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Ulrich Just ging mit kräftig ausholenden Schritten, als befände er sich auf weitzielender Wanderschaft, in seinem Arbeitszimmer auf und nieder. Der Raum war groß. Doch der kühne Schritt führte rasch von dem breiten Fenster zu der Schiebetür, die das Zimmer des Hausherrn von dem Eß- und Wohnraum trennte.
Just spürte die trennenden Wände nicht. Er war weit entrückt dieser gutbürgerlichen Sphäre, fort in der Welt seiner Gedanken, seines Strebens, seines Schaffens.
Dieser Klassenlehrer der O Ia war ein Künstler. Jede Unterrichtsstunde in der Oberprima des Gottfried-Keller-Mädchen-Gymnasiums lebte er voraus mit dem gleichen schöpferischen Eifer und einer Gewissenhaftigkeit, die nur wenig dem Zufall und der Eingebung überließ. Er wußte, es blieb immer noch genug Raum für die beglückenden Einfälle des Augenblicks, für die Anregung durch die Schülerinnen, für die Hingerissenheit durch ihre lebendige Teilnahme, und für die ewig neu aufflammende Begeisterung.
Doktor Just war Lehrer geworden aus innerer Notwendigkeit, wie einer Maler oder Bildhauer wird oder Schriftsteller. Sein Amt war ihm kein Beruf, sondern eine Berufung. In Momenten des Erfolges und der Ekstase erschien es ihm etwas fast Heiliges: Menschen zu bilden, Charaktere zu formen, Generationen zu erziehen. Das bloße Fachwissen, das er vermittelte, schätzte er gering. Deutsch und Geschichte, seine Hauptfächer, boten ihm strahlende Möglichkeiten seelischer und geistiger Beeinflussung, des Beispiels und Vorbildes. Daneben lehrte er neue Sprachen. Die beiden ersten Semester, grade vor dem Kriege, hatte er in Paris und London studiert.
Getrieben von dem Stoff, der in ihm nach Leben rang, schritt Just immer rascher auf und nieder. Die Zigarette zwischen die Lippen geklemmt, den durchgeistigten, seherhaften Kopf vorgebeugt. Sein Alter war ein dankbares Streitobjekt für seine Primanerinnen. Es war unbestimmbar. Sein dichtes dunkles Haar zeigte an den Schläfen schon graue Streifen. Aber die Haut war frisch und straff, und die braunen Augen – »Goetheaugen« nannte sie die O Ia, seitdem er vor kurzem begonnen hatte, ihr den Menschen Goethe zu verlebendigen – sprühten Jugend und Enthusiasmus. Er war sechsunddreißig.
Die »Marienbader Elegie« wollte er morgen diesen achtzehn- und neunzehnjährigen Weibchen ins Blut und ins Hirn ergießen. Diese letzte junge vulkanische Leidenschaft des Vierundsiebzigers vor ihnen aufflammen, sie mitfühlen lassen, wie die Liebe in dem weisesten und menschlichsten und größten aller Deutschen gewaltet und –
Just blieb vor dem Bücherschrank stehen, der die eine Wand des Zimmers ausfüllte. In der dunklen Glasscheibe der Tür stand gespiegelt sein Gesicht, bleich, mit weiten, angstvollen Augen. Lange blickte er sich an.
Und in diesem Augenblick tauchte zum erstenmal ehrlich, scheulos und durchdringend, fest umrissen, aus spukhaftem Nebel verkörpert und geboren, das klare Bewußtsein in ihm empor, daß er sie liebe. Leidenschaftlich, ungebärdig, verzweifelt begehrend.
Langsam löste er sein Gesicht aus der dunklen spiegelnden Scheibe der Bibliothek. Ging wieder auf und nieder. Doch der mutige Wanderschritt war gebrochen. Leise, unhörbar, schlich er über den Teppich. Ein Schuldbeladener. Ein Ertappter. Ein Verräter an seiner Kunst, seinem Werk, seinem Leben. Er liebte eine seiner Schülerinnen. Fanatisch, mit allen Sinnen. Lange schon. In einer Wut des Bekennens gab er es jetzt zu. Ja, ja. Wie ein Wetterstrahl war ihr erstes Erscheinen in der Klasse auf ihn niedergezuckt. Nicht lügen, nicht leugnen, nicht mehr dieses größte, grausamste Wunder seines Lebens verleugnen! Jeden Morgen, wenn er zur Schule ging, tobte das Glück des Wiedersehens in ihm. Nur sie sah er im Unterricht, nur für sie sprach er. Ihre Gegenwart verlieh seinen Gedanken Flügel, für sie erhob er sich zu Höhen wie nie zuvor. Sie umtastete sein Blick, sie umkosten seine Worte – sie –
Er liebte eine Schülerin, verlangte nach ihr, wie er nie nach einem Weibe verlangt hatte, er, dem seine Lehrerschaft Priestertum gewesen war an der heranwachsenden Menschheit, bis »sie« in seinen Lebenskreis getreten war.
Die Schiebetür glitt leise zurück. In der Öffnung stand Julie.
»Verzeih«, stieß sie verwirrt hervor, als sie sah, wie er zusammenschrak, »ich habe deinen Schritt nicht mehr gehört und glaubte, du bist fertig.«
»Nein, nein«, stammelte er und strich mit der Hand über die Stirn, »ich – ich habe nur ein Buch gesucht.«
»Entschuldige.« Sie schloß die Tür, ging zum Tisch, blieb betroffen und aufs neue tief beunruhigt stehen. Er war anders geworden seit einiger Zeit. Unwirsch, fahrig, versonnen, in sich versponnen. Seine Heiterkeit, die ewig frohe Gleichheit seiner Laune war irgendwie getrübt. Sie wagte nicht, ihn zu fragen. Aus einer Scheu heraus, die letzten Grundes eine lähmende Angst war.
Die Angst der beglückt liebenden Frau, jene zweifelnde Ahnung, die grade in den glücklichsten Ehen umgeht. Die bange Frage: warum sollte grade mir dieses unwahrscheinliche Heil beschieden sein, mir allein unter den Millionen Frauen, nicht einen Tag des Kummers an dem geliebten Mann zu erleiden?! Wird nicht doch eines bösen Tages die andere kommen, die ihn mir nimmt? Warum sollte es grade mir vergönnt sein, ihn dauernd zu halten und zu fesseln?
Liebe macht demütig und raubt den Glauben an ewiges Glück.
Sollte jetzt – die andere? Aber wo? Aber wie? Er ging doch kaum allein aus. An die Schule dachte Julie Just nicht. Sie wußte, wie hoch ihm sein Amt stand. Nie würde er in einer Schülerin das Weib sehen. Niemals. Aber wo? Aber wie denn?
Sie grübelte voll Angst und wußte nicht, daß alles was Menschen vom Menschen, auch dem vertrautesten und nächsten, wissen, brüchiges Stückwerk ist und Selbstbetrug.
Sie wartete lange auf ihn. Er kam nicht. Sie ging zu Bett. Er kam nicht. Lange nicht, bis er meinte, sie schlafe. Er konnte nicht in das Schlafzimmer gehen, in dem sie lag und auf ihn wartete, wie seit elf Jahren, weil ihm heute bewußt geworden war, daß es Verrat bedeutete – an Julie und an Ute Haink.