. Das Glöcklein, welches gestern auf die Wildfeldalpe so freundlich hinaufgeklungen, tönte jetzt in seiner unmittelbaren Nähe. Er hoffte jeden Augenblick, daß sich jemand mit einer Frühsuppe nähern werde, aber vergebens; es ward Mittag, und noch niemand hatte etwas gebracht. Nach zwölf Uhr kam der Oberförster.

»Nun, wirst d' jetzt arbeiten, Hallunk?« fragte er.

»Der Hallunk will nit!« entgegnete der Eigensinnige.

244 »So kriegst auch nichts z' essen,« sagte der Oberförster und schlug die Thüre hinter sich zu.

Wieder ward es Nacht. Dem Bartl ward es allmählich nicht mehr geheuer.

»I kann's nit glaaben, daß mi unsa Herrgott verhungern laßt,« sprach er für sich hin. »I bin amal zur Arbet nit gebor'n und nit erzog'n. I kann als Mensch von mein' Schöpfer volanga, daß er für sei' G'schöpf sorgt und andernfalls soll er 's mit 'n Schnee a so richt'n, daß i morg'n außi und danni komm von dene Leutschinder.«

Die Nacht verging ihm sehr unruhig. Der Hunger quälte ihn schon sehr; er aß im Traume fortwährend, ohne gesättigt zu werden, und erwachte er, so war alles Trug. Wieder läutete das Glöcklein so hell in seiner Nähe, als es Morgen wurde. Bartl fühlte sich schon sehr schwach. Er wußte nicht, was er von unserm Herrgott denken sollte und sinnierte so vor sich hin bis zum Mittagläuten.

Da hielt er es nicht mehr länger aus. Er sprang auf und sagte mit bitterem Tone und einen vorwurfsvollen Blick gegen den Himmel werfend: »Schau, dös hätt' i dengerscht nit von unserm Herrgott glaabt – wirkli lasset er mi dahungern!« Er sprach dieses unter ganz eigentümlichem Kopfschütteln.

Jetzt öffnete sich die Thüre und der Oberförster erschien wieder, wie gestern, in derselben. Nur trug er heute etwas in der Hand, was einer Hundspeitsche ganz verzweifelt ähnlich sah.

»Jetzt frag' ich dich zum letztenmal, willst gleich arbeiten oder nicht?« rief er Bartl zu.

»Gnad'n Herr Oberförster,« entgegnete dieser, »da Gscheita giebt nach – i will arbet'n, aba z'erst muaß i 245 was z' essen und z' trinken kriegen, damit i wieda zu Kraft kimm und nacha waar mir halt a sitzende Arbet die liabste.«

»So?« antwortete der Oberförster. »Eine liegende wäre dir vielleicht noch lieber. Aber darum handelt es sich nicht, was dir lieber ist. Komm jetzt und ich werde dir sagen, was du zu thun hast.«

Der Oberförster verließ, vor sich hinlächelnd, die Streuschupfe; Bartl trottete hinter ihm drein. Am Forsthause angekommen, gab er ihm eine Schneeschaufel und bezeichnete ihm einen Fleck, welcher von dem wenigstens sechs Schuh hohen Schnee freigemacht werden mußte.

»Mit der Arbeit kannst du fertig werden, bis es Nacht wird,« sprach der Oberförster. »Sieh halt zu, wie sich's mit hungrigem Magen arbeitet. Ich hab dir nicht geschafft, zu faulenzen und nichts zu verdienen. Bist du fertig, so erhältst du eine warme Suppe und ein Seidel Bier. Also frisch angefaßt!«

Bartl nahm die Schaufel mit einem verzweiflungsvollen Blick in die Hand und begann seine Arbeit. Der Förster sah ihm lange zu. Anfangs ging es sehr ungleich. Bartl stöhnte und seufzte, schlug die Arme übereinander, um die Hände zu erwärmen, denn es war sehr kalt, und blickte hier und da zum blauen Himmel hinauf, als wollte er sagen. »So weit hast es jetzt mit mir bracht, so tief hab i sinken müass'n, daß i als Schneeschaufler arbeten muaß, wie a g'meiner Mensch!« Aber es half nichts mehr. Sein Magen trieb ihn zur Eile an und nach und nach schaufelte er in gleichmäßigem Takt und sah mit Wohlgefallen, daß der Fleck immer kleiner wurde.

Auch der Oberförster, welcher ab und zu ging, sah dies 246 und er glaubte, daß er dem Halbverhungerten jetzt ein wenig beistehen dürfe; deshalb rief er Bartl in das Haus und ließ ihm heißen Kaffee und ein Stück Brot geben. Bartl war von diesem Anblick tief gerührt. Unwillkürlich nahm er seine Mütze ab und that, als ob er ein Tischgebet verrichte, dann aber verschlang er das Dargereichte mit nie geahntem Wohlbehagen. Leider war er damit zu bald fertig.

»Wenn du mit deiner Arbeit ganz fertig bist, kriegst wieder etwas,« sagte der Förster.

Bartl stand auf, ohne ein Wort weiter zu verlieren, und eilte aus der Stube zu seiner Arbeit. Jetzt ging es schon besser von statten und nach einigen Stunden war er mit der Aufgabe zu Ende. Wie schmeckte ihm jetzt die Suppe und das Seidel Bier!

An ein Fortgehen aus der Valepp war nicht zu denken; die Wege nach Nord und Süd waren vollständig verschneit. Die anwesenden Holzarbeiter erklärten dem Bartl auf seine Frage, daß sie darauf gefaßt seien, drei Monate hier eingeschneit zu bleiben. Dem Bartl glich das wie ein Todesurteil. Drei Monate gefangen, drei Monate arbeiten!

»Dös halt i nit aus!« rief er.

Aber andern Tages in aller Frühe sah man ihn schon wieder Schnee schaufeln. Es mußte die Strecke zur Kaiserklause, wo gewaltige Massen von Holz aufgespeichert lagen, vom Schnee freigemacht werden, damit die Holzarbeiter dort wieder ihre Arbeit beginnen konnten. An dem frohen Mute der übrigen Arbeiter konnte sich Bartl ein gutes Beispiel nehmen. Sie sangen und pfiffen und häufig löste sich ein Juhschrei aus ihrer Brust. Bartl bekam bei jeder Mahlzeit sein Essen und wußte selbst nicht, wie es kam: 247 nach wenigen Tagen war er mit seinem Schicksale ganz ausgesöhnt. Er wurde jetzt beim Holzmachen verwendet und bekam für Verarbeitung jeder Klafter seine Taxe. Er konnte das, was er verdiente, bald nicht mehr verzehren, denn der Oberförster ließ ihm nicht mehr geben, als er durchaus nötig hatte. Dasjenige Geld, was dann übrig blieb, wurde für Bartl in eine Sparbüchse gelegt, damit er, sobald die Passage wieder frei, nicht als Bettler fort müsse.

Am Sonntag war Gottesdienst im kleinen Kirchlein, Frau und Tochter des Oberförsters sangen zu der Orgel, die er spielte. Am Altare waren sämtliche Lichter angezündet; und stand auch kein Priester an demselben, es war doch so weihevoll und zur Andacht stimmend, daß Bartl gar nicht wußte, wie ihm geschah. Es war ihm, als schmelze eine starke Eiskruste, die sein Herz umschloß, nach und nach ab, als dringe wohlthuender, erwärmender Sonnenstrahl hinein in den sonst so kalten Raum. Nach dem Gesange las der Oberförster das Evangelium vor und dann wurden von den Anwesenden einige Vaterunser laut gebetet.

Dem Bartl war eigentümlich zu Mute. Am Nachmittage sah man ihn schon zeitig wieder in das Kirchlein treten und in der hintersten Bank lange verweilen. Am nächsten Morgen war er der erste auf dem Arbeitsplatze. Eine gewisse Heiterkeit zeigte sich in seinem Gesichte und wenn er des Mittags zum Essen ging, konnte man ihn vergnügt pfeifen hören. Der Oberförster bemerkte mit Vergnügen die Änderung, welche mit dem Pascher vorgegangen war. Er sagte oft zu den Seinigen: »Das probateste Mittel, Geist und Körper wieder gesund zu machen, bleibt halt doch immer die Arbeit!«

Rasch vergingen jetzt dem Bartl die Tage und Wochen. 248 Weihnachten war herangekommen. Die Freude, welche am heiligen Christabend die ganze christliche Welt erfüllt, trieb auch in dem von allem Verkehr abgeschlossenen und von hohen, schneebedeckten Bergen umgebenen Örtchen in der Valepp ihre Blüten. Auch in dem einsamen Forsthause jubelten heute frohe Herzen um den hellerleuchteten, mit goldenen und silbernen Nüssen geschmückten Baum. Sämtliche Arbeiter wurden vom Oberförster eingeladen, die kleine Christbescherung mit anzusehen und jeder erhielt irgend eine Kleinigkeit.

Bartl, welcher zum erstenmal so etwas sah, konnte sich an dem hellstrahlenden Christbaum kaum satt sehen und als ihm die Frau Oberförsterin ein Paket mit warmen Socken und einiger Wäsche nebst etwas Süßigkeiten überreichte, rannen ihm die Thränen über die Wangen herab. Ein Streifen Papier lag auf seinem Geschenke, darauf standen die Worte: »Arbeit ist des Lebens Würze.«

Warum mußte Bartl heute immer an sein Kind, an seine Burgl denken?

»Wenn's iatz bei mir waar!« sagte er zu sich selbst. »Mei' Burgl soll sich nimmer schaama müass'n über ihren Vodan. I kann iatz arbeten und nur für mei' Burgl will i von nun an sorg'n.«

Nach der Bescherung wurde in dem Kirchlein die Christmette abgehalten, das heißt, es wurde dort ein schönes Weihnachtslied gesungen, in welches alle Anwesenden mit einstimmten. Hell war das Kirchlein beleuchtet und auf dem Altare stand ein allerliebstes Christkindl mit krausem Haar und goldenen Kleidern, die goldene Erdkugel in der Hand haltend. Über demselben waren zwei Engel angebracht, welche ein weißes Band hielten, auf welchem mit großen 249 goldenen Buchstaben die Worte standen. »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind.«

Bartl fühlte sich eigentümlich bewegt. Es war ihm, als riefen ihm die Engel selbst diesen schönen Spruch zu. Ein heftiger Thränenstrom ergoß sich aus seinen Augen; es waren die ersten Thränen nach langen, langen Jahren. Er ließ sie fließen und dieser Erguß that ihm unendlich wohl.

Der Mond schien zum Fenster herein, am Himmel flimmerten Millionen Sterne, und die vom Mond beschienenen Spitzen des Sonnwendjoches und des Schinders schienen neugierig herabzublicken in das stille Gebirgsthal und zu dem erleuchteten Kirchlein, aus welchem die Jubeltöne freudiger Christen zu ihnen emporhallten, von unsichtbaren Engeln weitergetragen bis hin zu den Sternen, wo sie sich mit den Gesängen von Millionen andern Stimmen auf dem ganzen Erdenrunde vereinigten in dem Gesange: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind.« 250


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