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Erstes Kapitel.
Dunkle Wege

In der Schenke zum rothen Stern herrschte lautes, fröhliches Treiben. Die große, niedrige Gaststube summte und brauste wie ein Bienenkorb und die kargen Unschlittkerzen auf den Tischen, welche röthlich durch den dichten Tabaksqualm brannten, ließen erkennen, daß alle Plätze gedrängt besetzt waren. Es waren lauter Leute aus den untern Ständen, Arbeiter verschiedenen Schlags, gewohnt, sich hier bei starkem Bier und derber Kost von schwerer Arbeit zu erholen. An diesem Abend aber floß das schäumende Getränk reichlicher, als es sonst die schmalen Einnahmen gestatteten; die Zeit, bis zu welcher sonst die Erholung zu dauern pflegte, war schon lange überschritten und auch die Unterhaltung war eine viel lebhaftere und bewegtere als gewöhnlich. Dafür war es auch ein allgemeines Freudenfest, das gefeiert wurde, und die ergiebigste Quelle der Heiterkeit in diesen Kreisen, die Quelle aus dem Fasse, floß heute unentgeltlich.

Die erste Regierungshandlung des neuen Herzogs war die Abschaffung der verhaßten und so verhängnißvoll gewordenen Verbrauchssteuer gewesen. Diese Maßregel hatte ebenso großen Jubel hervorgerufen, als der Unwille über die Belastung der täglichen Bedürfnisse ein tiefer, und allgemeiner gewesen war. Um diesem Jubel einen öffentlichen, gewissermaßen amtlichen Ausdruck zu geben, hatte die Verwaltung der Hauptstadt beschlossen, an einem bestimmten Tage an mehreren Orten unentgeltlich Speisen und Getränke verabfolgen zu lassen, was mindestens ebenso große Befriedigung hervorbrachte. Der rothe Stern war ebenfalls zu einem solchen Spendeplatze ausersehen worden, daher der so vollzählige und andauernde Besuch, daher das unermüdliche Klopfen mit den Deckeln der geleerten Krüge, welche von einer Anzahl stämmiger Weibspersonen mit gleicher Unermüdlichkeit gefüllt wurden. Daher endlich auch die Anwesenheit einer kleinen Musikbande, die, in einer Stubenecke zusammengedrängt, Clarinette und Baß, Trompete und Harfe wetteifern ließ, die steigende allgemeine Lustigkeit zu erhalten und zu erhöhen. Beliebte Tänze, von dem gellenden Jauchzen und Pfeifen der Versammlung accompagnirt, wechselten mit Volksliedern, deren Melodie der rauhe Chorus mitzusingen nicht unterließ.

Jetzt wetterten mit einem Male all die verschiedenen Töne in einen greulichen Tusch zusammen. Es war ein Hoch auf den neuen Herzog ausgebracht worden, das nun dreimal nach einander die Stube durchdröhnte.

»Ei, so schreit Euch die Kehle ab!« brummte eine rußige Figur, die an einem Seitentischchen saß und in einem tüchtigen Trunke das erstickte, was sie noch sagen zu wollen schien. Es war der schwarze Huber. Neben ihm saß Hahn und etwas seitwärts der Dreher Gerbel. Mit dem Rücken gegen sie hatte ein großer, ziemlich bejahrter Mann in einem dunklen, sehr abgetragenen Rocke Platz genommen.

»Brummst Du schon wieder?« fragte Hahn, dem Huber's Ausruf nicht entgangen war, diesen halbleise. »Du bist niemals zufrieden. Haben wir nicht, was wir wollten?«

»Ja«, murrte der Schlosser entgegen, »aber auf wie lange! Morgen kann's dem neuen Herzog einfallen, und er legt uns die Steuer, die er uns heute abnimmt, doppelt wieder auf. Was ist's dann? Dann heißt's kuschen oder von vorn anfangen, und das ist nicht leicht, denn jetzt sind sie droben gewitzigt, jetzt werden sie sich vorsehen. Es taugt nichts, sag' ich Dir! Solang wir mit uns thun lassen müssen, was man eben will, solang man uns auf- und abpackt wie Lastthiere, so lang taugt Alles nichts! Und wir waren so schön im Zuge!«

Der Redende war in seinem Eifer etwas lauter geworden, sodaß sich mehrere Gäste nach ihm umblickten. Er bemerkte es wohl, allein es kümmerte ihn nicht. Er schien sogar nicht übel Lust zu haben, noch mehr zu sagen, als er bemerkte, daß auch der Schreiber Billinger unter den sich Umsehenden war. Huber glaubte zu bemerken, daß derselbe sich Mühe gab, seine Reden zu behorchen. »Was will der Angeber hier?« rief er laut hinüber, indeß der Getroffene sich umwandte und mit einem Nachbar weiter sprach, als ob ihn der Zuruf nichts anginge. »Wie kommt der schlechte Kerl unter die ehrlichen Leute? Will er horchen und sich für unsere Reden den Angeberlohn zahlen lassen? Ich will ihm etwas auf Abschlag voraus geben –«

Huber wollte sich erheben, wurde aber von Hahn zurückgehalten. Zugleich trat Gerbel zu ihm und legte ihm begütigend die Hand auf die Schulter. »Laßt den Menschen in Ruhe«, sagte er. »Man kennt ihn, und fürs Andere ist die Zeit der Unruhe auch wieder vorbei. Jetzt heißt's wieder Friede halten und sich unter einander vertragen!«

»Ich dank' Ihnen für die gute Meinung, Herr Gerbel«, erwiderte Huber etwas besänftigt. »Ich kenn' Sie recht gut, und es ist schön von Ihnen, daß Sie nicht zu stolz sich, sich da unter uns gemeine Leut' hereinzusetzen und mit uns lustig zu sein. Ich will Ihnen folgen, weil ich weiß, daß Sie ein Mann sind, der den Arbeiter auch was will gelten lassen. Der Schreiber kann sich bei Ihnen bedanken, der wär' mir grad' recht gekommen, um meinen Zorn an ihm auszulassen –«

»Laßt Euern Zorn, mein Freund«, antwortete Gerbel. »Ich habe vorhin wohl gehört, was Ihr sagtet, und weiß, was Ihr meint. Darüber aber seid außer Sorgen. Es soll und wird Alles bleiben, wie es ist: es soll nichts mehr zurückgehen, darauf könnt Ihr Euch verlassen! Vorwärts soll's gehen! Wir werden die herrlichsten Freiheiten und Privilegien bekommen. Die Erlassung der Steuer ist nur das Vorspiel. Haben wir nicht schon die allgemeine Amnestie erhalten? Da, mein Freund, stoßt an und trinkt mit mir auf die neue Zeit! Der neue Herzog und sein neuer Minister werden uns noch vieles Gute erleben lassen!«

Sie stießen an und tranken. Während Gerbel mit leichtem Gruße sich entfernte, fing Hahn ihm nachblickend an: »Ein braver Mann das, aber sag' einmal, wie ist es mit der allgemeinen – ich kann das Wort nicht sagen – von der er redete? Ist's wirklich so, daß Keinem etwas geschehen soll wegen Allem, was er in den letzten Tagen bei dem Rummel gethan hat?«

»Gewiß, so ist's, wenn einer nicht etwa gebrannt oder gestohlen hat.«

»Ich glaub's doch nicht recht. Wenn's so wäre, warum ist der alte Windreuter, der listige Fuchs, seit den Tagen verschwunden?«

»Frag' lang, was der Alte thut. Weißt Du nicht, was er für ein sonderbarer Kauz ist? Wer weiß, wo er steckt! Heißt es doch auch, der Herr Riedl sei fortgereist, der dem Alten gleich nach dem Herrgott kommt. Wie ist's, Sternwirth«, unterbrach sich Huber hier und reichte dem Wirthe, der an den Tisch getreten war, den Krug zur Füllung, »kriegt man heut gar kein anderes Gesicht zu sehen? Wo steckt denn die Marie?«

Der Wirth, eine hagere Gestalt mit blassem Gesicht und einem Paar grauer, stechender Katzenaugen, machte eine süßlich schmerzhafte Grimasse und entgegnete: »Ach das arme Kind! Sie hat halt ihre Zustände wieder! Sie kann nicht unter die Leut'!«

Diese Worte wurden mit so sanfter, einschmeichelnder Stimme gesprochen, daß, wer sie nur hörte, darin den Ausdruck tiefen, herzlichen Bedauerns erkennen mußte; wer aber den offenbar feindseligen, giftigen Blick sah, welcher unter den niedergeschlagenen Augenlidern hervor auf den Schlosser hinüberzuckte, dem war es klar, daß hinter der glatten Schale kein milder Kern zu hoffen war.

Huber schien das zu wissen. Er schwieg und sah wie nachdenkend vor sich hin. Auch wurde seine Aufmerksamkeit gerade von einem andern Gegenstande in Anspruch genommen. Dies war der große alte Mann im schäbigen Rocke, der bisher den Redenden den Rücken Zugekehrt hatte. Jetzt, bei Annäherung des Wirths, hatte er sich etwas seitwärts gegen diesen gewendet, sodaß ein Theil des Gesichts wahrnehmbar geworden war. Forschend schielte der Schlosser nach dem Fremden hinüber, der ihm bekannt vorkam, und so entging ihm nicht, daß der Wirth, der sich unbeachtet glaubte, dem Manne leicht mit den Augen zuwinkte. Dieser erwiderte ebenso unmerklich den Wink und wendete sich wieder zu seinem Kruge. Einige Sekunden später trank er aus, erhob sich völlig unbefangen und schritt gemächlich zur Stubenthür hinaus. Huber's gespannte Aufmerksamkeit war mit jeder Bewegung des Fremden gewachsen.

»Bruder«, flüsterte er Hahn zu, als er die Vorbereitungen zum Weggehen wahrnahm, »wenn Du mich lieb hast, so geh' dem schwarzen Kerl nach und laß ihn nicht aus den Augen.«

»Was hast Du denn? Wer ist's denn?« fragte Hahn, aber Huber drängte ihn fort. »Frag' nicht«, flüsterte er, »ich muß wissen, wohin er geht. Nachher sag' ich Dir Alles.«

Ohne weitere Einrede hatte sich Hahn ruhig erhoben und trat nun wie zufällig und mit dem Fremden fast gleichzeitig in den düster beleuchteten Hausgang.

Huber schien äußerlich weder die Entfernung seines Kameraden, noch nach wenigen Augenblicken dessen Zurückkunft zu beachten.

»Nun?« fragte er dann mit gedämpfter Stimme, als dieser seinen Platz wieder eingenommen hatte.

»Sonderbar«, erwiderte Hahn ebenso. »Der Kerl ist nicht aus dem Hause fort –«

»Dacht' ich es doch! Wo ist er hin?«

»Erst ging er richtig durchs Hausthor auf die Straße hinaus, ich wollt' ihm eben folgen, als er wieder zurückkam. Ich hatte knapp Zeit, mich in eine Ecke zu drücken. Er bemerkte mich nicht und schlich an mir vorüber den Gang hinunter und verschwand in einer Thür –«

»Die Küchenthür!« murrte Huber. »Es ist sonst keine da, ich kenne das ganze Haus, als wenn ich's gebaut hätte!«

»Sag' mir nur aber, was das bedeutet?« fragte Hahn neugierig. »Kennst Du denn den Menschen?«

»Nein«, entgegnete Huber, »und doch kommt er mir bekannt vor. Ich hab' Dir erzählt, wie neulich ein Mensch, der wie ein abgedankter Offizier aussah, an mich herankam und mich ausholen wollte, ob ich ihm wohl ein paar Schlüssel nachmachen wollte. Mir kam's verdächtig vor, denn er bot mir eine Bezahlung, wie man sie für was Ehrliches nicht bietet. Er mochte auch merken, daß er bei mir an den Unrechten gekommen war, drum brach er auf einmal ab und war verschwunden, eh' ich mich recht besann. Dem Offizier sieht der Bursche aufs Haar ähnlich und ich möchte wetten –«

»Was kann er aber hier wollen?« meinte Hahn. »Wenn's einer ist, der mit falschen Schlüsseln hantiert, ist er am unrechten Ort, im rothen Stern wird nicht viel zu haben sein.«

»Das verstehst Du nicht«, antwortete Huber. »Aber ich muß wissen, was da im Hause geschieht. Ich hab's gleich' gesehen, der Schuft von Wirth ist mit einverstanden. Da kommt er gerade. Laß Dir nichts merken und frag' ihn, wer der Mensch sei.«

Der Wirth trat hinzu und stellte den gefüllten Krug mit dem üblichen Gruße vor die Beiden hin. »Das wird wohl der letzte sein«, fügte er dann mit seinem widerwärtig freundlichen Grinsen hinzu, »das Freibier geht auf die Neige.«

»Ist auch grade genug«, sagte Huber, ohne den Wirth anzusehen. »Wie viel von dem Freibier ist wohl in Euern Keller spaziert, Sternwirth?«

Dieser wollte etwas erwidern, allein Hahn unterbrach ihn lachend, indem er rief: »Gebt's ihm nicht an, Sternwirth! Ihr wißt ja, er kann das Necken und Sticheln nicht lassen. Sagt mir lieber, wer der alte Mensch war, der vorhin da vor uns saß und uns mit seinem Rücken das halbe Zimmer verdeckte?«

Rasch fielen die Augen des Wirths stechend auf den Frager, während er mit seinem gewöhnlichen Grinsen fortfuhr: »Ihr meint den mit dem kahlen Kopfe und dem schwarzen schäbigen Rocke? Das ist ein armer Teufel, aber ein grundgelehrter und gar gottesfürchtiger Mensch. Ich weiß nicht einmal, wie er heißt. Er hat einmal wollen Prediger werden, dann hat er aber in den Krieg gemußt und muß sich nun in seinen alten Tagen als Informator kümmerlich durchbringen. Er holt sich manchmal einen Brocken in der Küche und hat sich wohl auch an dem Freibier erlustiren wollen.«

Hier wurde der Wirth abgerufen.

»Ei, so lüg' du scheinheiliger Schuft«, brummte ihm Huber ärgerlich nach. »Aber ich werde ja bald wissen, was du für ein Schelmenstück ausheckst.«

Eine Weile flüsterten die Beiden noch zusammen, dann verließen sie die Stube.

In der Küche des rothen Sterns hatte sich inzwischen eine ganz verschiedene Gruppe gebildet. War es draußen lärmend und hell, so herrschte hier die vollständigste Dämmerung und lautloseste Stille. Der Raum lag so einsam und abgesondert im Hintergebäude, daß der Lärm der Zechstube nur manchmal, wenn sich eine Thür öffnete, gedämpft und fern herüberdrang. Das Feuer auf dem breiten, rothgepflasterten Herde war bis zu einer schwachen Glut erloschen, deren Widerschein nur gerade hinreichte, die völlig schwarzgeräucherten Wände, sowie den mächtigen Rauchfang erkennen zu lassen, der sich darüber hinstreckte. In der dunkelsten Ecke des Herdes saß Marie, die Tochter des Wirths; sie schien zu schlafen, und die erdig fahlen, schlaffen Züge ihres Gesichts hatten in der schwachen röthlichen Beleuchtung ein vollkommen leichenhaftes Aussehen.

In der entgegengesetzten dunkelsten Ecke des Gemachs standen drei Männer in leisem, eifrigem Gespräch beisammen. Zwei von ihnen waren abgerissene, völlig Verkommene Erscheinungen und schienen den dritten – es war der schwarze Fremde aus der Zechstube – trotz aller Vertraulichkeit mit einer Art scheuen Respekts zu behandeln.

»Ihr habt doch gethan, was ich befahl?« fragte der Fremde jetzt leise.

»Aufs Haar«, flüsterte der eine entgegen. »Es war Alles genau so, wie Sie's uns beschrieben hatten. Rechts die Tapetenthür, links der Schreibtisch, in der Mitte die geheime Nische mit dem Kästchen.«

»Nun, und Ihr habt die Papiere? Wo sind sie?«

»Ich habe sie hier in mein Rockfutter eingenäht«, erwiderte der Gauner wieder, »aber erst rücken Sie mit der Bezahlung heraus.«

»Die sollt Ihr haben, augenblicklich und unverkürzt. Aber wie ist's, habt Ihr auch, damit man nur an einen gewöhnlichen Diebstahl denkt, sonstige Dinge von Werth mitgenommen?«

»Allerdings. Es hing da eine goldene Taschenuhr, die pickte so einladend, daß ich ihr nicht zu widerstehen vermochte.«

»Her damit, Ihr kennt die Abrede.«

»Aber –«

»Keine Einwendung! Diese Dinge müssen alle in meine Hände kommen. Euch nützen sie nichts und würden nur die Späher des Gerichts auf Eure Spur leiten. Ich ersetze Euch den Werth. Was gilt die Uhr?«

»Unter fünf Karolin könnt' ich sie meinem Bruder nicht ablassen.«

»Du sollst sie haben. Was habt Ihr noch?«

»Nicht mehr viel. Diesen Siegelring da! Pures Gold, Herr! Weil Sie es sind, sollen Sie ihn um den gleichen Preis haben, und dies Medaillon geb' ich in den Kauf. Es ist mir im Heraussteigen wider Willen an der Hand kleben geblieben.«

»Abgemacht! Legt Alles dort auf dem Fenstersimse zusammen; ich mache das Geld zurecht. Nun laßt mich aber die Papiere sehen, ob Ihr auch die rechten bekommen habt.«

Der Fremde erhielt einen Pack Papiere, womit er prüfend an die Herdglut trat und sie durchflog. »Alles in Ordnung«, sagte er dann mit zufriedenem Tone. »Hier ist Euer Lohn. Es wird wohl etwas drüber sein. Seid klug! Wenn Ihr Unangenehmes erlebtet, wär's nur Eure eigene Schuld.« Damit zog er an einer Schnur, die am Herd von der Decke herabhing wie ein Glockenzug. Keine Klingel antwortete, gleichwohl ging beinahe unmittelbar darnach eine Thür auf und ließ den Wirth ein, der auf einen Wink des Fremden die beiden Männer in den Hausgang hinausführte. Kein Schritt wurde hörbar, es war, als ob Schatten durch das Dunkel glitten.

Der Wirth kam bald zurück. »Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Moser«, empfing ihn der Fremde. »Ich bin mit Ihnen zufrieden; rechnen Sie auf meinen besten Dank.«

»Das macht mich unendlich glücklich«, antwortete der Wirth mit frommer Augendrehung, indem er die Hände über der Brust faltete. »Ich bin ein schwaches Werkzeug – welche Freude, wenn ich dazu ausersehen bin, beizutragen zur Verherrlichung des Herrn!«

»Das sollen Sie. Wenn ich Ihnen einmal Alles sagen darf, werden Sie einsehen, daß Alles mit unserm großen Plane zusammenhängt und daß zu diesem Zweck auch solche Mittel wohl erlaubt sind.«

»Ich zweifle nicht«, entgegnete salbungsvoll der Wirth, »auch verlange ich nicht zu sehen! Selig sind, die da nicht sehen und doch glauben!«

»Und wie ist es mit dem jungen Manne, von dem Sie mir sagten? Ist er zu brauchen und haben Sie ihn vorbereitet?«

»Das will ich meinen. Soll ich ihn rufen? Er ist in der Nähe.«

Auf einen beistimmenden Wink des Fremden verschwand der Wirth und kam bald mit Billinger an der Hand wieder.

»Man hat Sie mir als ein fähiges Subject bezeichnet«, redete der Fremde den Staunenden an, nachdem er ihn einen Augenblick durchdringend betrachtet hatte. »Haben Sie Lust, in die Dienste zu treten, die ich Ihnen anbiete?«

»Ich weiß nicht, was man von mir verlangen wird«, erwiderte Billinger achselzuckend.

»Darüber machen Sie sich kein Bedenken. Es sind nur zwei Bedingungen, die zu halten Sie sich vorher verpflichten müssen. Sie führen jeden Auftrag, der Ihnen zu Theil wird, ohne zu fragen, blind gehorsam aus und forschen nie darnach, von wem der Auftrag kommt. Wollen Sie das? Die Belohnung ist reicher, als Sie denken.«

»Ich bin bereit«, erwiderte Billinger.

»So wollen wir einen Versuch machen. – Nehmen Sie Ihr Handgeld«, sagte der Fremde, indem er eine volle Börse in Billinger's Hand drückte. »Kennen Sie den ehemaligen Professor Führer, den neuen Minister des jetzigen Herzogs?«

Der Gefragte bejahte hastig und mit flammenden Blick.

»Es liegt Jemand ungemein daran, zu wissen«, fuhr der erstere fort, »wo sich der Minister in der Nacht des Aufruhrs befand und wer mit ihm sprach. In acht Tagen erwarte ich von Ihnen genauen Aufschluß.«

Billinger verneigte sich und ward vom Wirthe weggeführt. Auch der Fremde wollte sich entfernen, als ein Geräusch im Kamin wie von herabfallenden Steinen ihn anhalten und horchen ließ. »Was ist das?« fragte er.

»O nichts«, entgegnete der Wirth, »höchstens eine Fledermaus, die sich verflogen hat. Will gleich nachsehen.«

Während der Fremde ging, machte der Wirth Licht an und leuchtete damit leicht in den Rauchfang hinein. Alles war ruhig und nichts zu bemerken. Dagegen nahm er beim Scheine der Kerze das Mädchen in der Ecke wahr. Bei ihrem Anblick hielt er an und sein Auge ruhte eine Sekunde lang mit einem Ausdruck auf ihr, von dem schwer zu entscheiden gewesen wäre, ob darin Haß oder Wohlwollen die Oberhand hatte. Dann trat er vor das Mädchen hin, schüttelte sie etwas unsanft an den Schultern und rief: »Fort, in Deine Kammer, es ist Zeit! Willst Du die Nacht hier zubringen?«

Marie schien wie aus einem tiefen Traume zu erwachen und nicht gleich zu wissen, was mit ihr vorging. In der nächsten Sekunde jedoch hatte sie den vor ihr Stehenden erkannt und stieß ihn nun mit einem wilden Aufschrei von sich, daß der nicht schwächliche Mann taumelte und sich anhalten mußte. »Zurück von mir, Sternwirth«, schrie sie, »zurück, Deine Augen sind giftig – zurück!«

»Was unterstehst Du Dich, Canaille?« rief Moser wuthbebend. »Du legst Hand an mich und tractirst mich wieder als Sternwirth? Wart', ich will Dich fühlen lassen, daß ich Dein Stiefvater bin.«

Damit ergriff er einen starken Prügel unter dem Herde und wollte auf Marie los, die vorgebeugt in die Kniee gesunken war, als erwarte sie geduldig die gedrohte Mißhandlung. Dabei starrte sie unbeweglich in eine Ecke und murmelte wie geistesabwesend unzusammenhängend vor sich hin.

»Bist Du da, Mutter? Schön, daß Du da bist, nun wird der Sternwirth Deine Tochter nicht schlagen, Du leidest es nicht. Da stehst Du in der Ecke mit dem blutigen Streif an der Stirn. Ja, droh' ihm nur. O Mutter, meine liebe, gute –«

Der Rest verlor sich in völlig unverständliches Geflüster.

Schon bei den ersten Worten hatte Moser inne gehalten, dann trat er einen Schritt zurück und ließ den Prügel fallen; als aber das Mädchen mit starr vorgestreckten Armen in die Ecke zeigte, wo sie die Mutter zu sehen vermeinte, da sträubte sich ihm das Haar, klirrend ließ er den Leuchter aus der bebenden Hand fallen und stürzte hinaus. »Warte nur, du Schandbalg«, schalt er vor der Thür vor sich hin, »die Zeit wird ja auch noch kommen, dich los zu werden.«

Die weggeworfene Kerze erlosch qualmend, tief dunkel war es in der Küche, auch die Herdglut war beinahe ganz in Asche erstorben, kein Laut regte sich als der Athemzug Mariens, die bald wieder völlig gleichgültig ihren alten Platz eingenommen hatte.

Nach geraumer Zeit tönte der leise, vorsichtig angehaltene Ruf »Marie!« durch die Stille. Marie hob die müden Augen, da sie aber Niemand erblickte, schloß sie dieselben wieder.

»Marie«, rief es von neuem, »erschrick nicht. Ich bin hier oben im Kamin. Der Martin ist's.«

Während das Mädchen sich halb erhob und nach dem Kamine hinsah, schwang sich ein Mann aus demselben auf den Herd herunter und stand bald vor der Ueberraschten. Es war Huber, von der abenteuerlichen Fahrt mit Ruß bedeckt.

»Wie kommst Du nur hierher?« fragte Marie. »Und was willst Du hier? Wenn Dich der Wirth sähe!«

»Er wird mich nicht sehen«, erwiderte Huber. »Du kamst den ganzen Abend nicht in die Stube. Da litt's mich nicht mehr, ich mußte sehen, wo Du wärest und ob er Dir nichts zu Leide gethan.«

Das Mädchen sah den Burschen einen Augenblick schweigend an, über ihr todtenhaftes Antlitz flog etwas wie erwärmende Bewegung und die Augen schimmerten in einem Lichte, dessen Ausdruck um so mächtiger wirkte, je ungewohnter er war.

»Ich dank' Dir, Du guter Mensch«, sagte sie, indem sie Huber's Hand ergriff und drückte. »Du bist der Einzige, der sich um mich kümmert. Aber der Wirth hat mir nichts zu Leid gethan. Es gab nur so viel in der Küche zu thun, daß ich da bleiben mußt', und dann –«

Nach einer Pause antwortete Huber: »Ich hab' Alles mit angehört, ich sitze schon eine gute Weile droben im Rauchfang. Sag' mir nur, wer ist der fremde Mann und was geht bei Euch vor?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Marie trübselig, »und will's auch nicht wissen. Ich kann nichts thun, als daß ich nicht hinhör'; so hab' ich keinen Theil an dem, was ich einmal nicht ändern kann.«

»Wohl könntest Du's ändern, Marie«, begann Huber etwas verschüchtert, »wenn Du mir folgtest, wenn Du aus dem Haus fortgingst, wo doch nichts Gutes daheim ist.«

»Ich darf nicht fort aus dem Haus«, flüsterte Marie wie für sich hin, »die Mutter läßt mich nicht – und dann, wo soll ich draußen hin in der weiten Welt?«

»Bin ich nicht da?« rief Huber und sein ganzes Wesen, jeder Ton, jede Bewegung zeugte von so tiefer und zarter Theilnahme, daß man Mühe gehabt hätte, den kräftigen, rohen Burschen zu erkennen, als der er sonst erschien. »Glaubst Du, ich würde Dich verlassen? Geh' mit mir«, fuhr er nach einem kleinen Innehalten fort. »Ich hab' nicht viel, aber was ich verdien', wird für mich und Dich und wohl noch weiter ausreichen, wenn Du mit mir gingst, als mein Weib.«

Er schwieg und schien eine Antwort zu erwarten. Marie sah vor sich hin, das Gesicht war starr wie immer, aber ein fieberhaftes Beben des ganzen Körpers zeigte, daß sie das Gesprochene nicht gleichgültig anhörte.

Mühsam preßte sie endlich die Worte heraus: »Ich dank' Dir, Martin, aber ich kann halt nicht. Du bist ein ehrlicher Mensch, was wolltest Du Dein Herz in die Lache werfen und Dir ein Laster auf den Hals binden, wie ich eins bin.«

»Red' nicht so, Marie«, antwortete Huber beinahe schluchzend, »ich vertrag's nicht. Du bist brav und gut und für Dein Unglück kannst Du nicht.«

»Wer sagt Dir das so gewiß, Martin?«

»Ich selber sag's und sag's vor aller Welt! Es. kennt Dich ja Niemand so gut wie ich, seit Deine Mutter todt ist. Bin ich nicht mit Dir aufgewachsen? Haben wir nicht als Kinder schon immer mit einander gespielt und hab' ich Dich nicht lieb gehabt wie mein Leben, seit ich nur denken kann? O geh', laß Dich bereden, geh' mit mir, fort aus dem unglücklichen Haus.«

Des Burschen Stimme war weich und dringend geworden, er hatte den einen Arm sanft um Mariens Hüfte gelegt, als wollte er sie fortziehen. Sie zuckte unter der Berührung, aber sie wehrte sich nicht, sie erwiderte nichts, sondern sah starr mit halb gewendetem Kopfe nach der Seite hin. Es war, als horche sie mit Anstrengung auf eine nur ihr vernehmbare Stimme, als hinge ihr Auge gebannt an einer nur ihr sichtbaren Gestalt.

Dann schüttelte sie traurig den Kopf und murmelte vor sich hin: »Ich darf nicht – ich muß in dem Haus bleiben – die Mutter will's. Da ist sie wieder, mit dem blutigen Streif an der Stirn – das Blut rinnt davon nieder – sie will nicht, daß ich gehe.«

Mit einem schwachen Schrei sank sie in den Stuhl zurück, aus dem sie sich halb erhoben hatte, und saß nun wieder in dein traumhaften Zustande der Erstarrung da, der sie so oft überkam.

Vergebens waren alle Schmeichelworte und Liebkosungen, die Huber an die Leblose verwendete, sie hörte nicht, sie fühlte nicht. Mechanisch störte er in die Glut auf dem Herde, daß die Aschendecke davon abfiel und ein hellerer Schein das blasse Angesicht des Mädchens traf. Lange sah er sie so, in halb knieender, halb vorgebeugter Stellung, mit Blicken an, in denen die zärtlichste Neigung sich mit dem tiefsten Jammer verschmolz. Dann stieg er auf den Herd und war im nächsten Augenblick im Rauchfang verschwunden.

Marie bemerkte seine Entfernung nicht. Es war ungewiß, ob die Erstarrung fortdauere oder ob, vielleicht von dem Geiste der Mutter herbeigerufen, der Schlummerengel seine Fittige über das schwer gemarterte Herz gebreitet hatte.


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