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Es war ein trüber, regnerischer Abend. Graues Gewölk hielt wie ein Aschentuch den ganzen Himmel überzogen und ließ von Zeit zu Zeit feine, aber um desto dichtere Regenschauer niedersprühen. Eben fiel ein etwas stärkerer Guß aber unbekümmert darum kam Meister Rempelmann, obwohl er keinen Schirm trug, um die Nässe abzuwehren, in aller Gemächlichkeit zum Jakobsthor heraus und seiner Thurmbehausung entgegen Als er diese erblickte, beschleunigte er seinen Schritt, aber das geschah unverkennbar nicht, um dem Wetter zu entgehen, sondern aus einem innerlichen Behagen, das ihn vorwärts trieb und ihn auch die beträchtliche Last des zusammengerollten Lederballens nicht fühlen ließ, den er auf den Schultern trug. Daß er das Naßwerden nicht scheute, war auch daran zu erkennen, daß er am Fuße der Thurmstiege stehen blieb, seine Bürde auf den Stufen an einem Plätzchen zurecht stellte, wo der Regen sie nicht erreichen konnte, und sich dann an dem Aprikosenbaum zu schaffen machte, der an der Thurmwand auf Drähten wie an einem Spalier hinangezogen war. Der Baum war sichtbar mit großer Liebe und Sorgfalt gepflegt, die Rinde glänzte rein und glatt, die Blätter waren überall grün und frisch, und die Mühe hatte sich auch bereits gelohnt; denn überall begannen aus den fallenden Blütenhüllen schon die künftigen Früchte hervorzubrechen.
Während der Meister die künftige Ernte frohen Blickes überschaute, ließ er einen kurzen Pfiff ertönen, welcher den Anfangslauten eines Finkenschlags glich und ein bekanntes Zeichen sein mußte; denn unmittelbar darauf klirrte das niedrige Fenster im obern Thurmgemache, ein Schieber fiel daran herab, und in der Luke wurde der Kopf der Schusterin sichtbar.
»Grüß Dich Gott, Mann«, rief sie vergnügt. »Bist schon daheim? Das ist recht. Komm' nur herauf! Du hast gewiß gute Geschäfte gemacht, weil Du so bald heimkommst.«
»Komme gleich, Grete«, sagte der Meister, »aber ich sehe da einen Patienten, dem ich als Doctor noch einen Abendbesuch machen muß. Werde ihm dann schon einmal meine Deservitenrechnung übergeben, wenn es Zeit ist, die Früchte einzustreichen. Komm' indeß herunter und trag' das Leder hinauf.«
Im nächsten Augenblicke öffnete sich die Thür; die Schusterin kam die Treppe herunter und zog die Lederrolle hinter sich die Staffeln hinan.
»I, was das schwer ist!« sagte sie. »Du hast ja wohl das Leder von der ganzen Welt gekauft! Es muß Dir gehörig sauer geworden sein, diesen Pack zu schleppen. Aber mach' nur, daß Du hereinkommst! Mußt nicht so lange im Regen bleiben; wenn er so fein fällt, dringt er durch und durch, bis auf die Haut!«
»Sorge nicht, Grete«, erwiderte Rempelmann; »bin nicht so empfindlich, daß mir so ein kleines Regenbad gleich Schaden thäte! Da oben fangen ein paar junge Aprikosen an, gelb zu werden, das ist zu früh. Da ist etwas daran nicht richtig; gewiß hat irgend ein Ungeziefer sie angefressen, dem ich zuvor den Garaus machen muß. Es ist nur ein bischen hoch, und ich muß erst sehen, wie ich hinauflangen kann.«
Während die Frau in die Wohnung zurückkehrte, trat der Meister von der Treppe auf die mit breiten Steinplatten bedeckte Mauer des benachbarten Gartens, aus welcher fest eingegossene Eisenstangen mit vergoldeten Spitzen emporstiegen und ein undurchdringliches wie unübersteigliches Gitter bildeten. Von diesem erhöhten Standpunkt aus war es dem Manne möglich, die Stelle zu erreichen, wo die beschädigten Früchte hingen, und er hatte eben eine derselben in der Hand und besichtigte mit Kennermiene die schwarzen Punkte, welche der Stich oder Biß irgend eines Insektes daran hervorgerufen.
»Was das wieder für ein Geschmeiß sein mag«, brummte er in den Bart. »Ein Gärtner hat doch wirklich so viel Feinde als Sand am Meere. Das ist nicht Ameisenfraß und auch nicht das Nagen von Ohrenhöhlern, eher wie Wespenstich! Richtig, da oben hängt das Nest und daneben sind auch ein paar zusammengeklebte und von Raupen eingesponnene Blätter! Die müssen herunter. Ich werde mich ein bischen auf das Geländer stützen; so schwer bin ich nicht, daß mich die Stangen nicht tragen sollten.«
Der Gedanke war schnell ausgeführt. Das Knie an die Wand gedrückt, mit dem andern Fuße rückwärts an das Geländer gestemmt, streckte sich der Meister mit hoch erhobenem Arme und wurde darüber nicht gewahr, daß der Eigenthümer des Gartens auf den mit weichem Sande bestreuten Gängen geräuschlos näher gekommen war und mit giftigen Blicken die Beschäftigung des Schusters beobachtete. Jetzt hatte dieser einen Zweig abgebrochen und stieg herunter, das Aestchen in der Hand, von welchem eine Brut junger Raupen dicht und wimmelnd herunterhing.
»Sieh da, Meister«, rief der Nachbar mit seinem gewöhnlichen Hüsteln herüber. »Ihr seid eben nicht bedenklich, mein Eisengitter als Leiter zu gebrauchen! Ihr glaubt wohl, wenn es Schaden leidet, ich finde das Geld, es wiederherzustellen, auf der Straße?«
Meister Rempelmann hatte sich umgewandt und betrachtete den Redenden mit einem Ausdruck des Gesichts, welcher zwischen Spott und Unwillen schwankte.
»Finden, Herr Nachbar?« sagte er dann. »Nein, für eine so dumme Ausrede bin ich doch zu pfiffig. Man findet nichts mehr heutzutage und am allerwenigsten Geld, denn es verliert Niemand Geld. Aber was man nicht findet, kann man ja suchen, und Sie wissen recht gut, wo man suchen muß, wenn man Geld finden will. Das bissel Heraufsteigen wird den Stangen keinen Schaden thun. Das Eisen hält immerhin fester als die Ehrlichkeit von gewissen Leuten!«
»Ihr seid mit der Zunge immer flink bei der Hand«, hüstelte der Agent von drüben, indem er seinen Regenmantel von Kautschuk fröstelnd enger anzog. »Ich brauchte mir eigentlich Eure groben Reden gar nicht gefallen zu lassen. Ihr seid und bleibt eben ein unerträglicher Nachbar, aber gerade deswegen will ich Euch einmal zeigen, wie sehr Ihr mir Unrecht thut; ich will Euch beschämen und sagen, daß ich gar nichts dagegen habe.«
»Mich gehorsamst zu bedanken«, lachte der Schuster herunter; »wird sobald nicht mehr nöthig sein, daß ich wieder heraufsteige. Wenn man zur rechten Zeit dem Ungeziefer das Nest zerstört, kann es nicht überhand nehmen!«
Er war nun heruntergestiegen und kam auf die Steinplatte zu stehen, auf welche er den Zweig mit den Raupen warf und zertrat.
»Häßliches Gethier das«, sagte er dabei. »Nicht wahr, Herr Nachbar? Unser Herrgott wird wissen, zu was er es erschaffen hat. Man muß sich eben darein finden! Geht es einem doch bei manchem Menschen so, daß man sich nicht enthalten kann, gerade so zu fragen!«
Die Augen des Agenten funkelten durch die Dämmerung wie die einer Schlange, welche sich gern auf ihr Opfer stürzen möchte, aus kluger Berechnung aber zurückhält, weil sie wohl erkennt, daß sie noch nicht die Entfernung erreicht hat, aus der es ihr möglich ist, dasselbe im Sprunge zu erreichen.
Mit grinsendem Lächeln rief er hinwieder: »Ich habe es schon oft gesagt, an Euch ist ein Philosoph verloren gegangen, Meister Rempelmann, ein zweiter Hans Sachs oder Jakob Böhme! Ihr hättet ein Doctor der Weltweisheit werden sollen.«
»Warum nicht gar ein Professor!« sagte der Schuster. »Ich mache blos meine Augen auf und kann nicht dafür, wenn ich da sehe, daß unser lieber Herrgott gar unterschiedliche Kostgänger hat. Das Ungeziefer aber kann ich nun einmal nicht leiden, weil es nicht blos nichts arbeitet und sich nur von fremdem Fleiße mästet, sondern auch Anderer Arbeit zerstört, wie die Raupen und die Hummeln. Vor allen aber sind mir die Ohrenhöhler zuwider, die dünnen, glatten Dinger, die so sachte kriechen und sich so geschwind drehen und verstecken und Alles mit ihren gierigen Freßzangen packen, was ihnen in den Weg kommt. Da sitzt richtig solch ein Unthier in der Aprikose; drum ist sie gelb geworden und abgefallen. Kann das Vieh nicht einmal warten, bis die Frucht weich und reif geworden ist! Muß in seiner Gier in die grüne, steinharte Aprikose beißen!«
Dabei schüttelte er die Frucht, die er in der Hand hielt, über den Zaun, daß der Ohrwurm herab und auf Sparberger fallen mußte, der mit Abscheu zurückweichend das Ungeziefer vom Rocke schüttelte.
»Es ist merkwürdig«, hüstelte er, »wie genau Ihr die Natur beobachtet, Meister. Ich will aber auch davon Nutzen ziehen und will mir's merken, daß es die größte Klugheit ist, seine Zeit abzuwarten. Für Jeden kommt ein Augenblick, wo er reif wird!«
Er wandte sich ab, blieb aber doch wieder stehen; denn gleichzeitig hatte sich der Schuster von der Mauer herabgeschwungen, indem er sich mit der Hand an den Eisenstangen festhielt; er wäre aber beinahe herabgestürzt, weil die eine Stange, auf welche er sich verlassen hatte dem Drucke nachgab; es zeigte sich, daß sie abgebrochen und aus dem Gefüge gekommen war.
»Sieh da«, sagte Sparberger, indem er hinzutrat und den Schaden untersuchte, »da ist eine Stange vom Gitter los, daß man bequem hin- und herkriechen kann! Das Loch ist so groß, daß ein Mann leicht aus- und einschlüpfen kann, und wenn er so stark wäre als Ihr, Meister; meint Ihr nicht auch?«
Der Schuster war etwas betreten. Es war ihm in hohem Grade unangenehm, dem verhaßten Manne gegenüber im Nachtheil sein und zugestehen zu müssen, daß derselbe einmal wirklich Recht behielt.
»Diesmal muß ich klein beigeben, Herr Nachbar«, sagte er in gemäßigtem Tone. »Ich sehe, daß man sich auch auf das Eisen nicht mehr verlassen kann. Thut mir leid! Wenn ich mir das hätte einbilden können, hätte ich mich nicht so fest angehalten. Aber ich will es machen lassen, Herr Nachbar; durch mich sollen Sie keinen Schaden leiden!«
»Schaden! Wo denkt Ihr hin, Meister!« rief Sparberger mit noch freundlicherem Grinsen. »Wo sollte ein Schaden herkommen? Das ist nur Nutzen, reiner doppelter Nutzen für mich! Erstens seh' ich einmal wieder, wie schlecht man bedient wird von den Handwerksleuten, und dann bin ich dahinter gekommen, daß da ein recht bequemer Weg in meinen Garten führt, und wer einmal im Garten ist, der kann auch ins Haus kommen, nicht wahr? Dabei geht mir ein Licht über allerhand Dinge auf! Das ist immer ein großer Nutzen und ich bin Euch recht dankbar, Meister, daß Ihr mir den Schlupfwinkel verrathen habt!«
Damit eilte er hinweg und war nach wenigen Schritten hinter einer Heckenpartie des Gartens verschwunden.
Der Schuster sah ihm ärgerlich nach. »Ich weiß nicht, was ich gäbe«, sagte er für sich hin, »wenn mir das nicht passirt wäre. Ich verstehe zwar den Kerl nicht, was er mit seinen Reden meint – er wird doch am Ende nicht gar denken –«
In seinem murmelnden Selbstgespräche wurde er durch die Frau unterbrochen, welche das Guckfenster wieder geöffnet hatte und herausrief: »Aber, Mann, was fällt Dir denn ein? Willst Du in dem Regen im Freien übernachten? Es ist ja schon ganz dämmerig, komm' doch nur herein!«
»Komme schon«, erwiderte der Meister, indem er die Treppe hinanstieg, mit lauter Stimme, aber lange nicht mehr so munter, als er gekommen war; etwas von der Dämmerung und Düsterheit, die sich immer stärker über Garten und Haus lagerte, schien verstimmend auch auf sein Gemüth gefallen zu sein. Aergerlich trat er in die dunkle Stube und es bedurfte einiger Zeit, bis die herzliche schlichte Begrüßung seines Weibes die frühere heitere Stimmung zum Theil wiederherstellte.
»Was ist Dir nur, Mann?« fragte die Frau. »Bist so lustig heimgekommen und jetzt bist Du ganz verdrießlich!«
»Brauchst nicht erst zu fragen«, erwiderte der Meister, indem er den Rock ablegte, ihn behutsam an den Nagel hing und den Hut darüber stülpte. »Du hast ja gesehen, daß ich mit dem Nachbar Sparberger geredet habe; es verdirbt mir allemal den ganzen Tag, wenn ich mit dem Kerl zusammentreffe!«
»Hast Dich also wieder gehäkelt mit ihm? Das solltest Du nicht thun. Du machst ihn uns immer noch mehr zum Feinde, und arme Leute, wie wir sind, können keine Feinde brauchen.«
»Hoho! Thue Recht und scheue Niemand!« rief Rempelmann, indem er das Schurzfell vorband, die Glaskugel anzündete und sich auf dem Schusterschemel zurechtsetzte. »Ich thue nichts Unrechtes, also brauche ich keinen Feind zu fürchten, am allerwenigsten diesen Heimtücker! Schwerenoth! Ich kann alle Menschen leiden, aber der ist mir im Grunde der Seele zuwider; ich habe ordentlich eine Art Abscheu vor ihm, als wenn er mir irgend etwas recht Arges angethan hätte oder noch anthun wollte.«
»Du wirst doch nicht heute noch arbeiten wollen?« unterbrach ihn die Frau, während er einen Stiefel auf dem Knie zurechtlegte und den Pechdraht auszuziehen anfing.
»Ja, es ist nicht anders«, erwiderte er. »Der Nachbar Metzger will seine Stiefel heute noch um zehn Uhr abholen. Ich hab' sie ihm versprochen, weil er morgen über Land gehen muß, und was der Meister Rempelmann verspricht, das hat er noch allemal gehalten.«
Darüber hatte der Meister die Arbeit begonnen, klopfte und zog darauf los und war nach wenigen Augenblicken wieder in der besten Laune. »Es gibt nichts Besseres, sich dumme Gedanken aus dem Kopfe zu schlagen, als gehörig arbeiten!« rief er dann. »Eigentlich hast Du auch Recht, Grete. Warum soll ich mir durch den widerlichen Menschen eine gute Stunde verderben lassen? Ich sitze da in meinen eigenen vier Wänden bei Weib und Kind, bin gesund, und was Du vorhin von armen Leuten gesagt hast, das geht gar nicht auf uns! So sehen arme Leute nicht aus! Wir sind reich, sag' ich Dir, so reich, daß ich mit dem Nachbar Sparberger nicht tauschen möchte! Bin ich durch das Geschenk des Unbekannten nicht ein gemachter Mann geworden? Kann ich nicht Leder einkaufen wie der größte Meister, der zwanzig Gesellen sitzen hat? Ho, Du hättest den Lederhändler sehen sollen, was er für Augen machte, wie ich ihm die schönen, neugewechselten Gulden so hinzählte! Sonst hat er mich kaum gegrüßt; heute hat er mir ein Compliment gemacht bis auf den Boden herunter und mir selber die Thür aufgemacht. Hahaha, jetzt hab' ich Vorrath fast auf ein Jahr, Alles baar bezahlt und noch immer eine schöne Summe in Verwahr!«
»Du hast Recht, Mann«, unterbrach ihn das Weib, »und ich bin auch recht glücklich, ich kann Dir gar nicht sagen wie sehr; ich habe Dir deshalb auch einen Extrabissen hergerichtet!«
»Was?« lachte der Schuster, indem er den aufgehobenen Hammer in der Luft schweben ließ. »Doch nicht etwa gar mein Leibessen, Weib? Knackwurst mit Kartoffelsalat?«
»Freilich«, erwiderte gleichfalls lachend die Frau, »und eine Maß Doppelbier dazu. Ich bin eigens fortgewesen und hab' es selber beim Steinbräuer drüben geholt, es soll ja dort am besten sein.«
»Grete, was fällt Dir ein?« rief der Meister fröhlich, indem er den Hammer weglegte und beide Arme in die Seiten stemmte. »Da sieht man's, wenn der Bettelmann aufs Roß kommt, kann ihn kein Teufel erreiten! Du bist mir ja im Handumdrehen die reinste Verschwenderin geworden! Aber wenn Du denn doch einmal so tief in den Geldbeutel gegriffen hast, her mit dem Krug! Ich hab' einen ordentlichen Schluck wohl verdient! Trink' an und thu' mir Bescheid! Es soll uns schmecken, und wir wollen dabei den großmüthigen edlen Unbekannten leben lassen, dem wir all dieses Glück verdanken!«
Die Meisterin reichte ihm den Krug; aber ehe er trank, legte er einen Augenblick die Hände wie zum Gebete in einander, und auch die Frau fuhr sich mit der Schürze über die naßgewordenen Augen. Dann eilte sie ins Nebengemach, wo eine Kinderstimme sich hören ließ.
»Die Miezel ist auch noch wach«, rief sie. »Sie hört Dich, Vater, und will Dir gute Nacht sagen.« Mit diesen Worten trat sie wieder aus der Kammer, ein kleines Mädchen auf dem Arm, das aber gar nicht verschlafen und weinerlich that, sondern lächelnd und lallend die Aermchen dem Vater entgegenstreckte, der es ergriff und derb abschmatzte, dann aber mit scherzendem Geplauder schwenkte und schaukelte und dazwischen das laut lachende Kind immer wieder mit Küssen bedeckte.
»Wo ist denn der Michel?« fragte der Meister, indem er das Kind endlich zurückgab. »Ich sehe jetzt erst, daß der Bub' nicht da ist.«
»Wo wird er sein?« erwiderte die Frau. »Weißt ja, was er für eine Lust am Gartenwesen hat, und daß er jeden Augenblick, den er loskommen kann, drüben beim Nachbar steckt.«
»Ich weiß, ja, ich weiß«, entgegnete der Schuster; »aber das ist mir eben nicht recht. Wenn er ein Gärtner werden will, so hab' ich nichts dawider, obwohl es meine Profession nicht wäre. Dann ist es aber noch immer Zeit genug und ich werde für ihn schon eine andere Lehre finden als bei dem gottverdächtigen Blitzschwaben, dem Schiebele da drüben, der um kein Haar besser und derselbe Duckmäuser und Schleicher ist wie sein Herr!«
Er stand auf, öffnete den Fensterschieber und ließ den bekannten Finkenpfiff so stark ertönen, daß derselbe weithin hörbar werden mußte. Es dauerte auch gar nicht lange, so kam ein Knabe auf dem Wege im Nachbargarten dahergelaufen, kletterte eiligst auf die Mauer, hatte im Augenblick die lockergewordene Stange beiseite geschoben und war durchgeschlüpft. Mit offenem Munde, starr vor Staunen, sah es der Meister.
»Schwerenoth!« schrie er dann, nach der Stube zurückgewendet. »Also ist die Eisenstange schon lange locker? Und ich hab' geglaubt, es sei durch mich geschehen, und hab' mich beim Nachbar entschuldigt und gesagt, daß ich nichts davon wisse! Wenn der Sparberger jetzt erfährt, daß der Bub' den Weg kennt, so glaubt er am Ende gar, ich habe ihn angelogen! Schwerenoth noch einmal!« fuhr er den Knaben an, der, nichts Gutes erwartend, furchtsam durch die Thür hereinschlich und sich hinter die Mutter drängte. »Ich kann nun einmal das Herumschlingeln in dem fremden Garten nicht leiden, und wenn es noch einmal ohne meine Erlaubniß geschieht, bekommst Du den Knieriemen zu kosten!«
»Sei doch nicht so außer Dir!« sagte die Schusterin begütigend, indem sie den Knaben mit einer raschen Bewegung hinter ihrem Rücken in die Kammer schob! »Was kann denn der Bub' dafür, daß Du den Gärtner und den Nachbar nicht leiden kannst? Du solltest es ihn gar nicht einmal so merken lassen!«
Rempelmann erwiderte nichts. Er hatte sich wieder auf seinen Schemel gesetzt und nähte und hämmerte schweigend eine Weile fort, bis er den Stiefel in die Höhe hob, nach allen. Seiten betrachtete und zufrieden beiseite stellte.
»Der soll's thun, denk ich«, sagte er. »Das Leder ist tüchtig ausgetrocknet, und die Nähte müssen halten wie Stahl und Eisen. Ich möchte den sehen, der es besser macht! Jetzt aber«, fuhr er, sich erhebend fort, »jetzt wollen wir uns das Abendessen und den Rest vom Bier schmecken lassen. Ich will mich an den Tisch setzen, daß ich den Rücken gegen das Fenster habe, denn der alte Halunke, der Schiebele, ist richtig noch drunten im Garten und recht die Wege eben, trotz des Regens. Ich mag ihn nicht sehen! Das soll man nun nicht merken, daß diese Arbeit beim Regen und zu dieser Zeit nichts ist als ein Vorwand, um besser spioniren zu können! Heda, Michel«, unterbrach er sich selbst, »da fällt mir eben ein, meine Schuhe sind heut tüchtig naß geworden. Stelle sie auf die Stiege hinaus, wo der Regen nicht hinkann! In der Luft trocknen sie am besten.«
Der Knabe lugte aus seinem Versteck hervor, schien aber dem Landfrieden nicht zu trauen, und auch die Mutter mochte ähnliche Gedanken haben, denn sie trat rasch hinzu und ergriff die Schuhe. »Das kann ich ja auch thun«, sagte sie, »wenn Du sie wirklich hinausgestellt haben willst und nicht fürchtest, daß es damit geht, wie neulich mit den Stiefeln!«
»Erinnere mich nicht daran, Grete!« sagte der Meister. »Die Geschichte will mir ohnehin nicht aus dem Kopfe! Ein paar alte, abgetragene Stiefel mit schadhaften, stark genagelten Sohlen – wer nur an denen noch Gefallen gefunden haben kann?«
»Ho«, lachte die Meisterin, »wer sonst als irgend ein wandernder Handwerksbursche, der noch schlechtere an den Füßen gehabt hat?«
»Das glaub' ich nicht«, sagte Rempelmann; »zum Marschiren waren sie einmal zu schlecht. Eher haben sie noch für einen Gärtnerburschen da drüben getaugt, der sie zu Pantoffeln abgeschnitten hat! Die können immer derlei brauchen. Aber jetzt nichts mehr davon! Schwerenoth, will mir den Abend nicht verderben lassen. Komm heraus, Michel! Der Knieriem gilt erst fürs nächste Mal. Setz' Dich her! Mutter, bring' die Miezel zu Bette; der Sandmann sitzt ihr ja schon in den Augen. Wir wollen vergnügt sein; wir haben ein gutes Gewissen und brauchen uns nicht zu kümmern, was die ganze Welt da draußen treibt!«
Der Regen rauschte draußen immer stärker hernieder, die Traufen fingen zu gehen an, und in den Pflasterrinnen schossen rasch angeschwollene Bäche dahin. Die Straße wie die Wege im Garten wurden erweicht, daß jeder, auch der leiseste Fußtritt sich stark eindrücken mußte. Es kam aber Niemand des Wegs. Auch ward es bald vollständig finster, und die schwache Oellampe auf dem Tische des Schusters war das einzige Lebenszeichen in der ganzen Umgebung. Sie beleuchtete zwar eine sehr einfache Mahlzeit, aber um dieselbe einen fröhlichen Kreis gesunder, einander vergnügt anlächelnder Gesichter.
Im Gartenhause des reichen Nachbars war auch keine Spur von Leben mehr zu bemerken. Der Eigenthümer schien bereits nach der Stadt zurückgekehrt zu sein, wo er Haus und Laden besaß. Der Gärtner Schiebele aber hatte mit dem letzten Rechenstriche die Gartenwege glatt gezogen und schritt nun mit der Schaufel dem Hause zu, an einer dunklen Gebüschpartie vorüber, wo auf einer kleinen Erhöhung, aus Holzstämmen zusammengefügt, ein offenes Zelt mit Strohdach angebracht war.
Der Gärtner blieb stehen, denn er glaubte etwas unter dem Parapluie sich bewegen zu sehen. »Halt! Wer da?« rief er. »Antwort, oder ich lasse meinen Schaufelstiel fragen!«
»Dummkopf«, tönte es hüstelnd entgegen. »Was macht Er für ein Geschrei? Kennt Er mich denn nicht? Ich bin es ja!«
»Sie sind's, gnädiger Herr?« erwiderte der Gärtner betreten und verwundert. »Das hab' ich mir nicht denken können. Ich habe geglaubt, Sie wären schon längst daheim. Das ist dumm! Da ist vorhin einer dagewesen, der mit Ihnen hat sprechen wollen; ich hab' ihn aber fortgeschickt, weil ich meinte, Sie wären schon in die Stadt hinein.«
»Wer ist es gewesen?« fragte Sparberger.
»Weiß nicht, gnäd'ger Herr. Hab' nicht gefragt; er wollte es anfangs nicht glauben, daß Sie nicht mehr da seien, dann ging er aber doch und sagte, wenn ich Sie sehen thäte, so sollte ich Ihnen sagen, es wäre heute der fünfundzwanzigste. Der Kerl muß wohl verrückt sein; denn das weiß ja jedes Kind, daß wir heute erst den zehnten haben.«
»So wird es wohl sein«, erwiderte anscheinend gleichgültig der Agent, indem er den Gärtner mit einem prüfenden Seitenblicke maß; »aber ich bin hier geblieben, weil ich Ihn beobachten wollte und noch mit Ihm zu reden habe. Er kann sich für nächsten Monat nach einem andern Dienst umsehen.«
»Gnäd'ger Herr!« rief der Gärtner, welchem vor Schrecken die Schaufel aus der Hand fiel. »Was habe ich denn gethan? Sind Sie nicht mehr mit mir zufrieden? Versteh' ich doch die Gärtnerei vom Grund aus und thu' gewiß meine Schuldigkeit!«
»Wie man's nimmt«, antwortete der Agent. »Die Gärtnerei ist bei mir die Nebensache. Um ein paar Groschen kann ich mir all das Gemüse und die Blumen kaufen, die Er mir zieht und für die ich ihm schweren Lohn zahlen muß. Ich habe das Landhaus nicht wegen des Gartens, das weiß Er lang. Ich hab' es, weil ich außerhalb der Stadt meine Waaren und meine Vorräthe liegen haben muß, damit mir nicht Jeder die Nase hineinstecken kann. Er weiß auch, daß mir der grobe Schuster im Thurm da vorn, der den ganzen Tag seine Augen in meinen Garten herüber hat, in den Tod zuwider ist und daß ich ihn forthaben möchte! Er hat mir versprochen, Er wolle etwas ausfindig machen, ihn wegzubringen, Er thut's aber nicht, sondern verkehrt noch gar mit den Leuten aufs freundlichste!«
»Gewiß und wahrhaftig nicht, gnäd'ger Herr!« erwiderte der Gärtner. »Ich kann den Schuster auch nicht ausstehen, aber die Frau, die Frau, gnäd'ger Herr, ist eine gute Person, und das Bübel kommt immer herüber, und deswegen hab' ich nichts gethan; und weil Sie nichts mehr gesagt haben, da hab' ich geglaubt, Sie hätten sich eben anders besonnen. Aber ich hab's dem Schuster nicht verziehen, daß er immer über meine schwäbische Sprache spottet, und wenn ich kann, will ich ihm wohl einmal etwas am Zeuge flicken!«
»Meinetwegen!« erwiderte Sparberger kurz! »Was geht das Alles mich an? Ich verlange ja nichts von Ihm, ich zanke auch nicht mit Ihm, ich will ja nur, daß Er geht.«
»Das wird doch nicht sein müssen«, erwiderte stockend der Gärtner. »Euer Gnaden werden sich schon anders besinnen. Wo sollte ich denn gleich einen andern Platz hernehmen?«
»Das ist Seine Sache«, sagte Sparberger noch gleichgültiger und schritt dem Hause zu.
Der Gärtner eilte ihm nach. »Wenn ich aber thue was Euer Gnaden verlangen, darf ich dann bleiben?« fragte er.
»Das wäre was Anderes«, sagte Sparberger, ohne anzuhalten. »Wenn der Schuster in drei Tagen nicht mehr in dem Thurme wäre, dann könnte ich mich vielleicht entschließen und könnte die Kündigung zurücknehmen. Dann könnte Er vielleicht bleiben. Das ist aber mein letztes Wort. Merk' Er sich das!«
Er ging, und bald war zu hören, wie er das äußere Thor zuklappte. »Es muß schon bald zehn Uhr sein«, sagte er, »hohe Zeit, daß ich noch in den Verein komme. Es ist nur gut, daß ich die Nachricht doch noch erfahren habe. Ich habe wirklich nicht daran gedacht, daß heute der fünfundzwanzigste ist!«
Auch der Gärtner war inzwischen in leisem Selbstgespräch begriffen. »Werd' mir's merken«, rief er dem Alten nach. »Jetzt kann ich nicht mehr anders, jetzt muß der Schuster dran, sonst geht's mir selbst an den Kragen! Das Hemd ist mir näher als der Rock. Gern thu' ich's nicht«, fuhr er fort, indem er sich hinter den Ohren kraute, »des Bübels und der saubern Frau wegen. Wenn sie auch noch so spröde thut, ich kriege sie nicht aus dem Sinn und will nicht nachlassen, bis es mir glückt, den Pechvogel auszustechen. Sie darf freilich nicht merken, woher der Streich kommt. Aber wenn der Mann fort ist, hab' ich freies Spiel bei ihr; dann will ich den Tröster machen. Diese Nacht und dieses Wetter sind gerade recht. Mein Pickel wird die nämlichen Dienste leisten wie eine Schusterahle. Wir wollen einmal schauen, wie lang es ansteht, bis der Schuster nicht mehr in den Garten hereingucken kann.«
Er verschwand im Hause. Von den Thürmen der Stadt schlug die zehnte Stunde.
Im Gemach des Meisters Rempelmann war inzwischen die Mahlzeit beendet worden und er erhob sich, während die Frau den Tisch abdeckte und wieder reinigte.
»Wir wollen zu Bett«, sagte er. »Der Meister Metzger scheint sich anders besonnen zu haben. Er braucht wohl heute seine Stiefel nicht mehr; also schließ' die Thür, Grete! Der Bub' ist eingeschlafen, trag' ihn in's Bett und hol' auch noch meine Schuhe herein! Sie sind jetzt genug gelüftet.«
Die Frau that es und kam nach wenigen Augenblicken voll Verwunderung zurück, in jeder Hand ein paar Schuhe tragend.
»Da ist noch ein zweites Paar draußen gestanden«, sagte sie. »Wie kommt das hierher?«
»Ein zweites?« rief Rempelmann, indem er verwundert die Schuhe betrachtete. »Schwerenoth, das sind ja die Schuhe, die mir vor vierzehn Tagen gestohlen worden sind! Sie sind's, ich kenne sie ganz genau. Ich habe sie ja selbst auf der Sohle so stark genagelt, nur da auf dem linken Fuße in der Mitte ist ein Nagel herausgetreten. Was soll man nun davon denken? Entweder hat sie Jemand nur auf Borg genommen, oder den Dieb hat das Gewissen geschlagen und er hat sie mir wiedergebracht. Nun sage ein Christenmensch, was nicht alles noch Wunderbares passirt!«
Indessen hatte Herr Sparberger eilenden Schrittes längst das Jakobsthor erreicht und war neben demselben in das enge Gäßchen an der Stadtmauer eingebogen dessen Dunkelheit nur an der Ecke durch eine schwach brennende Laterne etwas gemildert wurde. An der feinen Seite, an den Häusern hin, zog sich ein schmaler, aber bequemer Fußweg; dennoch ging der Agent auf der andern Seite, wo nur die mit allerlei schlechten und scheunenartigen Gebäuden besetzte Stadtmauer stand und der Weg unrein und schwer gangbar war. Was den Agenten von dem schönen Pfade scheuchte, war die alte Getreidehalle, welche von den Angehörigen der freien Gemeinde zu ihren Zusammenkünften gewählt und gemiethet worden war. Mit giftigen Blicken sah der Agent gegen das Gebäude hin, indem er eiligst daran vorüberzukommen trachtete, als fürchte er, es werde Feuer regnen auf das verfluchte Haus, oder die Erde werde sich aufthun, es zu verschlingen. Nachdem er allerlei Plätze gekreuzt und eine Reihe von Gäßchen durchwandert hatte, war er an einem dunklen, hohen Gemäuer angelangt, in welchem sich eine mächtige Pforte erhob. Die Wände waren schadhaft und von dem brüchigen Anwurf beinahe völlig entblößt, das Thor mit Staub und Schmutz überdeckt, sodaß die reichen holzgeschnitzten Verzierungen daran beinahe unkenntlich geworden waren. Es mochte manch Jahrzehnt verflossen sein, daß es sich nicht mehr in den verrosteten Angeln bewegt hatte. Hohe, schmale, spitz zulaufende Fensteröffnungen unterbrachen das Gemäuer, waren aber jetzt bis auf kleine Luken leicht vermauert und ließen nur noch nothdürftig erkennen, daß das Gebäude einmal eine Kirche gewesen sein mochte. Diese Vermuthung wurde durch einen Maueransatz bestätigt, welcher an der Vorderseite über der hohen schwarzen Giebelwand emporstieg und als Rest und Grundbau eines Thurms erschien, der sich einst darüber erhoben hatte.
Der Agent suchte rings mit den Augen. Alles blieb dunkel und still. Es war nicht zu bemerken, daß irgend ein Mensch in der Nähe sei.
»Wie traurig«, flüsterte er vor sich hin, »wenn die Gerechten sich flüchten müssen in die Finsterniß; aber die Zeit wird kommen, wo die Fackel leuchten darf und darf das Geniste der Hornisse verzehren.«
Jetzt stand der Mann neben der Kirche an einem kleinen Stück Mauer, wo die ehemalige Einlaßpforte des Klosters gewesen zu sein schien, zu dem die Kirche gehört hatte. Sparberger klopfte leise und in kurzen Absätzen dreimal an die Thür, und mit gedämpfter Stimme ließ sich von drinnen die Frage nach dem Losungsworte vernehmen. »Ein Pilger von Jericho«, erwiderte der Wartende ebenso leise; im nächsten Augenblick öffnete sich die Pforte geräuschlos und kaum weit genug, ihn hineinschlüpfen zu lassen; dann schloß sie sich ebenso geräuschlos, als sie sich aufgethan.
Eine Weile herrschte tiefes Schweigen in dem menschenleeren Gäßchen. Nur von fern erscholl Gesang und wüstes Geschrei, irgend eine derblustige Kameradschaft mochte beim Kruge singend zusammensitzen. Nach einigen Augenblicken erhob sich hart neben dem Pförtchen ein Mann hinter einem Haufen von Bausteinen, welche dort aufgeschichtet lagen.
»Ho«, rief der Mann lachend und sich die Hände reibend, »so hat mich meine Spürnase doch richtig geführt! Hier ist also der Ort, ich kenne die Losung und auch das Klopfzeichen, dreimalig wechselnde Schläge, die ich wohl auch herausbringen werde. Es ist fast wie in Beethoven's C-Moll-Symphonie, wenn das Schicksal an die Pforte klopft. Was sollte mich nun hindern, davon Gebrauch zu machen? Ich will es sogleich!«
Damit näherte er sich dem Pförtchen und hatte bereits die Hand an den Klopfer gelegt, als er wieder innehielt. »Soll ich oder soll ich nicht?« fragte er sich selbst. »Es widerstrebt etwas in mir; meine Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit ist nicht angethan zu so krummen Wegen. Aber das ist Thorheit! Ich habe es mit einem Gegner zu thun, der kein Mittel scheut, der Minen gräbt in der löblichen Absicht, uns unvermuthet in die Luft zu sprengen. Da muß es erlaubt sein, entgegenzugraben und ihm zuvorzukommen. Und wenn die Minirer sich unter der Erde begegnen? Je nun, so gibt es eben einen Kampf, und es wird sich zeigen, wer der Stärkere ist! Hoffentlich bin ich genügend entstellt; hinter meinem kurz geschorenen Rundkopf und dem behäbigen Bauche, den ich mir umgebunden habe, wird Niemand einen Juristen und Advocaten suchen!«
Entschlossen gab er jetzt das Zeichen. Er schien es aber nicht recht getroffen zu haben, denn es erfolgte keine Antwort, und erst als er das Zeichen wiederholt hatte, ließ sich die Frage nach dem, Losungsworte vernehmen. Auf seine Antwort ging das Thürchen wie zuvor auf, und hineinschlüpfend gewahrte er einen alten Mann, der unter einem kapellenartigen Mauervorsprung auf einem Stühlchen saß, eine Laterne neben sich am Boden und einen Rosenkranz in den Händen. Obwohl genugsam verkleidet, wendete der Eintretende sich doch etwas betroffen zurück, als ihn der Pförtner von unten bis oben musterte und ihm mit der Laterne scharf in das Antlitz leuchtete. Er erkannte in dem Alten den ausgedienten Kellner eines großen Gasthofs, welchen er zu besuchen gewohnt war. Der Alte, zu andern Geschäften unfähig, pflegte daselbst am Billard Aushülfsdienste im Markiren und Ansagen zu verrichten und war also wohl in der Lage, ihn als einen beinahe täglichen Gast wiederzuerkennen. Dies geschah indessen nicht; der alte Marqueur setzte sich wieder auf seinen Lauerposten und begnügte sich, unzufrieden in sich hineinzumurmeln: »Wieder ein neues Gesicht! Sie werden so viele hereinlassen, bis wir verrathen sind und alle hinausmüssen. O Herr, sieh nicht an ihre Thorheit! Du hast selbst gesagt, daß Viele berufen sind und nur Wenige auserwählt. Gehe um der Sünden der Menge willen nicht auch mit Deinen Auserwählten ins Gericht!«
Wie eine Mauerspinne kauerte er sich wieder in seinen Winkel, die Hände mit dem Rosenkranz über den Knieen faltend, dennoch aber nicht so vertieft, daß es ihm entgangen wäre, daß der zuletzt Angekommene den Weg bis zu dem Versammlungsorte nicht gefunden hatte, sondern in dem öden Hofraume, welcher aus dem ehemaligen Friedhofe der Kirche bestand, unsicher und suchend hin und her schritt. Mit erhobener Laterne trat er wieder zu dem Fremden.
»Was sucht der Herr?« fragte er. »Der Herr hat zwar das Losungswort gewußt, aber das Zeichen war nicht ganz richtig, und wenn er mir nicht sagen kann, wohin der Weg der Pilger von Jericho geht, so gehört er da nicht herein und hat sich hereingeschwärzt!«
Der Fremde begriff, daß es um jeden Preis die richtige Antwort zu errathen galt, wenn nicht das Gelingen des ganzen Abenteuers in Frage gestellt sein sollte. Mit dem Schein der vollsten Gelassenheit blickte er daher forschend um sich und ein Lächeln der Zuversicht überflog rasch seine Züge. In geringer Entfernung, wo Ueberreste eines ehemaligen Kreuzganges stehen geblieben, war ein Kreuz mit schwarzem Stamm, und rothem Querbalken angemalt. Unweit davon schien es wie Lichtschein aus der Tiefe zu kommen, gedämpfte Stimmen wurden hörbar: dort mußte der Eingang sein und in dem angemalten Zeichen lag ohne Zweifel die geforderte Antwort.
»Die Pilger von Jericho wandern dem Kreuze zu, durch Nacht zum Morgenroth«, sagte der Fremde feierlich und schritt dem Kreuze zu, ohne sich weiter um den Pförtner zu kümmern. Er mußte die Losung zum Theil getroffen haben, denn der Pförtner eilte ihm nicht nach; als er aber an seinen Platz zurückkehrte, zeigte sein bedenkliches Kopfschütteln, daß noch immer nicht aller Verdacht gegen den unbekannten Gast geschwunden war.
Aus dem Kreuzgange führte eine Anzahl ausgetretener und verwahrloster Stufen abwärts in eine fensterlose Halle, welche einst zum Begräbnißgewölbe gedient haben mochte; in den Wänden waren reihenweise ofenähnliche Oeffnungen ausgemauert, welche zum Hineinstellen der Särge dienen sollten, andere daneben waren mit Steinplatten verschlossen, deren Inschrift bezeichnete, daß sie wirklich zur Ruhestätte irgend eines Menschen geworden waren und einen Sarg in sich verbargen. Das Gewölbe wurde in der Mitte von einer einzigen kurzen und starken Säule getragen, welche sich in mächtige Steinrippen entfaltete und mit den von den vier Ecken aufsteigenden Strebepfeilern zu wuchtigen Kreuzungen verband. Die Thierköpfe am Capitäl, sowie die sonderbare Form der gewundenen Säule ließen das hohe Alter des Raums erkennen, der einen düstern, aber feierlichen Eindruck hervorbrachte. Die grauen Wände, hier und da von den Resten alter Malereien wie von dunklen Flecken entstellt, waren dürftig durch ein paar herabhängende Ampeln erhellt. Im Chor an der Stelle des Altars stand eine Art langer Tafel, mit einigen Lichtern und Kerzen besetzt und von einer Reihe alter und zerbrechlicher Stühle umgeben, die nach Form und Stoff alten Zeiten verschwundenen Reichthums und Schmucks angehörten. An den Wänden hin waren Bänke aufgestellt, auf welchen allerlei Andächtige, Frauen sowohl wie Männer, Platz genommen hatten, theils in lebhaften, aber leisen Gesprächen, theils in schweigender Sammlung des Kommenden wartend. Es waren Leute aus den verschiedensten Ständen. Neben dem Schleiermantel, welcher das Seidenkleid der Dame völlig verhüllte, war das Kopftuch und die Schürze der Fabrikarbeiterin zu erblicken; bei der Blouse des Arbeiters und dem Kittel des Handwerkers fehlte der feine Rock des Bürgers ebenso wenig wie der Ueberwurf des Beamten. Am Tische selbst standen einige Männer, deren Haltung und Gewand nicht verkennen ließen, daß sie dem geistlichen Stande angehörten; die bedeutsamste Gestalt unter ihnen war Overbergen, dessen Stirn die Häupter um ihn wie ein höchster Felsen die Gipfel der niedrigem Berge überragte und dessen scharf spähendes Auge trotz des Dunkels den fernsten Winkel durchdrang und jede Bewegung überwachte.
Er war in eifrigem Gespräch mit einem jungen Mann begriffen, der das lange blonde Haar hinter die Ohren gescheitelt trug und die blauen Augen mit schwärmerischem Ausdruck zu ihm aufschlug.
»Meine Seele jauchzet auf«, sagte er salbungsvoll, »und mein Herz frohlockt bei Ihren Worten, mein würdigster Bruder auf dem Pfade der Dornen! Mein Gemüth ebbet wie die See nach dem Sturme! Der finstere Säemann geht umher und will Unkraut säen in den Weizen und Argwohn in die Seele; so hat er auch uns zugeflüstert, daß Ihnen nicht die Erbauung eines neuen Zions im Sinne liege, nicht die Pilgerwanderung in das Jericho der Zukunft, sondern daß Sie gedenken uns zurückzuführen in das alte Babel, in die alten Bande papistischer Ueberlieferung!«
»Mit Recht erkennen Sie hieran den Einfluß des Bösen, mein sanfter Freund und Mitpilger!« erwiderte Overbergen feierlich, mit einem frommen Lächeln um den Mund und begeistertem Aufblick nach oben. »Darum müssen wir uns eben gemeinsam waffnen mit dem Schwerte des Kämpfers und ausrüsten mit dem Auge des Wächters, auf daß wir nicht überlistet werden vom Bösen! Wer könnte so verblendet sein, daß er gedächte, das Alte wieder zurückzuführen, in dem Abend zu verharren, da ein neuer Morgen anhebt, da uns verheißen ist ein glorreiches neues Zion, dessen Herrlichkeit überragen wird Alles, was da gewesen und sein wird auf Erden! Nein, mein Bruder und Mitpilger, wir wollen nicht fragen nach dem, was da gewesen, aber uns die Hand reichen für die Zukunft und gegen einen wohlbekannten, gemeinsamen Feind!«
»Ich verstehe, mein würdiger Bruder!« erwiderte der Candidat. »Ich verstehe Sie ganz. Sie sprechen von den Gottesleugnern, von den Gemeinden, die sich frei nennen, weil sie in Wahrheit frei sind von Gott und seinem Heil! O wie gern reiche ich meine Hand zu diesem Kampfe, denn es ist ein geheiligter Kampf; die Verruchten gehören zu denen, von welchen der Herr sagt: Ihre Spur soll nicht gefunden werden unter Euch!«
Das Gespräch wurde unterbrochen, weil Overbergen sich Sparberger zuwandte, der ganz in die Nähe getreten war und mit dem sichtbaren Bestreben, sich bemerkbar zu machen, etwas wie ein Stück zusammengerollten Papiers in den Händen drehte. »Erlauben Sie«, sagte er, demüthig näher tretend, »daß ich ein Scherflein meiner Ersparnisse in Ihre mildthätige Hand niederlege mit der Bitte, es zur Fürsorge für die Waisenkinder in Abyssinien zu verwenden, für welche Sie unlängst so eindringlich gesprochen haben! Leider kann ich nicht mehr thun; wenn aber das Unternehmen, das ich heute Abend eingeleitet habe, gelingt, will ich gern geloben, das Sümmchen zu verdoppeln!«
»Nicht die Gabe ist es, was der Herr betrachtet«, erwiderte Overbergen, »sondern der Sinn. Das Gebet der verlassenen abyssinischen Waisen wird Ihnen für Ihre Gabe danken, der Engel des Herrn aber trägt diesen Dank ein in das große Zinsenbuch der Ewigkeit, das da einst wird aufgeschlagen werden am Tage der Abrechnung!«
Mit ehrerbietiger Verbeugung und frommer Augendrehung trat der Agent zurück, indem er mit Behagen bemerkte, daß den Umstehenden weder seine Gabe noch deren ansehnliches Gewicht entgangen war. Overbergen hielt die Geldrolle noch einige Augenblicke in der Hand und ließ sein Auge auf dem Schreiber Billinger haften, welcher sich in bescheidener Entfernung hielt, aber mit leichtem, bedeutsamem Nicken anzeigte, daß er etwas Wichtiges zu berichten habe. Im nächsten Augenblick standen beide unbemerkt hinter dem Altartische im fernsten Winkel des Gewölbes beisammen.
»Haben Sie das aufgetragene Geschäft vollendet?« fragte Overbergen mit einer Hast, welche mit seiner sonstigen Ruhe sehr im Gegensätze stand. »Haben Sie die Person, die ich Ihnen aufgab, ausfindig gemacht?«
Der Schreiber verneigte sich mit boshaft triumphirendem Lächeln, und das Gespräch ward so leise weiter geführt, daß es auch den allernächst Stehenden unmöglich gewesen wäre, ein Wort zu verstehen.
Der zuletzt gekommene Genosse hatte inzwischen Ort und Umgebung rasch überschaut und mit Befriedigung wahrgenommen, daß Niemand ihm besondere Aufmerksamkeit schenkte, daß er also nicht auffiel und kein Mensch daran dachte, in ihm den gefürchteten und gemiedenen Rechtsconsulenten Riedl zu erkennen. Er fand es am gerathensten, gleich vielen Andern sich den Anschein zu geben, als sei er tief in beschauliches Nachdenken versunken. Dabei konnte er ungehindert Alles wahrnehmen, was geschah, und jedes Wort belauschen, das in seiner Nähe gesprochen wurde. Unweit von seinem Standpunkte hatte sich eine fromme Gruppe, meist aus Frauen und Mädchen bestehend, um den ehemaligen Oberkammerdiener Kündig zusammengefunden, welcher aus einem Papier vorzulesen schien und dann das Gelesene wieder mit seinen Bemerkungen begleitete.
»Alle Eingeweihten«, sagte Kündig, das Heft zusammenlegend, »werden mir willkommen sein, wenn sie mich besuchen und sich überzeugen wollen, welche Gnade der Herr gewirkt hat an einem so geringen Geschöpfe, wie meine Magd, an einem einfachen, ungebildeten Landmädchen, bei welchem jeder Gedanke an Täuschung von selbst wegfällt! Die arme Person weiß gar nicht, was sie thut. Sie kann kaum nothdürftig lesen und schreiben, aber sobald ihre Hand den Psychographen berührt, scheint sie ein anderes Wesen zu sein. Sie wird von einer höhern Inspiration ergriffen und löst und beantwortet die geheimnißvollsten Fragen mit einer Leichtigkeit, als ob sie ihr Leben lang sich mit nichts Anderem befaßt hätte.«
»Es ist wunderbar«, sagte Gerichtsrath Weber, indem er seine goldene Brille abnahm und eifrig mit dem Sacktuch putzte. »Ich werde nächstens zu Ihnen kommen, Herr Oberkammerdiener, und mich erbauen an dem, was der Herr thut zur Widerlegung der Ungläubigen und zur Bekehrung der Spötter. Unbegreiflich, daß noch Niemand darauf verfallen ist, die großen Probleme der Wissenschaften, mit welchen die Gelehrten sich seit Jahrhunderten vergebens abmühen, auf diesem einfachsten Wege mit einem Male lösen und allen Widerspruch heben zu lassen! Hier wäre die Wahrheit aus bester Quelle zu schöpfen!«
»Einen solchen Versuch haben wir allerdings schon gemacht«, entgegnete Kündig in geheimnißvoll vertraulichem Tone, »obwohl gegen meinen Willen! Meiner verstorbenen Schwester Sohn, der Student, der auch zu der ungläubigen Jugend der heutigen Zeit gehört, kam auf den Gedanken, den Geist Schiller's zu rufen. Der Geist meldete sich auch sofort als gegenwärtig und erklärte sich bereit, zu antworten. Der ungläubige Student aber, um ihn und das Mädchen, das fromme. Medium, zu prüfen, gab ihm auf, ein Gedicht zu machen, wie er sie bei Lebzeiten gemacht. Wir saßen alle wie auf Kohlen lautlos um die Schreibende, in deren Antlitz sich aber keine Miene veränderte und welche mit einer Leichtigkeit, als ob sie die unbedeutendste Frage beantwortete, ein ziemlich langes Gedicht hinschrieb.«
»Nun, und das Gedicht?« fragte der Gerichtsrath in höchster Spannung.
»Allerdings«, fuhr Kündig fort, »war dasselbe denen, welche Schiller in seinem Leben gemacht, nicht sehr ähnlich. Der Student in seinem Unglauben triumphirte bereits und ließ dem Geiste eine spöttische Bemerkung darüber mittheilen; aber er verstummte und hatte kein Wort der Erwiderung mehr, nachdem er die Antwort vernommen, welche der Geist gegeben.«
»Wunderbar! Höchst wunderbar!« rief der Gerichtsrath noch dringender. »Die Antwort lautet?«
»Schiller bekannte selbst, daß das Gedicht schlecht sei, daß er aber zu seiner eigenen Demüthigung im Jenseits dazu verurtheilt sei, mit Widerstreben schlechte Gedichte zu machen; das sei die Strafe, die ihn getroffen, weil er im Leben sich mit so eitlen Dingen befaßte, anstatt mit der einzigen Frage, welche werth ist, den menschlichen Geist ernsthaft zu beschäftigen, nämlich mit der Frage, welche Religion die wahre sei.«
»Immer wunderbarer, immer unbegreiflicher!« rief Weber begeistert. »O Verblendung der Menschen, eine solche Fundgrube von Weisheit zu mißachten, wie sie hier vor ihnen aufgeschlossen liegt! Aber dieses Jahrhundert sieht nicht, so sehr es sich seiner offenen Augen rühmt! Welch ein Vortheil würde es für alle sein, welchen unberechenbaren Nutzen müßte es nur zum Beispiel für die Rechtsprechung bringen, wenn man statt der pöbelhaften Schwurgerichte, welche man jetzt auch einführen möchte, bei verwickelten Fällen zu solchen Offenbarungen seine Zuflucht nehmen könnte! Auf diese Weise müßte man die untrüglichste Antwort über Schuld und Nichtschuld eines Angeklagten erhalten können!«
Die Zuhörer schwiegen und nickten zustimmend, aber dem ebenfalls zuhörenden Riedl war das Vernommene doch etwas gar zu stark, er vermochte nicht an sich, zu halten, und ein Laut wie Lachen entschlüpfte seinem widerstrebenden Munde. Schnell hatte er sich zwar wieder gefaßt, sodaß die zunächst Befindlichen den Laut nur für einen etwas ungewöhnlichen Ausbruch besonderer Begeisterung hielten, wie sie an diesem Orte nicht selten waren und mitunter nahezu das Gepräge des Wahnsinns trugen. Der Schreiber Billinger, dessen Gespräch mit Overbergen inzwischen zu Ende und der zuhörend herbeigekommen war, war der Einzige, der sich nicht so leicht befriedigen ließ. Während seine Hände die den abyssinischen Waisen bestimmte, aber nun als Lohn an ihn übergegangene Spende des heuchlerischen Agenten in der Tasche drehten und nach dem Gewichte zu schätzen bemüht waren, ruhte sein schielendes Auge scharf und unverwandt auf dem Unbekannten. Er machte einige Schritte vorwärts und schien denselben anreden zu wollen. Das vom Tische her mit einem Glöckchen gegebene Zeichen zum Beginn der Andachtsübung, des eigentlichen Zwecks der Versammlung, unterbrach ihn.
»Ich habe den Menschen noch nie gesehen«, murmelte der Schreiber in sich hinein. »Kenne doch so ziemlich die ganze Stadt, aber eine solche Figur ist mir noch nicht vorgekommen. Ich will doch einmal den alten Markus fragen, der draußen an der Pforte sitzt.«
Ohne daß es auffiel, schob er sich langsam durch das Gedränge der Thür zu, während der junge Candidat an den Tisch trat und seine Anrede begann.
Auch Overbergen war beiseite getreten; sein Angesicht leuchtete vor Befriedigung und ließ erkennen, wie wichtig die empfangene und so reich gelohnte Nachricht für ihn sein mußte.
»Also war sie es doch«, rief er triumphirend vor sich hin, »es war, wie ich vermuthete! Es bestehen also geheime Beziehungen zwischen ihr und diesem unnahbaren Cato! Er ist auch nicht mehr als ein Mensch und hat menschliche Leidenschaften. Das ist endlich ein Faden, an dem er zu fassen sein wird!«
Der Vortrag des Candidaten hatte sehr eindringlich damit begonnen, das Leben auf dieser Erde mit einer mühevollen Pilgerfahrt zu vergleichen. Das Bild war nicht neu, aber es war anziehend durch die geheime Bedeutung, welche jeder der Anwesenden nach seinem Standpunkt und gemäß der Art seiner Auffassung damit verbinden konnte; waren sie doch alle unter dem Namen von Pilgern zur Wallfahrt nach einem gemeinsamen, geheimnißvollen Ziele versammelt! Die Einbildungskraft hatte daher ebenso viel Spielraum wie das Gemüth, und als eine ergreifende Schilderung der Beschwernisse und Gefahren des Weges folgte, als zum Kampfe aufgemuntert ward gegen die nur zu deutlich bezeichneten Feinde, als weiter der Sieg verheißen und die endliche Ueberwindung gepriesen wurde, konnte die Rührung nicht ausbleiben. Hätte der Prediger seinen Vortheil verstanden und seine Zuhörer besser gekannt, so würde er mit diesem guten Eindruck geschlossen und wohl auch eine nachhaltige Wirkung erzielt haben; das genügte ihm jedoch nicht, er wollte überzeugen, widerlegen und bekehren und verlor sich in gelehrte Auseinandersetzungen und Beweise über verschiedene Streitpunkte der einzelnen Kirchen. Darüber wurde er schwer, weitschweifig und ermüdend, und die erst so günstig angeregte Aufmerksamkeit begann sich zu verlieren. Die Köpfe der Frauen wurden zuerst unruhig und neigten sich flüsternd zu einander; die Blicke begannen sich zu erheben und fanden Zeit, in ihrer Umgebung Ort und Personen zu mustern.
Unbemerkt, wie eine Blindschleiche durch Gras und Stein gleitet, war Billinger wieder hereingekommen, hatte Overbergen beiseite genommen und ihm ein Wort zugehaucht.
»Ein Fremder unter uns?« rief Overbergen auffahrend. »Wer sollte das sein?«
»Das weiß ich nicht«, flüsterte der Schreiber, »aber der Mensch ist mir gleich aufgefallen und verdächtig vorgekommen. Auch der alte Evangelist Marcus draußen meint, er habe das Klopfzeichen nicht recht gewußt und den Weg nicht gekannt, der doch Jedem bezeichnet wird.«
»Es ist gut«, sagte Overbergen gefaßt. »Behalten Sie den Mann im Auge bis zum Schlusse der Rede! Veranlassen wir jetzt keine Störung, kein Aufsehen, keinerlei Besorgniß! Einige von den Pilgern des ersten Grades sollen sich unmerklich der Thür nähern und, wenn der Fremde hinaus will, ihn in ein unbefangenes Gespräch verwickeln und einen Augenblick festhalten! Ich werde in der Nähe sein.«
Er wollte noch mehr sagen, aber trotz der Tiefe, in welcher sich das Grabgewölbe befand, trotz seiner dicken Mauern wurde von draußen ein unheimliches Brausen immer hörbarer. Die Thür flog auf und der Pförtner stürzte athemlos herein, eine Botschaft zu überbringen, welche aber, ehe er sie noch ausgesprochen hatte, der ganzen Versammlung schon bekannt war, denn durch die geöffnete Thür drang es wie greller Feuerschein herein und das Getöse eines in der nächsten Nähe ausgebrochenen Brandes wurde hörbar. Die hervorgestotterte Botschaft sowohl als die Wahrnehmung des Feuers verfehlte auch hier die gewöhnliche Wirkung nicht. Verworrenes Rufen und Durcheinanderdrängen folgte. Jeder wollte zuerst ins Freie gelangen. Trotz aller Frömmigkeit und Brüderlichkeit kam es keinem der Pilgergenossen im Schrecken darauf an, durch einen Stoß seinen Vormann beiseite zu drängen oder auch wohl, wenn er der Schwächere war, zu Boden zu werfen und über ihn hinweg zu entkommen.
»Es brennt! Es brennt!« schrie der alte Marqueur, welcher vollständig den Kopf verloren zu haben schien. »Drüben in der Kellergasse brennt's, gegen den Jakobsplatz hin! In der Schenke zum rothen Stern, die mit der Rückseite fast bis zu uns herreicht! Wir sehen mitten ins Feuer hinein. O Wunden und Blut Christi!« heulte der alte Mann, während die Versammlung in wenigen Augenblicken die Halle verlassen und sich nach allen Seiten zerstreut hatte. »Was für ein Strafgericht verhängst Du über die Sünder! So fährt Dein Zorn nieder auf die Gottlosen! Aber uns, Deine Kinder und Pilger zu Deinem neuen Jericho, uns trägst Du an Deinem Herzen und verschonst uns!«
In dem Gedränge war Riedl unbeachtet und unangehalten entschlüpft, nicht durch das Eingangspförtchen, sondern vermöge eines Sprungs über die Planke, welche den ehemaligen Klosterfriedhof von einigen anstoßenden Gärten trennte. Er hatte noch mehrere Zäune zu übersteigen, bis er zu seiner Ueberraschung in dem kleinen Schenkgärtchen des rothen Sterns stand, unter den feuerbeschienenen Kastanien, unter welchen er am Abend des Aufruhrs mit Friedrich beisammen gesessen. Die schwarzen Giebel der Nachbarhäuser ragten in greller, wechselnder Feuerbeleuchtung in die Nacht empor; der vordere Theil des Wirthshauses brannte lichterloh. Die Flamme hatte bereits das Dach gehoben und durchbrochen, und das Gebrüll und Rufen der Löschenden mischte sich schauerlich mit dem Geprassel der Flammen, dem Knistern des frisch ergriffenen Holzes und dem Zischen der Wasserstrahlen, welche von draußen aus den Spritzen in die Glut geschleudert wurden. So groß aber auch die Menschenmenge an der Vorderseite des Hauses sein mochte, so laut sie durcheinander schrie und drängte, war es doch im Gärtchen völlig einsam, denn der enge Hausplatz war für die Spritzen nicht gangbar, und von allen andern Seiten machten Gebäude deren Annäherung unmöglich. Wohl mochte auch hier die geringere Gefahr zu befürchten sein; höchstens konnten die Kastanien vom Feuer ergriffen und verkohlt werden; das Wichtigste war immerhin, das werthvolle Vorderhaus mit seinem Inhalte zu retten und die Weiterverbreitung des Brandes nach den beiden Seiten zu verhindern.
Einen Augenblick stand Riedl in schweigender Bewunderung dem furchtbar erhabenen Schauspiele der Zerstörung gegenüber; er gewahrte darüber nicht, daß die Funken und glühenden Stücke bereits wie Regen neben ihm niederzufallen begannen und daß auch aus dem Erdgeschosse vor ihm, dessen Läden fest geschlossen waren, dicker, schwarzer Rauch hervorzuqualmen begann. Ebenso hatte er nicht bemerkt, daß in der Ecke des Gartens der Wirth zum rothen Stern, der Herr des Hauses, sich verkrochen hatte. Schrecken und Angst schienen ihn ganz verwirrt gemacht zu haben, sodaß er, mehr einem Todten als einem Lebenden gleich, unverständliche Laute murmelnd, an allen Gliedern zitterte und mit den Zähnen an einander schlug; er schien den Gedanken, etwas von seinem Eigenthume zu retten, gar nicht zu fassen, sondern sah es in vollständiger Verwirrung und Stumpfheit untergehen. Der immer näher dringende ängstliche Ruf einer starken Männerstimme schreckte ihn aus diesem Zustande der Betäubung empor; wie sich besinnend sprang er auf und war plötzlich ganz verändert anzuschauen, indem er fest auf den Füßen stand und mit Oberkörper und Armen sich vorbeugte, als erwarte er Jemand, mit welchem es gelte, einen furchtbaren, tödtlichen Kampf zu beginnen. Ebenso schnell aber besann er sich wieder eines Andern, und als die Stimme des Rufenden schon ganz nahe war, hielt er es für geeigneter, die drohende Stellung wieder aufzugeben und die eines Verzweifelnden anzunehmen, indem er in ein ebenso lautes Jammergeschrei ausbrach, als er vorhin stumpf und blöde geschienen.
In diesem Augenblick stürzte Huber, der Schlossergeselle, mit dem wüthenden Angstschrei: »Marie, Marie, wo bist Du?« durch den Hausgang hervor. »Wo ist Marie?« kreischte er noch lauter, als er den Wirth gewahrte, stürzte auf ihn los und hielt ihn am Halse gefaßt, daß dieser sich wimmernd unter seinen Händen wand.
»Weiß es nicht«, stöhnte er. »Ach, Du großer Gott, wie soll ich es wissen? In der Angst, über dem Schrecken hab' ich Alles vergessen. Ich bin des Todes! Ich bin ein geschlagener Mann! Ach mein schönes Haus, mein schönes Haus!«
»Ich erwürge Dich, Kerl«, schrie der Geselle außer sich, »wenn Du nicht sagst, wo das Mädchen sich befindet!«
»Was weiß ich«, jammerte der Wirth wieder. »Hab' sie nicht gesehen und auch nicht nach ihr gefragt. Sie wird wohl in ihrer Kammer sein.«
»In ihrer Kammer?« schrie Huber im Tone des höchsten Entsetzens. »Mitten in dem brennenden Hause? Dort unter dem brennenden Dache, das jeden Augenblick einstürzen und sie verschütten kann? Das weißt Du und sagst es nicht? Das weißt Du und stehst hier und heulst und rührst Dich nicht und läßt das Mädchen, dem Du Vater sein solltest, verbrennen? Hund von einem Menschen! Du selbst hast das Feuer angezündet, Niemand als Du, Mordbrenner! Aber es soll Dir nicht glücken. Ich will sie retten oder mit ihr zu Grunde gehen.«
Er verschwand im Hausgang, aus welchem der Rauch immer dichter hervorquoll und verkündete, daß der Brand bereits die untern Gelasse des Hauses zu ergreifen begonnen hatte. Inzwischen waren auch andere Leute durch die Gärten her über die Zäune gekommen, Planken krachten nieder und mit riesigen Feuerhaken eilte man herbei, um das Gebälk zum Falle zu bringen, damit es nicht nach außen stürzend noch größeres Unheil verbreite.
»Haltet ein!« rief Riedl den Arbeitern zu. »Es ist ja noch ein Mensch im Hause, dort oben in der Kammer unter dem Dache.«
»Dann sei Gott mit dem Armen!« sagte der Anführer der Löschenden. »Der kommt nicht mehr heraus! Wenn wir auch nichts thun, stürzt das Dach doch in der nächsten Sekunde von selber ein und erschlägt ihn.«
Ein Augenblick angstvollen Schweigens und Erwartens trat ein. Man hörte nichts als das Prasseln des Feuers. Da wurde im Gange Huber's Gestalt sichtbar; selber wankend und kaum fähig, sich aufrecht zu erhalten, hielt er die bewußtlose Marie in den Armen. Ein Freudenschrei der ganzen Menge begrüßte ihn, man eilte ihm entgegen, nahm ihm die Gerettete ab und brachte sie beiseite. Im nämlichen Augenblicke neigten sich die Balken und stürzten mit Donnergepolter in sich zusammen, indem sie Decken und Gewölbe der untern Stockwerke durchschlugen, daß Glut und Funken wie ein feuriger Springbrunnen, eine brennende Garbe in den Nachthimmel emporstiegen.
»Verfluchter Kerl!« knirschte der Wirth, welchen im allgemeinen Tumult Niemand beachtet hatte. »Nur noch ein paar Minuten und es wäre zu spät gewesen!«
Dann stürzte er mit lautem Aufschrei neben dem geretteten Mädchen auf den Boden nieder und hob wie betend die Hände in die Höhe. »Gott sei Lob und Dank«, schrie er, »weil ich nur Dich wiederhabe! Mag mein ganzes Hans in Rauch aufgehen, weil mir nur dies entsetzliche Unglück erspart ist! Meine gute, liebe Tochter ist gerettet! Mag jetzt, wenn es sein muß, Alles in Grund und Boden niederbrennen, jetzt will ich gern betteln gehen!«