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Das gewohnte Leben zwischen der Frau Ökonomierat und Miele ging weiter, bis es im Frühjahr abermals eine gewisse Entwicklung erfuhr.
56 Das Frühjahr war sehr rauh und unfreundlich, und eines Tages zog sich die Frau Ökonomierat eine tüchtige Erkältung zu.
Es war am Nachmittag. Miele brachte gerade den Kaffee herein. Da lag die Frau Ökonomierat ganz aufgelöst und todbleich in ihrem Sessel und rief, während sie ihre dicke Hand auf die Brust preßte: »Ach! – Ach! – Ach Gott, Miele, liebe Miele!« – ›Liebe Miele‹, sagte sie. – »Ach, mir is ja so sonderbar!! – Ich . . . ich kriege einen Schlaganfall!«
Miele hatte zuerst beinahe das Kaffeebrett fallen lassen. Aber Miele ließ das Brett nicht fallen, sondern trug es schnell zum Tischchen. Und dann rief sie geistesgegenwärtig: »I nä, Frau Rat!! – Sie han sich jä bluß erkält't!!«
»Erkält't?! – Ach! – Ach! – Ach! – Erkält't?!«
»Sie kenn' jä duch ganz gut sprache!!« rief Miele in ihrer Angst. »Warten Se, ich hole Ihn'n die Hoffmannstroppen!«
Aber sieh da, Miele blieb erst noch stehen. Sie hatte sogar erst noch einen besonderen Einfall. »Trinken Se mal irscht fix noch enne Tasse heeßen Kaffee!«
Miele kommandierte! Kommandierte mit einem Male.
Und wirklich riß die Frau Ökonomierat ihre Augen jetzt groß auf und wollte schnell nach der Tasse langen. Aber sie war wirklich zu schwach dazu.
Da hielt Miele ihr schnell selber die Tasse an den Mund, und die Frau Ökonomierat schlürfte ein paar Züge, worauf sie, ganz zum Erbarmen stöhnend, wieder in den Sessel zurückfiel und behauptete, daß ihr 57 die Sinne vergingen und alles sich ihr anfange im Kreise herumzudrehen.
Miele ging diesmal nicht weiter darauf ein, sondern lief schnell zu einem Schränkchen hin, aus dem sie die Hoffmannstropfen hervornahm. Mit ihnen lief sie wieder zu der Frau Ökonomierat hin, öffnete das Fläschchen und hielt es ihrer Herrin zunächst erst mal unter die Nase, damit sie ein paar Züge davon einziehen könnte. Dann aber nahm Miele den Kaffeelöffel voll Zucker und goß so viel von den Hoffmannstropfen auf den Zucker, daß er ganz von ihnen durchtränkt wurde. Nun hielt sie den Löffel der Frau Ökonomierat an den Mund, und diese schnappte zu wie ein junges Vögelchen, das gefüttert wird.
Ein kleines Weilchen schien es besser zu sein. Aber mit einem Male bekam sie wieder einen Schwindelanfall und rief: »Ach Miele! Miele! Meine liebe Miele! Ich kriege ja wirklich e' Schlaganfall!! – Ach, rasch, rasch! Bring mich zu Bette!«
Miele sprang in ihrer Angst schnell hinzu und half der Frau Ökonomierat aus dem Sessel in die Höhe.
»I nä, nä!! 's gieht jä widder verbei!!« rief sie dabei. »Nachher kimmt oo' de Frau Schulzen!« fiel ihr ein. »Jedes Oogenblickchen muß se kumme!«
Endlich hatte sie die Frau Ökonomierat in die Höhe gezogen, halb hatte diese sich auch selber aufkrabbeln können und hatte ihren Krückstock an sich gerafft. Zuerst wackelte sie ein bißchen, als sie glücklich auf den Beinen stand, und schüttelte sich, daß ihr die Zähne klapperten, dann aber tat sie, von Miele aus Leibeskräften gehalten, 58 ein paar Schritte. – Doch plötzlich blieb sie wieder stehen und rief, daß sie etwas im Kreise herumdrehen wolle. Doch Miele ließ sie nicht fallen. Die Zähne fest zusammengebissen, hielt sie ihre Herrin. Die Muskeln ihrer mageren Arme spannten sich wie Stricke. Aber auch die Frau Ökonomierat, die durchaus nicht sterben wollte, machte sich vor Angst so stramm, wie sie nur irgend konnte, und so gelangten sie denn schließlich glücklich in die Schlafstube.
Hier mußte Miele ihre Herrin in das Bett bringen.
Das Bett war ein wahres Ungetüm von Bauwerk. Eine altmodische, massive, braune, zweischläfrige Wiener Bettstelle.
Es ging, wie es ging und sogar noch sehr gut. Miele bekam die Frau Ökonomierat wirklich ins Bett und mummelte sie tüchtig ein.
Sobald sie lag, wurde die Frau Ökonomierat von einem tüchtigen Frost gebeutelt, und sie jammerte, daß sie eiskalte Beine hätte, und daß das ein schlimmes Zeichen wäre.
Miele aber tröstete sie noch einmal mit der Frau Schulze und rief ihr zu, daß sie ihr schnell die Wärmflasche zurecht machen wollte. Bedachtvoll stellte sie die Hoffmannstropfen neben die Frau Ökonomierat auf das Waschtischchen, machte sie darauf aufmerksam und eilte dann in die Küche. Unglaublich schnell kam sie mit der Wärmflasche zurück, die sie in ein dickes Wolltuch wickelte und der Frau unter die Füße legte.
Aber da klingelte es, gottlob. – Miele lief schnell zur Entreetür und ließ Frau Schulze herein.
59 Diese erkannte die Situation sofort und rief erschreckt: »Huch, Influenza!«
Es schien zuerst, als ob sie wieder weglaufen wollte. Aber dann trat sie ein. Sie blieb an der Schlafstubentür stehen und rief hinein: »Tanteken Rat, was machen Sie denn für Jeschichten?! Aber sein Se man nich bange! Es is man Influenza! – Rein komm' ich aber nich'. Das steckt eklig an!«
Von drinnen antwortete nur ein klägliches Wimmern und Ächzen.
Aber die bedachtsame und mit einem Male sehr lebendig gewordene Miele fing jetzt an, Frau Schulze zu überreden, so lange dazubleiben, bis sie den Arzt geholt hätte. Frau Schulze blieb denn auch wirklich, und Miele rannte zum Arzt.
Sie blieb eine ganze Weile, aber dafür kam sie gleich mit dem Arzte selber, der in die Schlafstube ging und die Frau Ökonomierat untersuchte.
Also es war wirklich Influenza. In der Stube schrieb er ein Rezept, gab Miele Anweisungen, was sie alles tun sollte, und ging dann, nachdem er versprochen hatte, morgen vormittag wiederzukommen.
»Morjen früh? Dann is das nich' so schlimm! Sonst wär' er heut' abend noch mal jekommen,« erklärte scharfsichtig Frau Schulze, Miele damit beruhigend, und dann versprach sie noch so lange zu bleiben, bis Miele aus der Apotheke zurück wäre.
Es wurde für Miele eine schlaflose Nacht. Sie mußte ja bei ihrer Herrin wachen, die sehr unruhig war, phantasierte und, wenn sie wieder zu sich gekommen war, 60 erbärmlich stöhnte und Miele vor Angst ein paarmal am Arme packte.
Aber einmal stieß sie auch einen herzhaften Nieser hervor, und da rief Miele voller Freude: »Sie ha'n geniest, Frau Rat?! Meine Mutter heeme sa't immer, da wird mer gesund!«
Im übrigen hatte Miele der Frau Ökonomierat pünktlich Arznei zu reichen, ihr die Eiskompresse aufzulegen und allerlei sonstige Hilfeleistungen zu tun, was gar nicht leicht war, denn ihre Herrin erwies sich als eine sehr unruhige Patientin. Wenn sie gerade mal phantasierte, so bekam Miele übrigens alle möglichen Sachen über ihren Jenenser Sohn zu hören. Außerdem war es tüchtig kalt in der ungeheizten Schlafstube, und gegen Morgen fror die arme übernächtige Miele dermaßen, daß es sie krumm zog.