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Indes halten wir noch bei der Zeit, da Robert an der Hand der Mutter über die beiden Brücken hinaus vordrang und eine maßlos erweiterte Welt entdeckte. Es verging selten ein Tag, an dem nicht etwas Überwältigendes geschah, einfach dadurch, daß die fernen Dinge, in einem endlosen Aufmarsch näher und näher rückend, sich dem Kinde stellten, einen Namen bekamen und damit ihre Fremdheit verloren.
Welches Museum wäre dem Gehirn eines Kindes vergleichbar, worin die ersten und stärksten Bilder der Welt sich versammeln! Jeder Tag sendet ganze Fuhren von Gemälden und Skizzen dahin ab, und wer weiß, wo ein Kind die Riesenkräfte hernimmt, sie alle unterzubringen. Mögen viele auch erst einmal im Dunkel der Magazine verschwinden, sie sind da, das Leben wird sie früh oder spät wieder ans Licht bringen.
Als Robert unter Anleitung Lisas das Porzellanschild Schmittlin & Walter, Baugeschäft lesen gelernt hatte, fühlte er sich mit einem Schlag als Überwinder des Haustores samt der Einfahrt. Das Verbot, weiter als bis hierher vorzudringen, weil weiter hinten böse Menschen wohnten, war vergessen. Das Dunkel der Torfahrt lichtete sich, und statt unter dem Bogen eilig zur Glastür zu streben, die in eine leere, mit Steinfliesen belegte Halle und von dort über eine zweiflügelige Treppe in die Wohnung führte, marschierte er, von Lisa gefolgt, stracks in den Hof hinein und weiter, nochmals durch einen Torweg, in den zweiten Hof, von dem er bisher überhaupt nichts gewußt hatte. Und hier machte er sprachlos halt.
Der Hof war viel größer als der erste, und während es dort nur einen Baum gab, der die moosigen Pflastersteine beschattete, und eine fensterlose, mit Efeu bewachsene Hauswand, türmten sich hier Berge von Sand und Kieseln, Gerüststangen, Brettern, umgedrehten Schubkarren – in einer Ecke stand, keilförmig ausgerichtet, ein Trupp von Wurfsieben, in der andern, wie in einem Haufen vom Himmel gefallen, Schaufeln, Spitzhacken, Stemmeisen, langstielige Hämmer und anderes Werkzeug mehr. Dazwischen liefen, übereinandergeschichtet bis zur Höhe der Mauer und mit Dachpappe zugedeckt, lange Reihen von Säcken.
»Zement«, erklärte Lisa.
Von den dicken, schwarzen Röhren an der andern Hofmauer behauptete sie, man könne durch sie hindurchkriechen, sie habe es selbst schon getan, hinter dem Emil her, der durchgelaufen sei wie auf Rädern. Sie habe viel länger gebraucht, obwohl er sie schließlich von hinten mit einer Stange gestupft habe, und dann habe sie tagelang nach Teer gerochen – ›ein feiner Geruch‹.
Das Zwischengebäude, dessen andre, efeubewachsene Wand nichts von seinem Geheimnis durchsickern ließ, hier hatte es zahlreiche Fenster. Im Erdgeschoß standen sie alle auf und liefen über von herrlichen Geräuschen. Rhythmisches, von zartem Klingeln unterbrochenes Klappern einer Schreibmaschine, Schwirren des Telefons, das, anders als in der Wohnung, wie Lachen klang und dem ein fröhliches Aufwallen gewisser Geräusche antwortete, während andre plötzlich versanken... Robert sah beseligt zu Lisa empor, aber der schien alles hier vertraut und selbstverständlich – sie zeigte das erhabene, etwas einschüchternde Lächeln der Erwachsenen.
»Das nennt man ein Baugeschäft«, stellte sie mit lauter Stimme fest. Aus dem gegenüberliegenden Gebäude, dem dritten des Anwesens, das den Hof abschloß, kam zugleich mit einem scharfen, säuerlichen Geruch das Scharren und Wiehern von Pferden.
»Da sind die Rosse, und dort wohnt unser Onkel.«
Robert vernahm zum erstenmal, daß es außer Lisas Vater noch einen andern Onkel gab. Er blickte zum Stockwerk über den Geschäftsräumen, darin sich die Welt so eifrig rührte, während ein Onkel darüber ein stilles, verborgenes Leben führte. Das Geheimnis des Hauses wechselte das Gesicht und wurde ernst und verschwiegen.
Immerhin übten die Pferde eine ungleich größere Anziehungskraft aus als der geheimnisvolle Onkel, und so ergriff er Lisas Hand und machte sich auf den Weg dorthin, wo die Rosse wohnten. Es war das größte der Häuser wegen des Daches, das nicht weniger als drei Reihen von Dachluken aufwies. Im Erdgeschoß lagen die Stallungen und Wagenschuppen, die zwei Stockwerke darüber dienten als Wohnungen und Lagerräume.
»Du«, sagte Lisa. »Wir müssen mal auf den Speicher. Ich war oben mit dem Emil. Die Emils wohnen im zweiten Stock, da kann er hinauf und hinunter, ohne daß ihn wer erwischt. Der Speicher ist groß wie ein Bahnhof, sag' ich dir. Es hat sich mal einer von euern Arbeitern dort aufgehängt. Seitdem traut sich keiner hinauf. Aber der Emil und ich, wir waren oben. Er hat mir den Balken gezeigt, wo der Mann sich aufgehängt hat ... Man sieht aber nichts mehr«, fügte sie bedauernd hinzu. Robert erkundigte sich, wozu der Mann sich aufgehängt habe.
»Wahrscheinlich eine Weibergeschichte«, erklärte Lisa.
Eine Ahnung verriet ihm, daß er als Mann zu wissen habe, was das sei, eine Weibergeschichte, und er nickte vielsagend.
An diesem Tag besichtigten sie nur den ersten der beiden Ställe. Das Mittagläuten vom Münster berief sie ab, kaum, daß sie sich in den Anblick zweier gewaltiger, rotbrauner Pferdehintern vertieft hatten, die von langen Schweifen gepeitscht wurden. Lisa atmete geräuschvoll ein und leckte sich den Mund, als ob sie von dem Ammoniakgeruch naschte.
»Fein!« sagte sie. »Was, kleiner Mann? Fein. Das gibt Kraft. Schnauf mal ordentlich!«
Robert atmete aus Leibeskräften.
»Merkst du was?«
»Und ob!«
»Im Bauch!«
Er war erstaunt.
»Im Bauch?« Er legte die Hand auf den Nabel. »Im Bauch spür' ich nichts.«
»Na, so komm!« sagte sie abschließend. »Du bist noch zu klein. Bei dir geht's noch nicht so tief.«
Bei Tisch erzählte Grand'maman eine Geschichte, die Robert längst auswendig wußte. Er hätte ihr auch diesmal mit Teilnahme gelauscht, wären nicht die rotbraunen, wunderbar gewölbten, silbrig schweißenden Pferdehintern gewesen.
Er sah sie vor sich im Halbdunkel des Stalles aufragen, sah sie leuchten. Trotz des unendlich vornehmen Glanzes von Großmutters Erzählung waren sie es, die ihn blendeten, keineswegs der französische Kaiser und seine Frau, die Grand'maman, ›als wäre es gestern gewesen‹, die Loge in der Pariser Oper betreten ließ, während das Publikum und darunter die damals sehr junge Großmutter sich tief verneigten. »In diesem Augenblick«, meinte sie, »hielten wir uns selbst für kaiserliches Geblüt.«
Grand'maman sah heute noch wie eine Königin aus, besser gesagt eine Königinmutter, in ihrem taubengrauen, unter den Ohren schließenden Seidenkleid und der Goldkette mit dem kleinen Kreuz, das auf dem Paradekissen des hochgeschnürten Busens ruhte. Ihre Taille war noch immer schmal, ihre Schultern immer noch fein gerundet. Sie trug eine schwarze Spitzenhaube, die sie erst abends im Bett, wenn niemand mehr zu ihr durfte, gegen eine weiße Nachtmütze vertauschte. Trotz der dicken Lippen und des zu runden Kopfes, die sie ihrem Sohn vererbt hatte, strahlte ihr Gesicht in einer verhaltenen Schönheit, die man sich erst gar nicht recht zu erklären wußte. Man fühlte die Wirkung, bevor man die Ursache erkannte, und dies Rätsel fesselte mehr als die regelmäßigste Schönheit. Das Gesicht hatte die Farbe alten Elfenbeins, dem ein gewisser Goldton etwas Lebendiges, mit Atem und Veränderlichkeit Begabtes verleiht. In dem hellen Gesicht saßen ganz lichte Augen, das Blau der Iris schien flüssig und durchscheinend, das Weiß darum war wie Milch, wie das milchige Licht am frühen Morgen. » Stella matutina, der Morgenstern«, sagte Edouard, wenn er von den Augen seiner Mutter sprach, und die weit verzweigte Familie sprach es ihm nach – freilich nicht immer im Ton der Bewunderung.
Grand'maman, die, klein und fest umrissen, in untadeliger Haltung bei Tisch saß, hatte mit einer Bewegung von Schulter und Hüften leicht, ganz leicht nur, eine zeremonielle Verbeugung angedeutet, und nun senkte sie die Stimme und sagte lächelnd: »Wir heben den Kopf – und was sehn wir? Das hohe Paar dankt uns mit unbeschreiblicher Anmut... Darauf verneigen wir uns nach der andern Seite, wo...«
»Grand'maman, weißt du, wie die Rosse hinten im Stall heißen?« rief Robert. Als ein beklommenes Schweigen folgte, wurde er sich natürlich gleich der Todsünde bewußt, die in der Unterbrechung der Großmutter lag. Er wollte, schon beträchtlich beunruhigt, die Stimme zu einer Entschuldigung erheben, da wandelte ihn angesichts der versteinert dasitzenden Eltern die Befürchtung an, mit seiner Frage ein viel größeres Unheil heraufbeschworen zu haben, das vorläufig noch im Dunkel lag. Die Mutter hielt den Blick gesenkt, der Vater starrte auf Grand'maman, und Grand'maman – lieber, guter Gott! –, Grand'maman begann wahrhaftig mit dem Kopf zu schütteln.
»Was ist das, eine Weibergeschichte?« wollte er in der Verwirrung ausrufen. Er hielt es gerade noch zurück und errötete nur.
Sobald das Kopfschütteln Grand'mamans einsetzte, machte sich Robby stets auf etwas Entsetzliches gefaßt. Für gewöhnlich saß der Kopf der Großmutter ebensofest wie andre Köpfe. Plötzlich aber begann er zu wackeln, als ob der Hals ihn nicht mehr hielte, und dazu beschrieb er eine kreisende Bewegung, die so lange dauerte, bis ein sonderbares Lächeln auf ihr Gesicht trat. Dieses Lächeln saß im Innern des Kopfes und wurde durch Schütteln an die Oberfläche gebracht. Es kam nur langsam zum Vorschein. Sobald es festsaß, kehrte der Hals in seine steife Haltung zurück, und dann, dann schien Grand'maman entzückt den Kopf ihres größten Feindes auf der Pike zu tragen. Je nach den Umständen dauerte das Schütteln kürzer oder länger und erreichte seinen Höhepunkt an einer dramatisch wirksamen Stelle des Gesprächs. Nicht als ob die Alte sich die Stelle ausgesucht hätte! Ihr Kopf war der natürliche Erdbebenanzeiger, der einfach bei der stärksten Erschütterung stehnblieb.
Robert verfolgte gespannt das Naturereignis – durch seine Wiederholung hatte es für ihn noch nichts von seinem Schrecken verloren. Seine Füße wurden schwer, sie zogen ihn unter den Tisch in eine Tiefe, aus der das Brausen der offenen Hölle heraufstieg. Um dem entgegenzuwirken, setzte er seine Beine in Bewegung, er flüchtete gleichsam nach der andern Seite. Der Vater kam ihm unfreiwillig zu Hilfe.
»Schaukelst du schon wieder mit den Beinen?« fuhr er ihn an. Es war eine Erlösung. Sofort hörte das Sausen auf und auch das Absinken unter den Tisch. Robert fühlte sich im Geiste angepackt und gehalten.
»Laß ihn nur schaukeln«, meinte Grand'maman mit ihrer hohen feinen Stimme. »Er ist ein Kind. Er weiß nicht, was gut und böse ist. Aber andre wissen es. Und ich lasse mir niemand über den Kopf wachsen.«
Die Mutter beugte sich über ihren Teller, sie errötete flammend.
»Seht ihr«, sagte Grand'maman und richtete, immer hastiger mit dem Kopf wackelnd, den Blick auf sie. »Ich habe niemand angeklagt ... Nicht wahr, Marie-Louise?«
»Nein«, sagte kleinlaut die Mutter. »Nicht geradezu.«
»Nein«, wiederholte die Alte. »Nicht geradezu.«
»Wer hat dir die Ställe gezeigt?« schlug Vater Schmittlin dazwischen. Er sprach sehr laut und drohend, in der Hoffnung, die Alte von Marie-Louise abzulenken.
»Bitte, schrei nicht so. Wir sind hier kein Wirtshaus ... Leise, Kinder, leise.«
Sie wußte genau, daß Edouard nur durch Poltern seine Schüchternheit überwinden konnte, von der sie selbst nicht hätte sagen können, ob sie angeboren oder das Ergebnis ihrer Erziehung war.
»Wer also«, nahm sie die Frage mit zärtlichem Anstand auf, »wer, mein Kind, hat dir die Ställe gezeigt?«
»Lisa«, flüsterte der Junge.
»Aha! Aha! Alles kommt aus der gleichen Ecke. Die Familie Walter ... Die wildhaarige Familie Walter ... Wie lange sage ich schon, daß ihr unserm Jungen die Mädchenlocken schneiden lassen sollt! Es ist eine Sünde bei einem Jungen! Damit machen die Walterschen ihn zu einem der ihren.«
»Er hat doch so schöne Haare«, wandte Marie-Louise zum Entsetzen ihres Gatten ein.
»Schön, schön ... Heißen wir Walter oder heißen wir Schmittlin?« Ihre Worte schepperten leise.
»Ich bin eine Walter«, bemerkte Marie-Louise mit einem Anflug kindlichen Trotzes.
»Du warst eine Walter, meine Liebe, du warst es. Du bist es nicht mehr.«
Eine kurze Pause, Robby wünschte seine Haare zum Teufel, und Grand'maman, die weder der Strenge ihres Sohnes noch der demütigen Gesinnung der Schwiegertochter vertraute, nahm die Vernehmung, immer noch schüttelnd, persönlich in die Hand.
Wann war es geschehn? Wie kam es, daß man Robert mit seiner Kusine hatte fortgehn lassen? Wo waren sie gewesen? Seit wann ließ man Kinder unbeaufsichtigt in der Stadt herumlaufen? Sollte das in gewissen Familien so üblich sein? Wann waren sie vom Spaziergang zurückgekehrt?
Robert, der Verzweiflung nahe, brach mit der Mitteilung vor, daß er jetzt das Porzellanschild Schmittlin & Walter, Baugeschäft lesen könne. Die erhoffte Wirkung blieb aus. Grand'maman, die sonst die Fortschritte ihres Enkels mit Genugtuung auf die Ehrentafel der Familie Schmittlin eintrug, schien von allen Sippenehrgeiz gänzlich verlassen.
»Hast du mit jemand gesprochen?« lispelte sie.
Robert erkannte, daß das Hervorschütteln des gefürchteten Lächelns in das letzte Stadium trat.
»Nein«, rief er, und da es ihm vorkam, als ob mit diesem Nein unvermutet Rettung winkte, rief er: »Ich habe noch einen Onkel – wußtet ihr das? Er wohnt da hinten!«
Und als niemand antwortete, fügte er, fast schon weinend, hinzu: »Böse Menschen sind gar keine da! Grand'maman hat sich verkohlen lassen.«
Die traurigen Lippen des Vaters bebten:
»Und du behauptest, du hättest mit niemand gesprochen!«
Grand'mamans Kopf wackelte nicht mehr. Sie lächelte. In die entsetzte Stille fielen die Worte: »Da haben wir's!«
Und ihre Augen leuchteten in himmlischer Klarheit.
Alle saßen starr, als wäre die Katastrophe offenbar geworden.
»Sie haben ihn auch gleich lügen gelehrt«, sagte sie noch, ganz leise. Ihr Lächeln war eisige Wonne.
Robert wollte widersprechen, und auch die Mutter erhob das Haupt. Grand'maman sah den einen und die andre an, und beide schwiegen. Der Befehl des Vaters: »Geh in dein Zimmer!« fegte den Jungen hinaus. Als die Mutter sich ebenfalls vom Tisch erheben wollte, nagelte ein »Bitte, Marie-Louise!« der hoheitsvoll aufgerichteten Großmutter sie auf ihren Stuhl fest. Sehr sanft sagte Marie-Louise: »Das Kind hat noch niemals gelogen.«
»Bisher nicht«, bestätigte die Alte, »nur immer an den Fingernägeln gekaut.« Offenbar erblickte sie im Fingernägelkauen die Vorschule der Lüge.
Marie-Louise zeigte sich hartnäckig: »Auch jetzt nicht.«
»Auch jetzt nicht?« wandte Schmittlin schüchtern ein.
»Nein, verzeih, auch jetzt nicht.«
Es war so viel Festigkeit in ihrer Schwäche, die Stimme ein wenig bebend, entstieg so rein ihrer dunkeln Anmut, daß Edouard sich verwirrt in ihren braunen Augen verlor. Grand'maman holte ihn schnell wieder heraus.
»Bitte, Edouard, klingeln!« befahl sie, und die Mahlzeit ging zu Ende, ohne daß ein weiteres Wort gesprochen worden wäre. Als man sich vom Tisch erhob, versuchte Schmittlin neuerlich ein Ablenkungsmanöver.
»Ich kenne jemand«, äußerte er aufgeräumt, »mit dem nächstens abgerechnet wird. Der Walter muß heraus aus der Wohnung im Hof... Und vielleicht auch aus dem Geschäft!«
»Vielleicht?« sagte die Großmutter. »Vielleicht.«
Sie sah ihn an.
»Mein guter Junge! Du spielst mir zuliebe den wilden Mann. Ich kenne das. Du möchtest deine Ruhe haben... In Ruhe deinen Kaffee trinken... Wenn du wüßtest, wie du mich an deinen armen Vater erinnerst.«
Sie schritt an seinem Arm zum Erkerzimmer, Marie-Louise folgte.
»Dein Bruder, liebe Marie-Louise, schadet uns beträchtlich«, sagte sie, ohne den Kopf zu wenden. »Er führt einen unklaren Lebenswandel. Und außerdem verlieren wir eine hübsche Miete. In diesen Zeiten... Verzeih', daß ich so von deinem Bruder spreche. Du weißt, ich kenne ihn von klein auf. Und ich habe frühzeitig Gelegenheit gehabt, seinen Charakter zu studieren... Genügt es dir nicht, daß er Geschäftsteilhaber ist? Wozu braucht er noch freie Wohnung? Das ist Diebstahl an deinem Sohn, meine Liebe. Der kleine Walter stiehlt in der eigenen Familie.«
Seit dreißig Jahren nannte sie Marie-Louises Bruder den kleinen Walter und sah mit Verachtung darüber hinweg, daß der Kleine inzwischen gewachsen war und alle Familienmitglieder an Gestalt überragte. Er war ein harmloser Mensch, der ihr wie einem verzauberten, nicht näher bekannten Tier aus dem Wege ging. Freilich, als Schüler hatte er in Ausführung einer kindlichen Wette einen in Zeitungspapier eingewickelten Roßapfel in den Erker geworfen. Der Krieg, den sie seitdem mit wechselndem Glück gegen ihn führte, ging nun schon ins dreißigste Jahr.
Grand'maman nahm im Erker Platz, wo der Kaffee sie erwartete. Die ›Kinder‹, Edouard und Marie-Louise, saßen an einem kleinen Tisch unterhalb des Podiums, und Grand'maman bekam die erste Tasse gereicht.
Dann setzte sie die Lesebrille auf und entfaltete den Temps. Eigenname einer großen, bürgerlichen Pariser Abendzeitung, gegründet 1861.
»Ihr erlaubt doch, meine Lieben?...«
»Hör mal, Grand'maman«, sagte Marie-Louise übertrieben eifrig. »Was ich dich schon immer fragen wollte: ist nicht der Temps ein Ketzerblatt – von Ketzern für Ketzer geschrieben – geradezu kirchenfeindlich?«
Die Alte, die in der scheinbar harmlosen Frage die ›Waltersche Schlange‹ zischeln hörte, bedachte ihre Schwiegertochter über die Brille hinweg mit einem zurechtweisenden Blick.
»Ach was! Ich kann die Pfaffen ohnedies nicht aussteht«
»Seit wann denn, Grand'maman?«
»Nun, wenn du es unbedingt wissen willst, mein Kind: seitdem ich den Dorftrottel von einem Pfarrer bei unsern Verwandten kennengelernt habe... Die meisten dieser Leute sind lau wie Spülwasser. Ich freue mich, daß jemand da ist, der sie daran erinnert, daß dieses Leben kein Pfarrgarten voll saftiger Birnen und Aprikosen ist. Sie würden sonst einschlafen unter ihren Spalieren.«
Inzwischen zog der Schlaf bereits über sie selbst herein. Die Zeitung zitterte mehrmals in ihren Händen. Grand'mamans Hände waren das Appetitlichste von der Welt, rundlich, gepolstert und blank wie eine Elfenbeinkugel.
»Die guten Leute in Paris«, murmelte sie. »Immer Streit. Gute Menschen sollten sich niemals streiten... Niemals, Kinder... Nie...«