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Kurz vor Mitternacht erschien Johanna in den Gesellschaftsräumen des Hauses Rauchstraße 4. Sie trug ein Abendkleid.
»In zwei Minuten habe ich mich umgezogen!« jubelte sie, während sie sich unter die tanzenden Paare stürzte und Umarmungen und Händedrücke austeilte. Sie rief es noch einmal, als sie die stürmische Begrüßung im zweiten Salon wiederholte. Auch in das Bibliothekzimmer eilte sie, gestreckten Halses, die Arme zum Umarmen bereit, aber da war niemand als die Jazzband.
Sie drehte sich um:
»Seltsam! Die einzigen Menschen hier, die ich nicht kenne, sind die Musiker.«
Niemand wollte es merkwürdig finden, man lachte Johanna zu, ohne nach dem Grund des plötzlichen Kummers zu fragen, in dessen Schatten sie schüchtern und erhaben um sich blickte.
Die im Lichte vor ihr standen, wurden trotzdem verlegen, denn sie schaute einen nach dem andern an: die ewig jungen Damen zwischen Zwanzig und Fünfzig, denen sie sich mit ihrem hübschen, billigen Kleid nur kümmerlich anglich, die Zeitungsbesitzer und Chefredakteure, Finanzmänner und Ministerialbeamten, die Schriftsteller und Abgeordneten ... Während die Musik weiterspielte, zögerte man, ob man den unterbrochenen Tanz wieder aufnehmen oder ob man warten sollte, bis die Sphinx den Mund öffne.
»Nun, mein Kind«, erhob Ruth die Stimme, »sag' es uns gleich: wen von uns willst du zerschmettern?«
Johanna antwortete:
»Ach! jeder einzelne von euch ist stärker als ich.«
Die Freundinnen, die am zartesten gestaltet waren, lachten am lautesten.
Johanna schämte sich und konnte doch nicht von der Stelle weichen, denn sie wartete auf etwas.
In dieser Minute empfand sie einen wüsten, unlautern Haß, einen Haß, der sie um so mehr schmerzte, als er nicht von ihrem Fleische war, und sie dachte: »Ach, John! Du allein könntest sie niederschlagen – mit deiner Musik!«
Endlich war das Spiel zu Ende, und Johanna ging in das Bibliothekzimmer und schüttelte jedem der Musiker die Hand. Sie betrachtete sie aufmerksam, so wie sie am Morgen eine Frucht ausgesucht hatte.
Der Mann vor der großen Trommel verwirrte, enttäuschte sie. Es war ein Student, der abends mit dem Kalbfell seinem Lebensunterhalt nachging: eine aschblonde Schönheit, ein furchtsamer Straßenräuber. Seine rötlichen Augen schwankten zwischen Demut und Frechheit. Aber seine Stirn strahlte. Und er hatte lange, feine Hände ...
»Ich bin Frau van Maray«, sagte sie errötend. »Ich wollte die Kollegen meines Mannes begrüßen.«
Darauf nahm sie Ruth auf die Seite und verlangte, daß den Herren von der Musik Champagner gereicht werde.
»Aber es gibt nur noch Erfrischungen. Weißt du, wie spät es ist?«
»Ruth, ich bitte dich dringend, den Herren von der Musik Champagner reichen zu lassen. Es ist ein Akt der Solidarität, für den ich gerade bei dir Verständnis vermutet hätte.«
Jetzt schrie Ruth, durchbohrt von Erleuchtung, und sie hob die Hände, als zeigte sie Wundmale: »Du warst bei Asver?«
Während die Nachricht, Johanna van Maray habe den Abend mit dem Linkskommunisten Asver verbracht, die Paare aus den entferntesten Winkeln, sogar aus dem Garten hereintrieb, bekamen die Herren von der Kapelle Champagner. Ein Diener reichte ihnen das Tablett mit den Gläsern unter persönlicher Anführung Ruths, die einige gutgesetzte Worte an sie richtete und sich dann mit einer Art Entschuldigung und Verbeugung aus dem Zimmer zurückzog.
Kaum hatte Ruth Samtaug die Schwelle überschritten, da geschah ein Schlag auf die große Trommel, ein Quietschen, Heulen, Pfeifen und Miauen – pöbelhafte Ironie und Tusch der Jazzband.
Josephus zeigte mit dem Kopf nach dem Bibliothekzimmer:
»Johanna! Früher waren sie unsre Freunde. Seitdem wir es sind, von denen sie leben, sind sie unsre Feinde.«
Johanna antwortete:
»Sie haben recht!«
Ein bunter, dichter Halbkreis hatte sich gebildet, daraus trat der schwarzbebrillte Redakteur.
»Na und? Heraus mit dem Asver! Geben S'n von sich! Zum Beispiel: was meint er von den Wahlen?«
Die Hornbrille mit dem bombensicheren Unterkiefer war Reichstagskandidat.
»Von den Wahlen?« sagte Johanna bestürzt. »Von den Wahlen –?«
»Erhabene Johanna!« Ruth lehnte sich an die Freundin, die kleine Ruth, die schon seit Mittag nicht mehr schlank war, sondern weich und rund, sogar im abstehenden Taftrock ihres Stilkleides. Sie legte den Arm um die Hüften der Freundin und sprach zu dem Politiker hinauf:
»Wie liedhaft sie das bringt: ›von den Wahlen‹... ›von den Wahlen?‹ –! Ein deutsches Mädchen, das von Kurt Kommer im Talmud geprüft wird.«
Die Hornbrille lachte schmetternd.
»Seit fünfzehn Jahren prüfe ich sie im Talmud – jawoll! – in allen Lebenslagen, und immer bin ich es, der durchfällt.«
Johanna war entrüstet. Sie nahm Ruths Arm von ihren Hüften, behielt aber die Hand und drückte sie, so fest sie konnte.
»Kurt Kommer, Sie sind die ganze Schnoddrigkeit Berlins in Person, Sie! Damit es das gibt, dafür sind Sie auf die Welt gekommen, und wenn Sie tot sind, wird man sie ausstopfen müssen und im Museum für Völkerkunde aufstellen, mit einem Grammophon im Bauch oder, wie Sie sagen, im ›Lümplein‹, das Ihre Geistesblitze ebenfalls bewahrt. Von den Wahlen hat Asver nichts erzählt, aber von Politik genug, so viel, daß mir noch ganz schlecht davon ist – und hauptsächlich von Ihnen, schwarzer Kakadu ...«
(Der Beiname Kakadu für Kurt Kommer war aus den Initialen K. K. entstanden, womit er seine Artikel zeichnete, daraus hatten seine Freunde Kakadu gemacht.)
Der Unterkiefer der Hornbrille rückte mahlend vor:
»Ich sage ja. Geben Sie Ihrem lieben Jugendfreund Kurt Kommer Saures im Namen des Asver – nur nicht geniert, los!«
Der Halbkreis jauchzte, und die Jazzband schrillte und gröhlte mit.
»Ein feiner Ton bei den Nachfolgern der Kaiser und Könige«, bemerkte Johanna.
Als winke er mit dem Zepter, schwenkte Kommer seine dicke Zigarre: »Kind, keine Majestätsbeleidigung!«
»Ach was« (Johanna nahm Kakadu auf die Seite) »zwei reizende Kinder hat er, der Asver, ein Mädel von zwei und einen Jungen von dreieinhalb, ich sage Ihnen, Kakadu: Milch und. Blut mit einem Honigschein darüber und sauber wie frisches Linnen und hart und klug wie ihr Vater. Eine Schande, wie schlecht es ihm geht, dem Asver! Er muß noch an seinem Essen abzahlen, das er im Gefängnis gekriegt hat, eine fabelhafte Extrakost, mit Soda drin, damit er nicht darauf verfiel, seinem Gefängnisdirektor Gewalt anzutun. Gerade heute ist er dafür gepfändet worden. Sie sollten sich schämen, Kakadu, schämen, daß Ihr Zeitungspapier bis in den Annoncenteil errötet. Jahrelang haben Sie mit Asver im Café am Potsdamer Platz gesessen. Und jetzt werde ich für ihn sammeln.«
»Richtig«, sagte Kommer. »Er hat sich mit Moskau verkracht. Johanna von Orleans – meinen Arm! Ich nehme an, Sie werden ihn nach Moskau zurückführen und ihn im Kreml salben lassen.«
Einen alabasternen Aschenbecher auf der flachen Hand, begann sie an Kommers Arm die Runde.
»Für unsern Jugendfreund Asver, der unter seinen messerscharfen Visionen arm geblieben ist«, verkündete Kurt Kommer bei jeder Station ...
»Damit er den Angriff des Gerichtsvollziehers abschlagen kann, der selbst ein Prolet ist« ... »Helft dem Propheten Asver, denn das aufgeklärte Moskau hat ihn verlassen ... Helft dem blutrünstigen Kerl, Rom und Moskau wollen ihn nicht haben, aber Johanna van Maray, die er heute hinter der Warschauer Brücke getauft hat, bereitet seinen Weg ...«
Zwar versuchte Johanna verschiedentlich, ihn zu unterbrechen und ein Wort anzubringen von den Kindlein wie Milch, Honig, Blut, mit denen sie während der Ausbrüche Asvers gespielt hatte, als weilte sie über den donnernden Wolken im Himmel, doch Kakadus Unterkiefer blieb unerschütterlich bei seiner Litanei.
Nach beendeter Sammlung floh Johanna in das leere Speisezimmer, und den Kopf neben der Alabasterschale auf der Tischplatte, brach sie in Schluchzen aus. Kakadu, der ihr nachlief, wurde angefaucht.
»Wiederum durch die Prüfung gefallen«, murmelte er und eilte davon.
Er benachrichtigte Josephus.
Josephus benachrichtigte Ruth.
Wortlos setzte sie sich neben Johanna, legte ihr den einen Arm auf die bebende Schulter, den andern legte sie auf den Tisch, und auf diesen bettete sie ihr duftendes Haupt, bereit, ein Schläfchen zu tun, bis man sich ausgeweint habe. Sie dachte daran, daß sie keine Kinder besaß, und nur diese eine Johanna, genoß der Ruhe und ihres aufrichtigen Gefühls, das sich darin entfalten konnte, und verhielt sich still.
Als Johanna dann den Kopf hob, war Ruth gleich da, um sie zu küssen, mit ihren runden Augen, die so dunkel waren wie die Rampe im Treppenhaus, sich an den breitgeschweiften blauen der Freundin zu laben, ihr das Gesicht zu trocknen, ernsthaft lächelnd aus dem Zimmer zu eilen und, schon wieder bei ihr, mit der Puderquaste die Spuren der Überschwemmung in der Landschaft der herrlichen Augen zu verwischen.
»So, und jetzt gehst du und gibst Kakadu ein gutes Wort. Es scheint, du hast ihn gekränkt.«
»Ruth, beruhige dich, das hat noch keiner fertiggebracht.«
Es zeigte sich, daß Kakadu an allem schuld war, er und sonst niemand. Wie sollte Johanna es wagen, Asver eine solche Geldsumme (mehr als fünfhundert Mark) zu überbringen! Asver würde mit Recht glauben, sie wolle ihn bestechen. Asver lebte in der ständigen Furcht, bestochen zu werden. Vierundvierzig Mark brauchte er für den Gerichtsvollzieher und nicht fünfhundert. Vor allem aber hatte Kakadu aus dem Gang mit der Alabasterschale ein schamloses Theater gemacht. Wie ein Schmutzhaufen war das Geld da zusammengefegt worden. Was sagst du? Kleine Hilfsaktion für das Ehepaar Asver? Nein, Ruth, eine feierliche Verhöhnung der Armut mit Begleitung von Jazzmusik. Nein, Ruth, du hast alles vergessen, was vor deinem Reichtum lag. Du auch, ja, du auch.
Ruth bestritt es in aller Ruhe, und außerdem wußte sie sofort einen Ausweg. Sie würde zu Asver fahren und ihm das Geld überbringen, dazu einen Blumenstrauß für die Frau und Schokolade für die Kinder.
Vielleicht wäre ein Baukasten mit Stahlschienen besser, meinte Johanna. Asver sei für den Fortschritt.
»Ein Stahlbaukasten für Zwei- und Dreijährige?«
»Warum nicht?«
Der Baukasten wurde bewilligt.
Zur weiteren Beschwichtigung Johannas erinnerte Ruth daran, daß Asver oft zu ihnen gekommen sei, früher, als sie noch neben dem Steglitzer Rathaus in fünf Zimmern hausten. Sie freute sich, ihn wiederzusehn, und schwor, sie halte ihn für einen hochanständigen Menschen – nur die Frau erscheine ihr ein bißchen wild.
»Wild? Hungrig!« rief Johanna mit viel Überzeugung.
Hungrig?
Ruth erschrak.
Gut, gut, in diesem Fall werde Kempinski eine Ladung kaltes Essen schicken, natürlich erst nach dem Besuch Ruths und anonym.
»Vorsicht mit dem kalten Essen«, riet Johanna. »Wenn es zu fein ist, gibt er es seinen Hühnern.«
Hühner?
Asver besaß Hühner?
Vor Staunen konnte Ruth sich kaum fassen. Oder war es Entrüstung?
Es war Entrüstung. Ja, wenn er Hühner besaß, was fehlte ihm denn noch? Täglich frische Eier. Und wenn er Hühner hatte, so mußte er sie doch ernähren können. Hühner kosteten Geld – Ruth wußte es genau, nicht umsonst besaß Josephus ein Mustergut in der Mark.
Fast wäre es darüber zum Streit gekommen. Als Ruth gerade den Standpunkt verfocht, ein Klassenkämpfer könne zwar ohne Gefahr für sein Seelenheil ein Konto bei der Bank unterhalten, denn Geld sei immer unsicher, Landwirtschaft aber gehöre zum Luxus, wohingegen Johanna den Besitz von Hühnern zu den ›primitivsten Lebensformen‹ zählte und unnachgiebig dabei verharrte, erwies Ruth sich wieder einmal als die Überlegene und brach das Gespräch ab.
Nun wünschte sie noch schnell zu erfahren, wo Asver denn seinen Hühnerhof untergebracht habe. Im Hof und im Stall des Fuhrhalters, stellte sich heraus. Ja, im Osten gab es noch Fuhrhalter, ahnungslose Ruth! Richtige Fuhrhalter, mit Pferden, und die Pferde fraßen keine Hühner. Das letzte glaubte Ruth aufs Wort, aber sie fand die Verhältnisse im Osten auffallend weitläufig, geräumig: da draußen lebten sie anscheinend wie auf dem Land. Wie reime sich das mit der Wohnungsnot?
Jedoch, die Wohnungsnot streifte sie nur mit zwei Worten, obenhin und mehr scherzhaft und ohne den geringsten Wert auf ihren Einwand zu legen, der sicher töricht sei, so töricht wie alles, was von der kleinen Ruth komme. Ich werde mich hüten, dir zu widersprechen, Johanna – für nichts in der Welt! Und nur, weil es sich hier um etwas Allgemeines handelte, keineswegs um einen besonderen Fall, ließ sie beim Aufstehen das mutmaßliche Naturgesetz auf dem Tisch zurück, demzufolge ein Revolutionär, der sich um Hühner kümmere, es nie zu etwas bringen könne, wobei nicht etwa an den Ruhm eines Revolutionärs gedacht sein sollte, sondern nur an ein Reichstagsmandat.
»Ich finde einen Hühnerhof interessanter als ein Parlament«, warf Johanna ein, und sie fügte, ebenfalls nur vermutungsweise, hinzu, dies käme wohl daher, daß sie musikalisch sei.
»Fort, zu deinen Gästen, mein Liebling!« drängte Ruth.
»Ah!« Johanna reckte sich. Blitzschnell malte sie sich aus, wie ›ihre‹ Gäste jetzt in den Räumen herumstanden und über Asver sprachen, wie sie sich ereiferten, heuchelten und drohten angesichts des Feindes, dessen Geist dräuend durch die Salons schritt und jedem von ihnen bis auf den Grund der Räuberaugen blickte.
Ihr Gericht und ihr Untergang atmete aus seinen Zügen. Viele von ihnen hatten ihn gesehn, und alle kannten sein Bild, den geschorenen Rundkopf mit dem schneidend kalten Blick, dem schmalen Mund, um den Zorn und Entbehrung geisterten, dies glatte farblose Gesicht, Gesicht eines Clowns oder einer alten Frau, einer Amme, die viele Kinder von Reichen aufgezogen, die eigenen aber andern Armen in Verwahrung gegeben hatte ...
Hinter der Tür wartete Kurt Kommer.
»Gerade habe ich mit Ihrem Freund telephoniert. Er läßt grüßen – jawoll! Ich hole ihn morgen zu einer kleinen Autotour ab. Ich muß mich mal wieder in die Wade beißen lassen, sonst werde ich hochmütig. Jawoll! Und jetzt einen Tanz, mein Kind, einen einzigen! Es ist sowieso der letzte.«
In beiden Räumen bewegten sich langsam die Paare beim Tanz und zeigten jenen komischen, fast feierlichen Ernst, den der heutige Gesellschaftstanz über die frechsten Zyniker breitet.
Die Jazzband aber schlug Kobolz aus niggerhafter Schwermut in Lustigkeit.
Kaum, daß einer der Tanzenden bei den Kraftstellen lächelte.
Und niemand schien an Asver zu denken! Fürchteten sie ihn denn nicht mehr? War die Revolution so tot?
Armer Asver! Brüllend und pfeifend trug die Jazzband jemand zu Grabe, der einst mächtig gewesen, und Johannas zornig betrübte Gedanken folgten im Leichenzug.
Josephus eilte herbei und zog seine Frau in den Strudel.
»Tanze, Frau Maray, tanze, mein Gutes!« rief er Johanna zu. Gleich darauf sah sie, wie auch er sich mit dem dunkeln Schmelz des Tanzes überzog.
»Hopse, Johanna!« murrte Kakadu. »Der letzte Tanz, heute und in Ewigkeit!« ... Er sagte, indes er sie in seinem nervös zuckenden Arm entführte: »Und nachher bummeln wir weiter.«
Er war noch größer als sie. Vorsichtig ging er beim Tanzen fast nur gegen ihre Schulter an und verwahrte so den Schurken, sein Bäuchlein, auch Lümplein genannt – entweder um es vor frivolen Berührungen zu schützen oder nur einfach, damit das Vorhandensein der unerwünschten Wölbung nicht dauernd durch die Bewegungen der Tänzerin unterstrichen werde.
Johanna stöhnte in ihrem Herzen:
»John, mein John, was sie alles mit mir machen in Berlin!«...
In dieser Nacht geschah es, daß Johannas Mund zum erstenmal seit ihrer Verheiratung von fremden Lippen berührt wurde.
Als sie das Nachtkabarett verlassen hatten und Kurt Kommer sich neben sie in das geschlossene Auto setzte, knipste er zuerst das Deckenlicht aus, dann sank er in das Polster zurück und stöhnte: »Au weh!«
Johanna öffnete den Mund, um ihr Mißfallen an der neuen Generation von ›Jazztrommlern‹ kundzugeben, die, massenhaft unbeschäftigt, das Kabarett füllten (und darauf bezog sie auch das ›Au weh‹ des Bummelgefährten), da fühlte sie eine schwere Last auf sich sinken, ein Ereignis, das der anfahrende Wagen vergeblich durch Stöße und Sprünge aufzuhalten suchte, die Last wurde davon nur dichter und drückender, und auf einmal roch es haarsträubend nach abgestandener Zigarre.
Es war nicht Kommers Schuld, daß die Natur ihn so groß und schwer gemacht hatte, er für sein Teil tat, was er konnte, um das Mißgeschick zu hindern, und küßte Johanna, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt oder doch eine Gewohnheit, die niemand ihm ernstlich übelnehmen konnte. Seit Jahr und Tag schien er um diese Stunde nichts andres getan zu haben, als das Licht auszuknipsen, »Au weh« zu rufen und die Dame zu küssen, die neben ihm saß.
Der Unfall, der sie solchermaßen tiefer und tiefer in die Ecke des Wagens hineinmahlte, benahm Johanna für eine Weile die Sinne. Es kam ihr vor, als träume sie von einem Menschenpaar, das durch einen unterirdischen Tunnel einem Verbrechen entgegenrase. Der Mörder saß am Steuer, und die zwei Menschen im Dunkel des Wagens nahmen in tragischer Weise Abschied voneinander. Sie spürte, wie ihre Lippen den Kuß erwiderten, und da erst packte sie das lebendige Entsetzen.
Fäuste hob sie, einen gekrampften Leib, die Beine, und mit den Fäusten drückte sie gegen das Kinn des Mannes, und mit den Beinen stieß sie und stemmte, und mit dem Leib, den Beinen, den Händen, mit dem untergeschobenen Kopf schnellte sie die Last von sich und auf den Boden des Wagens. Die Tür sprang auf, ein Gebrüll erfüllte die Nacht, schlitternd bremste der Wagen. Und sie erkannte Kurt Kommer, wie er sich mit einer Hand am Türgriff, mit der andern an den Fesseln ihres Beines festhielt, während sie selbst den Griff der andern Tür umklammerte und, den freien Fuß gegen den Boden drückend, nach Leibeskräften anzog.
Kommer brüllte wie ein großes erbostes Tier. Johannas Bein gab immer mehr nach. Er hing bereits mit dem Oberkörper im Freien, da hielt der Wagen.
Der Chauffeur, Herr Brust, richtete Kommer auf, schob ihn ohne weiteres beiseite, lehnte sich in den Wagen. Wortlos drehte er das Deckenlicht an und warf einen unheimlich wissenden Blick auf Johanna.
»Nu werden wir wohl heimfahren, statt an die Havel«, meinte er streng.
Kommer fauchte:
»Was sagen Sie?! Nu erst recht! Nach dem Nervenschock muß ich an die frische Luft. Was Sie für Türen haben an ihrem Karren! Fahren Sie los!«
»Es dämmert schon«, bemerkte nachgiebigen Tones Herr Brust. Er forschte in Johannas Gesicht.
Kommer dachte an das Honorar, mit dem er Herrn Brust aus den Federn gelockt hatte, und bestand auf ungekürzter Arbeitsleistung. Er hätte gern Johannas Meinung eingeholt, wagte aber nicht, sie anzusehn, geschweige denn, das Wort an sie zu richten. Mit Mühe fand sie die Kraft, das leise Lächeln des Herrn Brust zu erwidern.
Der Wagen sauste schon durch die Frankfurter Allee, da fragte Johanna:
»Kakadu, haben Sie oft solche Anfälle?«
Und als der heftig mahlende Unterkiefer Kommers noch immer kein Wort über die Lippen ließ:
»Vielleicht sind solche Komplimente üblich in Berlin?«
Kurt Kommer sah: ihre Augen waren schon viel weiter als der Tag. Der volle Morgen lag in ihnen, und ein grünliches Blinzeln durchschauerte die Bläue, ein Irrlichtern, das ihn beschämte und erheiterte zugleich.
Er blickte hinaus. Da wisperte das Licht auch so in den Fenstern der flachen, einförmigen Häuser, es hüpfte, ein eiliger Vogel, zwischen dem Laub der Bäume, eben noch auf jenem Baume, jetzt schon auf diesem, der bei der raschen Fahrt des Wagens ebenso schnell zurückblieb.
Als er den Kopf wandte, sagte er barsch:
»Du siehst schlecht aus, mein Kind. Vielleicht etwas Puder?«
Sie strahlte ihn an:
»Danke. Ja. Sobald ich gebadet habe. Aber sie müssen mich aufklären, Kakadu. Wenn so was passiert in Berlin, ist man da toll oder nur ein bißchen begeistert?«
»Unbändig begeistert, Kleines«, sagte er boshaft.
»Es könnte auch Langeweile sein.«
»Könnte. Immerhin bin ich noch nie dabei aus dem Wagen geflogen«, schrie er sie an. »Mein Wort, man kann sich eine Abwehr denken, die um eine Farbe diskreter wäre – verstehst du?«
»Aber, Kakadu, das kam doch nur, weil Sie so entsetzlich schwer sind! Es tut mir schrecklich leid. Ich war nahe daran, in Ohnmacht zu fallen. Verstehn Sie? Mindestens dreißig Pfund müssen Sie ablegen, wenn Sie zum Weibe gehn.«
»Wenn das meine arme, kranke Frau hörte! Platzen würde sie vor Schadenfreude.«
»Ach, Sie haben ja eine Frau, jetzt erinnere ich mich! Ja also, Kakadu, ich bin eine zarte Geheimratstochter aus einem Berlin, das bankrott ist und vielleicht auch etwas gemütskrank. Die Kakadus dagegen sind stark geworden in den letzten Jahren, viel zu stark für uns ausgehungerte Mädchen.«
»Falsche Löwin«, murmelte Kommer.
»Nur im Sommer bin ich Löwin. Im Sommer, Kakadu, nur im Sommer, und auch nur im Tessin, wo die Lebensmittel billig sind und die Sonne umsonst scheint.«
»Sonne? Auch hier umsonst.«
»Nein, hier kostet sie mindestens ein Auto. Ich wenigstens täte es nicht darunter.«
Und:
»Das erstemal, daß ich hier durchkomme!« rief sie mit veränderter Stimme. »So weit war ich noch nie in Berlin.« Sie öffnete das Fenster und schaute aufmerksam hinaus.
Berlin verlor mit jeder Minute an Großartigkeit, die Stadt schrumpfte zusammen, sie wurde so, wie Johanna sich eine Stadt an der russischen Grenze vorstellte, bald blieb nur noch eine einzige Häuserkulisse zu beiden Seiten, und der Blick flog durch die Nebenstraßen in ödes Land. Dort aber ... Was war das?
Dort hoben sich Türme! Bruchstücke von Häusern und Straßen. Das lichte Gewirr einer neuen Stadt wuchs mit dem Morgen aus der Erde. Lautlos rührte es sich in seinen Gerüsten und glänzte, im Norden, im Süden – und geradeaus, gegen Osten, wohin der Wagen eilte, tauchten plötzlich Überreste von Dörfern auf, die Berlin noch nicht niedergeworfen hatte und die ihm hartnäckig widerstanden. Wie kleine, veraltete Festungen, doch immer noch wehrhaft, standen sie da: ein ländliches Wirtshaus, dem die Fliederbäume bis über die oberen Fenster wuchsen, eine Kirche wie ein Kastell, ein weißes und grünes Tuskulum aus der Wende des vorigen Jahrhunderts. Ein unverfälschter Bach klang auf, ein Obstgarten, dessen Blätterdach schon ganz dicht war, darunter veranstalteten Schweine ein fröhliches Rennen. Äcker folgten, ein Stück Wald, gleich darauf ein Städtchen, sauber, still und unberührt bis auf die Postanstalt und eine Bank, die fremder und drohender die Hauptstraße hinaufblinkten als je in früheren Zeiten das Haus eines Vogtes.
Der Wagen bog von der Landstraße ab.
Hinter den Kiefern begann ein glühweißes Flimmern, ein Schauer rosigen Lichtes lief durch den Wald. Dann öffnete sich ein Abgrund, der vom Himmel bis tief in die Erde hing – mit einem Schwung, einem sausenden Fall öffnete sich der See.
Auflachend grüßte Kurt Kommer sein Blockhaus, am Rande des Wassers. Er fühlte sich leicht und mächtig, von allen Zweifeln befreit. Er schloß das Haus auf, holte ein Badetuch für Johanna, versprach ihr, daß er nicht versuchen werde, sie vor dem Ertrinken zu retten, wenn sie nach dem Kopfsprung gewaltig wiehernd an die Oberfläche des Wassers zurückkehrte, stürmte in das Haus, durchstöberte es vom Keller bis zum Speicher und begann zu telephonieren.
Herr Brust hielt neben dem Wagen, die gestiefelten Füße im Boden, und vergaß die Zigarre anzuzünden, die Kommer ihm gereicht hatte. Entzückt, wie er dastand, schien es ihm, als triebe er auf einer Strömung in die grünlich schimmernde Bläue. Er kehrte zurück in den Schoß des Lichts und einen unausdenkbaren Frieden. Es war seine Heimat. Flüchtig dachte er an seine Frau, die auch aus der Mark stammte.
Der Lust- und Angstschrei Johannas ertönte hinter dem Weidenbaum, und wieder war es still.
Kommer schlenderte herbei und stellte sich neben den Chauffeur, Kopf in der Luft, Hände in den Hosentaschen. Die Gläser der Hornbrille schillerten blau.
Unter der Weide glitten Ringe hervor, schmale farbige Streifen, Kommer empfand etwas wie Licht und Farbenwurf eines herrlichen Frauenleibes, und atmeten weit über den See. Vor dem Kiefernwald auf dem jenseitigen Ufer war ein Strauß Birken gepflanzt.
Herr Brust sagte schamhaft:
»Wie bei Muttern.«
Tatsächlich lächelte er mit allen Runzeln eines Säuglings.
Kommer nickte und ging wieder telephonieren.
Zugleich tauchte im See die brennende Haarmähne Johannas auf.
Kommer kam zurück. Der Anschluß war noch immer nicht da. »Langschläfer sind das in Berlin!« warf er verächtlich hin.
»Kakadu!« rief es schrill über das Wasser. »Kakadu!«
Kommer zog das Taschentuch und winkte.
Herr Brust zündete die Zigarre an.
»Jeden Morgen sollte ich hier raus«, bemerkte Kommer bei der Abfahrt. »Nicht nur über Sonntag.«
»Sonntags treiben Sie sich doch meistens in Buskow herum«, sagte Johanna.
»Ja. Aber meine Frau ist hier.«
In der Tiergartenstraße begegneten sie dem Auto des Generaldirektors Deutermann. Der alte Herr rückte erstaunt den Kopf.
»Es ist auch wirklich an der Zeit, daß wir das Deckenlicht löschen«, meinte Johanna.
»Wie Sie befehlen.«
Schnell schwätzte sie weiter. Ob es Kakadu aufgefallen sei, daß die Schupoleute im Osten wie arme Verwandte der Schupoleute aus dem Westen dreinschauten? Von innen heraus! Ob die neuen, weißen Städte im Osten Ableger von den westlichen Schupoleuten bekämen oder wieder nur dieselben armen Verwandten in Grün? Erinnerte sich Kakadu an die Augen Johns? Sie phosphoreszierten, wenn er bei der Arbeit war – genau wie das Meer. Und hatte die Familie Kommer sich auch erst draußen im Osten gesammelt, bevor sie ihren Vormarsch nach dem Westen antrat, oder war sie im ersten Anlauf über die Warschauer Brücke gesprungen?
Kakadu betrachtete sie, lächelte, antwortete zerstreut.
Jetzt hatte die Zeit Johanna überholt. Während der Tag, durchsichtig und trocken, sich in der Stadt breitmachte, schimmerte es noch an Johanna wie von rosig feuchten Kiefernstämmen.
In der Rauchstraße trennten sie sich.
»Lustig war die Heimfahrt. Kakadu, meinen Dank! Reizend war er! Hat sogar wieder Sie zu mir gesagt ... Hunger!«
Auf einmal schien die gute Laune Kommers verflogen. Er sprach undeutlich von Wahlversammlungen und küßte ihr die Hand.
Von der Tür sah sie, wie er die Vorderseite des Hauses abmusterte, vom Fenster des Treppenhauses, wie er sich in trotziger Haltung vor ihr verbeugte.
»Hunger!« wiederholte sie laut, begab sich zu der Bankiersonne ins Frühstückszimmer und verlangte unverzüglich zu essen.
Im Fliederbusch bemerkte sie ein gefaltetes Zeitungsblatt. Sie erkannte es. Ursel Bruhn hatte Lieder von John gesungen. Kollreuth hatte am Flügel begleitet. Großer Erfolg. Sie nickte: Weiß schon, mein gutes Papier, weiß schon!
Der Kaffee dampfte ihr in die Augen.
Hip-hip für John!
Das ›Hurra‹ verschlug ihr der Anblick Ruth Samtaugs, die eintrat.