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Ich glaube nicht, daß man die beiden großen Genien Goethe und Voltaire in ihrer Jugendentwicklung ernstlich mit einander verglichen hat. Anlaß zu dieser Parallele ergab in erster Linie die friedliche Nachbarschaft (auf meinem Arbeitstisch) der »Goethe-Briefe«, herausgegeben von Philipp Stein und des Bandes XXXIII der Voltaireausgabe von Beuchot, die ersten Briefe des jungen Arouet enthaltend.

Es erschien mir nicht uninteressant, die Eigenart dieser beiden hochbegabten Jünglinge, die später gewaltige Menschen wurden, einander gegenüber zu stellen.

Ein solches Vergleichen rechtfertigte sich durch verschiedene Gründe.

Voltaire in Frankreich, Goethe in Deutschland sind auf literarischem Gebiet die Haupterscheinungen ihres Jahrhunderts. – Sie waren, wenn auch im Alter durch rund 50 Jahre getrennt, dennoch Zeitgenossen.

In ihnen schuf die Natur zwei überragende Phänomene.

Beide waren Genies, beide waren universell, beide Aufklärer, beide Träger der Humanität, beide Kämpfer für Geistesfreiheit, beide »citoyens du monde«.

Der Berührungspunkte, die einen Vergleich gestatten, boten Voltaire und Goethe also genug.

Das Fesselndste an dieser Parallele aber erschienen mir nicht die Gleichartigkeit, sondern die Verschiedenheiten der beiden Größen.

Diese Universalgenies, diese Weltbürger, diese Geistesheroen der Menschheit waren zu gleicher Zeit – der eine typisch französisch, der andere unnachahmlich deutsch – Die Natur hatte sie zu dem gleichen Zweck aus ganz verschiedenem Ton geformt, die Seelen ihrer Nationen schlugen in der Brust dieser internationalen Denker.

Voltaire und Goethe sind nicht nur ein Kapitel Literatur- und Kulturgeschichte, nein auch ein Stück Völkerpsychologie.

Und selten wohl tritt die Verschiedenheit des 18. Jahrhunderts in Frankreich, des gleichen Zeitabschnittes in Deutschland, treten französische und deutsche Eigenart schlagender zu Tage als gerade in den Jugendbriefen François Arouets und Wolfgang Goethes.

Das bestimmte mich, den Vergleich zu wagen.

 

Der Herausgeber der » Goethe-Briefe« schließt den ersten Band Goethe-Briefe. Berlin 1902. Otto Elsner. mit dem Jahre 1775 ab. Goethe ist 26 Jahre alt, er siedelt nach Weimar über, der erste Abschnitt seines Lebens ist beendet.

1775 ist ein Wendepunkt in Goethes Existenz, und der Herausgeber der » Briefe« unterbricht die Publikation in einer natürlichen Pause. Er konnte es umso leichter, als ihm das reichhaltigste Material vorlag: aus der Zeit 1764-1775 allein 162 Briefe.

Bei Voltaire haben wir es nicht so gut. Wollen wir einen natürlichen Abschnitt seines »Jugendlebens« finden, so müssen wir bis auf das Jahr 1726, seine Reise nach England, hinausgreifen. Er ist damals 30 Jahre alt, die ganze Ausbeute an Korrespondenz aber in diesem langen Abschnitt besteht aus kaum 50 Briefen.

Diese Briefe sind gerichtet an Fyot de la Marche, einen Schulfreund, an Olympe Dunoyer, eine Jugendliebe, an den abbé Chaulieu und den abbé de Bussy, den Herzog von Brancas, den Marquis d'Ussé, den Prinzen Vendôme, den Baron Breteuil, den Herzog von Sully, den Regenten, den Kardinal Dubois und den Polizeileutnant, an die Marquise von Mimeure, die Präsidentin de Bernières, an J. B. Rousseau, Cideville, Génonville und an den unvermeidlichen Thieriot.

Die Goethebriefe führen uns in eine dem Range nach weniger illustre Gesellschaft, der junge Dichter widmet seine Korrespondenz ausschließlich den Freunden, er schreibt an seine Schwester Cornelie, an Behrisch, an Käthchen Schönkopf und Friederike Brion, an Charlotte Buff und Kestner, an Betty Jacobi, Auguste Stolberg und Sophie La Roche, an Herder, Lavater, Bürger und Knebel.

Zum näheren Vergleich mit diesen Episteln eignen sich bei Voltaire die Briefe an Fyot de la Marche, Thieriot, Cideville und Génonville, an Olympe Dunoyer, an den abbé Cheaulieu und Rousseau.

Sie geben das Gegenstück dessen, was Jugendfreundschaft, Liebe und geistiges Aufstreben dem jungen Voltaire bedeuteten.

Den rein gesellschaftlichen Beziehungen zu Hof und Adel hingegen, die einen so breiten Raum in Voltaires Korrespondenz einnehmen, hat der junge Goethe nichts Entsprechendes an die Seite zu stellen.

 

Beginnen wir mit der Betrachtung der Freundschaft bei Voltaire.

Die Briefe an Fyot de la Marche datieren von 1711. Voltaire ist damals noch Jesuitenzögling im Collège Louis le Grand. Fyot de la Marche, Sohn des Barons Fyot de la Marche, Parlaments-Präsidenten in Dijon, hat die Anstalt bereits verlassen, ist nach Hause zurückgekehrt, um in die väterlichen Fußtapfen zu treten, die hohe Rechtskarriere einzuschlagen und seinerseits an dem burgundischen Gerichtshof zu tagen.

Das einzige äußerlich charakteristische Detail über den Freund gibt Voltaire, indem er ihn einmal »un peu lourd« nennt, jedenfalls nur körperlich, denn Voltaires Freunde sind stets regen Geistes gewesen. In seinem denkwürdigen Streit mit dem Président de Brosses hat Voltaire später auch den einstigen Schulkameraden mehrfach als Schiedsrichter angerufen.

Der kaum 17jährige Voltaire schreibt nun dem gleichaltrigen Freund in folgendem Stil: Beuchot, t XXXIII, p 1 »Monsieur, ma lettre va augmenter le nombre de celles que vous recevez de ce pays-ci. Je ne vous dirai point combien votre éloignement m'afflige … Je finirais en vers, mais le chagrin n'est point un Apollon pour moi et j'aime autant dire la vérité en prose …« Und er entwickelt das Motiv der Trennung nach allen Regeln der Kunst: »Toutes les fois que je regarde par la fenêtre, je vois votre chambre vide … Votre départ m'avait si fort désorienté que je n'eus ni l'esprit ni la force de vous parler, lorsque vous me vîntes dire adieu, et le soir que je soutins ma thèse, je répondis aussi mal aux argumentants qu'à l'honnêteté que vous me fîtes.« – Er erzählt auch, daß der Repetitor zweimal vergeblich an Fyots Zimmer geklopft.

Seiner Freude über ein erhofftes Wiedersehen gibt er folgenden Ausdruck: »On m'a flatté de l'espérance de vous revoir au mois d'août, je crois que vous aurez la bonté de me le faire savoir.«

Und er schließt. »En attendant, je suis et serai toujours avec un profond respect et toute l'amitié possible, votre très humble et très obéissant serviteur Arouet.«

In allen folgenden Briefen an Fyot de la Marche – es sind ihrer fünf – bleibt Voltaire diesem Tone treu. Der Kamerad wird mit »cher Monsieur« oder »Monsieur« angeredet »Mon cher ami«, »mon ami«, sind selten, obgleich diese Anrede im Französischen auch Fernerstehenden gegenüber doch ganz geläufig ist und auch damals schon war.

Voltaire berichtet dem Kameraden über die kleinen Erlebnisse des Collège Es bestand in dem Collège ein Diskutierklub. Man hat ihm eine »retraite« auferlegt, d. h. ihn zur geistlichen Erbauung acht Tage in Clausur geschickt. Voltaire hält sich für das Schweigen der Einsamkeit dadurch schadlos, daß er sofort nach Aufhebung der Clausur an Fyot schreibt: Beuchot, l c, p. 2 »Monsieur, tout frais moulu d'une retraite, tout nouvellement débarqué du noviciat, muni de 50 sermons, je viens, pour surcroît de consolation de recevoir votre lettre.« – Diesmal ist sein Leitmotiv nicht die »Trennung«, sondern die »Einsamkeit«, und er entwickelt es, wie er's in der Grammatik und Rhetorik bei den guten Dialektikern, seinen Lehrern, gelernt: »Ma solitude de 8 jours m'apprend à être ici un peu solitaire, mais que je renoncerais volontiers à la vie monastique pour avoir le bonheur de vous voir … Lorsqu'on est seul, outre qu'on est en danger de trouver la compagnie ennuyeuse, il faut au moins avoir quelqu'un à qui on puisse dire que la solitude est agréable.«

Er versucht dann, jedoch nicht sehr glücklich, »le style dévot« nachzuahmen und unternimmt eine »Kritik« des Briefes von Fyot, Kritik, die ihm zu Komplimenten für den Freund, zur Herabsetzung seiner eigenen Talente Anlaß gibt »Pardonnez-moi donc, cher Monsieur, si la stérilité où je me trouve non de sentiments mais d'expressions etc. (ein echtes »marivaudage«, vor Manvaux) und er schliefst mit dem Wunsch: »Mon cher Monsieur, je souhaite avec passion de vous voir.«

Der nächste Brief Beuchot, l. c, p. 4. 5. ist ein nicht ganz gelungener Versuch, sehr zuvorkommend, schmeichelhaft und geistreich zu sein. – Der Witz, wie man ihn in Frankreich versteht, die Gegeneinanderstellung logischer Wortunterscheidungen, wetterleuchtet überhaupt durch alle diese Briefe des wohlgedrillten, geistreichen Jesuitenzöglings. – Der Logiker Voltaire schreibt da folgenden Satz: Fyot hat sich »paresseux et épicurien« genannt, »la volupté« liegt ihm »dans la sagesse et la vertu«. »Moi«, antwortet Voltaire, »n'ayant ni vertu, ni sagesse, je ne connais point la volupté«. Er liebt diese logischen Spielereien, gaukelt gerne mit Begriff und Worten, er schmiedet sein dialektisches Schwert frühzeitig zurecht; das Feuer, mit dem er es fuhren sollte, schlug freilich erst später in seiner Brust zu vollen Flammen auf. Vorläufig ist der junge Voltaire vor allem wohldressierter Verstand

Seine damalige Abgeklärtheit erscheint, besonders in Hinblick auf spätere Ereignisse, manchmal fast komisch. – In dem Briefe vom 23. Juli 1711 l, p. 5-8 äußert er sich über einen Mitschüler, den die vorsichtigen Patres eines Spottgedichtes halber relegiert. Der Jüngling hatte sich anscheinend die J. B. Rousseau zugeschriebenen »Couplets« zum Vorbild genommen und seiner satirischen Ader freien Lauf gelassen. Wen seine Geißelhiebe getroffen, berichtet Voltaire nicht. – Aber es ist pikant zu sehen, wie der gewaltigste Polemiker, den Frankreich besessen, sich als Siebzehnjähriger und noch im Stande polemischer Unschuld über den »schuldigen« Kameraden äußert. Er spricht von ihm als »Monsieur Dauphin« und sagt zu Fyot: »vos lettres sont des témoignages de votre amitié, ses satires sont les marques de sa légèreté. Je sais que quelquefois ce n'est pas l'amitié qui dicte les lettres, comme ce n'est pas souvent la simple légèreté qui aiguise les traits de la satire, mais je ne puis douter ici que la prose que vous m'écrivez et que les vers que forgeait notre poète, ne partent de ces principes.«

So schreibt der Siebzehnjährige über einen Kameraden an einen Kameraden: Mit sicherem Verstand und fester Hand lenkt er die beiden Begriffe, die er gleich Rößlein in das Joch seiner Logik gespannt, auf der Bahn der Dialektik zum rhetorischen Ziel. Ihm sitzt seine klassische Schulung fest, … Überschwang des Herzens wirft ihn nicht aus der grammatischen Konstruktion.

Hat er sich einmal zu beklagen, er tut es in der freundlichsten, vorsichtigsten Weise: »J'ai été un peu fâché, je l'avoue, d'apprendre d'un autre que vous aviez été malade, lorsque j'ai reçu yotre lettre qui a dissipé et le chagrin que j'avais de votre indisposition et la crainte où j'étais que vous m'eussiez oublié.« – Man beachte auch hier wieder den vollkommenen Parellelismus: et le chagrin que … et la crainte où … Und der geübte Stilist schließt. »Pardonnez-moy cette plainte, et je vous pardonnerai votre petite négligence.«

Der Brief endigt dann mit einem Exkurs über den geistlichen Stand, der bereits den späteren Polemiker zeigt; der fünfte Beuchot, l c, p 8 9. enthält die Schilderung eines Schulfestes, die den späteren Feuilletonisten Voltaire in vollem Besitz seines Talentes aufweist. Der kanns, der ist fertig und braucht nichts Nennenswertes mehr hinzuzulernen. Nicht nur seine literarische Form, seine Beherrschung des Stils, nein auch seine Menschenkenntnis sind –, unheimlich.

Der durchdringende Verstand, der seinen Sitz hinter der hohen Stirn des jungen Arouet aufgeschlagen, und der es dort so hell, wenn vielleicht auch nicht immer warm machte, der blitzte auch aus den Augen des Jünglings, so daß bei der Preisverteilung 1710 in Louis le Grand, der grosse Mann des Tages, J. B. Rousseau, dem »écolier d'assez mauvaise physionomie ist in dem Sinne zu verstehen, wie man sagt: Jemand sieht schlecht aus, Voltaire war ja mager, kränklich und unschön von Gesicht. mais d'un regard vif et éveillé« gerne den traditionellen Kuß gab.

Da die beiden oben genannten Briefe für den jungen Voltaire höchst bezeichnend sind, und wir ja an charakteristischem Material keinen Überfluß haben, setze ich beide Stellen her.

Ein Bekannter hat Voltaire hinterbracht, man erzähle sich, er und Fyot wollten geistlich werden. (Vielleicht ist dieser »Bekannte« auch nur eine Erfindung Voltaires, um eine schöne rhetorische Entwicklung über das Klosterleben an den Mann zu bringen.)

Voltaire berichtet, er habe dem Überbringer dieses Gerüchtes geantwortet, daß er, Voltaire »n'avait pas assez de mérite pour tourner de ce côté-là«, und daß Fyot de la Marche »avait trop d'esprit pour faire cette sottise«.

»Je ne crois pas«, fährt er fort, »que nous ayons grande envie d'imiter certains écoliers du Collège des jésuites qui dans une conversation pieuse et badine, je n'ose pas dire ridicule (il l'a osé plus tard!) ayant fait réflexion sur les dangers du monde dont ils ne connaissent pas les charmes et sur les douceurs de la vie religieuse dont ils ne prévoyaient pas les dégoûts, conclurent qu'il fallait renoncer au monde. II ne leur restait plus que l'embarras de choisir l'ordre où ils prétendaient recueillir les fruits de leur conversation. Choisir était trop pour eux, tout genre de vie leur paraissait bon pourvu qu'ils quittassent le pays du crime, c'est ainsi qu'ils appelaient tout ce qui n'était pas cloître ou moinerie. Tous les ordres considérés l'un après l'autre en un quart d'heure, leur paraissaient si doux qu'ils ne pouvaient s'attacher à aucun, sans regretter les autres et ne se fussent jamais déterminés, ainsi que l'âne de Buridan qui mourut entre deux picotins d'avoine; enfin comme la raison ne pouvait décider, ils résolurent de faire le sort maître du parti qu'ils devaient prendre pour le reste de leur vie: l'habit des successeurs d'Elysée échut à l'un, l'autre eut pour son partage le bonnet et la robe des faiseurs d'évêques, ainsi un coup de dés détermina la vocation d'un carme et d'un jesuite. Pour moi, ma vocation sera d'être toujours de vos amis, je renoncerais à beaucoup d'autres en faveur de celle-là.«

Und dieses hübsche Stückchen Rhetorik schließt mit der eleganten Phrase. »Souffrez que je réitère à la fin de ma lettre une prière que je vous ai faite au commencement, c'est celle de me récrire.«

Dergleichen sagen sich Schulkameraden sonst in drei Worten. Der junge Voltaire ist aber nicht umsonst einer der meistversprechenden Zöglinge des eleganten modischen Collège Louis le Grand, dem auch der hohe Adel seine Söhne anvertraute, damit sie, unter geistlicher Zucht, »Weltmänner« wurden.

Der letzte Brief an Fyot de la Marche, vom 6. oder 7. August 1711 Beuchot, l. c., p. 8. 9. erzählt von der Aufführung einer Schultragödie, einem in Jesuitenschulen besonders beliebten Zeitvertreib. – Verfasser des Stückes war der Père Lejay, Professor der Rhetorik, mit dem Voltaire absolut nicht auskommen konnte. Der Spottvogel durfte auch an » Crésus« und dem darauf folgenden Ballett » Apollon législateur« wohl manches ausgesetzt haben. Daß er sich bei der Darstellung unbändig belustigt, geht aus dem Briefe an Fyot de la Marche hervor, in dem ein wahres Höllenfeuer mutwilliger Bosheit prasselt. Mit dem Holz hat Voltaire später auch die Flammen seiner Polemik geschürt: »… Une grosse pluie a fait partager le spectacle en deux après-dînées, ce qui a fait autant de plaisir aux écoliers que de chagrin au Père Lejay. Deux moines se sont cassé le col l'un après l'autre si adroitement qu'ils n'ont semblé tomber que pour servir à notre divertissement, le nonce de sa Sainteté nous a donné 8 jours de congé. Monsieur Thévenard a chanté, le Père Lejay s'est enroué, le Père Porée a prié Dieu pour obtenir un bon temps, le ciel n'a pas été d'airain pour lui, au plus fort de sa prière le ciel a donné une pluie abondante, voilà à peu près ce qui s'est passé ici.«

So stellte sich der Schüler Voltaire zu einem Kameraden: glatt, glänzend, höfisch, weltmännisch, mit starkem Vorherrschen des Verstandes und einem in Fleisch und Blut übergegangenen klassischen Drill. – Die Förmlichkeit dieser Briefe mag man versucht sein, Voltaires Erziehung zur Last zu legen, den Mangel tieferen Gefühls aber dem Streben vieler junger Menschen, sehr weise und abgeklärt zu erscheinen.

Ich glaube, letztere Interpretation wäre irrig. – Voltaire war ein ungemein frühreifes Kind, das altklug sich mit den großen Daseinsrätseln plagte, wenn die Genossen munter umher spielten. In ganz jungen Jahren hat er die Mutter verloren und ist bei dem königlichen Rat Arouet in einer Atmosphäre kühler Juristerei, trockner, verstandesmäßiger Aufklärung erwachsen. –

Der Rationalismus hatte bereits dem Knaben, den sein Pate, der abbé Châteauneuf, in frühester Jugend die » Moïsade« lehrte, ganz unbewußt seinen Stempel aufgedrückt.

Das kalte höfische Internat der Jesuiten konnte dieses Übergewicht des Verstandes bei dem Knaben nur verstärken.

Wohl berichtet uns der Père Porée, sein junger Zögling habe ein warmes Herz für menschliches Leid gehabt, in den Briefen des jungen Voltaire an den Freund, hat sich das Herz aber gar wunderlich verklausuliert, und wenn wir nun Voltaires Liebesbriefe an Olympe Dunoyer zur Hand nehmen, so muß man gestehen, daß auch hier der Jugend lebhafteste, spontanste Gefühle oft in gar stelziger, konventioneller Weise ausgedrückt sind. Lag es daran, daß Voltaires Neigung zu »Pimpette« mehr auf freundlichem Mitleid als auf Liebe beruhte, oder hatte der Gott der Rhetorik ihm ein für alle Mal den schlicht rührenden Ausdruck tiefen Gefühls untersagt? – die Frage wird unentschieden bleiben müssen, denn Voltaires Briefe an die Frau, die er später wirklich geliebt, an die Marquise du Châtelet, sind verschwunden und ein Vergleich mit den Episteln an Olympe Dunoyer unmöglich.

Im Haag, wohin der zürnende Vater den verseschmiedenden Tunichtgut verschickt, als Schützling des französischen Gesandten Châteauneuf, lernte Voltaire Fräulein Dunoyer kennen. – Ihr Vater war Franzose und Katholik, die Mutter, eine Protestantin, hatte sich mit ihren beiden Töchtern nach Holland begeben und sie dort dem protestantischen Glauben erhalten. Nach allem, was wir von ihr wissen, war Madame Dunoyer aber weit mehr Abenteurerin und Intrigantin als Glaubensheldin. Sie gehörte zu den Freibeutern des Parnass, schrieb für literarische Klatschblätter und scheute vor einem Skandal, wenn er ihrer Ansicht nach einträglich war, nicht zurück.

Beide Töchter entzogen sich später ihrem Einfluß, die älteste trat ins Kloster, Olympe heiratete den Baron Winterfeld, der 1757 bei Kollin fiel.

Die 14 Briefe an Olympe Dunoyer sind von Ende 1713, Anfang 1714.

Der erste beginnt: »Je crois, ma chère demoiselle, que vous m'aimez.« – Der Satz ist für den »verliebten« Voltaire so charakteristisch, daß er uns weiterer Citate fast entheben dürfte. So schreibt ein Großpapa, aber nicht ein 19jähriger Jüngling.

Doch Voltaires Beziehungen zu »Pimpette« (diese vertrauliche Bezeichnung kommt mehrmals neben der »chère demoiselle« vor) sind gerade durch ihren väterlichen Charakter eigenartig genug, um näher studiert zu werden. – Er ist nämlich Liebhaber, Freund und Seelsorger zugleich, er will das junge Mädchen der unwürdigen Mutter entziehen, sie nach Frankreich und in den Schoß der katholischen Kirche zurückführen. Da der Gesandte von diesen Bekehrungsversuchen diplomatische Verwicklungen befürchtet, setzt er Voltaire hinter Schloß und Riegel und befiehlt ihm schnelle Abreise nach Paris.

Voltaire, der Olympe nun heimlich Briefe zukommen läßt, äußert sich über diesen Zusammenbruch seiner Pläne wie folgt: Beuchot, l. c, p 9. »Vous pouvez juger de ma douleur, elle me coûterait la vie, si je n'espérais de pouvoir vous servir en perdant votre chère présence … Faites tous vos efforts pour obtenir votre portrait de madame votre mère, il sera bien mieux entre mes mains que dans les siennes, puisqu'il est déjà dans mon coeur … Je vous dis adieu, mon cher cœur, pour la dernière fois, je vous le dis en vous jurant toute la tendresse que vous méritez. Oui, ma chère Pimpette, je vous aimerai toujours, les amants les moins fidèles parlent de même, mais leur amour n'est pas fondé comme le mien sur une estime parfaite … Adieu, encore une fois, ma chère maîtresse, songez un peu à votre malheureux amant, mais n'y songez point pour vous attrister, conservez votre santé, si vous voulez conserver la mienne; ayez surtout beaucoup de discrétion, brûlez ma lettre … consolons-nous par l'espoir de nous revoir bientôt, et aimons-nous toute notre vie … Je ne veux que votre bonheur, je voudrais le faire aux dépens du mien, et je serai trop récompensé quand je me rendrai le doux témoignage que j'ai contribué à vous remettre dans votre bien-être. Adieu mon cher cœur, je vous embrasse mille fois, Arouet.«

»Remettre Olympe dans son bien-être« bedeutete, daß Voltaire sie den, freilich nicht einwandsfreien, Kreisen der Mutter und dieser selbst entziehen wollte. Es chokierte ihn, das junge Mädchen aus guter Familie und von gutem Charakter in solcher Umgebung zu sehen. Er ist Olympe gegenüber etwas wie ein väterlicher Beschützer, und diese verständige Note findet sich in allen Briefen wieder. Wohl sagt er im II. Brief: l. c., p 11 »Oui, mon adorable maîtresse, je vous verrai ce soir, dussé-je porter ma tête sur un échafaud.« Und im III. Brief l. c, p 12 schreibt er: »Vous ne pouvez venir ici; il m'est impossible d'aller de jour chez vous: je sortirai par une fenêtre à minuit, si tu as quelque endroit où je puisse te voir … enfin si tu peux consentir à cette démarche sans courir de risque, je n'en courrai aucun.«

Aber diese »leidenschaftlichen« Erklärungen und extremen Entschlüsse begleitet Voltaire in denselben Briefen mit Sätzen wie »rappelez toute votre vertu, et toute votre présence d'esprit« … notre amour est fondé sur la vertu« – Einem »Je t'adore« folgt das »et je me réserve à t'exprimer toute ma tendresse en te voyant« Beuchot, l c, p 11 – auf dem Fuße.

Das Rendez-vous um Mitternacht wird verlangt, weil Voltaire ihr »des choses d'une conséquence extrême« zu sagen hat. l c, p 12 Und als Olympe, will anders sie Voltaire sehen, nichts übrig bleibt, als ihn in Männerkleidern in seinem Hotel zu besuchen, entschuldigt der wohlerzogene Voltaire sich für diese Zumutung: »A quelle cruelle extrémité sommes-nous réduits, ma chère? Est-ce à vous à me venir trouver? Voilà cependant l'unique moyen de nous voir.« l c., p 13 – Und er bezeichnet später als »son plus grand malheur«, »de hasarder ainsi la réputation« l c, p. 15 des jungen Mädchens.

Aber im fünften Briefe macht er schon galante Verse über diesen Besuch »Enfin je vous ai vu, charmant objet que j'aime. l c, p 13. Über Olympes Mutter drückt er sich sehr scharf und unfreundlich aus. l c, p 11 12 15 Madame Dunoyer, die später Voltaires Briefe an ihre Tochter veröffentlichte, da sie glaubte dabei ein gutes Buchhändlergeschäft zu machen, hat diese scharfen Worte wohl verdient. Es ist aber immerhin ein seltsames Kompliment an die Geliebte: »Que je vous sais bon gré, mon cher cœur, d'avoir pris le bon de votre mère, et d'en avoir laissé le mauvais.« l c., p 18

Kurz vor seiner Abreise schreibt er ihr noch: »Si on pouvait écrire en baisers, je vous enverrais une infinité par le courrier. Je baise, au lieu de vous, vos précieuses lettres, où je lis ma félicité. Adieu, mon cher cœur.« l c., p 19.

Von der Reise aus heißt es: »Je n'ai point passé dans ma petite vie de plus doux moments que ceux où vous m'avez juré que vous répondiez à ma tendresse … Adieu, ma chère maîtresse, je vous estime trop pour ne pas vous aimer toujours.«

Aus Paris schreibt er: »J'ai fait tout ce que j'ai pu pour vous remettre dans votre bien-être,« Beuchot, l c, p 23. d. h. Voltaire hatte den Père Tournemine, seinen früheren Lehrer, und durch ihn den Bischof von Evreux für Olympes Rückkehr nach Frankreich und ihren Übertritt zur katholischen Kirche interessiert. – Der Gedanke, daß sie doch in Holland bleiben könnte, erregt ihn sehr: »je vous promets bien sûrement que je me tuerai à la première nouvelle que j'en aurai.« l. c, p 23.

Er schließt diesen Brief und den folgenden mit zwei Stellen, die Voltaires »Jugendliebe« äußerst treffend charakterisieren: »la tristesse, la crainte, l'amour m'agitent violemment, mais j'en reviens toujours à me rendre le secret témoignage que je n'ai rien fait contre l'honnête homme, et cela me sert beaucoup à me faire supporter mes chagrins. Je me suis fait un vrai devoir de vous aimer, je remplirai ce devoir toute ma vie.« l. c, p 24

Und: »Vous savez bien, ma chère Olympe, que mon amour n'est point du genre de celui de la plupart des jeunes gens, qui ne cherchent en aimant qu'à contenter la débauche ou la vanité; regardez-moi comme un amant, mais regardez-moi aussi comme un ami véritable; ce mot renferme tout.« l. c, p 26.

Dieses Wort sagt allerdings alles über die »Liebe« des jungen Voltaire.

Ihm hatte die Natur einen Verstand gegeben, und sein Leben, seine Erziehung hatten ihn noch ausgebildet, einen Verstand, so klar, so hell, so unbestechlich, daß er in alle Beziehungen seines Daseins, auch in die Verhältnisse des Herzens hineinleuchtete. Damit war jedem Überschwange des Gefühls, jeder Vorherrschaft der dunklen Leidenschaften der Seele vorgebeugt. – Voltaire ist seiner Jugendliebe Olympe Dunoyer ein treuer Freund gewesen und später noch für sie eingetreten. Supplément Siècle de Louis XIV. Beuchot, t XV, p 127

Diese Haltung ist für ihn typisch. Wir finden sie der Marquise du Châtelet gegenüber wieder, welcher Freundschaft ihn mindestens so verband wie Liebe, und der er – der Lockungen Friedrichs des Großen ungeachtet und den tragischen letzten Ereignissen zum Trotz – ein treuer Freund blieb.

Nicht nur Olympe Dunoyer, sondern auch der Marquise gegenüber hat Voltaire »rien fait contre l'honnête homme«.

Treue Freundschaft ist der Kernpunkt von Voltaires Gemütsleben gewesen.

Condorcet in seiner »Vie de Voltaire« findet Voltaire in den Briefen an Olympe Dunoyer entweder »exageré« oder »froid«. Beuchot, t I, p 194

Ich möchte dem Urteil nicht ganz beistimmen. Gewiß, es sind dieses nicht die überschwenglichen Liebesbriefe, die wir von einem 19jährigen Jüngling erwarten. Man vergleiche die Briefe an Olympe jedoch mit denen an Fyot de la Marche, und man wird sehen, wie ungemein viel einfacher, ungesuchter, schlichter sie sind als jene rhetorischen Episteln. Hier haben der schöne Stil und vor allem der Aufbau, die Komposition oftmals ihr Recht verloren. – Gewiss, der junge Voltaire liebt und schreibt nicht wie der junge Goethe. Dafür war letzterer auch ein Kind des Gefühls, ein Neuerer, ein Stürmer und Dränger, ersterer aber ein Kind des Verstandes und Erbe einer bis ins Kleinste ausgefeilten, hohen, alten Kultur.

 

Über Voltaires Beziehungen zu älteren Kollegen in Apoll oder bedeutenden Schriftstellern der Zeit geben zwei Briefe an den abbé Chaulieu und je ein Brief an Fontenelle und J. B. Rousseau Aufschluß. Die ersten beiden sind von 1716, die letzteren von 1721, 1722.

Dem abbé Chaulieu, diesem anmutigen Anakreontiker der Tempelrunde, schreibt er: »Monsieur, Beuchot, l c, p 30 vous avez beau vous défendre d'être mon maître, vous le serez, quoi que vous en disiez. Je sens trop le besoin que j'ai de vos conseils; d'ailleurs les maîtres ont toujours aimé leurs disciples, et ce n'est pas là une des moindres raisons qui m'engagent à être le vôtre … Je me souviens bien des critiques que Mr. le grand prieur et vous me fîtes dans un certain souper … ce souper-là fit beaucoup de bien à ma tragédie.«

Von Sully aus schickt er ihm leichte Verse, die beweisen, daß der »disciple« den »maître« in diesem tändelnden Genre längst erreicht hat.

Fontenelle erhält einen zierlichen und schmeichelhaften Brief l c, p. 56 über seine » Pluralité des Mondes«, obgleich die Damen in Villars sich jetzt nur noch für die Gestirne interessieren, die anwesenden Männer sie aber »plus volontiers bergères que philosophes« gesehen hatten.

Dem Lob gibt er dann folgende Form: »C'est à vous que nous nous adressons, Monsieur, comme à notre maître. Vous savez rendre aimables les choses que beaucoup d'autres philosophes rendent à peine intelligibles, et la nature devait à la France et à l'Europe un homme comme vous pour corriger les savants, et pour donner aux ignorants le goût des sciences.«

Ohne es zu ahnen, hat Voltaire in diesen Zeilen ein Urteil gefällt, das in noch viel höherem Maße auf ihn selbst als auf Fontenelle paßt. In weit höherem Maße als Fontenelle hat Voltaire die Forschungen der Fachgelehrten, z. B. eines Newton, popularisiert, dem großen Publikum an der (von ihm geschaffenen) Kulturgeschichte im modernen Sinne Geschmack eingeflößt (ich erinnere nur an » le Siècle de Louis XIV«) und endlich die Fachwissenschaft der Exegeten und Dogmatiker, der Historiker und der Naturwissenschaftler in seinen Aufklärungsschriften, dem Dictionnaire Philosophique, den zahllosen Pamphleten zum Allgemeingut gemacht.

Doch, wie gesagt, Voltaire hat 1721 kein Vorgefühl davon, daß auf diesem Gebiet seine wirklich unvergänglichen Taten, sein unsterblicher Ruhm liegen sollen.

Er ist damals ganz Poet, ein Poet im Sinne seiner Zeit, dem Dichtung »gereimter Verstand« in wohlgeschliffen geistreicher Form war.

Daß er diese »Poesie« in den Dienst der Aufklärung stellen würde, war ihm beschlossene Sache, Beweis sein » Œdipe« und seine » Henriade«. Über letztere berichtet er an J. B. Rousseau.

Vor kaum neun Jahren war Voltaire bei der Preisverteilung bewundernd vor dem großen Mann gestanden. Im Januar 1722 schreibt er ihm, zwar sehr höflich und schmeichelhaft, jedoch als ein Mitstrebender, der schon von sich reden gemacht und Erfolge zu verzeichnen hat:

»… Mon estime pour vous, et le besoin que j'ai des conseils d'un homme, seul capable d'en donner de bons en poésie, m'ont déterminé à vous envoyer un plan que je viens de faire à la hâte de mon ouvrage: vous y trouverez, je crois, les règles du poème épique observées.« Beuchot, l. c., p. 60.

Letzterer Passus ist absolut charakteristisch für Voltaire als »Dichter«. Er ist nicht umsonst durch die Schule zweier Silbenstecher wie Malherbe und Boileau gegangen. Er hat seine Ars poetica wohl studiert, ist im Besitze einer völlig ausgebildeten Sprache, schreibt einen glatten, behenden Stil, hat Gedanken, besitzt Lebensweisheit und Manieren – damit kann ein höfischer Poet es wagen.

Von irgend welcher Unsicherheit in Betreff seiner Mission findet sich in des jungen Voltaire Korrespondenz keine Spur.

Seine materielle Lage, wir wissen es aus seiner Biographie, war keineswegs eine sichere, die Beziehungen zu seinem Vater waren bis zum Erfolg des Œdipe die denkbar schlechtesten, er lebte, wie der Vogel auf dem Zweig, bald hier, bald dort zu Gast, stets vom väterlichen Zorn, einem Exil, einer Gefangenschaft, einer Verschickung bedroht. – Seine Briefe aber verraten nichts von dieser äußeren Unsicherheit. Und sie verraten ebensowenig inneres Schwanken, noch Zweifel am eigenen Können, noch Bangen um den endlichen Erfolg.

Der junge Voltaire war, wie wir bereits konstatiert, mit 27 Jahren schon ganz fertig. Er fühlte sich im sicheren Besitze einer sein ganzes Sein beherrschenden Idee: Aufklärung, religiöse Duldung; einer unerschöpflichen Verve, die sich aus den Absurditäten, die er bekämpfte, stets erneuerte; eines tiefen, tatkräftigen Mitleids für die Opfer des Fanatismus und, last not least, einer literarischen Formgewandtheit, eines Schatzes an Geist, die ihn zu einem gewaltigen Athleten in der geistigen Arena machten.

Auf dem französischen Parnaß, mit seinen geregelten Verhältnissen, seiner Hierarchie, seiner sauberen Einteilung in Klassen, Stufen, Ränge, war der Platz für ein solches Talent von vorneherein markiert. Das Publikum, literarisch hochgebildet, war auch sofort im Stande, diesen Aufstrebenden zu würdigen und richtig einzuschätzen. Hof, Adel, Akademie waren sein Nährboden und sein Ziel, und Preisbewerbungen gaben ihm die erste Gelegenheit, von sich reden zu machen.

Voltaire, der nach Regeln dichtete, kam auch in geregelte literarische Verhältnisse. Sein Weg lag, durch viele erlauchte Vorbilder bezeichnet, klar vor ihm, und auch verschwiegenen Zweifel an sich, seiner Mission, seinem Erfolg durfte er (ausgedrückt hat er ihn nicht, er hatte ihn ja aber empfinden können) in nennenswerter Weise nicht gekannt haben.

Die Briefe an Persönlichkeiten des Adels, an seine Gönner und Freunde zeigen Voltaire als den vollendeten Weltmann. Sie geben das Bild des abgeschliffenen, tändelnden, schwatzenden Jünglings, der sich bemühte, trotz geringer pekuniärer Mittel, munter im Strom der damaligen jeunesse dorée mitzuplätschern.

Dieser Voltaire ist sehr bekannt, er hat sich nie verändert, und er hält, was er in den Briefen an Fyot de la Marche versprach. Ich habe letztere eingehend analysiert und brauche mich bei den übrigen um so weniger aufzuhalten, als sich ein Gegenstück dazu bei Goethe nicht findet.

Einblick in Voltaires politisch-diplomatische Ambitionen, freilich sehr untergeordneter Art, gibt der Brief an den Kardinal Dubois, den Spion Salomon Levi betreffend.

Diese Seite von Voltaires Tätigkeit ist dem jungen Goethe völlig fremd. Das Genie der Intrigue, das Voltaire, schon als junger Mann, gern in den Adelssalons, den Theaterkulissen und den Kreisen der Pariser Unterwelt entfaltete, bildete keinen Teil von Goethes Natur.

Frühreif und weltklug, gewandt und höfisch, überaus verständig und verstandesklar, maßvoll und selbstbeherrscht, ohne Überschwang des Gefühls, aber zuverlässig und aufopfernd in der Freundschaft tritt uns der junge Voltaire entgegen.

Er ist so fertig, innerlich so abgeklärt und erfahren, äußerlich so sicher und bewußt, daß man sich allen Ernstes fragt, ob er wohl wirklich einmal »jung«, d. h. töricht und formlos gewesen?

Dieses frühreife, durch und durch rationelle, auf praktische Wirksamkeit, praktische Resultate hindrängende Genie, das sich mit Grazie zwischen den starren Notenlinien der französischen Parnaßmusik zurechtfindet, ist der bewußte Erbe der ältesten, feinsten Kultur Europens.

Er hat so gut wie gar nichts Dunkles, Unbewußtes.

An ihm haftet fast nichts mehr von Primitivem.

Die Liebe wird bei ihm ganz natürlich zur Freundschaft, und die Freundschaft zur praktischen Dienstbarkeit oder zum höfischen Getändel.

Elementar ist er nur in zwei Punkten geblieben, die seine Jugendbriefe freilich nur ahnen lassen: in seiner Eitelkeit und – in seinem geistigen Zorn. Aus diesen beiden Kratern sprühen dann die heißen Flammen dieser sonst so selbstbeherrschten Natur.

Dank seines durchdringenden, unbestechlichen Verstandes aber ist er ein Born des Lichtes gewesen. Klar, absolut klar und formvollendet tritt er auf den Plan.

Das läßt ihn oftmals kühl erscheinen, da, wo andere, weniger höfisch und gesellschaftlich gedrillte Nationen, einen spontanen Schrei des Herzens erwarten.

Den jungen Voltaire umfangen die Etikette seiner hochzivilisierten Zeit und die Regeln einer ausgeklügelten Literatur.

Fein, glatt, zierlich steht er vor uns, mit der gewaltigen Stirn, den durchdringenden Augen, den schmalen spöttischen Lippen, ein in sich fertiges Produkt höchster Kultur, Lucifer – Lichtbringer.

 

»Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein«, darf man in Bezug auf die Briefe des jungen Goethe im Vergleich zu denen Voltaires sagen.

Zwar die ersten zwei Briefe, die der Fünfzehnjährige an Ludwig Ysenburg von Buri, Goethe-Briefe, p. 1-6. einen Siebzehnjährigen, richtet, sind in ihrem langatmigen, gedrechselten Stil das deutsche Gegenstück zu Voltaires rhetorischen Episteln an Fyot de la Marche, wohlverstanden, das deutsche Gegenstück, d. h. schwerfälliger in der Form und gemütvoller im Inhalt.

Buri hatte einen »jugendlichen Tugendbund« gegründet und Goethe suchte seine Aufnahme in diese »Arkadische Gesellschaft Philandria« nach. – Voltaire hingegen war mit zwölf Jahren schon in der Société du Temple vorgestellt, deren Ähnlichkeit mit einem Tugendbund doch nicht gerade zu ihren charakteristischen Merkmalen gehört.

Der junge Goethe beginnt sein erstes Schreiben in schöner, altfränkischer Höflichkeit:

 

»Wohlgebohrner, Ich habe die orthographische Eigenheit durchweg respektiert.
Insbesonders Hochzuverehrender Herr,

Ew. Wohlgebohren werden Sich wundern, wenn ein Unbekannter sich unterstehet, bey Ihnen eine Bitte vorzubringen … Sie sehen aus meiner Vorrede, daß ich zur Zeit um nichts als ihre Bekanntschaft anhalte, biß Sie erfahren, ob ich werth bin, ihr Freund zu seyn, und in ihre Gesellschaft einzugehen.«

 

Er schildert dann seine Fehler (ein Novize muß ja das Bekenntnis seiner Mängel ablegen): »Einer meiner haupt Mängel ist, daß ich etwas heftig bin. Sie kennen ja die colerische Temperamente, hingegen vergißt niemand leichter Beleidigungen als ich. Ferner bin ich sehr an das Befehlen gewohnt, doch wo ich nichts zu sagen habe, kann ich es bleiben lassen.«

Die Unterschrift lautet: »Meines Wohlgebohrnen und Insonders Hochzuverehrenden Herrn aufrichtigst ergebener Diener Joh. Wolfgang Goethe.«

Das ist bei aller zeremoniellen Formelhaftigkeit – einem Ballast, den Voltaires Stil bei aller Verbindlichkeit nie mitschleppt – herzlich naiv.

Dies rührende Gemisch von altfränkischer Höflichkeit und Naivetät findet sich auch in dem zweiten Brief: »Mein Herr, Ich will alle meine Entzückungen und alle meine Freuden versparen, biß ich die Ehre habe Ihnen zu sehen, denn meine Feder ist sie nicht vermögend auszudrücken.«

In diesem Briefe gibt er sich jedoch schon viel freier. Der Absatz, Goethe-Briefe, p. 6 der beginnt. »Wir haben viele Dumm-Köpfe in unsrer Stadt« und schließt »daß Sie statt eines Gelehrten, Ihre Gesellschafft mit einem Rinds-Kopf vermehrt haben«, ist recht das Werk eines Fünfzehnjährigen.

Die seit 1765 folgenden Briefe kann man durch das Wort charakterisieren »Ich bin des trocknen Tons nun satt.« – Der Jüngling emanzipiert sich von den steifen Formen des damaligen deutschen Briefstils, er schreibt, wie er spricht, und er spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Seine Briefe sind sozusagen ein Tagebuch, sind Confessions d'un enfant du siècle, aber des 18. Jahrhunderts und in Deutschland. Goethe schüttet darin sein ganzes Herz aus, spiegelt sein ganzes Seelenleben, sein warmes Gemüt, sein leicht erregbares Gefühl, seine leidenschaftlichen Extreme in Freundschaft und Liebe, seine tiefen, bitterschmerzlichen Zweifel an sich selbst, sein Ringen um den Genius, und das alles in bunter, genialer Unordnung, ganz heiß von Leben. Realistisch mit durchdringendem Blick für die Wirklichkeit und doch kindlich naiv, oftmals inkorrekt in Satzbau, Grammatik und Rechtschreibung, mit einem durchschlagenden, jungenhaften Humor, aber schöpferisch tief und menschlich ergreifend, so tritt er vor uns hin.

In diesen Jugendbriefen ist Goethe das strikte Gegenteil des jungen Voltaire, der letztere so höfisch selbstbeherrscht, so sicher seines Ziels, ersterer so leicht verletzlich, leidenschaftlich, ahnungsvoll im Dunkel seines hohen Schicksals irrend.

Ob er nun an die Schwester, an Freunde, an Jugendgeliebte, an geistige Führer schreibt, er ist stets der Gleiche; deshalb, und weil der junge Goethe uns sowohl bekannter als auch national vertrauter, mehr wesensgleich ist, bedarf es auch weniger zahlreicher Belege, um ihn zu charakterisieren.

An Cornelie Goethe schreibt er am 12. Oktober 1765: Goethe-Briefe, p 9

 

»Liebes Schwestergen,

Es wäre unbillig, wenn ich nicht auch an dich denken wollte, id est es wäre die größte Ungerechtigkeit, die jemals ein Student, seit der Zeit da Adams Kinder auf Universität gehen, begangen hätte; wenn ich an dich zu schreiben unterließe.« –

In dem gleichen Briefe:

»Küsse Schmitelgen und Runckelgen Seine Jugendfreundinnen Schmiedel und Runckel. l. c, p 10 von meinetwegen, die lieben Kinder! … Denk' eine Geschichte vom Henker! Ha, ha, ha, lache! Hr. Claus hat mir einen Brief an einen hiesigen Kaufmann mitgegeben! Ich ging hin, es bestellen. Ich fand den Mann und sein ganzes Haus ganz sittsam, schwarz und weiß die Weibsleute mit Stirnlappgen! so seitwärts schielerisch. Ach, Schwestergen, ich hätte bersten mögen. Einige Worte in sanfter und demütiger Stille gesprochen, fertichten mich ab. Ich ging zum Tempel hinaus. Leb wohl.

Goethe.«

An dieselbe:

»Mädgen, l c., p. 19 ff.

Ich habe eben jetzt Lust mich mit dir zu unterreden; und eben diese Lust bewegt mich an dich zu schreiben. Sey stolz darauf Schwester, daß ich dir ein Stück der Zeit schenke, die ich so nothwendig brauche. Neige dich für diese Ehre die ich dir anthue, tief, noch tiefer, ich sehe gern wenn du artig bist, noch ein wenig! Genug! gehorsamer Diener. Lachst du etwann Närrgen, daß ich in einem so hohen Tone spreche. Lache nur. Wir Gelehrten, achten – was, meinst du etwa 10 rh. nicht? Nein wir gelehrten achten euch andern Mädgen so – so wie Monaden.« –

Wenn er, wie S. 22, 23, Corneliens Brief »kritisiert«, so geschieht das nicht, um ihr Komplimente zu machen, sondern er korrigiert gründlich wie ein Schulmeister: » Abzwecken ist kein Briefwort … verlauten will ist curial … subsistiren ist nicht deutsch etc.«

Die eingestreuten Verse des Sechzehnjährigen:

Ich schreibe jetzt von meinem Belsazar.
Fast ist der letzte Aufzug auch so weit
Als wie die andern sind. Doch wiß du was etc. Goethe-Briefe, p 24. Cf. die französischen Verse p 35. Sie sind, formal, weit besser.

sind recht hölzern. Der gleichaltrige, ja der jüngere Voltaire machte viel bessere. Man lese nur sein Jugendgedicht: Adieu, ma pauvre tabatière.

Aber die Verse sind auch nicht das Charakteristische an dem jungen Goethe. Was ihn so hervorragend liebenswürdig, so »bezaubernd« machte, war sein Herz. Was ihn kennzeichnet, sind Sätze wie: »Ich habe euch gar zu lieb, siehe ich schreibe bey Nacht für euch.« l c, p 27. Er gibt Cornelien und ihren Freundinnen Rat für ihre Lektüre

Was ihn kennzeichnet sind die leidenschaftlichen Ausdrücke der Freundschaft, die er an seine Freunde und Freundinnen richtet.

Am bezeichnendsten sind wohl in diesem Sinne Goethes Briefe an Auguste von Stolberg.

»Meine Teure l c, p. 249 ff. 26. 1 1775 – ich will Ihnen keinen Nahmen geben, denn was sind die Nahmen Freundinn, Schwester, Geliebte, Braut, Gattin, oder ein Wort das einen Complex von all denen Nahmen begriffe, gegen das unmittelbare Gefühl, zu dem – ich kann nicht weiter schreiben … Adieu, halten Sie einen armen Jungen am Herzen.«

Und wieder: »Jetzt gute Nacht und weg mit dem Fieber! – doch wenn du leidest, schreib' mir, ich will alles teilen – o dann laß mich auch nicht stecken, edle Seele zur Zeit der Trubsaal, die kommen konnte, wo ich dich flohe und alle Lieben! Verfolge mich mit deinen Briefen dann, und rette mich vor mir selbst … Liebe! liebe! und so leb' wohl.« Goethe-Briefe, p 261.

An dieselbe: »Beste teilnehmende Seele.« l c, p 269

Und am 3. August 1775, wiederum an Auguste Stolberg: l c, p 270ff »Ich habe mich so oft nach Norden gewandt. Nachts auf der Terrasse am Mayn, ich seh' hinuber und denk an dich! So weit, so weit! … Hundertmal wechselt's mit mir der Tag! … Unseliges Schicksal, das mir keinen Mittelzustand erlauben will!«

Am 14. September desselben Jahres: l c, p 279 »Bey Gott, was hier vorgeht ist unaussprechlich fein und schnell und nur dir vernehmbar.« –

Am 8. Oktober: »Mein Herz l c, p 289. ist übel dran. Es ist auch Herbstwetter drinn, nicht warm, nicht kalt.«

Gar viel ahnliche Stellen, die ergreifenden Zeichen dessen, was Goethe seine »Verworrenheit« nennt, finden sich in den Freundschaftsbriefen an Johanna Fahlmer, Sophie La Roche, Behrisch u. a.

Die warmen, feinen, tiefen und zugleich freien Beziehungen zwischen einem genialen Jüngling und jungen Mädchen oder jungen Frauen seiner Gesellschaft sind eine germanisch protestantische Eigenheit, die in romanischen Landern außerst selten, falls nicht ganz unbekannt ist.

Sie beruhen bei den Beteiligten und ihrem Milieu auf einer reineren, naiveren Auffassung der Beziehungen der Geschlechter, einer Naivetät, die in Frankreich nicht Nationalauffassung ist, und in deren Abwesenheit dann die Konvention, die ausgebildete Etikette herbeigerufen werden muß, um die nötigen Distanzen außerlich aufrecht zu erhalten.

Der junge Voltaire schreibt seiner Jugendgeliebten wie einer Freundin; der junge Goethe schreibt seinen Jugendfreundinnen wie Geliebten.

Das individuelle Temperament beider hat dazu natürlich den Grundton gegeben, aber die nationale Moral und das spezifisch französische oder deutsche Milieu sind nicht ohne Einfluß geblieben.

Wer so leidenschaftlich sein Herz an die Freunde ausschüttet, der wird auch andere Liebesbriefe schreiben als die, welche Voltaire an Olympe Dunoyer richtete.

Daß der junge Goethe ein leicht entzündliches Herz hatte, erzählt er schon, 1764, Cornelien. – Er spricht ihr von seinen Leipziger Bekannten und sagt: »N'est-ce pas, ma sœur, je suis asses drôle, j'aime toutes ces filles-lá.« Goethe-Briefe, p 45. Und er fügt als Erklärung hinzu. l c, p 45. »Qui pourroit s'en défendre, si elles sont bonnes; car pour la beauté, elle ne me touche pas; et vraiment toutes mes connaissances sont plus bonnes que belles«

Seiner – wie er wußte aussichtslosen – Leidenschaft l c, p 38 der Brief an Moors. für Käthchen Schönkopf, gibt er Behrisch gegenüber Ausdruck: »Noch so eine Nacht wie diese, Behrisch, und ich komme für alle meine Sünden nicht in die Hölle … erst konnte ich nicht schlafen, wälzte mich im Bette, sprang auf, raste etc.« l c, p 59.

Gegen Behrisch klagt er auch: l c, p 85. »Nun, oh Behrisch, verlange nicht, daß ich es mit kaltem Blute erzähle. Gott! – diesen Abend schicke ich hinunter, um mir etwas holen zu lassen. Meine Magd kommt und bringt mir die Nachricht, daß Sie mit Ihrer Mutter in der Comödie sey. Eben hatte das Fieber mich mit seinem Froste geschüttelt, und bey dieser Nachricht wird mein ganzes Blut zu Feuer! Ha, in der Comödie! Zu der Zeit, da sie weiß, daß ihr Geliebter krank ist. Gott! Das war arg.«

Am nächsten Tage ist freilich alles wieder gut, und Goethe schreibt, sich selbst beurteilend: l c, p 89. »Dieses heftige Begehren, und dieses heftige Verabscheuen, dieses Rasen und diese Wollust werden dir den Jüngling kenntlich machen, und du wirst ihn bedauern.«

Dann der Abschiedsschrei: »Höre, Behrisch, ich kann, ich will das Madgen nie verlassen, und doch muß ich fort, will ich fort. Aber sie soll nicht unglücklich sein.« l c, p 100.

»Oh, daß du hier wärest, daß du mich trösten, daß du mich lieben könntest« l c, p 102.

An Käthchen Schönkopf seilbt klagt er, von Frankfurt aus: »Es ist das gewöhnliche Schicksal der Verstorbenen, das Ueberbliebene und Nachkommende auf ihrem Grabe tanzen.« Goethe-Briefe, p. 109.

»Vielleicht habt ihr Bälle und Fassnachts Schmäuße, zu der Zeit, da ich im Elend sitze.« l. c, p. 121.

Und als Käthchen Schönkopf verlobt ist und ihm die Neuigkeit mitgeteilt hat, schreibt er mit einer germanischen Bärenhaftigkeit, die Voltaire sich nie gestattet hätte: »Ich wollte, Sie wären kopulirt und Gott weiß, was noch mehr. Aber im Grunde schierts mich doch, das können Sie sich vorstellen.« l. c, p 145.

Das Wetzlarer Idyll, die Beziehungen Goethes zu Lotten und Kestnern, sind so bekannt, und zu gleicher Zeit sind sie etwas so ganz Apartes, Feines, ich möchte sagen Heiliges, daß man ihnen durch kommentierende Worte fast schon zu nahe tritt.

Ich werde daher nur die charakteristischen Stellen einfach zitieren. Goethe, dieser außergewöhnliche Mensch, hat sich zumeist in ganz auf außergewöhnlichen, leidenschaftlich erregten, oft schmerzhaft entsagenden Seelenzuständen befunden – Sein Ehrentitel ist, daß er – in weit größeren Versuchungen und weit drohenderen Gefahren – (wie Voltaire sich ausdrückt.) »n'a rien fait contre l'honnête homme.«

Goethes Briefe von 1772, 1773 zeigen das Sehnen nach der Geliebten, das ihn durch Jahre, auch als Lotte schon Kestners Frau war, nicht verließ, und dem er einen ebenso tief empfundenen wie spontanen und absolut naiven Ausdruck gibt. – Ein Analogon hierzu durfte kein romanisches Volk aufzuweisen haben. – Romanische Seelen sind in diesen Regionen nicht heimisch.

»Er ist fort Kestner, wenn Sie diesen Zettel kriegen, er ist fort. Geben Sie Lottchen innliegenden Zettel.« l. c, p 168.

»Ich binn nun allein, und darf weinen, ich lasse euch glücklich, und gehe nicht aus euren Herzen.« l. c, p 169.

»Gott segne euch lieber Kestner und sagt Lotten, daß ich manchmal mir einbilde ich könne sie vergessen, daß mir dann aber ein Recidiv über den Hals kommt und es schlimmer mit mir wird als jemals.« l. c, p. 170.

Am 6. Dezember: »Ich binn noch immer in Darmstadt und – wie ich immer bin. Gott segne euch und alle Liebe und allen guten Willen auf Erden. Es hat mir viel Wohl durch meine Glieder gegossen der Aufenthalt hier, doch wird's im Ganzen nicht besser werden Fiat voluntas. Wie wohl es euch ist, und nicht erschieserlich, gleich wie es Niemanden seyn kann der auf den drei steinernen Treppen zum Hause des Herrn Amtmann Buff – gehet, hab' ich aus eurem Briefe ersehen.« Goethe-Briefe, p. 147

»Denn wir sind arme, sinnliche Menschen, ich möchte gern wieder was für sie, was von ihr in Händen haben, ein sinnliches Zeichen wodurch die geistliche unsichtbare Gnadengüter pp. wie's in Cathechismus klingt.« l c, p 178.

»Christtag früh. Es ist noch Nacht, lieber Kestner, ich binn aufgestanden, um bey Lichte Morgens wieder zu schreiben … Ich hab diese Zeit des Jahrs gar lieb, die Lieder die man singt; und die Kälte, die eingefallen ist, macht mich vollends vergnügt.« l c, p 180

Zu Lottens Hochzeit: l c, p 188f. »Möge mein Andenken immerso bei Ihnen sein wie dieser Ring in Ihrer Glückseligkeit. Liebe Lotte, nach viel Zeit wollen wir uns wiedersehen, Sie den Ring am Finger und mich noch immer, für Sie … Da weis ich keinen Nahmen, keinen Beynahmen. Sie kennen mich ja.« –

Und als er seine »alte Wetzlarer Strumpfwaschern, die Schwazzern«, die auch Lottens Kindsfrau gewesen, in Frankfurt wiedersieht, schreibt er: »Wenn Beine der Heiligen, und leblose lappen die der Heiligen Leib berührten, Anbetung und bewahrung und Sorge verdienen, warum nicht das Menschengeschöpf, das dich berührte, dich als Kind auf dem Arm trug, dich an der Hand führte, das Geschöpf, das du vielleicht um manches gebeten hast? – Du Lotte gebeten. Und das Geschöpf sollte von mir bitten! Engel vom Himmel.« l c, p. 235.

Als Kestners mit dem Erscheinen des Werther nicht einverstanden sind, wie rührend bittet er da um Verzeihung für sein Meisterwerk: »Es ist gethan, es ist ausgegeben, verzeiht mir, wenn ihr könnt … Haltet, ich bitte euch, haltet Stand.« l c, p 240.

Es bleibt noch ein Wort über das geistige Leben des jungen Goethe zu sagen.

Philipp Stein schreibt in seiner Vorrede: Goethe-Briefe, p. V. »Man sieht nur allzuoft in Goethe den Olympier, nicht den Menschen, der das Wort gesprochen

Auch ich bin ein Mensch gewesen,
Und das heißt ein Kämpfer sein.«

Die vorstehenden Zitate haben von den inneren Kämpfen des angeblichen »Olympiers« wohl schon einen deutlichen Begriff gegeben. Nicht nur auf seelischem Gebiet aber mußte er sich durchringen, auch auf geistigem fehlte ihm Voltaires zielbewußte Sicherheit.

Statt durch seine Erziehung und Bildung, durch sein Milieu und die ihn umgebenden Institutionen in einer seinen Anlagen völlig entsprechenden Richtung entwickelt, gegängelt, gedrängt und geschoben zu werden, steht Goethe in leidenschaftlichem Widerspruch zu seiner Zeit und Umgebung, ihrer offiziellen Dichtung, Wissenschaft und gelehrten Pedanterie. Statt in einer ausgebildeten literarischen Hierarchie, in der Schätzung eines geschmackssicheren Publikums seinen festen gebührenden Platz zu finden, mußte er Literatur, Geschmack, Form, Publikum erst selbst bilden.

Ich setze einige in dieser Hinsicht charakteristische Briefstellen her.

»Man lasse mich doch gehen, habe ich Genie; so werde ich Poete werden, und wenn kein Mensch mich verbessert, habe ich keins; so helfen alle Criticken nichts.« l c, p 48.

»Die guten Studia, die ich studire machen mich manchmal dumm. Die Pandekten haben mein Gedächtniß dieses halbe Jahr her geplagt, und ich habe nichts sonderlich behalten … ich lasse mich hängen, ich weiß nichts.« l. c, p 117.

»Wie gewiß, wie leuchtend wahr, ist mir der seltsame, fast unbegreifliche Satz geworden, daß die Werckstatt des großen Künstlers mehr den reimenden Philosophen, den reimenden Dichter entwickelt als der Hörsaal des Weltweisen und des Kritickers. Lehre thut viel, Aufmunterung alles.« l c., p 69.

»Ein großer Gelehrter ist selten ein großer Philosoph, und wer mit Mühe viel Bücher durchblättert hat, verachtet das leichte einfältige Buch der Natur, und es ist doch nichts wahr als was einfältig ist« Goethe-Briefe, p 132

An Herder, dem er Volkslieder sendet »Ich habe sie bisher als einen Schatz an meinem Herzen getragen … Sie waren Ihnen bestimmt, Ihnen allein bestimmt, so daß ich meinen besten Gesellen keine Abschrift aufs dringendste Bitten erlaubt habe.« l c, p 156

Wieder an Herder über den Entwurf des Gœtz. »Auch unternehm' ich keine Veränderung, bis ich Ihre Stimme höre, denn ich weiß doch, daß alsdann radikale Wiedergeburt geschehen muß, wenn es zum Leben eingehn soll.« l c, p 161

Über Herders » Älteste Urkunde des Menschengeschlechts«: »Er ist in die Tiefen seiner Empfindung hinabgestiegen, hat drinne all die hohe heilige Kraft der simplen Natur aufgewühlt und führt sie nun in dämmerndem, wetterleuchtendem hier und da morgenfreundlich lächelndem, Orphischem Gesang von Aufgang herauf über die weite Welt« l c, p 226 27

Über sein eigenes Schaffen: »Was doch alles Schreibens Anfang und Ende ist die Reproduction der Welt um mich, durch die innre Welt, die alles packt, verbindet, neuschafft, knetet und in eigner Form, Manier, wieder hinstellt, das bleibt ewig Geheimniß Gott sey danck.« l c, p. 233.

In den Versen an Merck:

»Ich zittre nur, ich stottre nur
Ich kann es doch nicht lassen
Ich fühl ich kenne dich Natur
Und so muß ich dich fassen« l c, p 245

An Sophie La Koche: »Täglich streb' ich und arbeit' ich besser zu werden, hab auch Gott sey Danck wieder Relais Pferde für meine weitere Route getroffen.« l c, p 259

Und am gleichen Tage erwähnt er Jacobi gegenüber »das wohin all meine Seele strebt«. Was das aber war, er hatte es nicht deutlich sagen können, er fühlte nur den dunklen Zug seines Schicksals.

Und 1774 ruft der »Olympier« noch: »Was wird aus mir werden. Oh, ihr gemachten Leute, wieviel besser seyd ihr dran.«

Es ist auch noch zu betonen, daß in Goethes Briefen die Natur eine große Rolle spielt, bei dem jungen Voltaire erscheint sie fast gar nicht, oder höchstens als Staffage, wenn die modische und höfische Gesellschaft etwa in Vaux-Villars Astronomie treibt. – Goethe hingegen hat mit der Natur gelebt, ihm war sie Freundin und Mutter, an ihr hat er sich aufgerichtet, sich in ihr beruhigt. Wir kennen diesen engen Zusammenhang Goethes mit der Natur aus seinen Briefen, seinen Gedichten, seinen Werken, besonders Werther, und das überhebt mich der Zitate, wären sie doch außerdem so zahlreich, daß die Wahl schwer fallen müßte.

Auch diese innige Neigung zur Natur, dieses sympathische Mitleben mit ihr ist ein charakteristisch germanischer Zug. Wir Germanen, als die Primitiveren, stehen auch der Natur näher als gerade der Franzose, der seine nationale Kultur auf den Trümmern einer anderen alten Kultur errichtet hat, und dem durch diese Zwischenschiebung der ursprüngliche Zusammenhang mit den dunklen Kräften und ursprünglichen Mächten der Natur durchschnittlich verloren gegangen.

Es ist kein Zufall, daß die Belebung des Naturgefühls in Frankreich nicht von Voltaire, sondern von Rousseau ausging, der von Natur ein Schweizer war. Genf aber ist, allein schon durch seinen protestantischen Charakter, niemals ein rein französisches Milieu gewesen.

Wir haben Goethe nun in seiner jungen Leidenschaft, seiner Einfalt und Tiefe, seiner Ursprünglichkeit und Naivetat, seiner Genialität und Kindlichkeit, seinem Suchen, Ahnen und Sehnen wohl ausreichend charakterisiert. In all diesen Eigenschaften ist er das gerade Gegenteil des jungen Voltaire.

Er ist der »Verworrene«, jener der Klare, er der Suchende, jener der Zielbewußte, er der »Dumpfe«, jener der Scharfe, er der genial Formlose, jener der höfisch Abgeschliffene und genial Geistreiche.

Den einen umhegte ein deutsches Familienleben, ein protestantisches Land, eine germanische Sitte, und der Zug seines Wesens wie seiner Zeit war zur Natur gerichtet. – Die Zivilisation seines Volkes war primitiver, einfältiger, schlichter, unfertiger als die, welche Voltaire umgab und in höfischer Etikette, weltmännischer Form, Galanterie, Salongetändel, Anakreontik, Alexandrinern auch einengte.

Der junge Goethe ist eine herrliche Verkörperung deutschen Gemüts, dieses undefinirbaren Etwas, für das die französische Sprache keinen Ausdruck hat.

Der junge Voltaire ist eine bewundernswerte Verkörperung französischen Verstandes, Maßes und weltmännischen Könnens.

Goethe macht warm, Voltaire hell. – Goethe ist weit tiefer als Voltaire, Voltaire unvergleichlich klarer als Goethe. – Der eine schuf sein Licht, der andere reflektierte das seine vornehmlich. – Der eine ist von Grund auf Natur, der andere Kultur.

Gewaltig aber stehen sie beide da, der eine mit einer deutschen Eigenart, so warm, schlicht und herzlich, der andere typisch französisch in seiner unerschöpflichen Verve und krystallklaren Polemik.

Zwei »Größte« der Menschheit, Voltaire »Genie« und Goethe »Genius«. –

 


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