Friedrich Schiller
Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen
Friedrich Schiller

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Neunzehnter Brief.

Es lassen sich in dem Menschen überhaupt zwei verschiedene Zustände der passiven und aktiven Bestimmbarkeit und eben so viele Zustände der passiven und aktiven Bestimmung unterscheiden. Die Erklärung dieses Satzes führt uns am kürzesten zum Ziel.

Der Zustand des menschlichen Geistes vor aller Bestimmung, die ihm durch Eindrücke der Sinne gegeben wird, ist eine Bestimmbarkeit ohne Grenzen. Das Endlose des Raumes und der Zeit ist seiner Einbildungskraft zu freiem Gebrauch hingegeben, und weil, der Voraussetzung nach, in diesem weiten Reiche des Möglichen nichts gesetzt, folglich auch noch nichts ausgeschlossen ist, so kann man diesen Zustand der Bestimmungslosigkeit eine leere Unendlichkeit nennen, welches mit einer unendlichen Leere keineswegs zu verwechseln ist.

Jetzt soll sein Sinn gerührt werden, und aus der unendlichen Menge möglicher Bestimmungen soll eine einzelne Wirklichkeit erhalten. Eine Vorstellung soll in ihm entstehen. Was in dem vorhergegangenen Zustand der bloßen Bestimmbarkeit nichts als ein leeres Vermögen war, das wird jetzt zu einer wirkenden Kraft, das bekommt einen Inhalt; zugleich aber erhält es, als wirkende Kraft, eine Grenze, da es, als bloßes Vermögen, unbegrenzt war. Realität ist also da, aber die Unendlichkeit ist verloren. Um eine Gestalt im Raum zu beschreiben, müssen wir den endlosen Raum begrenzen; um uns eine Veränderung in der Zeit vorzustellen, müssen wir das Zeitganze theilen. Wir gelangen also nur durch Schranken zur Realität, nur durch Negation oder Ausschließung zur Position oder wirklichen Setzung, nur durch Aufhebung unsrer freien Bestimmbarkeit zur Bestimmung.

Aber aus einer bloßen Ausschließung würde in Ewigkeit keine Realität und aus einer bloßen Sinnenempfindung in Ewigkeit keine Vorstellung werden, wenn nicht etwas vorhanden wäre, von welchem abgeschlossen wird, wenn nicht durch eine absolute Thathandlung des Geistes die Negation auf etwas Positives bezogen und aus Nichtsetzung Entgegensetzung würde; diese Handlung des Gemüths heißt urtheilen oder denken, und das Resultat derselben der Gedanke.

Ehe wir im Raum einen Ort bestimmen, gibt es überhaupt keinen Raum für uns; aber ohne den absoluten Raum würden wir nimmermehr einen Ort bestimmen. Eben so mit der Zeit. Ehe wir den Augenblick haben, gibt es überhaupt keine Zeit für uns; aber ohne die ewige Zeit würden wir nie eine Vorstellung des Augenblicks haben. Wir gelangen also freilich nur durch den Theil zum Ganzen, nur durch die Grenze zum Unbegrenzten; aber wir gelangen auch nur durch das Ganze zum Theil, nur durch das Unbegrenzte zur Grenze.

Wenn nun also von dem Schönen behauptet wird, daß es dem Menschen einen Uebergang vom Empfinden zum Denken bahne, so ist dies keineswegs so zu verstehen, als ob durch das Schöne die Kluft könnte ausgefüllt werden, die das Empfinden vom Denken, die das Leiden von der Thätigkeit trennt; diese Kluft ist unendlich, und ohne Dazwischenkunft eines neuen und selbständigen Vermögens kann aus dem Einzelnen in Ewigkeit nichts Allgemeines, kann aus dem Zufälligen nichts Nothwendiges, aus dem Augenblicklichen nichts Beständiges werden. Der Gedanke ist die unmittelbare Handlung dieses absoluten Vermögens, welches zwar durch die Sinne veranlaßt werden muß, sich zu äußern, in seiner Aeußerung selbst aber so wenig von der Sinnlichkeit abhängt, daß es sich vielmehr nur durch Entgegensetzung gegen dieselbe verkündiget. Die Selbständigkeit, mit der es handelt, schließt jede fremde Einwirkung aus; und nicht insofern sie beim Denken hilft (welches einen offenbaren Widerspruch enthält), bloß insofern sie den Denkkräften Freiheit verschafft, ihren eigenen Gesetzen gemäß sich zu äußern, kann die Schönheit ein Mittel werden, den Menschen von der Materie zur Form, von Empfindungen zu Gesetzen, von einem beschränkten zu einem absoluten Dasein zu führen.

Dies aber setzt voraus, daß die Freiheit der Denkkräfte gehemmt werden könne, welches mit dem Begriff eines selbständigen Vermögens zu streiten scheint. Ein Vermögen nämlich, welches von außen nichts als den Stoff seines Wirkens empfängt, kann nur durch Entziehung des Stoffes, also nur negativ an seinem Wirken gehindert werden, und es heißt die Natur eines Geistes verkennen, wenn man den sinnlichen Passionen eine Macht beilegt, die Freiheit des Gemüths positiv unterdrücken zu können. Zwar stellt die Erfahrung Beispiele in Menge auf, wo die Vernunftkräfte in demselben Maß unterdrückt erscheinen, als die sinnlichen Kräfte feuriger wirken; aber, anstatt jene Geistesschwäche von der Stärke des Affekts abzuleiten, muß man vielmehr diese überwiegende Stärke des Affekts durch jene Schwäche des Geistes erklären; denn die Sinne können nicht anders eine Macht gegen den Menschen vorstellen, als insofern der Geist frei unterlassen hat, sich als eine solche zu beweisen.

Indem ich aber durch diese Erklärung einem Einwurfe zu begegnen suche, habe ich mich, wie es scheint, in einen andern verwickelt und die Selbständigkeit des Gemüths nur auf Kosten seiner Einheit gerettet. Denn wie kann das Gemüth aus sich selbst zugleich Gründe der Nichtthätigkeit und der Thätigkeit nehmen, wenn es nicht selbst getheilt, wenn es nicht sich selbst entgegengesetzt ist?

Hier müssen wir uns nun erinnern, daß wir den endlichen, nicht den unendlichen Geist vor uns haben. Der endliche Geist ist derjenige, der nicht anders als durch Leiden thätig wird, nur durch Schranken zum Absoluten gelangt, nur, insofern er Stoff empfängt, handelt und bildet. Ein solcher Geist wird also mit dem Triebe nach Form oder nach dem Absoluten einen Trieb nach Stoff oder nach Schranken verbinden, als welche die Bedingungen sind, ohne welche er den ersten Trieb weder haben noch befriedigen könnte. Inwiefern in demselben Wesen zwei so entgegengesetzte Tendenzen zusammen bestehen können, ist eine Aufgabe, die zwar den Metaphysiker, aber nicht den Transcendentalphilosophen in Verlegenheit setzen kann. Dieser gibt sich keineswegs dafür aus, die Möglichkeit der Dinge zu erklären, sondern begnügt sich, die Kenntnisse festzusetzen, aus welchen die Möglichkeit der Erfahrung begriffen wird. Und da nun Erfahrung eben so wenig ohne jene Entgegensetzung im Gemüthe als ohne die absolute Einheit desselben möglich wäre, so stellt er beide Begriffe mit vollkommener Befugniß als gleich nothwendige Bedingungen der Erfahrung auf, ohne sich weiter um ihre Vereinbarkeit zu bekümmern. Diese Inwohnung zweier Grundtriebe widerspricht übrigens auf keine Weise der absoluten Einheit des Geistes, sobald man nur von beiden Trieben ihn selbst unterscheidet. Beide Triebe existieren und wirken zwar in ihm, aber er selbst ist weder Materie noch Form, weder Sinnlichkeit noch Vernunft, welches Diejenigen, die den menschlichen Geist nur da selbst handeln lassen, wo sein Verfahren mit der Vernunft übereinstimmt, und, wo dieses der Vernunft widerspricht, ihn bloß für passiv erklären, nicht immer bedacht zu haben scheinen.

Jeder dieser beiden Grundtriebe strebt, sobald er zur Entwicklung gekommen, seiner Natur nach und nothwendig nach Befriedigung; aber eben darum, weil beide nothwendig und beide doch nach entgegengesetzten Objekten streben, so hebt diese doppelte Nöthigung sich gegenseitig auf, und der Wille behauptet eine vollkommene Freiheit zwischen beiden. Der Wille ist es also, der sich gegen beide Triebe als eine Macht (als Grund der Wirklichkeit) verhält, aber keiner von beiden kann sich für sich selbst als eine Macht gegen den andern verhalten. Durch den positivsten Antrieb zur Gerechtigkeit, woran es ihm keineswegs mangelt, wird der Gewaltthätige nicht von Unrecht abgehalten, und durch die lebhafteste Versuchung zum Genuß der Starkmüthige nicht zum Bruch seiner Grundsätze gebracht. Es gibt in dem Menschen keine andere Macht als seinen Willen, und nur, was den Menschen aufhebt, der Tod und jeder Raub des Bewußtseins, kann die innere Freiheit aufheben.

Eine Nothwendigkeit außer uns bestimmt unsern Zustand, unser Dasein in der Zeit vermittelst der Sinnenempfindung. Diese ist ganz unwillkürlich, und so, wie auf uns gewirkt wird, müssen wir leiden. Eben so eröffnet eine Nothwendigkeit in uns unsre Persönlichkeit, auf Veranlassung jener Sinnenempfindung und durch Entgegensetzung gegen dieselbe; denn das Selbstbewußtsein kann von dem Willen, der es voraussetzt, nicht abhängen. Diese ursprüngliche Verkündigung der Persönlichkeit ist nicht unser Verdienst, und der Mangel derselben nicht unser Fehler. Nur von Demjenigen, der sich bewußt ist, wird Vernunft, das heißt, absolute Consequenz und Universalität des Bewußtseins gefordert; vorher ist er nicht Mensch, und kein Akt der Menschheit kann von ihm erwartet werden. So wenig nun der Metaphysiker sich die Schranken erklären kann, die der freie und selbständige Geist durch die Empfindung erleidet, so wenig begreift der Physiker die Unendlichkeit, die sich aus Veranlassung dieser Schranken in der Persönlichkeit offenbart. Weder Abstraktion noch Erfahrung leiten uns bis zu der Quelle zurück, aus der unsre Begriffe von Allgemeinheit und Nothwendigkeit fließen; ihre frühe Erscheinung in der Zeit entzieht sie dem Beobachter und ihr übersinnlicher Ursprung dem metaphysischen Forscher. Aber genug, das Selbstbewußtsein ist da, und zugleich mit der unveränderlichen Einheit desselben ist das Gesetz der Einheit für alles, was für den Menschen ist, und für alles, was durch ihn werden soll, für sein Erkennen und Handeln aufgestellt. Unentfliehbar, unverfälschbar, unbegreiflich stellen die Begriffe von Wahrheit und Recht schon im Alter der Sinnlichkeit sich dar, und ohne daß man zu sagen wüßte, woher und wie es entstand, bemerkt man das Ewige in der Zeit und das Nothwendige im Gefolge des Zufalls. So entspringen Empfindung und Selbstbewußtsein, völlig ohne Zuthun des Subjekts, und beider Ursprung liegt eben sowohl jenseits unseres Willens, als er jenseits unseres Erkenntnißkreises liegt.

Sind aber beide wirklich, und hat der Mensch, vermittelst der Empfindung, die Erfahrung einer bestimmten Existenz, hat er durch das Selbstbewußtsein die Erfahrung seiner absoluten Existenz gemacht, so werden mit ihren Gegenständen auch seine beiden Grundtriebe rege. Der sinnliche Trieb erwacht mit der Erfahrung des Lebens (mit dem Anfang des Individuums), der vernünftige mit der Erfahrung des Gesetzes (mit dem Anfang der Persönlichkeit), und jetzt erst, nachdem beide zum Dasein gekommen, ist seine Menschheit aufgebaut. Bis dies geschehen ist, erfolgt alles in ihm nach dem Gesetz der Nothwendigkeit; jetzt aber verläßt ihn die Hand der Natur, und es ist seine Sache, die Menschheit zu behaupten, welche jene in ihm anlegte und eröffnete. Sobald nämlich zwei entgegengesetzte Grundtriebe in ihm thätig sind, so verlieren beide ihre Nöthigung, und die Entgegensetzung zweier Nothwendigkeiten gibt der Freiheit den Ursprung.Um aller Mißdeutung vorzubeugen, bemerke ich, daß, so oft hier von Freiheit die Rede ist, nicht diejenige gemeint ist, die dem Menschen, als Intelligenz betrachtet, nothwendig zukommt und ihm weder gegeben noch genommen werden kann, sondern diejenige, welche sich auf seine gemischte Natur gründet. Dadurch daß der Mensch überhaupt nur vernünftig handelt, beweist er eine Freiheit der ersten Art; dadurch daß er in den Schranken des Stoffes vernünftig und unter Gesetzen der Vernunft materiell handelt, beweist er eine Freiheit der zweiten Art. Man könnte die letztere schlechtweg durch eine natürliche Möglichkeit der ersteren erklären.

Zwanzigster Brief.

Daß auf die Freiheit nicht gewirkt werden könne, ergibt sich schon aus ihrem bloßen Begriff, daß aber die Freiheit selbst eine Wirkung der Natur (dieses Wort in seinem weitesten Sinne genommen) kein Werk des Menschen sei, daß sie also auch durch natürliche Mittel befördert und gehemmt werden könne, folgt gleich nothwendig aus dem Vorigen. Sie nimmt ihren Anfang erst, wenn der Mensch vollständig ist und seine beiden Grundtriebe sich entwickelt haben; sie muß also fehlen, solang er unvollständig und einer von beiden Trieben ausgeschlossen ist, und muß durch alles das, was ihm seine Vollständigkeit zurückgibt, wieder hergestellt werden können.

Nun läßt sich wirklich, sowohl in der ganzen Gattung als in dem einzelnen Menschen, ein Moment aufzeigen, in welchem der Mensch noch nicht vollständig und einer von beiden Trieben ausschließend in ihm thätig ist. Wir wissen, daß er anfängt mit bloßem Leben, um zu endigen mit Form, daß er früher Individuum als Person ist, daß er von den Schranken aus zur Unendlichkeit geht. Der sinnliche Trieb kommt also früher als der vernünftige zur Wirkung, weil die Empfindung dem Bewußtsein vorhergeht, und in dieser Priorität des sinnlichen Triebes finden wir den Aufschluß zu der ganzen Geschichte der menschlichen Freiheit.

Denn es gibt nun einen Moment, wo der Lebenstrieb, weil ihm der Formtrieb noch nicht entgegen wirkt, als Natur und als Nothwendigkeit handelt; wo die Sinnlichkeit eine Macht ist, weil der Mensch noch nicht angefangen; denn in dem Menschen selbst kann es keine andere Macht als den Willen geben. Aber im Zustand des Denkens, zu welchem der Mensch jetzt übergehen soll, soll gerade umgekehrt die Vernunft eine Macht sein, und eine logische oder moralische Nothwendigkeit soll an die Stelle jener physischen treten. Jene Macht der Empfindung muß also vernichtet werden, ehe das Gesetz dazu erhoben werden kann. Es ist also nicht damit gethan, daß etwas anfange, was noch nicht war; es muß zuvor etwas aufhören, welches war. Der Mensch kann nicht unmittelbar vom Empfinden zum Denken übergehen; er muß einen Schritt zurückthun, weil nur, indem eine Determination wieder aufgehoben wird, die entgegengesetzte eintreten kann. Er muß also, um Leiden mit Selbstthätigkeit, um eine passive Bestimmung mit einer aktiven zu vertauschen, augenblicklich von aller Bestimmung frei sein und einen Zustand der bloßen Bestimmbarkeit durchlaufen. Mithin muß er auf gewisse Weise zu jenem negativen Zustand der bloßen Bestimmungslosigkeit zurückkehren, in welchem er sich befand, ehe noch irgend etwas auf seinen Sinn einen Eindruck machte. Jener Zustand aber war an Inhalt völlig leer, und jetzt kommt es darauf an, eine gleiche Bestimmungslosigkeit und eine gleich unbegrenzte Bestimmbarkeit mit dem größtmöglichen Gehalt zu vereinbaren, weil unmittelbar aus diesem Zustand etwas Positives erfolgen soll. Die Bestimmung, die er durch Sensation empfangen, muß also festgehalten werden, weil er die Realität nicht verlieren darf; zugleich aber muß sie, insofern sie Begrenzung ist, aufgehoben werden, weil eine unbegrenzte Bestimmbarkeit statt finden soll. Die Aufgabe ist also, die Determination des Zustandes zugleich zu vernichten und beizubehalten, welches nur auf die einzige Art möglich ist, daß man ihr eine andere entgegensetzt. Die Schalen einer Wage stehen gleich, wenn sie leer sind; sie stehen aber auch gleich, wenn sie gleiche Gewichte enthalten.

Das Gemüth geht also von der Empfindung zum Gedanken durch eine mittlere Stimmung über, in welcher Sinnlichkeit und Vernunft zugleich thätig sind, eben deswegen aber ihre bestimmende Gewalt gegenseitig aufheben und durch eine Entgegensetzung eine Negation bewirken. Diese mittlere Stimmung, in welcher das Gemüth weder physisch noch moralisch genöthigt und doch auf beide Art thätig ist, verdient vorzugsweise eine freie Stimmung zu heißen, und wenn man den Zustand sinnlicher Bestimmung den physischen, den Zustand vernünftiger Bestimmung aber den logischen und moralischen nennt, so muß man diesen Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit den ästhetischen heißen.Für Leser, denen die reine Bedeutung dieses durch Unwissenheit so sehr gemißbrauchten Wortes nicht ganz geläufig ist, mag Folgendes zur Erklärung dienen. Alle Dinge, die irgend in der Erscheinung vorkommen können, lassen sich unter vier verschiedenen Beziehungen denken. Eine Sache kann sich unmittelbar auf unsern sinnlichen Zustand (unser Dasein und Wohlsein) beziehen: das ist ihre physische Beschaffenheit. Oder sie kann sich auf den Verstand beziehen und uns eine Erkenntniß verschaffen: das ist ihre logische Beschaffenheit. Oder sie kann sich auf unsern Willen beziehen und als ein Gegenstand der Wahl für ein vernünftiges Wesen betrachtet werden: das ist ihre moralische Beschaffenheit. Oder endlich, sie kann sich auf das Ganze unserer verschiedenen Kräfte beziehen, ohne für eine einzelne derselben ein bestimmtes Objekt zu sein: das ist ihre ästhetische Beschaffenheit. Ein Mensch kann uns durch seine Dienstfertigkeit angenehm sein; er kann uns durch seine Unterhaltung zu denken geben; er kann uns durch seinen Charakter Achtung einflößen; endlich kann er uns aber auch, unabhängig von diesem allen, und ohne daß wir bei seiner Beurteilung weder auf irgend ein Gesetz, noch auf irgend einen Zweck Rücksicht nehmen, in der bloßen Betrachtung und durch seine bloße Erscheinungsart gefallen. In dieser letztern Qualität beurteilen wir ihn ästhetisch. So gibt es eine Erziehung zur Gesundheit, eine Erziehung zur Einsicht, eine Erziehung zur Sittlichkeit, eine Erziehung zum Geschmack und zur Schönheit. Diese letztere hat zur Absicht, das Ganze unserer sinnlichen und geistigen Kräfte in möglichster Harmonie auszubilden. Weil man indessen, von einem falschen Geschmack verführt und durch ein falsches Raisonnement noch mehr in diesem Irrthum befestigt, den Begriff des Willkürlichen in den Begriff des Aesthetischen gerne mit aufnimmt, so merke ich hier zum Ueberfluß noch an (obgleich diese Briefe über ästhetische Erziehung fast mit nichts anderm umgehen, als jenen Irrthum zu widerlegen), daß das Gemüth im ästhetischen Zustande zwar frei und im höchsten Grade frei von allem Zwang, aber keineswegs frei von Gesetzen handelt, und daß diese ästhetische Freiheit sich von der logischen Nothwendigkeit beim Denken und von der moralischen Nothwendigkeit beim Wollen nur dadurch unterscheidet, daß die Gesetze, nach denen das Gemüth dabei verfährt, nicht vorgestellt werden und, weil sie keinen Widerstand finden, nicht als Nötigung erscheinen.

Einundzwanzigster Brief.

Es gibt, wie ich am Anfange des vorigen Briefs bemerkte, einen doppelten Zustand der Bestimmbarkeit und einen doppelten Zustand der Bestimmung. Jetzt kann ich diesen Satz deutlich machen.

Das Gemüth ist bestimmbar, bloß insofern es überhaupt nicht bestimmt ist; es ist aber auch bestimmbar, insofern es nicht ausschließend bestimmt, d. h., bei seiner Bestimmung nicht beschränkt ist. Jenes ist bloße Bestimmungslosigkeit (es ist ohne Schranken, weil es ohne Realität ist); dieses ist die ästhetische Bestimmbarkeit (es hat keine Schranken, weil es alle Realität vereinigt).

Das Gemüth ist bestimmt, insofern es überhaupt nur beschränkt ist; es ist aber auch bestimmt, insofern es sich selbst aus eigenem absoluten Vermögen beschränkt. In dem ersten Falle befindet es sich, wenn es empfindet; in dem zweiten, wenn es denkt. Was also das Denken in Rücksicht auf Bestimmung ist, das ist die ästhetische Verfassung in Rücksicht auf Bestimmbarkeit; jenes ist Beschränkung aus innrer unendlicher Kraft, diese ist eine Negation aus innrer unendlicher Fülle. So wie Empfinden und Denken einander in dem einzigen Punkt berühren, daß in beiden Zuständen das Gemüth determiniert, daß der Mensch ausschließungsweise Etwas – entweder Individuum oder Person – ist, sonst aber sich ins Unendliche von einander entfernen: gerade so trifft die ästhetische Bestimmbarkeit mit der bloßen Bestimmungslosigkeit in dem einzigen Punkt überein, daß beide jedes bestimmte Dasein ausschließen, indem sie in allen übrigen Punkten wie Nichts und Alles, mithin unendlich verschieden sind. Wenn also die letztere, die Bestimmungslosigkeit aus Mangel, als eine leere Unendlichkeit vorgestellt wurde, so muß die ästhetische Bestimmungsfreiheit, welche das reale Gegenstück derselben ist, als eine erfüllte Unendlichkeit betrachtet werden: eine Vorstellung, welche mit demjenigen, was die vorhergehenden Untersuchungen lehren, aufs genaueste zusammentrifft.

In dem ästhetischen Zustand ist der Mensch also Null, insofern man auf ein einzelnes Resultat, nicht auf das ganze Vermögen achtet und den Mangel jeder besondern Determination in ihm in Betrachtung zieht. Daher muß man Denjenigen vollkommen Recht geben, welche das Schöne und die Stimmung, in die es unser Gemüth versetzt, in Rücksicht auf Erkenntniß und Gesinnung für völlig indifferent und unfruchtbar erklären. Sie haben vollkommen Recht; denn die Schönheit gibt schlechterdings kein einzelnes Resultat, weder für den Verstand noch für den Willen, sie führt keinen einzelnen, weder intellektuellen noch moralischen Zweck aus; sie findet keine einzige Wahrheit, hilft uns keine einzige Pflicht erfüllen und ist, mit einem Worte, gleich ungeschickt, den Charakter zu gründen und den Kopf aufzuklären. Durch die ästhetische Kultur bleibt also der persönliche Werth eines Menschen oder seine Würde, insofern diese nur von ihm selbst abhängen kann, noch völlig unbestimmt, und es ist weiter nichts erreicht, als daß es ihm nunmehr von Natur wegen möglich gemacht ist, aus sich selbst zu machen, was er will – daß ihm die Freiheit, zu sein, was er sein soll, vollkommen zurückgegeben ist.

Eben dadurch aber ist etwas Unendliches erreicht. Denn, sobald wir uns erinnern, daß ihm durch die einseitige Nöthigung der Natur beim Empfinden und durch die ausschließende Gesetzgebung der Vernunft beim Denken gerade diese Freiheit entzogen wurde, so müssen wir das Vermögen, welches ihm in der ästhetischen Stimmung zurückgegeben wird, als die höchste aller Schenkungen, als die Schenkung der Menschheit betrachten. Freilich besitzt er diese Menschheit der Anlage nach schon vor jedem bestimmten Zustand, in den er kommen kann; aber der That nach verliert er sie mit jedem bestimmten Zustand, in den er kommt, und sie muß ihm, wenn er zu einem entgegengesetzten soll übergehen können, jedesmal aufs neue durch das ästhetische Leben zurückgegeben werden.Zwar läßt die Schnelligkeit, mit welcher gewisse Charaktere von Empfindungen zu Gedanken und zu Entschließungen übergehen, die ästhetische Stimmung, welche sie in dieser Zeit nothwendig durchlaufen müssen, kaum oder gar nicht bemerkbar werden. Solche Gemüther können den Zustand der Bestimmungslosigkeit nicht lang ertragen und dringen ungeduldig auf ein Resultat, welches sie in dem Zustand ästhetischer Unbegrenztheit nicht finden. Dahingegen breitet sich bei Andern, welche ihren Genuß mehr in das Gefühl des ganzen Vermögens, als einer einzelnen Handlung desselben setzen, der ästhetische Zustand in eine weit größere Fläche aus. So sehr die Ersten sich vor der Leerheit fürchten, so wenig können die Letzten Beschränkung ertragen. Ich brauche kaum zu erinnern, daß die Ersten fürs Detail und für subalterne Geschäfte, die Letzten, vorausgesetzt daß sie mit diesem Vermögen zugleich Realität vereinigen, fürs Ganze und zu großen Rollen geboren sind.

Es ist also nicht bloß poetisch erlaubt, sondern auch philosophisch richtig, wenn man die Schönheit unsre zweite Schöpferin nennt. Denn, ob sie uns gleich die Menschheit bloß möglich macht und es im Uebrigen unserm freien Willen anheimstellt, in wie weit wir sie wirklich machen wollen, so hat sie dieses ja mit unsrer ursprünglichen Schöpferin, der Natur, gemein, die uns gleichfalls nichts weiter als das Vermögen zur Menschheit ertheilte, den Gebrauch desselben aber auf unsere eigene Willensbestimmung ankommen läßt.

Zweiundzwanzigster Brief.

Wenn also die ästhetische Stimmung des Gemüths in einer Rücksicht als Null betrachtet werden muß, sobald man nämlich sein Augenmerk auf einzelne und bestimmte Wirkungen richtet, so ist sie in anderer Rücksicht wieder als ein Zustand der höchsten Realität anzusehen, insofern man dabei auf die Abwesenheit aller Schranken und auf die Summe der Kräfte achtet, die in derselben gemeinschaftlich thätig sind. Man kann also Denjenigen eben so wenig Unrecht geben, die den ästhetischen Zustand für den fruchtbarsten in Rücksicht auf Erkenntniß und Moralität erklären. Sie haben vollkommen Recht; denn eine Gemüthsstimmung, welche das Ganze der Menschheit in sich begreift, muß nothwendig auch jede einzelne Aeußerung derselben, dem Vermögen nach, in sich schließen; eine Gemüthsstimmung, welche von dem Ganzen der menschlichen Natur alle Schranken entfernt, muß diese nothwendig auch von jeder einzelnen Aeußerung derselben entfernen. Ebendeßwegen, weil sie keine einzelne Funktion der Menschheit ausschließend in Schutz nimmt, so ist sie einer jeden ohne Unterschied günstig, und sie begünstigt ja nur deswegen keine einzelne vorzugsweise, weil sie der Grund der Möglichkeit von allen ist. Alle anderen Uebungen geben dem Gemüth irgend ein besonderes Geschick, aber setzen ihm dafür auch eine besondere Grenze; die ästhetische allein führt zum Unbegrenzten. Jeder andere Zustand, in den wir kommen können, weist uns auf einen vorhergehenden zurück und bedarf zu seiner Auflösung eines folgenden; nur der ästhetische ist ein Ganzes in sich selbst, da er alle Bedingungen seines Ursprungs und seiner Fortdauer in sich vereinigt. Hier allein fühlen wir uns wie aus der Zeit gerissen, und unsere Menschheit äußert sich mit einer Reinheit und Integrität, als hätte sie von der Einwirkung äußrer Kräfte noch keinen Abbruch erfahren.

Was unsere Sinnen in der unmittelbaren Empfindung schmeichelt, das öffnet unser weiches und bewegliches Gemüth jedem Eindruck, aber macht uns auch in demselben Grad zur Anstrengung weniger tüchtig. Was unsre Denkkräfte anspannt und zu abgezogenen Begriffen einladet, das stärkt unsern Geist zu jeder Art des Widerstandes, aber verhärtet ihn auch in demselben Verhältniß und raubt uns eben so viel an Empfänglichkeit, als es uns zu einer größern Selbstthätigkeit verhilft. Eben deßwegen führt auch das Eine wie das Andre zuletzt nothwendig zur Erschöpfung, weil der Stoff nicht lange der bildenden Kraft, weil die Kraft nicht lange des bildsamen Stoffes entrathen kann. Haben wir uns hingegen dem Genuß echter Schönheit dahingegeben, so sind wir in einem solchen Augenblick unsrer leidenden und thätigen Kräfte in gleichem Grad Meister, und mit gleicher Leichtigkeit werden wir uns zum Ernst und zum Spiele, zur Ruhe und zur Bewegung, zur Nachgiebigkeit und zum Widerstand, zum abstrakten Denken und zur Anschauung wenden.

Diese hohe Gleichmütigkeit und Freiheit des Geistes, mit Kraft und Rüstigkeit verbunden, ist die Stimmung, in der uns ein echtes Kunstwerk entlassen soll, und es gibt keinen sicherern Probierstein der wahren ästhetischen Güte. Finden wir uns nach einem Genuß dieser Art zu irgend einer besondern Empfindungsweise oder Handlungsweise vorzugsweise aufgelegt, zu einer andern hingegen ungeschickt und verdrossen, so dient dies zu einem untrüglichen Beweise, daß wir keine rein ästhetische Wirkung erfahren haben, es sei nun, daß es an dem Gegenstand oder an unserer Empfindungsweise oder (wie fast immer der Fall ist) an beiden zugleich gelegen habe.

Da in der Wirklichkeit keine rein ästhetische Wirkung anzutreffen ist (denn der Mensch kann nie aus der Abhängigkeit der Kräfte treten), so kann die Vortrefflichkeit eines Kunstwerks bloß in seiner größern Annäherung zu jenem Ideale ästhetischer Reinigkeit bestehen, und bei aller Freiheit, zu der man es steigern mag, werden wir es doch immer in einer besondern Stimmung und mit einer eigentümlichen Richtung verlassen. Je allgemeiner nun die Stimmung und je weniger eingeschränkt die Richtung ist, welche unserm Gemüth durch eine bestimmte Gattung der Künste und durch ein bestimmtes Produkt aus derselben gegeben wird, desto edler ist jene Gattung, und desto vortrefflicher ein solches Produkt. Man kann dies mit Werken aus verschiedenen Künsten und mit verschiedenen Werken der nämlichen Kunst versuchen. Wir verlassen eine schöne Musik mit reger Empfindung, ein schönes Gedicht mit belebter Einbildungskraft, ein schönes Bildwerk und Gebäude mit aufgewecktem Verstand; wer uns aber unmittelbar nach einem hohen musikalischen Genuß zu abgezogenem Denken einladen, unmittelbar nach einem hohen poetischen Genuß in einem abgemessenen Geschäft des gemeinen Lebens gebrauchen, unmittelbar nach Betrachtung schöner Malereien und Bildhauerwerke unsre Einbildungskraft erhitzen und unser Gefühl überraschen wollte, der würde seine Zeit nicht gut wählen. Die Ursache ist, weil auch die geistreichste Musik durch ihre Materie noch immer in einer größern Affinität zu den Sinnen steht, als die wahre ästhetische Freiheit duldet, weil auch das glücklichste Gedicht von dem willkürlichen und zufälligen Spiele der Imagination, als seines Mediums, noch immer mehr participiert, als die innere Nothwendigkeit des wahrhaft Schönen verstattet, weil auch das trefflichste Bildwerk, und dieses vielleicht am meisten, durch die Bestimmtheit seines Begriffs an die ernste Wissenschaft grenzt. Indessen verlieren sich diese besondern Affinitäten mit jedem höhern Grade, den ein Werk aus diesen drei Kunstgattungen erreicht, und es ist eine nothwendige und natürliche Folge ihrer Vollendung, daß, ohne Verrückung ihrer objektiven Grenzen, die verschiedenen Künste in ihrer Wirkung auf das Gemüth einander immer ähnlicher werden. Die Musik in ihrer höchsten Veredlung muß Gestalt werden und mit der ruhigen Macht der Antike auf uns wirken; die bildende Kunst in ihrer höchsten Vollendung muß Musik werden und uns durch unmittelbare sinnliche Gegenwart rühren; die Poesie in ihrer vollkommensten Ausbildung muß uns, wie die Tonkunst, mächtig fassen, zugleich aber, wie die Plastik, mit ruhiger Klarheit umgeben. Darin eben zeigt sich der vollkommene Styl in jeglicher Kunst, daß er die specifischen Schranken derselben zu entfernen weiß, ohne doch ihre specifischen Vorzüge mit aufzuheben, und durch eine weise Benutzung ihrer Eigentümlichkeit ihr einen mehr allgemeinen Charakter ertheilt.

Und nicht bloß die Schranken, welche der specifische Charakter seiner Kunstgattung mit sich bringt, auch diejenigen, welche dem besondern Stoffe, den er bearbeitet, anhängig sind, muß der Künstler durch die Behandlung überwinden. In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles thun; denn durch die Form allein wird auf das Ganze des Menschen, durch den Inhalt hingegen nur auf einzelne Kräfte gewirkt. Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sei, wirkt also jederzeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form ist wahre ästhetische Freiheit zu erwarten. Darin also besteht das eigentliche Kunstgeheimniß des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt; und je imposanter, anmaßender, verführerischer der Stoff an sich selbst ist, je eigenmächtiger derselbe mit seiner Wirkung sich vordrängt, oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit dem Stoff einzulassen, desto triumphierender ist die Kunst, welche jenen zurückzwingt und über diesen die Herrschaft behauptet. Das Gemüth des Zuschauers und Zuhörers muß völlig frei und unverletzt bleiben, es muß aus dem Zauberkreise des Künstlers rein und vollkommen wie aus den Händen des Schöpfers gehn. Der frivolste Gegenstand muß so behandelt werden, daß wir aufgelegt bleiben, unmittelbar von demselben zu dem strengsten Ernste überzugehen. Der ernsteste Stoff muß so behandelt werden, daß wir die Fähigkeit behalten, ihn unmittelbar mit dem leichtesten Spiele zu vertauschen. Künste des Affekts, dergleichen die Tragödie ist, sind kein Einwurf: denn erstlich sind es keine ganz freien Künste, da sie unter der Dienstbarkeit eines besondern Zweckes (des Pathetischen) stehen, und dann wird wohl kein wahrer Kunstkenner leugnen, daß Werke, auch selbst aus dieser Klasse, um so vollkommener sind, je mehr sie auch im höchsten Sturme des Affekts die Gemüthsfreiheit schonen. Eine schöne Kunst der Leidenschaft gibt es; aber eine schöne leidenschaftliche Kunst ist ein Widerspruch, denn der unausbleibliche Effekt des Schönen ist Freiheit von Leidenschaften. Nicht weniger widersprechend ist der Begriff einer schönen lehrenden (didaktischen) oder bessernden (moralischen) Kunst, denn nichts streitet mehr mit dem Begriff der Schönheit, als dem Gemüth eine bestimmte Tendenz zu geben.

Nicht immer beweist es indessen eine Formlosigkeit in dem Werke, wenn es bloß durch seinen Inhalt Effekt macht; es kann eben so oft von einem Mangel an Form in dem Beurtheiler zeugen. Ist dieser entweder zu gespannt oder zu schlaff; ist er gewohnt, entweder bloß mit dem Verstand oder bloß mit den Sinnen aufzunehmen, so wird er sich auch bei dem glücklichsten Ganzen nur an die Theile und bei der schönsten Form nur an die Materie halten. Nur für das rohe Element empfänglich, muß er die ästhetische Organisation eines Werks erst zerstören, ehe er einen Genuß daran findet, und das Einzelne sorgfältig aufscharren, das der Meister mit unendlicher Kunst in der Harmonie des Ganzen verschwinden machte. Sein Interesse daran ist schlechterdings entweder moralisch oder physisch; nur gerade, was es sein soll, ästhetisch ist es nicht. Solche Leser genießen ein ernsthaftes und pathetisches Gedicht, wie eine Predigt, und ein naives oder scherzhaftes, wie ein berauschendes Getränk; und waren sie geschmacklos genug, von einer Tragödie und Epopöe, wenn es auch eine Messiade wäre, Erbauung zu verlangen, so werden sie an einem anakreontischen oder catullischen Lied unfehlbar ein Aergerniß nehmen.

Dreiundzwanzigster Brief.

Ich nehme den Faden meiner Untersuchung wieder auf, den ich nur darum abgerissen habe, um von den aufgestellten Sätzen die Anwendung auf die ausübende Kunst und auf die Beurtheilung ihrer Werke zu machen.

Der Uebergang von dem leidenden Zustande des Empfindens zu dem thätigen des Denkens und Wollens geschieht also nicht anders, als durch einen mittleren Zustand ästhetischer Freiheit, und obgleich dieser Zustand an sich selbst weder für unsere Einsichten noch Gesinnungen etwas entscheidet, mithin unsern intellektuellen und moralischen Werth ganz und gar problematisch läßt, so ist er doch die nothwendige Bedingung, unter welcher allein wir zu einer Einsicht und zu einer Gesinnung gelangen können. Mit einem Wort: es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht.

Aber, möchten Sie mir einwenden, sollte diese Vermittlung durchaus unentbehrlich sein? Sollten Wahrheit und Pflicht nicht auch schon für sich allein und durch sich selbst bei dem sinnlichen Menschen Eingang finden können? Hierauf muß ich antworten: sie können nicht nur, sie sollen schlechterdings ihre bestimmende Kraft bloß sich selbst zu verdanken haben, und nichts würde meinen bisherigen Behauptungen widersprechender sein, als wenn sie das Ansehen hätten, die entgegengesetzte Meinung in Schutz zu nehmen. Es ist ausdrücklich bewiesen worden, daß die Schönheit kein Resultat weder für den Verstand noch den Willen gebe, daß sie sich in kein Geschäft weder des Denkens noch des Entschließens mische, daß sie zu beiden bloß das Vermögen ertheile, aber über den wirklichen Gebrauch dieses Vermögens durchaus nichts bestimme. Bei diesem fällt alle fremde Hilfe hinweg, und die reine logische Form, der Begriff, muß unmittelbar zu dem Verstand, die reine moralische Form, das Gesetz, unmittelbar zu dem Willen reden.

Aber daß sie dieses überhaupt nur könne – daß es überhaupt nur eine reine Form für den sinnlichen Menschen gebe, dies, behaupte ich, muß durch die ästhetische Stimmung des Gemüths erst möglich gemacht werden. Die Wahrheit ist nichts, was so, wie die Wirklichkeit oder das sinnliche Dasein der Dinge von außen empfangen werden kann; sie ist etwas, das die Denkkraft selbstthätig und in ihrer Freiheit hervorbringt, und diese Selbstthätigkeit, diese Freiheit ist es ja eben, was wir bei dem sinnlichen Menschen vermissen. Der sinnliche Mensch ist schon (physisch) bestimmt und hat folglich keine freie Bestimmbarkeit mehr: diese verlorne Bestimmbarkeit muß er nothwendig erst zurückerhalten, eh' er die leidende Bestimmung mit einer thätigen vertauschen kann. Er kann sie aber nicht anders zurückerhalten, als entweder indem er die passive Bestimmung verliert, die er hatte, oder indem er die aktive schon in sich enthält, zu welcher er übergehen soll. Verlöre er bloß die passive Bestimmung, so würde er zugleich mit derselben auch die Möglichkeit einer aktiven verlieren, weil der Gedanke einen Körper braucht und die Form nur an einem Stoffe realisiert werden kann. Er wird also die letztere schon in sich enthalten, er wird zugleich leidend und thätig bestimmt sein, das heißt, er wird ästhetisch werden müssen.

Durch die ästhetische Gemüthsstimmung wird also die Selbstthätigkeit der Vernunft schon auf dem Felde der Sinnlichkeit eröffnet, die Macht der Empfindung schon innerhalb ihrer eigenen Grenzen gebrochen und der physische Mensch so weit veredelt, daß nunmehr der geistige sich nach Gesetzen der Freiheit auf demselben bloß zu entwickeln braucht. Der Schritt von dem ästhetischen Zustand zu dem logischen und moralischen (von der Schönheit zur Wahrheit und zur Pflicht) ist daher unendlich leichter, als der Schritt von dem physischen Zustande zu dem ästhetischen (von dem bloßen blinden Leben zur Form) war. Jenen Schritt kann der Mensch durch seine bloße Freiheit vollbringen, da er sich bloß zu nehmen, und nicht zu geben, bloß seine Natur zu vereinzeln, nicht zu erweitern braucht; der ästhetisch gestimmte Mensch wird allgemein gültig urtheilen und allgemein gültig handeln, sobald er es wollen wird. Den Schritt von der rohen Materie zur Schönheit, wo eine ganz neue Thätigkeit in ihm eröffnet werden soll, muß die Natur ihm erleichtern, und sein Wille kann über eine Stimmung nichts gebieten, die ja dem Willen selbst erst das Dasein gibt. Um den ästhetischen Menschen zur Einsicht und großen Gesinnungen zu führen, darf man ihm weiter nichts als wichtige Anlässe geben; um von dem sinnlichen Menschen eben das zu erhalten, muß man erst seine Natur verändern. Bei jenem braucht es oft nichts als die Aufforderung einer erhabenen Situation (die am unmittelbarsten auf das Willensvermögen wirkt), um ihn zum Helden und zum Weisen zu machen; diesen muß man erst unter einen andern Himmel versetzen.

Es gehört also zu den wichtigsten Aufgaben der Kultur, den Menschen auch schon in seinem bloß physischen Leben der Form zu unterwerfen und ihn, so weit das Reich der Schönheit nur immer reichen kann, ästhetisch zu machen, weil nur aus dem ästhetischen, nicht aber aus dem physischen Zustand der moralische sich entwickeln kann. Soll der Mensch in jedem einzelnen Fall das Vermögen besitzen, sein Urtheil und seinen Willen zum Urtheil der Gattung zu machen, soll er aus jedem beschränkten Dasein den Durchgang zu einem unendlichen finden, aus jedem abhängigen Zustand zur Selbständigkeit und Freiheit den Aufschwung nehmen können, so muß dafür gesorgt werden, daß er in keinem Momente bloß Individuum sei und bloß dem Naturgesetz diene. Soll er fähig und fertig sein, auf dem engen Kreis der Naturzwecke sich zu Vernunftzwecken zu erheben, so muß er sich schon innerhalb der erstern für die letztern geübt und schon seine physische Bestimmung mit einer gewissen Freiheit der Geister, d. i. nach Gesetzen der Schönheit, ausgeführt haben.

Und zwar kann er dieses, ohne dadurch im geringsten seinem physischen Zweck zu widersprechen. Die Anforderungen der Natur an ihn gehen bloß auf das, was er wirkt, auf den Inhalt seines Handelns; über die Art, wie er wirkt, über die Form desselben, ist durch die Naturzwecke nichts bestimmt. Die Anforderungen der Vernunft hingegen sind streng auf die Form seiner Thätigkeit gerichtet. So nothwendig es also für seine moralische Bestimmung ist, daß er rein moralisch sei, daß er eine absolute Selbstthätigkeit beweise, so gleichgültig ist es für seine physische Bestimmung, ob er rein physisch ist, ob er sich absolut leidend verhält. In Rücksicht auf diese letztere ist es also ganz in seine Willkür gestellt, ob er sie bloß als Sinnenwesen und als Naturkraft (als eine Kraft nämlich, welche nur wirkt, je nachdem sie erleidet) oder ob er sie zugleich als absolute Kraft, als Vernunftwesen ausführen will, und es dürfte wohl keine Frage sein, welches von beiden seiner Würde mehr entspricht. Vielmehr, so sehr es ihn erniedrigt und schändet, dasjenige aus sinnlichem Antriebe zu thun, wozu er sich aus reinen Motiven der Pflicht bestimmt haben sollte, so sehr ehrt und adelt es ihn, auch da nach Gesetzmäßigkeit, nach Harmonie, nach Unbeschränktheit zu streben, wo der gemeine Mensch nur sein erlaubtes Verlangen stillt.Diese geistreiche und ästhetisch freie Behandlung gemeiner Wirklichkeit ist, wo man sie auch antrifft, das Kennzeichen einer edeln Seele. Edel ist überhaupt ein Gemüth zu nennen, welches die Gabe besitzt, auch das beschränkteste Geschäft und den kleinlichsten Gegenstand durch die Behandlungsweise in ein unendliches zu verwandeln. Edel heißt jede Form, welche dem, was seiner Natur nach bloß dient (bloßes Mittel ist), das Gepräge der Selbständigkeit ausdrückt. Ein edler Geist begnügt sich nicht damit, selbst frei zu sein; er muß alles Andere um sich her, auch das Leblose in Freiheit sehen. Schönheit aber ist der einzig mögliche Ausdruck der Freiheit in der Erscheinung. Der vorherrschende Ausdruck des Verstandes in einem Gesicht, einem Kunstwerk u. dergl. kann daher niemals edel ausfallen, wie er denn auch niemals schön ist, weil er die Abhängigkeit (welche von der Zweckmäßigkeit nicht zu trennen ist) heraushebt, anstatt sie zu verbergen.

Der Moralphilosoph lehrt uns zwar, daß man nie mehr thun könne als seine Pflicht, und er hat vollkommen Recht, wenn er bloß die Beziehung meint, welche Handlungen auf das Moralgesetz haben. Aber bei Handlungen, welche sich bloß auf einen Zweck beziehen, über diesen Zweck noch hinaus ins Uebersinnliche gehen (welches hier nichts anders heißen kann, als das Physische ästhetisch ausführen), heißt zugleich über die Pflicht hinaus gehen, indem diese nur verschreiben kann, daß der Wille heilig sei, nicht daß auch schon die Natur sich geheiligt habe. Es gibt also zwar kein moralisches, aber es gibt ein ästhetisches Uebertreffen der Pflicht, und ein solches Betragen heißt edel. Eben deßwegen aber, weil bei dem Edeln immer ein Ueberfluß wahrgenommen wird, indem dasjenige auch einen freien formalen Werth besitzt, was bloß einen materialen zu haben brauchte, oder mit dem innern Werth, den es haben soll, noch einen äußern, der ihm fehlen dürfte, vereinigt, so haben Manche ästhetischen Ueberfluß mit einem moralischen verwechselt und, von der Erscheinung des Edeln verführt, eine Willkür und Zufälligkeit in die Moralität selbst hineingetragen, wodurch sie ganz würde aufgehoben werden.

Von einem edeln Betragen ist ein erhabenes zu unterscheiden. Das erste geht über die sittliche Verbindlichkeit noch hinaus, aber nicht so das letztere, obgleich wir es ungleich höher als jenes achten. Wir achten es aber nicht deßwegen, weil es den Vernunftbegriff seines Objekts (des Moralgesetzes), sondern weil es den Erfahrungsbegriff seines Subjekts (unsere Kenntnisse menschlicher Willensgüte und Willensstärke) übertrifft; so schätzen wir umgekehrt ein edles Betragen nicht darum, weil es die Natur des Subjekts überschreitet, aus der es vielmehr völlig zwanglos hervorfließen muß, sondern weil es über die Natur seines Objekts (den physischen Zweck) hinaus in das Geisterreich schreitet. Dort, möchte man sagen, erstaunen wir über den Sieg, den der Gegenstand über den Menschen davon trägt; hier bewundern wir den Schwung, den der Mensch dem Gegenstande gibt.

Mit einem Wort: im Gebiete der Wahrheit und Moralität darf die Empfindung nichts zu bestimmen haben; aber im Bezirke der Glückseligkeit darf Form sein und darf der Spieltrieb gebieten.

Also hier schon, auf dem gleichgültigen Felde des physischen Lebens, muß der Mensch sein moralisches anfangen; noch in seinem Leiden muß er seine Selbstthätigkeit, noch innerhalb seiner sinnlichen Schranken seine Vernunftfreiheit beginnen. Schon seinen Neigungen muß er das Gesetz seines Willens auflegen; er muß, wenn Sie mir den Ausdruck verstatten wollen, den Krieg gegen die Materie in ihre eigene Grenze spielen, damit er es überhoben sei, auf dem heiligen Boden der Freiheit gegen diesen furchtbaren Feind zu fechten; er muß lernen edler begehren, damit er nicht nöthig habe, erhaben zu wollen. Dieses wird geleistet durch ästhetische Kultur, welche alles das, worüber weder Naturgesetze die menschliche Willkür binden noch Vernunftgesetze, Gesetzen der Schönheit unterwirft und in der Form, die sie dem äußern Leben gibt, schon das innere eröffnet.


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