Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher wurde am 21. November 1768 in Breslau geboren; fünf Jahre nach Beendigung des siebenjährigen Krieges, der Schlesien für immer mit der preussischen Monarchie vereinigte. Sein Vater war Prediger und Sohn eines Predigers, seine Mutter Tochter des Hofpredigers Stubenrauch. Den ersten Unterricht erhielt Schl. in der Friedrichsschule zu Breslau; später in Pless, wohin sein Vater in Folge des baierischen Erbfolgekrieges sich gewendet hatte. Schon dem eilfjährigen Knaben kostete es schlaflose Nächte, »dass er zwischen den Leiden Christi und den Strafen der Menschen für ihre Sünden kein beruhigendes Facit finden konnte.«
Mit 14 Jahren kam Schl. in die Erziehungsanstalt der Brüdergemeinde zu Niesky in der Lausitz; nach drittehalb Jahren von dort in das Seminar zu Barby, der gelehrten Bildungsanstalt der Herrenhuter; Ostern 1787 ging er von dort zur Universität nach Halle. Die Erziehung Schl.'s in den beiden Herrenhuter Anstalten ist von den nachhaltigsten Folgen für ihn gewesen; seine Neigung zur gefühlsreichen Frömmigkeit und der Anklang an das Mystische in seinem Wesen fand in Niesky reichliche Nahrung; erst in Barby brachen Zweifel gegen den Kirchenglauben in Schl. hervor. Dieser Gegensatz von wissenschaftlicher Forschung und innerlichem Gefühlsleben bildet den Grundzug in Schl.'s Wesen; sein beständiges Ziel war, diese Gegensätze zu versöhnen und in eine höhere Einheit aufzuheben. Schl. sagt selbst in einem späteren Briefe von sich: »In der Herrnhuter Gemeinde entwickelte sich in mir zuerst die mystische Anlage, die mir so wesentlich ist und mich unter allen Stürmen des Skepticismus gerettet und erhalten hat. Ich bin später wieder ein Herrnhuter geworden, nur von einer höheren Ordnung.« Ein neuerer Biograph Schl.'s sagt: »Das Wahrzeichen des echten Schleiermachianer's bleibt die innige Verschmelzung von Freiheit und Frömmigkeit.« Schl. gelang es, den Schein dieser Verschmelzung zu erreichen und darauf beruht der grosse Erfolg, welchen sein Wirken gehabt hat, und seine Bedeutung als Theolog. Als sein Freund Brinkmann sich gegen jede Anwendung der Philosophie auf die Theologie aussprach, antwortete ihm Schl.: »Hast du vergessen, dass es zwischen beiden noch ein Mittelglied giebt, einen frommen Kopf oder einen philosophischen Christen?«
Schl. studirte zwei Jahre in Halle, hielt sich dann ein Jahr in Drossen unweit Frankfurt a. O. bei seinem Onkel Stubenrauch auf, und nachdem er sein theologisches Examen gut bestanden hatte, war er von 1790 bis 1793 Hauslehrer bei dem Grafen Dohna zu Schlobitten in Westpreussen. Hier hatte er reiche Gelegenheit, die Lebens- und Denkweise und die Umgangsformen der höheren Stände kennen zu lernen und letztere sich anzueignen. Nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin ward Schl. 1794 Hilfsprediger in Landsberg a. W., blieb dort zwei Jahre und wurde dann Prediger an der Charité zu Berlin. Damit begann für ihn ein neues Leben. Er lernte hier den 25jährigen Friedrich Schlegel kennen, mit dem er eine innige, halb romantische Freundschaft schloss. Ebenso verkehrte Schl. viel mit Henriette Herz, deren Haus damals den Mittelpunkt der geistreichen Kreise Berlins bildete. Schl. brachte bald jeden Abend in diesem Hause zu; überhaupt fühlte er zu edlen Frauen sich besonders hingezogen. Getrieben von seinen Freunden entschloss Schl. sich endlich, etwas Selbstständiges zu schreiben. 1799 wurde er zur Vertretung eines Predigers nach Potsdam gesandt, und hier entstanden seine: » Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern.« Schl. erklärt darin: »Die Religion ist weder eine besondere Art des Denkens, noch eine besondere Art, sich zu betragen; sie ist weder Wissen, noch Thun; sie ist Gefühl; sie ist das unmittelbare Bewusstsein von dem allgemeinen Sein alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unendliche; ein Liegen an dem Busen der unendlichen Welt.« -- »Religion ist nur das unmittelbare Gefühl der Abhängigkeit des Menschen von Gott; es ist noch nicht durch den Begriff hindurch gegangen, sondern nur im Gefühl erwachsen. Das Gemüth ist wie der Sitz, so die nächste Welt der Religion. Daher muss alles Handeln und Thun ein religiöses werden. Die Offenbarung ist keine von obenher gekommene, ausserordentliche Mittheilung, sondern das Bewusstwerden des eigenen innersten Lebens und einer neuen Anschauung des Unendlichen.« -- »So wie die Religion, so liegt auch der Gottesbegriff im Gefühl. Fromm kann jeder sein, er halte sich zu diesem oder jenem Gottesbegriff; aber seine Frömmigkeit, das Göttliche in seinem Gefühl, muss besser sein, als sein Begriff.« -- »Nirgend ist die Religion so vollkommen idealisirt, als im Christenthum; dasselbe geht auf das ununterbrochene Dasein der Religion im Gemüth. In der Person Christi ist das wahrhaft Göttliche, die herrliche Klarheit, zu welcher die grosse Idee, die darzustellen er gekommen war, in seiner Seele sich ausbildete, nämlich, dass alles Endliche höherer Vermittelung bedarf, um mit Gott zusammenzuhängen und dass für den Menschen nur Heil in der Erlösung zu finden ist.«
Diese Reden, welche Schl. ohne Nennung seines Namens erscheinen liess, hatten einen gewaltigen Erfolg. Von den Rationalisten ward der Verfasser, für welchen Schl. bald erkannt wurde, als Mystiker, von den Supranaturalisten als Rationalist verschrien.
Auf Andringen seines Freundes Schlegel schrieb Schl. bald darauf seine Briefe über die Lucinde, in welchen er die sinnliche Liebe, wie sie in der Lucinde gefeiert wird, zu vertheidigen und als die Offenbarung echter wahrer Liebe, im Gegensatz zur Prüderie, darzustellen suchte.
Schl. selbst war in dieser Zeit von einer leidenschaftlichen Liebe für Eleonore Grunow erfasst, der Frau eines Berliner Predigers. Schl. drang bei ihr auf Scheidung von ihrem Manne; nach langen Kämpfen gab die Frau nach, die Scheidung ward ausgesprochen; aber plötzlich brach die Frau das Verhältniss mit Schl. ab und kehrte 1805 zu ihrem Gatten zurück.
Inmitten dieser inneren Kämpfe und Leiden Schl.'s entstanden seine »Monologen«, welche er 1800 ebenfalls anonym den Reden auf die Religion folgen liess. Sie bilden in gewisser Hinsicht deren Ergänzung; dort lässt Schl. den Menschen durch das Gefühl der Frömmigkeit in dem Unendlichen aufgehen; hier macht Schl. die Individualität und Freiheit des Einzelnen gegen das Allgemeine geltend. Schl. sagt darin: »Dem Bewusstsein innerer Freiheit und ihrem Handeln entspriesst ewige Jugend und Freude.«
Auch diese Monologen fanden grossen Beifall, so dass sie Schl. ermuthigten, 1801 die erste Sammlung seiner Predigten herauszugeben. Auch begann er in dieser Zeit die Uebersetzung des Plato. Schlegel sollte ihm nach der Verabredung dabei helfen; allein das freundschaftliche Verhältniss mit ihm fing an, sich mehr und mehr zu lösen, und die Arbeit fiel Schl. allein zu.
Um die Wunden seines Herzens zu heilen, hatte Schl. 1802 die Stelle eines Hofpredigers in Stolpe in Pommern angenommen. Hier schrieb er: »Die Grundzüge einer Kritik der bisherigen Sittenlehre«, in welchen die höchsten Grundsätze der Ethik, die Grundbegriffe der Pflichten, Tugenden und Güter und die einzelnen Systeme untersucht werden. Schl. hatte viel Mühe auf dieses Werk verwendet und erwartete einen grossen Erfolg, der aber ausblieb.
Bald darauf gab er zwei Gutachten heraus; das eine: »Ueber die Trennung der beiden protestantischen Kirchen«, in welchem er zuerst den Gedanken ihrer Union befürwortete und das andere: »Ueber die Mittel, dem Verfall der Religion vorzubeugen.« Die erste Schrift war die Veranlassung, dass Schl. 1804 als ausserordentlicher Professor und Universitätsprediger nach Halle berufen wurde. 1805 gab Schl. dort das kleine Buch: »Die Weihnachtsfeier« heraus, in welcher die Gedanken seiner Reden über die Religion weiter ausgeführt werden. Die Person Jesu gilt Schl. als der einzigartige Mensch ohne Sünde, und für den Menschen giebt es keinen anderen Weg des Heils, als nur in der Gemeinschaft mit Christo.
Als 1806 nach der Schlacht von Jena die Universität geschlossen wurde, blieb Schl. trotzdem in Halle und suchte in seinen Predigten das Selbstvertrauen und den Muth der Nation wieder zu beleben. Erst als Schl. für den neuen König von Westphalen, Jérôme, auf der Kanzel beten sollte, verliess er Ende 1807 Halle und ging nach Berlin, wo er ohne eigene Mittel durch die Unterstützungen seiner Freunde sich erhielt. Auch hier trat er bald als Prediger auf und suchte durch religiös-sittliche Erneuerung des Volkes die politische Wiedergeburt des Vaterlandes vorzubereiten. 1808 veröffentlichte Schl. mit Beziehung auf die beabsichtigte Gründung einer Universität in Berlin die Schrift: »Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinne, nebst einem Anhange über eine neu zu errichtende.« Schl. fordert hier die Unabhängigkeit der Universitäten vom Staate und volle Lehrfreiheit für dieselben. In demselben Jahre ward er vom König zum Prediger an der Dreifaltigkeitskirche in Berlin berufen und ihm die Aussicht auf eine Professur an der neuen Universität eröffnet.
Schl. war jetzt 40 Jahre; auf einer Reise nach Rügen traf er dort die 21jährige Wittwe seines Freundes Willich, die er nach dem Tode ihres Gatten als »seine gute Tochter« getröstet hatte; jetzt warb er um ihre Hand, sie willigte ein und im April 1809 wurde sie seine Gattin. Die Ehe war glücklich und mit Kindern gesegnet. Ein Sohn, Nathanael, besass die ganze Liebe des Vaters und erweckte durch seine Anlagen glänzende Hoffnungen; 1829 traf indess Schl. das harte Geschick, denselben durch den Tod zu verlieren.
In Berlin kam Schl. in jener Zeit durch seinen patriotischen Eifer mit Scharnhorst, Gneisenau und Stein in Verbindung; er unternahm 1807 eine gefahrvolle Reise nach Königsberg zum König, dem er vorgestellt wurde. Trotz alles auf Preussen sich häufenden Unglücks verlor Schl. nicht den Muth; unerschütterlich fest stand sein Glaube an Napoleon's Sturz. 1810 erhielt Schl. die Professur der Theologie mit einem Gehalt von 2000 Thalern an der neuen Universität in Berlin. In diesem Jahre erschien auch seine »Theologische Encyklopädie oder Grundzüge eines Systems der Theologie.
Schl.'s lebhafte Theilnahme an den politischen Vorgängen wurde indess der preussischen Regierung, welche bei Napoleon keinen Anstoss erregen wollte, allmälig unbequem. Schl. galt als ein unruhiger Kopf, so dass er 1811 selbst von sich in einem Briefe sagt: »Ich bin bei den Hauptpersonen des Hofes und des Kabinets hinreichend verhasst.« Dies kümmerte ihn jedoch nicht; er fuhr fort, auf der Kanzel die patriotischen Gefühle wach zu rufen, und sein Einfluss auf seine Gemeinde und Zuhörer wurde immer grösser. In diesem Sinne wirkte Schl. auch in den entscheidenden Jahren 1812 und 1813 fort. 1813 liess er sich, obgleich schwächlicher Konstitution, in den Landsturm einschreiben und setzte seine Kollegien fort, obgleich er nur 7 Zuhörer hatte; auch übernahm er in diesem Jahre die Redaktion eines politischen Blattes »des preussischen Correspondenten«, welches das Organ der patriotischen Partei war; dies brachte ihn in mehrfache Kollisionen mit den Censurbehörden.
Als 1814 nach Abschüttelung der Fremdherrschaft der Professor Schmalz in Berlin die patriotische Begeisterung des Volkes als revolutionäres Wesen verdächtigen wollte, trat Schl. ihm in einer Schrift, betitelt: »An Herrn Geheimrath Schmalz« entgegen; wurde aber dadurch dem Hofe als ein gefährlicher Mensch verdächtig. Selbst die Zeiten des tiefen Friedens seit 1815 gestalteten sich für Schl. zu einer Reihe fortlaufender Kämpfe, veranlasst durch das Vorgehen der Regierung in Bezug auf die Union und Einführung der neuen Liturgie.
Schl. hatte die Union der beiden Konfessionen immer befürwortet; nur jeder Gewaltmaassregel hierbei war er entgegen, und da die Regierung sich nicht ganz von solchen frei hielt, so gerieth er in mannigfachen Widerspruch mit derselben. Als in Folge der Ermordung Kotzebue's durch Sand die Reaktion in voller Kraft an den deutschen Höfen ausbrach und die besten Patrioten auch in Preussen verfolgt wurden, nannte Schl. dies Verfahren überspanischen, ärgsten Despotismus; er selbst war damals jeden Tag auf seine Arretirung gefasst; 1822 ward ihm der Urlaub zu einer Erholungsreise nach Salzburg verweigert; im Januar 1823 ward er zum Verhör auf das Polizeipräsidium citirt, um sich wegen politischer Aeusserungen in vertraulichen Briefen zu verantworten.
Trotzdem vollendete Schl. in den Jahren von 1819 bis 1822 sein bedeutendstes Werk: » Die christliche Glaubenslehre«; sie erschien 1822 in zwei Bänden. In diesem Werke unternimmt es Schl., den Inhalt des christlichen Glaubens aus dem Abhängigkeitsgefühl des Menschen von Gott wissenschaftlich abzuleiten und eine Sonderung des Wesentlichen von dem Unwesentlichen in den Aussprüchen der Bibel und den evangelischen Bekenntnissschriften aus diesem Gefühle zu rechtfertigen.
Die Neuheit dieses Gedankens und der Scharfsinn in seiner Durchführung verschaffte dem Werke einen ausserordentlichen Erfolg, und in Verbindung mit seinen auf dem gleichen Prinzip beruhenden Predigten ward Schl. dadurch der Begründer einer wichtigen neuen Richtung in der theologischen Wissenschaft und Praxis, welche mit dem Namen der Gefühlstheologie bezeichnet worden ist.
Als bei Gelegenheit der Union die Regierung die Einführung einer neuen Liturgie durch die Agende erstrebte, trat auch hier Schl. jedem Versuch der Einführung durch Zwangsmittel mit Energie entgegen; Schl. kämpfte hier Jahre hindurch; indess vermochte er es nicht, seinen Widerstand glücklich durchzuführen. Als das Konsistorium am 12. April 1829 die Einführung der Agende ihm und einigen anderen renitenten Geistlichen Berlins befahl, gab Schl. nach und verlangte nur Dispensation vom Kreuzschlagen und von der, der Gemeinde abgewendeten Stellung am Altar. Schl. rechtfertigte sein Nachgeben damit, dass jeder grössere Widerstand die Union selbst gefährdet haben würde, und dass, wenn er aus der Kirche ausgetreten wäre, sein Austritt nur Wenige nachgezogen haben würde; ohne ein breites Fundament würde aber ein solcher Schritt nur ein sträflicher Vorwitz gewesen sein.
Während dieser liturgischen Streitigkeiten erwarb sich Schl. ein grosses Verdienst um die Einführung eines neuen Gesangbuches für Berlin. Es kam darauf an, auch hier den trockenen rationalistischen Inhalt durch alte Lieder mit frommem und tiefem Gefühl zu verstärken, aber dabei diese Lieder von dem Anstössigen und Geschmacklosen früherer Zeiten zu reinigen. Schl. ward in die desfallsige Kommission gewählt, und nach vierjähriger Arbeit kam das neue Gesangbuch glücklich zu Stande und wurde von allen Gemeinden der Stadt angenommen.
Als in Schlesien in Folge der Einführung der Agende und Union sich eine separirte lutherische Kirche gebildet hatte, wollte die Regierung Schl. zum General-Superintendenten für diese Provinz ernennen. Schl. lehnte es jedoch ab, »die Rolle eines Kirchenfürsten zu spielen.«
Inmitten all dieser Arbeiten und Kämpfe hatte Schl. ununterbrochen sein Amt als Universitätslehrer und Prediger verwaltet und eine höchst segensreiche Wirksamkeit hier entfaltet. Seine Kollegien erstreckten sich über alle Fächer der Theologie und Philosophie, und seine Predigten wurden jederzeit von einem überaus zahlreichen Publikum, hauptsächlich aus den gebildeten Ständen der Residenz, besucht.
Im persönlichen Umgange war Schl. liebevoll und herzlich; in der Freundschaft treu; im geselligen Verkehr voll unerschöpflichen Humors und Witzes. Dem Fremden gegenüber war er zurückhaltend. In jedem Menschen achtete er die Eigenthümlichkeit; er hatte nichts dagegen, dass seine eigene Frau ihre religiöse Erbauung nicht in seinen Predigten suchte, sondern regelmässig die Kirche des streng rechtgläubigen Predigers Gossner besuchte.
Schl.'s Gesundheit war niemals fest gewesen; er war von schmächtigem Körper und etwas verwachsen. Im Sommer 1833 besuchte er, um sich zu erholen, seinen Jugendfreund Brinkmann in Schweden; die Reise erfrischte ihn; doch feierte er seinen Geburtstag im November dieses Jahres schon mit bangen Ahnungen. Husten und Heiserkeit überfielen ihn im Winter und bildeten sich zu einer Lungenentzündung aus. Vom 6. Februar 1834 ab litt Schl. grosse Schmerzen und sein Aussehen wurde das eines Sterbenden. Am Morgen des 12. Februar stieg sein Leiden sichtbar; er kämpfte den Todeskampf. Da legte er den Finger an das Auge und sprach: »Ich habe nie an dem todten Buchstaben gehangen, und wir haben den Versöhnungstod Christi, seinen Leib und sein Blut; ich habe aber immer geglaubt, dass der Herr Jesus das Abendmahl in Wasser und Wein gegeben hat.« Während dessen hatte er sich aufgerichtet, seine Züge belebten sich, und seine Stimme wurde rein. Er hiess das Nöthige zur Feier des Abendmahls herbeiholen und gab darauf unter Aussprechung der Einsetzungsworte seiner Gattin, den Anwesenden und zuletzt sich selbst das Brod und dann den Wein, nur sich selbst statt des Weines Wasser. Nachdem er sodann den Segen gesprochen, wandte er sich zur Gattin und sagte: »In dieser Liebe und Gemeinschaft sind und bleiben wir Eins«; dann legte er sich auf das Kissen zurück, athmete noch einige Male auf, bis allmälig das Auge sich schloss und das Leben entfloh.
Auf dem Dreifaltigkeitskirchhof am Kreuzberg bei Berlin schmückt Schl.'s Büste, von Rauch in Marmor gearbeitet, sein Grab.
Die wichtigsten seiner Schriften sind im Vorstehenden bereits genannt worden; zu ihnen kommen noch einige Gelegenheitsschriften in Folge des Streites über die Agende. Die Uebersetzung des Plato brachte Schl. allmälig bis auf sechs Bände; ohne sie jedoch vollenden zu können; insbesondere fehlt der Timaeus. An Predigten sind beim Leben Schl.'s vier Sammlungen erschienen.
Nach seinem Tode vereinigte sich eine Zahl seiner gelehrten Freunde zur Durchsicht seiner Manuskripte, und mit Hülfe von nachgeschriebenen Collegienheften waren sie im Stande, nachträglich und ohne eigene Zuthaten eine erhebliche Zahl davon dem Druck zu übergeben. Auf diese Weise ist die Gesammtausgabe seiner Werke entstanden, welche in drei Abtheilungen: 1) Zur Theologie, 2) Predigten, 3) Zur Philosophie und Vermischte Schriften von 1835 bis 1864 erschienen ist. Von der philosophischen Abtheilung enthält Band I. die obengenannten, bei seinem Leben erschienenen Werke; Band II. vermischte Aufsätze; Band III. die Reden und Abhandlungen Schl.'s für die Akademie der Wissenschaften; Band IV., die Geschichte der Philosophie und die Dialektik; Band V. den Entwurf eines Systems der Sittenlehre; Band VI. die Psychologie; Band VII. die Aesthetik; Band VIII. die Lehre vom Staat und Band IX. die Erziehungslehre.
Schl. war ein Zeitgenosse Fichte's, Schelling's und Hegel's; indess hat er in seinen philosophischen Auffassungen sich keinem derselben unbedingt angeschlossen; deutlich ist bei Schl. der Einfluss Plato's und Spinoza's zu bemerken. Schl. ist in seinen philosophischen Ansichten dem Realismus mehr zugewendet, als die damals herrschenden idealistischen Systeme Kant's, Fichte's und Hegel's erwarten lassen. Raum und Zeit sind ihm Formen der Existenz der Dinge selbst; ebenso haben die Kategorien Gültigkeit für die Dinge selbst. Die menschliche Auffassung ist nach Schl. durch die Sinnesthätigkeit bedingt; dadurch wird das Sein der Dinge in das Wissen aufgenommen; das Denken verarbeitet diesen Inhalt der äusseren und inneren Erfahrung; jenes ist die »organische«, dieses »die intelektuelle Funktion«, oder das a priorische Erkenntnisselement. Die Vielheit der Objekte schliesst sich zu einer realen, Objekt und Subjekt umfassenden Einheit zusammen; dadurch bildet sie ein gegliedertes Ganze. Diese Totalität ist die Welt; die Einheit des Weltganzen ist die Gottheit. Ueber die Gottheit sind dem Menschen nur negative oder bildliche, vom Menschlichen abgenommene Aussagen möglich. Jeder Theil der Welt steht mit dem andern in Wechselwirkung, worin Wirken und Leiden vereinigt ist. An das Wirken knüpft sich das Gefühl der Freiheit, an das Erleiden das Gefühl der Abhängigkeit. Dem Unendlichen gegenüber besteht im Menschen das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit. In diesem Gefühl wurzelt die Religion. Ihr Inhalt ist die Darstellungsweise des religiösen Gefühls, und als solche ist sie von der wissenschaftlichen Betrachtung, welche die objective Wirklichkeit im Bewusstsein zu reproduziren strebt, wesentlich verschieden. Man verkennt nach Schl. die Grenzen beider Gebiete, wenn man die Dogmen der Religion in Philosopheme verwandeln oder in der Theologie philosophiren will; der Philosophie kommt innerhalb der Religion nur ein formeller Gebrauch zu. In der Ethik stellt Schl. dem kategorischen Imperativ Kant's, der nur das Allgemeine kennt, die Individualität und das Gefühl des Einzelnen gleichberechtigt gegenüber. Das höchste Gut ist die oberste Einheit des Realen und Idealen und damit das sittliche Ziel; die Pflichten geben hierzu die Regeln, die Tugenden die Kraft.
In diesen Grundzügen der Philosophie Schl.'s tritt das realistische Element deutlich hervor; vielfach stimmen sie genau mit den im I. Hefte dieser Bibliothek dargelegten Grundsätzen. Auch nach Schl. kann das Denken das Seiende nicht für sich und ohne Wahrnehmung erreichen; das Denken besteht blos in der Bearbeitung des von der Wahrnehmung empfangenen Inhaltes. Schl.'s Auffassung würde klarer und treffender geworden sein, wenn er in den Unterschied zwischen den Begriffen des Seienden und den Beziehungsformen des Denkens (E. 31) tiefer eingedrungen wäre, aber in diesem wichtigen Punkte herrscht bei ihm noch dieselbe Verwirrung wie bei Plato, Spinoza und Hegel.
Am bezeichnendsten für seine realistische Richtung ist die starke Betonung des Gefühls, welches in den idealistischen Systemen völlig in Vergessenheit gerathen war, obgleich doch jede unbefangene Selbstbeobachtung lehrt, dass die Gefühle den Kernpunkt der menschlichen Seele bilden, dass alle Thätigkeit, alles Wollen, alles Denken und Wissen durch die Gefühle geleitet wird, und dass sowohl die Ethik wie die Aesthetik nur an den Gefühlen ihre sichere Grundlage haben. Schl. gebührt hier der Ruhm, zuerst die Bedeutung dieses wichtigen Seelenzustandes wieder hervorgehoben und in die Philosophie wieder eingeführt zu haben. Deshalb seine Geltendmachung des Individuellen gegenüber dem leeren Allgemeinen der Kant'schen Moral, und deshalb seine Begründung der Religion auf das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl des Menschen. Diese Begründung bildet die bedeutendste That Schl.'s auf dem wissenschaftlichen Gebiet, und auf ihr beruhen die grossen bis in die Gegenwart reichenden Erfolge seiner philosophischen und amtlichen Wirksamkeit.
Was Schl. das unbedingte Abhängigkeitsgefühl nennt, ist allgemeiner aufgefasst das Gefühl der Achtung (E. 7), welches den grossen Gegensatz zu den Gefühlen der Lust und des Schmerzes in der menschlichen Seele bildet. Während diese letzteren Gefühle auf die Erhaltung und Erhebung des einzelnen Ich gehen und das Ich zum Mittelpunkt der Welt machen, geht umgekehrt in dem Gefühl der Achtung das Ich in die Unermesslichkeit eines ihm gegenüberstehenden Erhabenen auf und findet sich selbst erst wieder in dem Bewusstsein, einen Theil dieses Erhabenen zu bilden. Beide Arten der Gefühle sind wesentliche Zustände der menschlichen Seele; aber sie bilden Gegensätze gleich den Polen eines Magneten; daraus entsteht eine Bewegung und ein Kampf, der zum grossen Theil den Inhalt des innersten menschlichen Lebens bildet. Das Weitere hierüber kann hier nicht entwickelt werden; es muss in dieser Beziehung der Leser auf die Andeutungen im I. Heft dieser Sammlung und auf die Ausführungen verwiesen werden, welche in des Herausgebers Aesthetik Th. I. S. 111 und II. S. 2 (Berlin 1868) gegeben worden sind. Auf diesen Achtungsgefühlen beruhen die sittlichen und religiösen Gefühle oder bilden vielmehr besondere Arten desselben, und Schl. hat vollkommen Recht, wenn er das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl, welches den Gläubigen erfüllt, als den Kern aller Frömmigkeit erklärt und als das hinstellt, was den Glauben an den Inhalt jeder Religion vermittelt. Dieses Gefühl ist es, was jeder Religion ihren Halt giebt; durch dieses Gefühl steht sie zugleich mit der Moral in der innigsten Verbindung, da die Wirksamkeit der sittlichen Gebote auf demselben Gefühle ruht und durch dieses Gefühl ist der Inhalt des Glaubens gegen die Angriffe der Wissenschaft in einer Weise gesichert, welche der letzteren oft unbegreiflich erscheint.
In so weit ist Schl. in der Wahrheit; allein es ist ein völliges Verkennen der Natur dieses Abhängigkeitsgefühles, wenn Schl. weiter geht und es unternimmt, aus demselben auch den Inhalt der Religion abzuleiten. Dieses Gefühl ist, wie jedes Gefühl überhaupt, dazu völlig ungeeignet. Es ist kein Wissen und auch kein Mittel oder Weg für das Erkennen des Seienden, sondern selbst ein Seiendes und somit nur ein Gegenstand des Wissens. Das Gefühl kann wohl sich mit einem von anderswo entnommenen Wissensinhalt verbinden und so den Glauben an diesen Inhalt vermitteln und sichern; aber es kann nie aus sich selbst einen Inhalt über ein Anderes dem Wissen zuführen, so wenig, wie der Boden ein Wissen über den Baum, wenn gleich er ihm den Halt und die Festigkeit giebt. Auch lehrt die Erfahrung, dass der verschiedenste und entgegengesetzte Inhalt der Religionen gleich geeignet ist, dieses Gefühl zu erwecken und zu befriedigen. Den Inhalt der Religion, die Lehre von Gott, von seinen Eigenschaften, von seinem Verhältniss zur Welt, von der Erlösung des Menschen, von der Unsterblichkeit muss der Mensch vielmehr von anderswo entnehmen. Die Philosophie lässt erkennen, dass auch auf dem Gebiete der Religion die sinnliche und innere Wahrnehmung die Elemente dazu liefert, welche die Phantasie oder das verbindende Denken im Dienste der Gefühle, dann so gestaltet, dass letztere befriedigt werden. Die Phantasie hilft dabei selbst die Quelle dieses Inhaltes verhüllen, indem sie den Begriff der göttlichen Offenbarung bildet.
Es ist also das Abhängigkeitsgefühl nie die Quelle, sondern nur die Stütze des religiösen Inhaltes; es kann aus sich selbst diesen Inhalt nicht ableiten, aber es giebt diesem Inhalt, wenn er nach der vorhandenen allgemeinen Bildung der Zeit und des Einzelnen geformt ist und das Gefühl zu befriedigen vermag, den Halt, vermöge dessen er für wahr gehalten, geglaubt und selbst den Angriffen der Wissenschaft gegenüber festgehalten wird. Nur wenn der Fortschritt der Wissenschaft grösser und ihre Verbreitung in dem Volke allgemeiner wird, beginnt der Glaube allmählig zu wanken und entweder wie in alten Zeiten, einer neuen Religion Platz zu machen, oder wie seit dem Mittelalter, Einzelnes aus der vorhandenen Religion für unwesentlich zu erklären und fallen zu lassen. Deshalb kann das Abhängigkeitsgefühl einer vorgeschrittenen Zeit sich von dem religiösen Inhalt früherer Jahrhunderte nicht mehr befriedigt fühlen; aber trotzdem kommt der Inhalt nicht aus diesem Gefühle.
Anstatt diese rein seiende Natur des Abhängigkeitsgefühls festzuhalten, nimmt Schl. es zugleich als ein Wissen oder als ein Mittel, den Inhalt einer Erkenntniss zu gewinnen. Deshalb bezeichnet er es gleichzeitig mit dem sonderbaren Namen: Unmittelbares Selbstbewusstsein.
Diese Verwechslung von Sein und Wissen innerhalb der Seele bildet den fundamentalen Irrthum in Schl.'s Glaubenslehre. Weil in Schl.'s Person sich das Abhängigkeitsgefühl am vollkommensten durch den Inhalt jener christlichen Dogmen befriedigt fühlte, welche er in seine Glaubenslehre aufgenommen hat, deshalb meinte Schl., der Inhalt dieser Dogmen könne auch aus diesem Gefühl selbst abgeleitet werden und somit aus demselben die Erkenntniss Gottes und seines Verhältnisses zur Welt gewonnen werden. Allein dies Gefühl gleicht dem Wachs; es schliesst sich jedem Inhalte an, sobald er nur in irgend einer Weise das Erhabene und Unermessliche bildlich darstellt; Schl. erkennt dies selbst für die früheren Religionen an, und wenn er für seine Glaubenslehre die höhere Wahrheit behauptet, weil ihr Inhalt diese Befriedigung im höchsten Maasse gewähre, so liegt doch der Grund davon nicht in dem Inhalte dieser Lehre an sich, sondern in der bestimmten Stufe der Bildung, auf welcher Schl. durch die allgemeine Cultur seiner Zeit und durch seine besondere Entwicklung sich erhoben hatte.
Schl. ist hier derselben Täuschung wie Kant verfallen. Kant glaubt auch, in der blossen Allgemeinheit einer Maxime des Handelns das genügende Kennzeichen ihrer Sittlichkeit entdeckt zu haben; bei seinem lebendigen sittlichen Gefühle schob er diesem Allgemeinen unvermerkt den bestimmten sittlichen Inhalte seiner Zeit als selbstverständlich unter, und bemerkte so die gänzliche Leere seines Princips nicht, das für sich allein jedweden Inhaltes baar ist, wie schon Hegel gezeigt hat.
Ebenso meinte Schl. bei seiner tiefen Frömmigkeit, dass der religiöse Inhalt, mit dem sich bei ihm das Gefühl verknüpft hatte, aus diesem selbst entsprungen und abgeleitet sei, während dieser Inhalt ihm doch offenbar von Aussen durch die Schule, Erziehung und Religionslehre zugeführt worden und demnächst durch sein Denken so gereinigt worden war, dass nunmehr das Gefühl nach Schl.'s Individualität sich damit befriedigt fühlen und auf das Innigste verbinden konnte.
Aus diesem fundamentalen Irrthum erklären sich die Mängel in Schl.'s philosophischem und religiösem System, welche von Spätern, insbesondere von Strauss aufgezeigt worden sind.
Es ist klar, dass bei einer solchen vermeintlichen Ableitung des religiösen Inhaltes aus dem Gefühl dieser Inhalt nach dem Unterschied des Einzelnen und ihrer Bildung ein durchaus verschiedener werden muss; ein Jeder wird die vollkommenste Befriedigung seines Abhängigkeitsgefühls in einem anders gestalteten Inhalte finden, und von einer objectiven Wahrheit dieses Inhaltes und von einer Gültigkeit der Religion für alle ihre Bekenner kann nicht mehr die Rede sein.
Damit hängt auch die Abneigung zusammen, welche Schl. gegen jede bestimmte Fassung des Glaubensinhaltes zeigt und die grosse Biegsamkeit und Unbestimmtheit, welche seine Glaubenslehre in Bezug auf die einzelnen Dogmen absichtlich festhält, ja als ein Vorzug für sich geltend macht. Schl. vergass über seine Sorge für das Gefühl, dass die Religion auch eine Lehre sein soll und den Menschen ein festes Wissen über Gott, die Welt und sich selbst bieten muss, wenn sie das Gefühl befriedigen soll.
Wenn dessenungeachtet die Glaubenslehre Schl.'s einen Epoche machenden Erfolg nicht blos bei dem grossen Publicum, sondern auch innerhalb der gelehrten Welt errungen hat, so erklärt sich dies nur aus der, der menschlichen Natur tief innewohnenden Neigung, die Gewissheit zugleich für die Wahrheit zu nehmen. Da der durch das verbindende Denken (E. 24) gewonnene Inhalt der Religion nicht auf den Fundamentalsätzen der Wahrheit ruht (E. 65), so kann der Glaube oder die Gewissheit dieses Inhaltes nur durch den Hinzutritt des Gefühles herbeigeführt werden. Indem dieses sich durch den dargebotenen Inhalt befriedigt fühlt, verbindet es sich auf das Innigste mit diesem Inhalt und führt damit zu der Meinung, dass auch der Inhalt selbst aus diesem Gefühl entnommen sei. Die Verwirrung, welche durch die idealistischen Systeme zwischen die Seins- und Wissenszustände der Seele gebracht worden war, unterstützte diese Meinung; Schl. trug deshalb kein Bedenken, das Abhängigkeitsgefühl auch als ein unmittelbares Selbstbewusstsein zu behandeln.
Endlich bot dieser Rückgang auf das Gefühl, wie ihn Schl. dargelegt hatte, ein vortreffliches Mittel, die der Religion unentbehrliche stetige Veränderung ihres Inhaltes auch wissenschaftlich zu begründen und zu rechtfertigen. Die vorgeschrittene Bildung des 18. Jahrhunderts hatte unter den Dogmen der christlichen Religion stark aufgeräumt; auch Schl. konnte sich dieser Wirkung nicht entziehen; ja er selbst hat in seiner Glaubenslehre diesen Inhalt noch mehr verdünnt, als der Rationalismus vor ihm gethan hatte. Aber die Verstandesgründe, welche dieser zur Rechtfertigung dessen beigebracht hatte, genügten den frommen Gemüthern nicht; da trat Schl. auf, und indem er die ganze Religion auf das Gemüth und Gefühl gründete, hatte er damit zugleich eine vortreffliche Handhabe gewonnen, um den schon von dem Rationalismus beseitigten Inhalt aus einem tiefern und zusagendem Grunde fern zu halten. Da das Abhängigkeitsgefühl der Frommen im neunzehnten Jahrhundert dieses Inhaltes nicht mehr bedurfte, wie Schl. sich nicht verhehlen konnte, so war, wenn alle Religion auf diesem Gefühle beruht, damit von selbst die Entfernung dieses Inhaltes gerechtfertigt; die Gläubigen und Frommen seiner Zeit fühlten sich damit wesentlich in ihrem Gewissen erleichtert und hielten daher mit krampfhafter Aengstlichkeit an diesem neuen Gefühlsfundamente fest.
Für solche Meinung, die noch heute ihre zahlreichen Anhänger selbst innerhalb der Wissenschaft hat, giebt es keine bessere Widerlegung, als den Ablauf der Zeit und den Fortgang der Kultur. So ist schon gegenwärtig, nach einem halben Jahrhundert seit dem Erscheinen der Glaubenslehre Schl.'s, es höchst zweifelhaft, ob das heutige fromme Gefühl der gebildeten Gemeindemitglieder noch mit Notwendigkeit die Lehrsätze fordert, welche Schl. über die Person Christi und die Erlösung der Menschen in seiner Glaubenslehre als die Grundwahrheiten der christlichen Religion hingestellt und aus dem Abhängigkeitsgefühl der Frommen seiner Zeit abgeleitet hat. Fordert das heutige fromme Gefühl, wie kaum zu bezweifeln ist, diese Sätze nicht mehr, so zeigt sich damit klar und deutlich das Unwahre des ganzen Fundaments, auf dem Schl. den Inhalt der Religion errichtet hat. Für die Philosophie aber ergiebt sich daraus eine neue Bestätigung ihres Fundamentalsatzes, dass aller Inhalt des Seienden nur durch Wahrnehmung in das Wissen übergeführt werden kann, und dass alle Lehre über das jenseit der Wahrnehmung Liegende wohl mit Hülfe des Gefühls in der menschlichen Seele die Form der Gewissheit gewinnen, aber nie die Natur der Wahrheit erreichen kann, welche unveränderlich und ewig ist.
Friedrich Schleiermacher's Monologen.
Eine Neujahrsgabe. (Die erste Ausgabe erfolgte 1800 anonym und ohne Vorrede; deshalb folgen umstehend nur die Vorreden zur zweiten und dritten, von Schleiermacher selbst besorgten Ausgabe.)