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VII.

In dieser Nacht leuchteten lange zwei einsame rothelle Fenster aus der mondbeschienenen, fahlen Fassade des Eden-Hotels hinaus auf den sanft gewellten See.

Im Vorzimmer hatte Wilm den Tisch in den Rahmen der Balkontür gerückt und schrieb mit emsig eilenden Fingern das erste Kapitel seines Romans. Jetzt war ihm die Frau lebendig geworden, die er schildern wollte. Ein Mädchen sollte es sein, das an einer Krankheit litt, wie seine Freundin. Ihr sollte alles geschlechtliche Begehren fern liegen und sie sollte sich emporgerungen haben zu einem kristallreinen, bewegten Seelenleben, ohne doch dabei ihre holde Weiblichkeit einzubüßen. Und mit diesem jungen Weibe sollte der Vielgewanderte die Ehe schließen. Ja, das wollte Wilm doch einmal darstellen, daß es etwas Köstlicheres gäbe, zwischen Mann und Weib, als dieses Körperliche, von dem die anderen so viel Aufhebens machten. Daß eine dauernde Gemeinschaft zwischen beiden möglich war, ohne jeden tierischen Hang. Gerade das wollte er schildern. Daß es eine Entwickelung hinauf gab, in der allein das seelische Band den Bund zusammenhielt. Eine solche Ehe wollte er malen und zeigen: Das ist das Herrliche an der Vereinigung von Mann und Weib, dieser seelische Einklang, dieses Verstehen ohne Worte, dieses Eins-Werden im Denken und Empfinden. Ihm war sehr feierlich und hehr zumute, während er das erste Kapitel niederschrieb, in dem er in angeregter Künstlergesellschaft dieses Problem erörtern ließ. Dieses Kapitel sollte wie ein Präludium einläuten und dem Buch den Ton geben. Und dann löste er die beiden Helden des Romans geschickt aus der Gruppe los und ließ sie das erleben, was in dieser Atelierdebatte als unmöglich und widersinnig verhöhnt worden war. Die Feder kritzelte geschäftig über das Papier und das Herz hämmerte heftig in pochender Schaffenskraft.

Zur selben Zeit lag Irene Hey auf dem Rücken in ihrem Bett und starrte mit brennenden Augen auf die Lichtbahn, die das Dunkel vor ihrem Fenster erhellte. Sie wußte, das war der Widerschein der Lampe, die ihm zur Arbeit leuchtete.

Jetzt sitzt er dort unten, dachte sie, und schildert mich. Ein warmes Gefühl rieselte von den Füßen her ihren Körper herauf. Man kann einen Menschen nur schildern, wenn man ihn ganz durchdrungen hat, sagte sie sich. In sich einschlürfen, in sich auflösen muß er mich, um die flutende Masse dann zu gestalten. Der Gedanke tat ihr seltsam gut. Er muß mir die Kleider vom Körper reißen, überkam es sie, und mich nackt und bloß vor sich sehen. Ganz nackt und ohne letzte Hülle. Der Gedanke trieb ihr das Blut schmerzend wohlig durch die Adern. In seine Arme muß er mich geistig nehmen, mich fest an seine Brust pressen, daß er mein Herz pochen hört, meine Wärme muß zu ihm überströmen, ganz heiß – ganz heiß– –.

Und sie dehnte und reckte sich. Und plötzlich fiel ihr ein, daß er vorhin in Chillon »Lieb« zu ihr gesagt hatte. Sie öffnete die Augen weit. Ob er sie liebte? Ja – ja, gewiß, das wußte sie längst: er war ihr gut, sie war ihm sympathisch, er hatte ihr Plaudern und Klügeln gern. Ja – das, ja. Aber ob ihm jemals ein Verlangen gekommen war, sie um die Schultern zu fassen, ihr den Kopf zurückzubeugen und sie zu küssen – so – sie fühlte es deutlich, wie er küssen müsse. Daß die Lippen sich ineinander preßten, daß die Zähne sich schmerzend verbissen.

Sie suchte sich vorzustellen, wie er jetzt aussah, dort unter ihr, an seinem Tisch. Sie sah ihn deutlich. Das Haar hängt ihm wirr in die Stirn. Die Augen brennen vor siedender Schöpferkraft – die Stirn ist grüblerisch zusammengekraust und die Hand, seine feste, kleine, lebensvolle Hand, hastet über die weißen, lichtgestäubten Bogen. Bei ihm sein, ach, jetzt bei ihm sein, bohrte es sich ihr sehnsüchtig durchs Hirn. Zu ihm treten und die Hände um seinen Kopf legen, wie eine Hülle um die stürmenden Gedanken. Und sie pochen und jagen fühlen hinter der heißen Stirn. Bei ihm sein, bei ihm sein!

Ohne recht zu wissen, was sie tat, griff sie nach den beiden Stöcken neben ihrem Bett und stolperte hastig über den dichten Teppich. Vorsichtig schloß sie die Tür, die zu dem Zimmer der Wärterin führte. Das Holz scheuerte über die Schwelle und das Schloß ächzte ein wenig, als sie die Klinke fahren ließ. Irene Hey lauschte beklommen, wie auf böser Tat. Doch nichts regte sich. Die Wärterin hatte einen gesegneten Schlaf und war nächtliche Störung nicht gewöhnt.

Leise schlich Irene Hey zu der offenen Balkontür und trat hinaus. Ringsum atmete schwarze Stille. Nur unter ihr strahlte die Helle eine kurze Strecke fächerförmig nach allen Seiten hinaus. Sie umfaßte das nachtkühle Eisengeländer mit beiden Händen und beugte sich über die Brüstung. Den Tisch in der Türöffnung konnte sie sehen und das emsige Kritzeln der eilenden Feder hören. Jetzt verstummte es. Offenbar überlegte er. Gleich darauf hob es wieder an und glitt fließend dahin wie ein springender Bach. Nun wandte er den Bogen, pfiff leise vor sich hin und schrieb fort. Ihn selbst konnte sie nicht, sehen. Aber es war ihr doch, als wäre sie bei ihm. Die Brust, die sich hart über das Geländer zwängte, schmerzte. Sie fühlte es nicht. Die Kälte kroch unter ihr leichtes Nachtgewand und umklammerte ihre Glieder. Sie fühlte es nichts. Sie empfand nur das geheimnisvolle Glück, um ihn zu sein. So stand sie wohl eine Stunde. Dann begannen ihre Beine so heftig zu zittern und gegen die Eisenstäbe des Gitters zu schlagen, daß sie fürchtete, er könnte es hören. Da schlich sie still zu ihrem Bett zurück.

Sie drehte das elektrische Licht an und hockte auf dem Bettrande, die Hände um die Knie geschlungen. Ob er wohl ahnt, suchte sie zu ergründen, daß ich hier oben sitze und mich so sehr nach ihm sehne? Ja, er muß es ahnen. Er ist so feinfühlig, so hellseherisch oft. Er errät bisweilen meine stillsten Gedanken. Ihr Blick blieb mechanisch an ihrem Knie haften. Spielerisch verfolgte sie mit dem Finger die Kringellinien des violetten Aderngezweiges auf dem marmorglatten Grunde. Ob ihm das Knie gefallen würde, huschte es flüchtig durch ihren Sinn, ob es ihm wohl gefallen würde? Und plötzlich grübelte sie, welche Art Frauen ihn wohl lockte. Sie hatten nie darüber gesprochen. Ob es wohl brünette waren und sehnig schlanke? Oder waren es mollig rundliche Blondinen? Und in der Überschätzung, mit der Frauen den Geliebten wägen, sann sie: Er ist so verwöhnt. Nur Außergewöhnliches kann ihn reizen. Aber, fuhr es ihr durch den Kopf, das ist ja alles Wahnsinn! Die Hauptsache ist doch das Seelische. Da klopfte hell wieder die bange Frage an ihr Bewußtsein: Ob ihm ihr Knie wohl gefallen würde? Künstler sehen und lieben andere Dinge als andere. Nicht nur das Augenfälligste. Timbre und Temperatur der Haut und ihre Farbe und – sie streckte die zitternden Füße von sich. »Eine feine Fessel habe ich.« dachte sie beglückt, »und einen hohen, vornehmen Spann.« Und dann stand sie plötzlich vor dem Spiegel. Sie schämte sich ihres Tuns, schämte sich vor ihrem bleichen Spiegelbilde. Doch sie stand in der matten Beleuchtung und betrachtete prüfend ihren Körper. Sie bemerkte nicht das leise, schwingende Beben ihrer Glieder, sie sah bei dem milden Licht der Glühbirne nur den weichen Morbidezza-Hauch um Hals und Brust. Und trotz allen Sträubens ihres wachen Zartsinns lachte sie plötzlich leise klingend auf. »Ich bin schön.« frohlockte sie trotzig, »ja, ich bin doch schön! Ich würde ihm gefallen, auch körperlich. Männer wollen nicht bloß Seele und Geist. Ja, ich würde ihm gefallen.« Sie streckte den Arm von sich: Ein runder Ellenbogen und zierlicher, fester Unterarm. Und wie zart die Hand daran wächst. Oh, das würde ihn freuen! Dann wandte sie den Kopf zur Seite und blinzelte ihrem Profilbilde zu. Wie das auf dem Halse sitzt! Und wie leise die Haare aus dem Nacken herauswachsen. Und plötzlich, hob sie die Hände über den Kopf hinauf, daß die kühlen Arme sich wohlig gegen ihre heißen Wangen schmiegten, und flüsterte vor sich hin: »Oh, es ist gut, schön zu sein. Ja, es ist sehr gut.«

Erschöpft sanken ihr die Hände. Und plötzlich empfand sie erschauernd die Kälte der Nacht, die durch die offene Tür hereinfegte. Da kam ihr das Seltsame ihres Gebarens grell zum Bewußtsein. Was war ihr bloß? Was war heut Nacht nur mit ihr? Eine arme Scham kroch fröstelnd an ihren Gliedern empor. Das Blut schoß ihr in die Stirn, zuckend huschte sie ins Bett. Sie preßte das Gesicht in die Kissen, um sich vor ihren eigenen tollen Gedanken zu bergen, und rollte sich zähneklappernd zusammen. Bald wurde ihr wärmer. Und da kam die Sehnsucht nach einem Kinde. Zäh, aus dem Halbdunkel des Zimmers sank sie auf ihre Brust hernieder. Ja – ein Kind. Er mußte ja eines Tages gehen. Sie wollte sich nichts vorreden. Aber dann sollte er ihr das Kind lassen. Daß ihr Leben einen Inhalt erhielt, und als Erinnerung. Damit sie es immer vor Augen hatte, daß auch sie einmal begehrt worden sei – nicht nur seelisch.

Ja – ein Kind. Ein Kind. Es brauchte ja nicht ihre Krankheit zu erben. Nein, nein, die war ja nur etwas nervöses. So etwas ging auf das Kind nicht über. Sie wollte sich die ganze Zeit so stark beherrschen, kein kleinstes Zittern sollte ihren gesegneten Leib durchbeben. Ganz still wollte sie halten. Und wenn sie es dann in Händen hielt, dieses Wesen aus Fleisch und Blut, das man fassen konnte, sehen, herzen, dann war alles gut – dann war sie nie mehr einsam – dann hatte sie etwas, wofür sie sorgen und bangen konnte. Dann kam dieses zwecklose Dahinsiechen nie wieder. – Und ihr Leben wurde ein Leben.

Sie schnellte heftig im Bett auf. Er saß dort unten und schrieb. Schrieb tote Buchstaben. Und heißes Leben sehnte sich nach ihm! Ob sie mit dem Stock auf den Fußboden klopfen sollte? Er wußte, daß sie über ihm wohnte. Er würde es sofort verstehen und zu ihr eilen. Sie griff nach dem Stock, umklammerte das Holz – hob es empor, wagte aber nicht, es auf den Boden zu stoßen. So lag sie lange Zeit, starrte zur schattendunklen Decke und rang mit der Versuchung, den Stab auf den Boden zu schlagen. Und schließlich warf sie den Stock zornig enttäuscht in die Ecke, daß es durch die Nacht polterte und die aufgescheuchte Wärterin mit nachtscheuen Augen hereinstürzte.

Und als sie wieder gegangen war, lag Irene Hey noch lange wach und phantasierte davon, daß er kommen müsse, weil sie sich doch so sehr sehnte nach dem Kinde. Wilm aber beendete just seine tiefgründige Erörterung über den Unwert alles Körperlichen und die Hoheit der seelischen Vereinigung von Mann und Weib. Und dabei dachte er an Irene Hey, die zu seinen Häupten schlummerte.


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