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2

Immer weiter nach Nordwesten fauchte der Walfänger. Er führte keine Transiederei an Bord. Sigfus Thorsteinsson lieferte seine Beute gegen gute Bezahlung an die Walfischstation in der Greenbay auf Spitzbergen. Dorthin nahm er den Kurs.

Es war gegen zehn Uhr abends. Die Sonne stand am grünblauen Himmel. Wild wogte die See. Zartrosa spritzten die Wellenkämme auf. Doch das Wasser war schwarz wie Blei. Nur die Strahlenstreifen der Sonne zogen darin zitternde Furchen, die schwer waren von Gold.

Helga Helaason wanderte mit ihren eigentümlich weit ausholenden Schritten um das Deck herum. Vom Backbord, an dem der tote Wal hing, wehte ihr ein erstickender Verwesungshauch zu. Da ging sie vorn in den Kiel, setzte sich auf den auf- und niederwiegenden Bordrand und starrte hinüber zu der roten Polarsonne.

Sie dachte an den Kampf vom Vormittage und an die braven Landsleute, die jetzt mit zerschmetterten Gliedern irgendwo dort draußen im Eismeere trieben.

Ihre Gedanken wanderten, traurig und voller Schwermut.

Der Vater hatte es gut gemeint, als er sie zu dieser Fahrt auf Sigfus Thorsteinssons Waljäger überredete. Doch es half ihr nichts. Die Sehnsucht blieb.

Wenn sich in Spitzbergen ein Dampfer fand, der nach Island ging, wollte sie zurückkehren. Hier draußen wurde das Verlangen nach der Welt nur immer mächtiger und unerträglicher.

Drüben sank die Sonne langsam zum Meere hinab. Helga Helaason sah hinüber, die Augen wurden ihr feucht. Groß und erhaben war es hier draußen im Polarmeere. Ja – ja. Gewiß sah sie das. Sie war nicht so stumpf, daß sie diese niederzwingende Herrlichkeit der raunenden Einsamkeit hier draußen nicht empfand.

Jetzt stand die Sonne blutrot dicht über dem Wasserspiegel. Und plötzlich glitt ein einsames Fischerboot vor dem glühenden Ball vorüber. Purpurgolden wurden seine Segel. So sagenfern und weltentrückt war es, daß es dem schauenden Mädchen schien, als würde die Runde plötzlich noch weiter und stiller.

Und dann fiel die Sonne jäh ins Meer. Glasgrün leuchtete der Horizont.

Helga Helaason blickte hinüber. Ihre schmalen dunklen Brauen, die sich alltags wie Dächer über den Augen giebelten, wurden zu feinen runden Bogen, wie stets, wenn es wesenlos weit in der Brust wurde und ihr Gemüt seine ahnungsstillen Feierstunden beging.

Plötzlich packte sie ein unwiderstehliches Verlangen, in dem, als kostbarstes Kleinod behüteten, Tagebuch der toten Mutter zu lesen, in diesen Aufzeichnungen eines Gemütes, das von der grausam grausigen Polarnatur zermalmt worden war.

Sie erhob sich, in die Kabine zu gehen. Da kletterte der junge Harpunier Arni Einarsson über die sperrende Ankerkette zu ihr herüber.

»Du bist noch nicht zu Bett, Helga Helaason?« fragte er vertraulich.

Sie schüttelte den Kopf. »Die Sonne ist so schön untergegangen,« sagte sie leise.

Dann blickten sie beide stumm hinaus auf das Meer. Eine nebelgraue Helle lag über der Wasserwelt. Nur die See ebbte wie eine stumpfe, dunkelflüssige Kautschukmasse.

Dem guten Arni war das Herz schwer und beklommen. Er kannte Helga Helaason seit den Kindertagen. Sie stammten beide aus einem kleinen Orte des Südlandes, in dem seine Mutter als schlichte Bauerswitwe und Helgas Vater als der allmächtige Königlich-Dänische Bezirkshauptmann wohnten. Doch das beengte Arnis Unbefangenheit nicht. Isländer kennen keine Standesunterschiede. Da war etwas anderes. –

Ja, er kannte Helga Helaason schon recht lange.

Sie waren dann beide nach Reykjavik in Pension gekommen. Er besuchte das Realgymnasium, die junge blonde Helga die Mädchenschule. Und oft traf er sie auf den kotigen Straßen und sprach sie an, scheu und verlegen. Denn schon damals schien sie ihm das herrlichste Nordlandsmädel.

Und als er als forscher Jungmann zur Steuermannsschule schritt, wanderte sie verschränkten Armes mit ihren Freundinnen in diese vortreffliche »Handelsschule«, in der die jungen Isländerinnen drei Sprachen gewandt handhaben lernen.

Dann war er zur See gegangen und hatte Helga viele Jahre nicht gesehen. Doch vergessen hatte er sie nicht. Und nun war sie kurz vor dem Auslaufen des »Eisvogels« plötzlich an Bord erschienen. Und die Fahrt war ihm ein erfüllter Sagentraum geworden.

Da das Schweigen nun lange genug gedauert hatte, sagte Helga endlich: »du hast das heute fein gemacht, Arni, wie du den Wal trafst.«

Über Amis breites rotes Wettergesicht flammte es hell auf bis hinauf unter die Seemannskappe.

»Ich war stolz auf dich und daß du auch aus Hlidarendi bist.«

Arni Einarssons Gesicht wurde noch breiter. Nie war ihm die junge Helga so anbetungswürdig erschienen als in dieser Nacht. Er wußte nichts zu sagen. Aber seine Gedanken liefen. Sie ist anders als die andern Mädchen, überkam es ihn wieder. Ihre Augen sind noch strahlender blau und die Nase noch kühner, und groß und schlank ist sie auch. Sie hat etwas, was die andern nicht haben. Das hat sie.

So dachte Arni. Aber es dauerte eine geraume Weile, bis er sprach: »Ich bin sehr froh, Helga Helaason, daß du mit mir zufrieden bist.«

Er sagte das so bewegt, daß sie überrascht aufblickte. Rasch ablenkend, wendete sie das Gespräch dem Meere zu.

»Die armen Burschen, die nun dort draußen treiben.«

Arni zuckte die Achseln. »Isländer Los,« sagte er kurz. »Dort liegen wir alle einmal.«

Dann brach wieder ein lastendes Schweigen herein, bis Helga aus ihren schwimmenden Gedanken heraus sagte: »Sag Arni, du bist, wie fast alle, auf dem Gymnasium gewesen, du sprichst Englisch und Deutsch, du hast viele Bücher gelesen. Genügt dir nun dieses Leben hier draußen? Diese Waljagd und alles dies?«

Sie zog die Brauen zusammen und sah ihn gequält an.

»Ich verstehe dich nicht!« staunte er.

»Sieh mal« – sie rückte vertraulich dicht zu ihm heran – »du hast doch auch von den großen Städten dort draußen gehört und gelesen.«

Sie zeigte mit der Hand vag gen Süden in die bleiche Nordlandshelle hinein.

»Hast du gar kein Verlangen, einmal dort hinaus zu kommen – einmal in all dieses Licht hineinzuspringen, das dort unten ist?«

Ihre Wangen röteten sich lebhaft, die Augen leuchteten wie ein Licht aus einer blauen Laterne.

Der junge Harpunier starrte sie an.

»Nein,« sagte er langsam, »daran habe ich noch nie gedacht.«

»So?« summte Helga und biß die Lippen zusammen. »Und wenn du von Paris und London und Berlin hörst und liest, was denkst du dann?«

Er fühlte den durchklingenden Hohn. Da erwachte der Isländer in ihm.

»Dann denke ich, Helga Helaason,« entgegnete er fest und sah ihr klar in die Augen, »dort ist es so und bei uns ist es eben anders.«

Sein Widerstand reizte sie. »Ja, anders ist es,« nickte sie. »Ganz anders. Denk an die Grashütte mit der einen dunklen Stube, in der deine Mutter haust. Denk an die kümmerlichen Holzhäuser mit ihrem Wellblech in unsrer famosen Hauptstadt. Was ist denn Reykjavik, wenn wir ehrlich sind? Ein elendes Fischerdorf. Und wie leben wir? Wie kleiden wir uns?«

Plötzlich faßte sie Arnis Arm und preßte ihn, daß es schmerzte.

»Arni, möchtest du nicht einmal hinaus in diese großen Städte, wo sie alle in Palästen wohnen und wo alles hell ist vor verfeinerter Kultur? Möchtest du nicht einmal hinaus in die Welt?

Eine wütende Eifersucht packte ihn. »Nein,« schrie er ingrimmig, »ich möchte nicht! Meine Vorfahren haben in Island und auf dem Meere hier gelebt und sind hier gestorben und waren damit zufrieden. Und ich will auch hier leben und hier sterben.«

»Ja,« rief Helga verzweifelt, »wozu pfropfen sie uns dann voll mit all dieser Bildung, wenn wir sie doch nie in Kulturländern verwerten können?«

Da sagte Arni Einarsson: »Das tun sie, Helga, weil wir den langen Winter haben, in dem wir uns mit uns selbst und unsern Büchern beschäftigen müssen. Deshalb soll unser Gemüt wohl geschult sein. Denn dort liegt unsre Welt. Und wir sollen verstehen, unsre alten Sagen zu lesen und zu begreifen. Deshalb bilden sie uns so gut.«

Helga schwieg.

Da fuhr Arni weich fort: »Helga Helaason, du bist durch deinen Vater Isländerin. Du mußt, wie wir alle, dein Land lieben.«

Und ganz leise begann er in das Rauschen des Wassers, das sich am Kiele brach, die alte Sage ihres Heimatortes zu raunen. Die Sage von dem »ritterlichsten Helden auf Island«, Gunnar von Hlidarendi, der wegen vieler Todschläge ins Ausland verbannt wurde und sich noch einmal umblickte, als er schon zum Schiff hinabritt. Da griff ihm die Schönheit seines Landes so ans Herz, daß er umkehrte und sein Leben verwirkte. Er wollte lieber unter dem Richtbeile verrecken als die Heimat als freier Mann verlassen.

Wie einen Beschwörungsspruch flüsterte Arni Einarsson die uralten Verse in die polarklare Nacht:

»Doch Gunnar schaut noch einmal jetzt zurück,
›Nie,‹ ruft er, ›sah ich schöner dies Stück Erde.
Die rote Blume blinkt im gelben Hage,
Zerstreut auf breiten Weiden geht die Herde.
Hier will ich enden meine Lebenstage.‹

Das, Helga Helaason, ist unsre Welt.«

Da gab sie ihm die Hand.

»Arni Einarsson,« sagte sie innig und blickte ihn mit feuchten Augen an, »ich empfinde das alles. Ich liebe unser Land. Und doch – Arni, ich sehne mich so sehr nach der Welt und dem Leben.«

»Das ist die Erbschaft deiner Mutter,« stieß er zornig, heftig hervor.

»Ja, das ist es wohl,« nickte Helga in zärtlichem Gedenken. »Und nun wollen wir zu Bette gehen, Arni. Denn morgen ist wieder ein Tag und vielleicht auch wieder ein Wal.«


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