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In meiner dunklen Bodenkammer steht ein grünseidener Sack voller Geschichten. Er ist mit einem geflochtenen Bändchen aus blondem Haar zugebunden, und wenn ich ihn aufmachen will, muß ich ganz allein sein, und es muß ganz still um mich her sein, und ich muß selber ganz still sein, und ich darf auch kein Licht anzünden, denn die Geschichten leuchten selber.
Als ich nun neulich auch wieder einmal in der Kammer war und das Bändchen aufband, da sagte ein helles Stimmlein: »Nun komme ich dran. Ich darf aber nur einen einzigen Tag dauern.« »Wer bist Du denn?« fragte ich. »Ich bin doch das Bimberlein«, sagte das Stimmlein, und als es das gesagt hatte, da zappelten in dem Sack eine ganze Anzahl von Leuten, kleinen und großen, die alle mit in die Geschichte hinein wollten. »Wir gehören alle zum Bimberlein«, sagten sie, und weil die Öffnung oben so eng war, daß nur immer eins auf einmal herauskonnte, so sagte ich: »dann also, aber nicht drängen!« Denn das gehört sich so.
Da kam zuerst eine dicke, rotbackige Frau heraus, die hatte ein Kleid aus dunkler Beiderwand an und darüber eine Schürze aus blauer Leinwand mit roten Sternchen. »Ich bin Regine«, sagte sie, und versuchte einen Knix zu machen, denn das war sie früher gewöhnt gewesen, als sie in Bimberleins Elternhaus diente, wo man auf gute Sitte hielt. Jetzt war sie aber ein bißchen dick geworden, und da ging es nicht mehr so gut mit dem Knixen. »Was also hast du zu erzählen, Regine?« fragte ich, und sie sagte:
»Ich bin schon im Hause gewesen, ehe das Bimberlein geboren wurde; ich habe dort gekocht und die Stuben in Ordnung gehalten und habe auch die Blumenbeete im Garten gepflegt. Als das Bimberlein geboren war, da pflanzte sein Vater mitten in den Rasenplatz vor der Laube einen roten Rosenbusch aus lauter Freude. Aber nach wenigen Tagen hätte er ihn am liebsten wieder ausgegraben. Denn da starb seine liebe Frau, Bimberleins Mutter und die Mutter des großen Bruders Max, der schon in die lateinische Schule ging.
Da war alles so traurig im Hause, daß es nicht zu sagen ist. Und keiner konnte so eine rechte Freude an dem Bimberlein haben, der Vater schon gar nicht, denn er mußte immer daran denken, daß die Mutter zur gleichen Tür aus der Welt gegangen war, durch die das Bimberlein hereingekommen war. Er wollte das Kind am liebsten gar nicht sehen, so lieb und fröhlich und rund und blond es auch war.«
Als Regine so weit erzählt hatte, drängte sich ein kurzer, fest gebauter Mann vor, der eine Tabakspfeife im Mund hatte und dabei ein wenig undeutlich redete. Er hatte ein gutes, braunes Gesicht und scharfe blaue Augen. »Nun komme ich«, sagte er. »Ich bin Hannes Hannesen. Ich hatte lang gewartet, daß Regine wieder zu mir heimkommen sollte. Die Herrschaft hatte sie ja mit sich nach dem Süden genommen, als sie einen Sommer lang bei uns auf der Insel gewesen war. Das kann ich der Herrschaft auch nicht verdenken, denn Regine war ein so tüchtiges Mädchen wie es nur wenige gibt, und alle hatten sie so lieb gewonnen, daß sie sie am liebsten immer bei sich haben wollten. Und Regine war so gesinnt, daß sie etwas von der Welt sehen wollte, darum ging sie auch mit nach Schwaben, woher die Herrschaft gekommen war.
Aber ich hatte das ältere Recht an sie, denn wir wollten einander heiraten, sobald wir genug Geld für eine kleine Fischerhütte und ein Boot hatten. Und das war der Fall, als der kleine Bub, den sie das Bimberlein heißen, erst ein und ein halbes Jahr alt war, darum rief ich sie zu mir heim. Sie kam auch gerne wieder, denn wer am Meer geboren ist, der muß Wasser sehen und den salzigen Wind spüren und am Ufer stehen, wo man nach den Booten hinaussehen kann und nach den großen Meerschiffen, die in die Weite fahren. Aber sie konnte es nie recht verwinden, daß sie das kleine Bübchen verlassen hatte; und als wir keine eigenen Kinder bekamen, da sagte sie oft: Siehst du, das ist unsere Strafe, daß ich das Bimberlein verlassen habe. Sie sah immer die kleine Kammer neben unserer Schlafstube darum an, daß da ein Kinderbett stehen könnte.«
Hannes wollte noch mehr sagen, aber er schwieg auf einmal stille, denn nun kam mit ruhigen und gemessenen Schritten ein Herr aus dem Geschichtensack heraus, der einen ledernen Reisekoffer trug und sagte: »Das könnet ihr ja nun haben, daß ihr Helmut in eurer Kammer beherbergt. Ich bin sein Vater. Ich habe nie den Kosenamen Bimberlein zu ihm gesagt, denn ich habe so viel Trauriges erlebt, daß mir solche Dinge ganz vergangen sind. Aber darum liegt mir natürlich doch daran, daß das Kind gut aufgehoben ist in den Jahren, die ich in fernen Ländern sein muß. Für Max ist mir nicht bang, der soll in der Schule lernen, drüben auf der großen Insel, in die ich auch ging, als ich ein Schüler war. Ich muß in Argentinien eine Fabrik einrichten und ihren Gang einige Zeit überwachen. Und dann werde ich wohl auch noch in Chile etwas Ähnliches tun müssen, das kann alles zusammen schon drei Jahre dauern.«
Er sah sich um, als ob er erwarte, daß aus dem Sack heraus jemand hinter ihm drein komme, und sagte: »Es wird ganz gut sein, wenn die Brüder nicht immer beisammen stecken; es ist nicht gut, wenn man jemanden allzusehr gewöhnt wird, so daß man gar nicht mehr ohne ihn sein kann. Ich weiß das, denn ich habe es auch erlebt.« Als er das gesagt hatte, tat er einen tiefen Seufzer und ging, ohne sich noch einmal umzublicken, ins Dunkle hinein. Aber nun drängten sich zwei Gestalten auf einmal aus der Öffnung heraus: ein großer schlanker Schüler mit einem braunen Haarschopf, und hinter ihm her ein kleiner Dicksack von blondem Buben, der ängstlich rief: »Nimm mich mit, Max! ich kann nicht allein!« Er faßte den Großen an der Hand, und als er heftig drängte, gelang es: sie kamen zusammen heraus, und hielten sich an den Händen fest.
Das waren Max und das Bimberlein, und man mußte sie zuerst ausreden lassen, weil der Kleine immer wieder sagte: »Nein, ich kann nicht allein!« und weil Max ihn vor allen Dingen trösten mußte, ehe er weiterging. Er streichelte des Brüderleins helles Haar und sagte: »Ach Bimberlein, du kannst schon allein.« Aber es fiel ihm selber auch schwer, denn nun waren sie immer beisammen gewesen, seit das Bimberlein auf der Welt war, er durfte es aber nicht merken lassen. So sagte er denn ganz freudig: »Du mußt dich nur strecken, daß du bald groß wirst. Dann kommst du zu mir in die Schule hinüber auf die große Insel, und bis das geschieht, komme ich so oft als möglich zu dir hierher. Und an den andern Tagen mußt du nur an die Steinmauer der kleinen Insel gehen, und wenn das Wetter hell ist und die Sonne scheint, so kannst du zu mir herübersehen auf die große Insel, sogar die Häuser darauf kannst du sehen, und wer weiß, vielleicht siehst du sogar das Haus, in dem ich leben und wohnen werde.« Aber das Letztere sagte Max ein wenig zaghaft, denn er wußte es nicht sicher, ob man von der kleinen Insel aus das Schulhaus sehen werde. Und Bimberlein war auch nicht so leicht zu trösten.
»Aber ich kann nicht mit dir reden«, klagte es. »Und ich kann nicht mehr mit dir Stelzen laufen in unserem Garten daheim und nicht auf deiner Schulter reiten und am Sonntagmorgen nicht zu dir ins Bett kriechen, wie daheim, und du kannst mir nicht mehr von der Mutter erzählen und von dem roten Rosenbusch, der gepflanzt wurde, als ich geboren war. Der Rosenbusch ist nicht mehr am Leben, und du bist nicht mehr da, und alles, was schön war, ist nicht mehr da!« Und das Bimberlein fing an zu weinen, aber das sollte es nicht tun, denn es war nicht gut.
Da bellte es fröhlich aus dem Geschichtensack heraus, und heraus kamen ein paar lustig aufgestellte Ohren und schwarze Augen und dann nach und nach mit leichten Füßen und einem Wackelschwänzchen, das er steil in die Höhe stellte, der Peter. Er war schwarz und weiß gefleckt und konnte das eine Schlappohr zurückwerfen, wenn er einen leichtsinnigen Streich im Schilde führte, und das tat er oft. Er gehörte Max und den liebte er auch mehr als alles andere, und er konnte sich nicht denken, daß er jemals anderswo leben sollte, als da, wo Max war.
Aber das kam nun doch so, denn Max konnte in seiner Schule keinen Hund brauchen, und wenn es noch so ein netter Peter war. Und so mußte der bei Bimberlein und Regine und Hannes auf der kleinen Insel im Watt bleiben, und das war für den Anfang keine leichte Sache.
Aber was will so ein kleiner Peter machen, wenn über ihn beschlossen ist? Er ließ das lustige Schwänzchen hängen, und das tat er immer, wenn er bedrückt war, und trottete hinter Bimberlein, Max, Regine und Hannes her in die dunkle Kammer hinein, und als endlich niemand mehr nachkam, wurde der Geschichtensack wieder zugebunden.
Und jetzt kann die Geschichte beginnen, die heißt und ist:
Er kam soeben, nämlich der Tag, mit der Sonne hinter dem Horizont herauf und sah über die kleine Insel hin, die da mitten im Watt lag. Als gestern Abend die Sonne untergegangen war, hatte sie sich in der welligen Flut gespiegelt, nun war das Wasser verschwunden, und die weite Ebene lag da, als ob nie das Meer darüber hingegangen wäre. Die Mövenscharen, die an der Südspitze der Insel ihre Nester hatten, waren schon auf. Sie suchten draußen auf dem Watt umher nach kleinen Fischen, die nicht mit dem Wasser wieder den Weg ins weite Meer gefunden hatten, oder nach Regenwürmern und anderem Getier, das ihnen zum Morgenbrot dienen sollte. Sie gackerten und flogen auf, da schimmerten ihre hellen Flügel in der Sonne, das sah fröhlich aus und hörte sich auch fröhlich an. Mitten im Watt lag die kleine Insel. Die Häuser drängten sich nahe zusammen. Sie waren da so allein in der großen Weite, da wollten sie gerne nah beisammen sein. Rings um die Häuser her war ein grünes Grasland, da weideten die Schafe und Kühe. Da lag auch ein schwarzer Stier, der war mit einem Strick angebunden und manchmal brüllte er laut hinaus, dann hoben die Kühe die Köpfe und hielten einen Augenblick mit Grasen ein. An der einen Seite hatte die kleine Insel einen Steinwall gegen das Meer hin. Da war auch ein Anlegeplatz für die Fischerboote, und eine steinerne Treppe führte von dem Steinwall auf das jetzt vom Wasser verlassene Watt hinunter.
Aus den Fischerhäusern stieg lustiger Rauch auf, das war das Zeichen, daß die Menschen aufgestanden waren und daß Feuer zum Morgenessen auf dem Herde brannte. Aus dem niedrigen Häuslein, in dem Hannes Hannesen und Regine wohnten, stieg er auch auf. Regine war schon draußen und ließ die Hühner heraus, die sogleich in dem kurzen fetten Grase zu suchen begannen, und pflöckte das Kalb, das über Nacht im Stall gewesen war, in der Nähe des Hauses mit einem halblangen Seil an einen Pfosten an, da konnte es sich sein Morgenbrot selber holen. Hannes wirtschaftete schon in seinem Geräteschuppen. Er schnitzte an einem Stehruder, das er für sein Segelboot brauchte, und pfiff dazu vor sich hin, das tat er immer, wenn er nicht seine Pfeife rauchte. Als das Essen fertig war, kam Regine zu ihm heraus, um ihn zu holen. Sie hielt die Hand über die Augen, denn die Sonne blendete sie, und sie wollte gerne sehen, ob das Wetter beständig sei. Es kamen im Westen kleine Wolken auf – das Wetter ist für die Inselleute immer eins vom Wichtigsten, was zu beobachten ist.
»Ist der Bub schon auf?« fragte Hannes. Er konnte sich nicht recht entschließen, Bimberlein zu sagen, es schien ihm zu zimperlich.
Er mochte den Kleinen gern, aber er meinte, man müsse nun beginnen, einen strammen Buben aus ihm zu machen, denn er war bis jetzt immer noch ein Schoßkind gewesen.
Das aber gab Regine nicht zu. »Ach, ein Schoßkind«, sagte sie. »Er hat ja nie eine Mutter gehabt, die ihn auf den Schoß genommen hat, und mich hast Du weggeholt, als er mich hätte dazu brauchen können.« Hannes brummte gutmütig. Das war eine alte Geschichte zwischen den beiden. »Du hast doch auch selber zu mir kommen wollen«, sagte er. »Es wäre Dir doch auch nicht recht gewesen, wenn ich jemand anderen in mein nagelneues Haus hereingeholt hätte.« Nein, das wäre ihr nicht recht gewesen, das mußte Regine zugeben.
Aber sie mußte es ihrem Mann doch sagen, wie es gekommen sei, daß man das Bimberlein nie bei seinem Taufnamen genannt habe.
»Sieh,« sagte sie, »das Kind ist am Sarg seiner Mutter getauft worden, die Helmine geheißen hat, darum hat man es Helmut geheißen. Sie lag da mit einem Kranz von roten Rosen um die Stirn und unter brennenden Wachskerzen, und ehe sie starb, hat sie den Kleinen seinem großen Bruder ans Herz gelegt, daß er ihn nie verlassen solle.
Das alles ist dem Max wie ein Heiligtum und auch wie ein tiefes Geheimnis geblieben, und er hat es, als das Bimberlein größer geworden war, seinem kleinen Bruder ganz im geheimen erzählt und hat ihm auch gesagt, daß man den Namen der Mutter auf ihn gelegt habe. Aber es ist ihm wie etwas vorgekommen, was man nicht nur so am Werktag brauchen solle, und weil der Kleine ein so rundes, rosiges und liebes Bübchen wurde, ist ihm der Name Bimberlein wie eine Haut gewachsen, und niemand hat mehr anders zu ihm gesagt, als etwa der Vater, der aber fast nie da war, und der es nur schwer ertrug, daß das Kind seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war. Das alles hat mir Max erzählt, als er das erstemal mit seinem Vater drüben auf der großen Insel war, um für die Schule geprüft zu werden. Er hat mir noch mehr gesagt, das sage ich Dir ein anderes mal. Aber Du mußt jetzt auch einsehen, daß das Kind jetzt nicht nur so auf einmal Helmut heißen kann wie ein großer Mensch.«
Der Hannes kam sich ganz roh vor, daß er so etwas Schweres von dem kleinen Buben verlangen wollte, er hatte es nicht bös gemeint, denn er hatte noch keine so seltsamen und heimlichen Dinge in seinem Leben gehabt, und es war ihm nicht so übel vorgekommen, daß man einen festen Buben bei seinem Taufnamen rufen könne.
Das Guthaben, das Regine für das Bimberlein wollte, sah bei ihm nur ein wenig anders aus als bei ihr, sonst hatte er es auch nicht anders im Sinn mit ihm als seine Frau.
Er ging hinter der Regine drein in die Stube, in der das Morgenessen bereit stand und setzte sich an den Tisch.
Es war ihm etwas eingefallen, was er noch sagen wollte, es ging oft ein wenig langsam damit bei ihm. »Aber da wirst Du doch nichts dagegen haben,« sagte er, »daß man den Hund jetzt einmal ein wenig fest an die Zügel nimmt. Er strolcht bis jetzt umher wie ein Herrenloser und das hat keine Art.«
Damit war Regine ganz einverstanden, wenn es nur dem Bimberlein nicht ans Herz ging. Ein Hund mußte folgen, das war sicher.
Der Hannes hatte aber die Meinung, daß sowohl ein Hund wie ein Bub wissen müsse, wer sein Meister sei, und wenn es auch nur auf Zeit sei. Er hatte da schon seine Erfahrungen gemacht, die er nicht preisgeben konnte.
Als die beiden mitten in ihrem Gespräch waren, streckte das Bimberlein seinen blonden Schopf zur Tür herein. Es war noch ein wenig verschlafen und mußte sich die Augen reiben, aber es fragte doch sogleich: »Wo ist der Peter?«
Der Peter hatte bisher die Kammer mit seinem kleinen Spielkameraden geteilt, da lag für ihn ein Sack mit Häcksel auf dem Boden an der Tür. Denn der Peter war dem Bimberlein, seit sein großer Bruder nicht mehr um den Weg war, das Nächste und Liebste, was es hatte. Er kam mit aus der Heimat und gehörte Max, und sie waren beide fremd hier.
Der Peter machte sich zwar, das muß man sagen, nicht so viele Gedanken wie das Bimberlein. Es gab hier auf der Insel schon auch recht viel Lustiges und Unterhaltendes, was einem jungen Hund gut gefallen konnte. Er mochte gern auf dem Grasland umherjagen und die Schafe und Kühe ein wenig aufstören mit seinem Gebell, und auch die Möven mochte er gerne zu jagen versuchen, wenn sie bis in die Gräben hereinkamen, von denen die ganze Insel durchzogen war. Sie suchten da nach Beute, und der kleine Hund hielt es für ein feines Spiel, sie dann anzuschreien, daß sie auffliegen und sich an einem andern Ort wieder herunterlassen mußten.
Was er, das ist wahr, da hatte der Hannes recht, noch nicht gelernt hatte, das war: einem andern zu gehorchen als Max. Das Bimberlein war ein guter Kamerad, die Regine war nur gutmütig, und der Hannes war ein fremder Mensch. Das war alles nichts, um ein neues Verhältnis zu schließen, bei dem es auf den Pfiff und aufs Wort ging. So war der Peter heute in der Frühe, als das Bimberlein noch schlief, zu der angelehnten Tür hinausgeschlüpft und hatte einen Streifzug auf eigene Faust unternommen. Und zwar hatte der ihn auf die Südspitze der Insel geführt, dahin, wo die Mövennester lagen in Sand und ein wenig Tang. Sie hatten jetzt Eier und es war gefährlich, sich ihnen zu nähern. Aber das wußte der Peter nicht. Er war aus Schwaben, da gibt es keine Möven.
Es gab ein aufgeregtes Geschrei und Gegacker, als Peter sich die Eier in der Nähe besah. Als er aber mit der Pfote eins davon hin und her zu rollen begann und ein lustiges Spiel treiben wollte, da sauste unversehens einer der großen silbernen Vögel herab, und ehe er wußte, wie es geschah, hatte der freche Eindringling einen tüchtigen Ratsch über der Schnauze hin von dem spitzen Schnabel des Tieres, so daß er blutig und mit hängendem Schwanz wieder heimkam, als eben das Bimberlein nach ihm fragte. Die Handschrift auf Peters Schnauze war so deutlich, daß Hannes keine Erklärung brauchte. Es war auch nicht nötig, daß Peter ihm die Geschichte erzählte, die sich da zugetragen hatte, sie war ihm ohnehin abzulesen.
Das Bimberlein sah erschrocken zu, wie Hannes ruhig aufstand und den Peter bei den Ohren nahm. Er schüttelte sie ihm gehörig, ohne Mitleid mit der zerrissenen Schnauze zu zeigen. »So, so, sind wir bei den Nestern gewesen?« sagte Hannes, »das wollen wir aber bitte ein anderes mal bleiben lassen.« Und dabei schüttelte er tüchtig weiter. Peter aber war still dabei und muckste sich nicht, und beide, der Peter und das Bimberlein, hatten das Gefühl, als ob sich da etwas Neues anbahne, was seither nicht gewesen sei. Besonders der Peter hatte es. Und das Neue hieß bei ihm: Da ist nun einer, bei dem es unter Umständen scharf hergehen kann. Das aber ist irgendwie angenehm, wenn es auch höchst unangenehm sein kann.
Bimberlein aber suchte in des Hannes Gesicht, ob da irgend etwas von Max sei? Das fand er nicht, aber es konnte ja noch kommen.
*
Es war nicht so sehr viel später, als die beiden Kameraden miteinander über das Grasland hin und an den Steinwall hinunter trotteten. Sie konnten nicht Hand in Hand gehen, aber sie hielten sich dennoch möglichst nahe beieinander. Heute waren sie ohnehin ein wenig zahm. Peter wegen seines unerwarteten Erlebnisses mit den Möven und mit Hannes, und Bimberlein, weil ihm etwas im Kopf umging, was mit dem leeren Watt und mit der großen Insel drüben über dem Watt zusammenhing. Sie hielten sich heute nicht lange bei den Schafen auf, die emsig die fetten Halme abrupften, und auch nicht bei den Kühen, die das gleiche taten, sondern gingen ohne Verzug bis an den Inselrand und an die Strandmauer.
»Siehst Du Peter,« sagte das Bimberlein, »dort drüben, wo die Fenster so in der Sonne glänzen, da ist die große Insel und das Haus, in dem Max wohnt. Man sieht seine Fenster, er hat es gesagt, und es ist gar nicht weit, das hat er auch gesagt.« »Wau«, sagte Peter. Er war ganz treu, auch wenn er hier nun einem andern zu gehorchen hatte; und wenn Maxens Name genannt wurde, dann mußte er anzeigen, daß er zu ihm gehörte. »Ich weiß gar nicht, warum ich nicht auch mit Max in dem Haus sein kann, wo die Fenster so glitzern. Ich mag gar nicht so gern hier sein«, fuhr das Bimberlein fort. »Wau wau«, sagte Peter, denn er wußte es auch nicht, aber er mußte doch eine Antwort geben, wenn das Bimberlein fragte, obgleich er nicht immer die gleiche Meinung mit ihm hatte.
Manches konnte er auch nicht recht verstehen, was das Bimberlein sagte. Zum Beispiel das mit dem Wasser, das zweimal am Tag völlig verschwand, so daß man gar nichts mehr davon sah. Es war etwas mit dem Mond, das hatte Max dem kleinen Bruder gesagt; der Mond zog mit einem Atemzug das ganze Wasser in sich hinein, und mit dem nächsten gab er es wieder von sich. Es war vielleicht ein bißchen anders, aber etwas war doch dran. Er atmete nicht so oft wie die Menschen, er brauchte zum Aus- und Einatmen jedesmal ungefähr zwölf Stunden und das war furchtbar lang, aber es war noch allerlei dabei, was das Bimberlein nicht wußte. Max aber wußte es, der war auch ganz besonders klug. Peter wußte zu dem allem nichts Rechtes zu sagen. Und Bimberlein hatte etwas im Sinne, was nur von weitem mit dem Mond und seinem Atem zusammenhing. Nämlich da es doch so lange dauerte, bis das Wasser wieder kam, konnte man doch in der Zwischenzeit hinüber und wieder herüber gehen auf dem Trockenen, weil der Mond ja alles Wasser in sich hinein gezogen hatte. Es konnte ja nicht so weit sein, sonst hätte man die Fenster nicht in der Sonne blinken sehen können.
Die Entfernung wurde immer kleiner, und nach und nach verschwand sie fast ganz in dem Sinne des kleinen Buben. Hier war er, Bimberlein, und dort war Max, und dazwischen breitete sich eine Fläche aus, über die man mit Peter hinlaufen konnte, das ging schneller als ein Mensch denken konnte.
»Zum Mittagessen sind wir wieder hier«, sagte Bimberlein. »Wenn wir ganz schnell laufen, dann sind wir bald drüben, da freut sich Max.« Das Letztere sagte er ein bißchen unsicher, denn man konnte es nicht ganz bestimmt wissen. Ach was, er würde sich schon freuen, wenn sein Bimberlein kam.
Die Sache war nämlich die, daß Max weder am nächsten noch am übernächsten Sonntag kommen würde. Das Bimberlein wußte nicht warum. Es wußte nicht, daß der Herr Direktor der großen Schule Max geraten hatte, nun einmal eine Weile zu warten mit einem Besuch bei dem kleinen Bruder, damit der Kleine sich ein wenig eingewöhne an seinem neuen Wohnort; es wußte nur, daß Max nicht so bald wieder kommen werde. Hannes hatte aber versprochen, daß er mit Regine, Bimberlein, Peter in dem großen Segelboot zum Jahrmarkt auf die Insel hinüberfahren werde. Der Jahrmarkt war eine ungeheuer seltene und interessante Sache, und Regine erzählte dem Bimberlein, daß es da Dinge zu sehen gebe, die weit und breit sonst nirgends zu finden seien: Ein Wettreiten der Bauernsöhne von den breiten Höfen, die es auf der Insel gab, auf starken und flinken Pferden, ein Bassin mit lebendigen Seehunden, die man füttern konnte, wenn man Brot mitbrachte, eine Waffelbude, in der man die Waffeln direkt aus dem heißen Schmalz heraus bekam, dick mit Zucker und Zimt bestreut, und allerlei Verkaufsbuden mit geschnitzten Booten, Flaggen, Eimern und Spaten, um damit im Sand zu graben. Da dürfe sich das Bimberlein etwas aussuchen, was es am liebsten haben wolle. Und dort sei dann auch Max. Er werde mit ihnen allen auf den Markt gehen und vielleicht auch seine Kameraden dazu mitbringen und das sei dann eine feine Sache.
Aber es war doch anders als es das Bimberlein in seinem kleinen Herzen wünschte. Es war alles ganz anders als sonst, wo Max ganz allein mit ihm und mit Peter gewesen war. Es war alles fremd und alles aus. Und alles dauerte so lang wie noch gar nie. Das Bimberlein hatte noch nie warten können. Max konnte es, aber der Kleine nicht. Es war ein Scherz zwischen den Brüdern: wenn Bimberlein sich etwas so recht sehnlich und ungeduldig wünschte, so fragte Max: »Kannst Du warten?« Und wenn das Brüderlein dann sagte: »Ja«, so lachte Max: »Dann warte also«, wenn er aber sagte: »Nein«, dann sagte der Große: »Dann lerne es.« Hier aber war niemand, der es ihn hieß, darum brauchte Bimberlein es auch nicht zu tun.
Er sah zum Hause zurück, um zu sehen, ob Regine wohl am Fenster oder unter der Türe sei? Sie war vorhin im Garten hinter dem Hause gewesen, aber darum konnte es doch sein, daß sie jetzt dastand und nach ihnen beiden, dem Hund und kleinen Buben, aussah.
Sie war aber nicht da. Hannes, der war wieder in seinem Schuppen.
»Komm, Peter, wir gehen zu Max«, sagte Bimberlein.
Peter spitzte die Ohren. So hatte früher, es kam dem Hündlein schon sehr lange vor, das Bimberlein gesagt, wenn sie miteinander Max an der Schule abholen wollten. Es hatte dann immer einen lustigen Wettlauf gegeben: wer zuerst dort sei! Das fiel dem Peter jetzt wieder ein und er bellte vergnügt ein oder zweimal, wenn er sich auch nicht richtig vorstellen konnte, wie das sein werde: Zu Max gehen.
Bimberlein war schon von der Mauer in den nassen aber doch festen Sand hinuntergehüpft, und das tat ihm der Peter mit Freuden nach. Und dann begannen sie den Wettlauf. Vor ihnen glänzten die Fenster, auf die sie zugingen, es ging immer gerade aus, da war weiter keine Frage nach dem Weg.
Von Peter weiß ich es nicht sicher, bei Bimberlein hieß der Weg aber: zu Max, nicht anders. Er war zuerst durch die blinkenden Fenster bezeichnet, hinter denen nach Bimberleins Meinung der große Bruder wohnen sollte. Nach einer geraumen Weile waren sie verschwunden. Man sah wohl noch die Häuser, aber das Leuchtfeuer, das die Sonne angezündet hatte, war erloschen. Sie stand jetzt anders, und außerdem wuchsen auch die kleinen Wölkchen, die Regine am Morgen gesehen hatte, zu größeren zusammen, da konnte die Sonne sich hie und da verkriechen.
Die beiden Wanderer achteten aber nicht so sehr darauf. Es gab auch auf dem Boden genug zu sehen, sie konnten nicht auf die Sonne achten. Es gab da Quallen, die farbig schimmerten und bei denen man sich eigentlich hätte aufhalten müssen, und hie und da waren ganze Versammlungen von hübschen kleinen Muscheln beisammen; manche glänzten perlmuttern und andere waren wie ein Geldbeutel: zwei Schalen aneinander, so daß man sie öffnen und schließen konnte.
Das interessierte wohl das Bimberlein mehr als den Peter. Der aber kam auch auf seine Kosten, denn so ins Weite ungehindert laufen zu können, das hatte er lange nicht erlebt, ja vielleicht noch nie. So rannte er denn voraus wie ein richtiger Wettläufer, und kam dann wieder zu dem Bimberlein zurück, um ihm mit lustigem Gebell anzuzeigen, daß die Sache seinen vollen Beifall habe. Das Bimberlein sah sich nicht nach der verlassenen kleinen Insel um, dazu hatte es keine Zeit, und es war wohl auch besser, nicht daran zu denken, daß nun vielleicht Regine nach ihm rufen könne oder daß Hannes den Einfall haben könnte, zu fragen, was mit den beiden Buben los sei, wie er hie und da seine Gäste zusammenfaßte.
Aber das war doch nicht zu vermeiden, daß er hie und da nach den Häusern der großen Insel Ausschau halten mußte: ob sie wohl nun bald kämen? Und da machte er die erschreckende Wahrnehmung: sie waren überhaupt nicht mehr da. Sie hatten sich verkrochen, es war nichts mehr zu sehen als das weite Watt. Bimberlein sagte sich wohl tröstlich vor, daß der Weg heiße: zu Max. Aber wenn sich nun Max auch so verkroch?
»Peter«, rief Bimberlein, denn er brauchte Anschluß. Er mußte ein paarmal rufen, denn sein kleiner Kamerad war gerade durch eine junge Möve in Anspruch genommen, die da in dem hartgeschliffenen Sande lag und sich nicht rührte. Sie war blutig, und als der Peter sie nach allen Seiten berochen hatte, da war sie tot. Das war so interessant, daß Peter nicht gleich kommen konnte. »Peter«, rief das Bimberlein ein wenig ängstlich zum drittenmal, und da kam er auch gesprungen. »Ich kann die Häuser nicht mehr sehen, und ich weiß auch den Weg nicht mehr sicher«, sagte Bimberlein in einem so unfrohen Ton, daß Peter die Ohren spitzte und »Wau« sagte, denn da mußte etwas nicht stimmen.
Und es stimmte auch etwas nicht. Denn gerade an dieser Stelle war mitten im Watt ein breiter Graben, in dem Wasser war, es sah aus wie ein sehr breiter Bach; es war nicht sehr tief, aber immerhin: es war doch Wasser, und man konnte nicht wissen, ob der Weg zu Max durch diesen Bach hindurch gehen mußte. Peter war in so guter Stimmung, daß er sich gar nichts daraus machte, durch den Bach zu waten. Er rannte voraus und bellte ermutigend, daß Bimberlein nachkommen möge, denn das war eine sehr lustige Sache. Das Bimberlein wollte aber nicht in Schuhen und Strümpfen durch das Wasser waten, die mußten ausgezogen sein, und da kam ihm der Gedanke, sie da liegen zu lassen und sie im Heimweg wieder mitzunehmen.
So watete er barfüßig durch den Bach und dann war der Weg wieder wie vorher, unabsehbar, eben und ohne Aussicht auf das andere Ende. »Peter, es ist viel weiter als vorher«, sagte das Bimberlein. Es war ihm unheimlich geworden, denn so wie es gemeint hatte: nur so schnell hinlaufen und wieder kommen, so war es jetzt gar nicht. Es kam auch ein Wind auf, der wehte die beiden Wandersleute an, und dann war auch der feste Sandboden zu Ende und es war statt dessen ein fetter schwarzer Schlick da, in den man beim Gehen mit den Füßen einsank. Peter war auch nicht mehr so lustig. Er hielt sich nahe zu seinem Kameraden und war verdrießlich, denn in dem tiefen Schlick war gar nicht mehr recht vorwärts zu kommen.
Das Bimberlein wurde auch auf einmal müde. Es hätte sich so gern ein wenig hingesetzt. Aber erstens ging das nicht, weil da kein rechter Boden war, nur Schmutz und Nässe, und zweitens mußten sie ja schnell gehen, um ans Ufer zu kommen. Wenn doch nur Max von der anderen Seite her gekommen wäre und sein Bimberlein abgeholt hätte! Aber der saß wohl ganz ahnungslos in seiner Schule und dachte nicht daran, daß da zwei Ausreißer mitten im weiten Watt nicht mehr aus noch ein wußten.
So verlassen hatte sich das Bimberlein in seinem ganzen Leben noch nie gefühlt. Es trottete nur noch lahm und zaghaft weiter und zog immer den einen Fuß aus dem schwarzen Schlick und dann den andern, da kam man nur langsam weiter. Auf einmal aber fing der Peter an, zu winseln, zuerst leise und dann immer lauter, und das Bimberlein am Höschen zu zupfen, so stark er konnte. »Was ist denn, Peter?« fragte Bimberlein, »was hast du denn? warum machst Du so?« Aber Peter gab keine andere Antwort, als immer nur die gleiche: er winselte kläglich, es war wie geweint. Und dann zog er an dem Bimberlein, als ob er sagen wolle: »Komm, wir kehren wieder um, denn es ist etwas gar nicht in Ordnung.«
Es war auch etwas Sonderbares um den Weg: der Schlick war auf einmal so naß und es gluckste den beiden unter den Füßen, und hie und da rannen kleine Bächlein daher, die vorher nicht dagewesen waren, und der Wind wehte auch stärker, und dem Bimberlein wurde es auch so unheimlich, es wäre gern wieder daheim gewesen, und wenn es auch auf der kleinen Insel bei Regine und Hannes gewesen wäre. Von der großen Insel war auch gar nichts mehr zu sehen, und wo sie gewesen war, da war jetzt etwas, das sich bewegte, es war ein grauer Strich, der immer breiter wurde. Er war noch weit fort, aber er kam immer näher, und so klein das Bimberlein auch war, so konnte es doch erkennen, daß der Strich das heimkehrende Wasser war, das der Mond wieder hergegeben hatte, und das nun unaufhaltsam den ganzen Grund bedecken würde, wie es das alle Tage tat.
Da brauchte der Peter nicht mehr zu zerren, das Bimberlein schlug schon von selber den Rückweg nach der neuen Heimat ein, und es kam ihm auch schreckhaft in den Sinn, daß es ungefragt weggelaufen war, und daß das nicht recht gewesen sei.
Wahrscheinlich hatte der Peter auch ein schlechtes Gewissen, das kann man nicht so sicher wissen. Er war ja heute schon einmal an den Ohren gezogen und geschüttelt worden, weil er weggelaufen war, das vergißt so ein Peter auch nicht so schnell, wenn er auch leichtsinnig genug ist und tut, was ihm im Augenblick einfällt. Er rannte so gut er konnte, voran heimzu, und kehrte dann wieder um, als ob er sagen wolle: mach nur schnell, Bimberlein, sonst geht es uns schlecht.
Sie waren jetzt wieder auf dem festen Sand angekommen, wo man besser vorwärts kam, und dort schimmerte schon der breite Bach, an dessen anderem Ufer Bimberleins Schuhe und Strümpfe stehen geblieben waren. Aber der Bach war kein Bach mehr, den man durchwaten konnte. Er war eine tiefe Flut geworden, die in kleinen durcheinanderlaufenden Wellen den Grund bedeckte und an deren Rand die beiden Heimwanderer erschreckt stehen blieben; denn da gab es keine Heimkehr mehr. Sie liefen an dem Ufer entlang, denn vielleicht hörte das Wasser doch irgendwo auf. Aber das war nicht so, es war überall und hörte nirgends auf.
Es war eine ganz andere Welt geworden, die ganz aus Wasser zu bestehen schien. Auch oben am Himmel war Wasser, denn die Sonne war gar nicht mehr da. Sie hatte einen dunklen Regenvorhang vorgezogen, und nun fing es auch an, zu regnen, und die heimatliche kleine Insel war im Regen verhüllt, sie war nicht zu sehen. Da setzte sich das Bimberlein auf den nassen, glucksenden Boden hin; es zog den Peter zu sich her und schluchzte: »Jetzt können wir nicht mehr heim, Peter, und alles ist aus, und das Wasser kommt und deckt uns zu.« Und dann fing es aufs neue an bitterlich zu weinen.
Der Peter saß nicht lange still. Er konnte ja schwimmen, das hatte ihn Max im vorigen Sommer daheim im Neckar gelehrt. Da hatte er seinem Herrn immer wieder den Ball, den Max fortgeworfen hatte, im Wasser fangen und wiederbringen müssen, und dann nach und nach auch größere Dinge. Er sprang ins Wasser, pfluderte und tauchte, und kam wieder, bellte und zeigte auf alle Weise an, daß er es für das einzig Richtige halte, unverzüglich hinüberzuschwimmen. Aber das Bimberlein konnte nicht mit ihm ins Wasser gehen, und der Peter konnte das Bimberlein nicht tragen, es war viel zu groß und schwer. Da fing der Peter an zu heulen, nicht mehr nur zu winseln, und anders konnte er nicht sagen, daß er die Sache für sehr gefährlich hielt, was sie auch wirklich war, ohne Frage. Aber davon, daß der Peter das Bimberlein in dieser gefährlichen Lage im Stich ließe, war keine Rede, da hätte er ja nicht Maxens getreues Hündlein sein müssen und Bimberleins guter Kamerad. –
Daheim in dem kleinen Fischerhause, wo Hannes und Regine wohnten, kam Regine aus dem winzigen Gärtlein, das hinter der Hauswand und in ihrem Schutz vor den Seewinden lag. Sie hatte darin gearbeitet, und es war ihr so sonderbar still vorgekommen, weil weder das lustige Bellen Peters noch irgend ein Laut von Bimberlein zu ihren Ohren drang. Sie dachte, vielleicht seien beide mit Hannes ins Schulhaus gegangen, wo er den Gartenzaun frisch teeren sollte. Im Schulhaus waren Kinder, die eigenen des Lehrers und die Inselkinder, und wenn Freizeit war, dann spielten sie im Freien, da konnten beide, das Kind und der Hund, ihren Anschluß suchen. Das Bimberlein sollte ja ohnehin bald zur Schule kommen, das hatte der Vater noch eigens bestimmt, ehe er abgereist war. Aber Regine war doch nicht sicher, ob es sich so verhalte, wie sie meinte.
Sie ging ums Haus herum, da lag der Sandhaufen, an dem Bimberlein heute schon gespielt hatte, und sein roter Eimer samt dem Spaten und der Schaufel lag dabei.
Der Bub aber war nicht da. Er war auch nicht in seiner Kammer neben der Schlafkammer von Regine und Hannes. Dort stand eine blaugestrichene Truhe, auf der mit fröhlichen Farben ein Blumenkranz gemalt war, in dessen Mitte ein rotes Herz prangte. Die Truhe hatte Hannes für den kleinen Pflegling gemalt, als er erwartet wurde, und er hatte auch auf die Bettstelle und den Schrank die gleichen Blumen gemalt, damit es recht freudig und farbig aussehen sollte. In der Truhe lagen alle die Besitztümer, die das Bimberlein von daheim mitgebracht hatte: Bilderbücher und Spiele und dergleichen, da war er auch öfters anzutreffen, er stöberte dann die Truhe von Grund aus durch nach irgend einem Gegenstand; aber heut stand sie da in aller Ruhe und Ordnung.
Regine ging nun aus dem Hause zu dem angepflöckten Kalb, das Nickel hieß, und mit dem sich das Bimberlein gut angefreundet hatte. Aber es weidete da ganz stumm und friedlich und hatte keinerlei junge Gesellschaft um sich her. Es war ja nicht nötig, daß das Bimberlein immer ums Haus herum blieb. Da war ja auch die Weide, auf der die Schafe und Kühe anzutreffen waren, und es gab genug kleine Gräben, in denen Krebse von einer winzigen Art herumkrabbelten, weil da immer etwas Wasser blieb auch in der Ebbzeit, und in denen kleine Buben mit kurzen Hosen herumstrolchen konnten, ohne daß man sie vom Hause aus sah.
Schließlich konnte man sich auf der kleinen Insel nicht wohl verirren. Aber Regine konnte sich doch nicht recht beruhigen, ehe sie ihre beiden kleinen Kerle, das Kind und den Hund, die ja doch meistens beisammen steckten, gesehen hatte. Und als bald darauf Hannes heim kam mit seinem Teertopf und dem langen Pinsel, da war ihr Erstes, ihn zu fragen: »Hast du die Buben nicht bei dir gehabt?«
Der Hannes hatte sie nicht bei sich gehabt. Aber irgendwie hatte ihn seine Frau mit ihrer Unruhe angesteckt. Er fing auch an zu suchen, und als er keinen andern Platz im Haus und drum herum mehr wußte, tat er, was die Inselleute meistens tun, weil ihre Schau übers weite Meer hingehen muß: er nahm das Fernrohr, das immer auf dem Sims des Südfensters lag, und suchte damit den Strand und das Land ab, und auch, als sich da nirgends zwei kleine Kerle zeigten, das Watt in der Inselnähe. Weil er aber nun schon daran war, das Watt abzusuchen und weil die Unruhe der Regine auch auf ihn übersprang, so ließ er seine Augen durch das Rohr auch weiter hinausgehen als er es für möglich und nötig hielt, sie gingen von selber weiter hinaus, und sie waren scharf und klar. Da, als er schon wieder kopfschüttelnd das Rohr weglegen wollte, kam etwas hinein, was ihn einen dumpfen Laut ausstoßen ließ: da waren an der tiefen Wasserrinne zwei kleine, schwarze Pünktchen zu sehen, die sich bewegten, und zwar daran entlang, und die bei näherer Betrachtung gar nichts anderes sein konnten, als lebendige Wesen, die nicht ins Wasser, die aufs trockene Land gehörten, und zwar, das dauerte nicht viele Sekunden, bis es der Hannes mit seinen scharfen Augen durch das scharfe Rohr sah: hierher ins Haus. Der Hannes ließ das Rohr beinahe fallen. Er bewegte sich im allgemeinen nicht besonders schnell; aber jetzt mußte Regine doch staunen, mit welcher Hast ihr Mann seine Wasserstiefel anzog und ohne weitere Erklärung als: »Sie sind auf dem Watt« zum Haus hinaus und über das Grasland hinunter an den Steinwall und aufs Watt hinaus lief, wie sie ihn noch nie hatte laufen sehen.
»Hannes«, rief sie, »Hannes, nimm mich mit.« Aber er hörte schon nichts mehr; er lief wie ums Leben, und es ging ja auch ums Leben der beiden kleinen Racker da draußen, wenigstens des Bübchens, das der Hannes in seinen Gedanken im einen Augenblick prügeln und im andern ans Herz drücken wollte; denn er hatte es dahinein geschlossen, so wenig er auch davon merken ließ.
Draußen auf dem Watt, drüben über dem tiefen Graben, in dem das heimkehrende Wasser gurgelte und Wellen schlug, rief ein kleines Bübchen nach seinem großen Bruder, der es nicht hören konnte, weil er viel zu weit weg war. »Max,« rief es, »komm doch und hole mich.« Und der lustige Peter, der gar nicht mehr lustig war, hätte gern mitgerufen, er konnte aber nur bellen und heulen, das tat er auch redlich.
Da, als er mitten drin war, seine Stimme in allen Tonarten klagend hinauszuschicken, hielt er plötzlich inne und warf sein eines Schlappohr, das eigentlich nur zum Gebrauch bei mutigen und vergnüglichen Anlässen diente, zurück. Das Schwänzchen, das in den letzten Viertelstunden trübselig herabgehangen war, richtete sich steil auf, und der ganze Peter zeigte auf einmal Anzeichen von neuem Lebensmut, denn es war etwas in seinen Geruchskreis getreten, das der Wind vom Lande hertrug, und das ganz deutlich nach Hannes roch. Es kam auch erkennbar näher, und als das eine Weile gedauert hatte, war auch etwas zu hören, was sich nach Mensch anhörte, nämlich das Stapfen von großen und schweren Stiefeln, das auch von dem Bimberlein gehört wurde. Und dann erscholl ein Ruf, der den beiden Ausreißern wie eine schöne Musik klang, obgleich der Hannes keine besonders musikalische Stimme hatte. Er rief mit langgezogenem Ton: »Ich komme! ich ko–o–o–mme!« Das war wohl für die Verirrten ein guter Klang. Der Peter bellte seine Antwort und das Bimberlein rief: »Hannes!« wie es vorhin Max gerufen hatte; und sah mit aufleuchtenden Augen, wie aus dem Regendunst heraus eine Gestalt auftauchte, kurz und breit und in hohen Wasserstiefeln, die nah und näher kam. Und jetzt war der ganze Hannes an dem Priel angekommen, wie dort die Wasserläufe heißen, die sich mitten in dem Wattenmeer hinziehen, und grüßte und winkte hinüber über den tiefen breiten Graben, und es war gut zu verstehen, daß er sagte: »Ihr Kuckuckskerle! Ihr Tausendsbuben! Ich will Euch!« Aber es klang wie lauter allergrößte Zärtlichkeit, so brummig es auch trotzdem klang.
Es war auch für einen starken und ausgewachsenen Mann keine Kleinigkeit, durch das Wasser zu kommen, und es ging dem Hannes, als er sich durchzuwaten anschickte, bis hoch an die Brust, so daß er kurzen Prozeß machte und die Kleider ablegte, da konnte er teils watend teils schwimmend, wie es die Notwendigkeit ergab, durchkommen, bis er eines Augenblicks triefend und pustend auf der andern Seite ankam. Das Wasser lief ihm auch aus Haar und Bart, und er war gewiß kein besonders schöner Anblick, aber das Bimberlein hat mir, als es schon lange nicht mehr Bimberlein hieß, als langer Student erzählt, er habe nie in seinem Leben einen Menschen gesehen, der so sehr einem Engel geglichen habe wie der Hannes in jenem Augenblick.
Der Peter sprang wie unsinnig vor Freude an seinem neuen Herrn hinauf, als den er den Hannes nun einmal unbedingt anerkennen mußte, und es tat der neuen Freundschaft keinen Abbruch, daß der Hannes ihn kurzerhand bei seinen beiden langen Ohren nahm und ins Wasser warf: »Marsch mit dir voraus«, was der Peter auch wohl verstand und was er unbekümmert tat, denn sein kleiner Unglückskamerad thronte auf den breiten Schultern des Hannes und hielt sich mit den Händen an seinem Haar fest. Da war er wohlgeborgen und der Peter konnte ihn gut dem Hannes überlassen und suchen, wie er selber hinüberkomme, was ihm auch gelang, mit Zappeln, Schnaufen und mit wildem Sich-Schütteln und Spritzen, als er glücklich drüben war.
Es war an der Zeit, daß die Hilfe gekommen war, denn die Flut kam nun mit Macht in ihr verlassenes Bett herein. Das wäre für das Bimberlein kein gutes Bett gewesen, und Max hätte, als er am nächsten Sonntag, allen guten Ratschlägen zum Trotz, dennoch kam, um nach seinem Brüderlein zu sehen, etwas ganz anderes gefunden als ein glückliches und doch ein wenig zahmes Bübchen, das zwar freudenvoll bei seinem Anblick aufstrahlte, das aber merkwürdig eng um den Hannes herumkreiste, als ob ihm in seiner Umgebung nichts Böses widerfahren könne.
Ja, um es recht zu sagen: er hätte gar nichts gefunden. Denn es wäre dem Bimberlein gegangen wie seinen Schuhen und Strümpfen, die von der Flut weiß kein Mensch wohin getragen worden waren.
Das Bimberlein übrigens, das war doch auch verloren gegangen, denn es hörte auf einmal am liebsten darauf, wenn Hannes ihn als einen großen Buben, der keine solch dummen Streiche mehr macht – »nicht wahr, Helmut?« – bei seinem langgesparten Taufnamen rief, so daß auch Regine einsah, ihr Pflegekind könne wohl wie ein erwachsener Mensch heißen, und sie das Bimberlein zu ihren Erinnerungen legte mitsamt dem Tag, an dem ihr der triefnasse Helmut von dem Mann ans Herz und in das bemalte Rosen- und Herzenbett gelegt worden war.
Was aber der Hannes, als am Abend die beiden Buben, wie er sie heute noch einmal hieß, im tiefen Schlafe lagen, noch zu Regine sagte, das war eine Sache, in der er gerne Recht behalten wollte und auch behielt: ob auch mit ganz verschiedenen Mitteln: ein Bub so gut wie ein Hund müsse, wenn es ihm wohl sein solle, erfahren, auf wen er zu hören habe. Den Peter habe er an den Ohren gezogen, das Bimberlein auf den Armen heimgetragen, um es ihm klar zu machen, denn jeder müsse nach seiner Art lernen, aber lernen müsse jeder. Und jetzt war Regine mit ihrem Mann einverstanden.