Johannes Scherr
Die Pilger der Wildnis
Johannes Scherr

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19. Wiedergefunden

Dem furchtbaren Kampfgetöse war Ruhe gefolgt, die stumpfe Ruhe der Verzweiflung. Der letzte Rest der Wampanogen hatte nach dem Fall ihres Häuptlings die Waffen weggeworfen und war durch Groot Willem dem Entermesser der Seeleute entrissen worden. Sie umgaben im Kreise die Leiche Metakoms da, wo der Tod ihn ereilt hatte.

Hih-lah-dih hielt sitzend das Haupt des Toten in ihrem Schoße, lautlos, unbeweglich, ein Bild von Stein.

Nachdem die Seeleute ihre gefallenen Kameraden am Ufer begraben hatten, gab de Lussan sogleich den Befehl zur Einschiffung. Sennor Estevan solle das Schiff zur Abfahrt bereit halten, alles klarmachen, daß die »Gloria« unter Segel gehen könne, sobald er an Bord zurückgekehrt sei. Ihre Fahrt solle nach den westindischen Gewässern gehen.

Nur die Pinasse war an der Küste zurückgeblieben. Die Ruderer des Bootes lehnten sich lässig auf ihre Riemen, und Monsieur Terrible, der am Steuer sah, war unter allerlei Flüchen und Verwünschungen auf das »bettelhafte Geziefer der roten Pickelheringe« damit beschäftigt, eine Speerwunde am Oberschenkel zu verbinden.

Draußen auf der ruhigen See, in geringer Entfernung von der Küste, kreuzte die Fregatte, unter ihren leichten Obersegeln hin und wieder. Ihre Mastenspitzen und ihr Segelzeug zeichneten sich rein auf dem blaßblauen Hintergrunde des wolkenlosen Abendhimmels ab, und ihre rote Flagge glänzte im Widerschein der untergehenden Sonne. Ein unbeschreibllcher Hauch von Frieden und Stille lag auf den Wassern der Bai.

Am Lande aber konnten die menschlichen Leidenschaften noch nicht zur Ruhe kommen.

Am Fuße des Felsens, ein paar Schritte von den beiden Obersten, Lovely, Desdemona und Thorkil entfernt, standen Groot Willem und de Lussan, jener nach seiner Gewohnheit sinnend auf den Lauf seines Roers sich stützend, dieser die verschränkten Arme fest gegen die Brust pressend und sichtbar bemüht, einen inneren Kampf unter gleichgültiger Miene zu verbergen.

Lovely hielt die Hand der endlich wiedergefundenen Schwester fest in der ihrigen, als wollte sie dieselbe niemals mehr loslassen, und wandte die Augen von dem schönen Antlitz Desdemonas nur ab, um sie mit dem Ausdruck flehendster Bitte auf ihren Vater zu richten, der seine finstere Haltung beibehalten hatte.

Auf den ehrwürdigen Greis dagegen hatte der Anblick seiner lange verloren gegebenen Enkelin augenscheinlich erschütternd gewirkt. Zug für Zug rief sie ihm das Bild ihrer Mutter, seiner Tochter Ellen, ins Gedächtnis zurück. Das Erbarmen innigster Liebe stritt in dem Großvater mit seinen religiösen Grundsätzen. Schon oftmals hatten sich in der kurzen Frist, seit Desdemona ans Land gekommen war, seine Arme unwillkürlich ausgestreckt, um die Enkeltochter zu umfangen, und ebenso oft hatte das Vorurteil sie wieder zurückgezwungen.

»Es gefällt dem Herrn, dessen Wille gepriesen sei ewiglich, die Rute der Züchtigung noch länger über dem Haupte seiner Knechte erhoben zu halten,« bemerkte der jüngere Oberst nach einem langen, beängstigenden Schweigen. »Ich habe viel Unglück erlebt seit dem Tage, wo ich das Land meiner Väter meiden mußte, um als Flüchtling in der Fremde zu irren, weil jenes dem Baalsdienste Edoms und der Herrschaft eines zuchtlosen Ahab wieder dienstbar geworden. Aber das schwerste Unglück hatte mir der Herr noch vorbehalten. Ich sollte meine Erstgeborene wiederfinden als – Kebsweib eines vogelfreien Piraten.«

Auf de Lussans Stirn schwollen die Adern an, seine Rechte zuckte nach dem Säbelgriff, er stampfte mit dem Fuße und trat einen Schritt vorwärts. Allein ein Blick auf Desdemona, die ihren Tränen nicht wehren konnte, ließ ihn seinen Ingrimm bemeistern.

»Sir,« versetzte er mit bebender Stimme, »ich vermag nicht in Eurer Redeweise mit Euch zu sprechen; mein Geschmack verbietet mir das. Aber wenn Ihr ein Mann seid, hört Ihr, wenn Ihr ein Mann seid, so unterlaßt es, ferner einen zu beleidigen, dessen Degen durch Rücksichten, die stärker sind als alle Erbitterung, in der Scheide zurückgehalten wird.«

»Vater,« sagte Lovely mit schüchternem Vorwurf, »de Lussan hat mit Gefahr seines Lebens das deinige gerettet.«

Desdemona, bleich wie der Tod, hatte ihre Fassung wiedergewonnen und bemerkte sanft und ehrerbietig, aber fest:

»Vater, Ihr tut Raoul und mir unrecht. Nach göttlichen und menschlichen Gesetzen bin ich sein rechtmäßiges Weib.«

Aber auch die guten Worte seiner Töchter konnten den Groll und Starrsinn des verbissenen Puritaners nicht ändern.

»Sir,« wandte sich der ältere Oberst an de Lussan, »ich sehe in unserem Zusammentreffen den Finger Gottes. Ich habe mich bemüht, meine Abneigung zu überwinden und Euch mit parteilosem Auge zu beobachten. Es ist meine Art, zu reden, wie ich fühle und denke, und so sage ich Euch, daß Ihr mir aus einem Stoffe geformt zu sein scheint, dem edles Metall beigemischt ist. Meine Enkeltochter hängt an Euch. Unser wackerer Freund Willem dort hat mir gesagt, daß Ihr sie hochhaltet. Sagt mir, besitzt Ihr die Kraft, auf den Pfad der Tugend zurückzukehren und Eure bisherige Laufbahn aufzugeben?«

»Sir,« entgegnete de Lussan ehrfurchtsvoll, »Ihr flößtet mir beim ersten Anblick Achtung und Vertrauen ein. In Eurer Brust schlägt ein edles Herz, und glaubt mir, ich verstehe und würdige die Absicht, die in Euren gütigen Worten liegt. Mein großer Plan, der, falls er gelungen, Eurer Enkeltochter ein Diadem um die Stirn gelegt hätte, ist zwar gescheitert, aber noch lebt in mir die Kraft, welche ihn ersann. Meine Laufbahn aufgeben? Nie!«

Der Greis erkannte aus den kühnen und stolzen Worten des Flibustiers, daß einem solchen Mann gegenüber jedes weitere Wort überflüssig sei.

»Und du, mein Kind,« sagte er weich zu Desdemona, »willst du auch ferner dein Los mit dem dieses Mannes vereinigen? Oder willst du, erkennend die Gnade des Herrn, der uns so wunderbar zusammengeführt hat, zu uns zurückkehren?«

»O, Dank, Großvater, Dank für diese Worte!« rief Desdemona aus, die Hände des Greises ergreifend und sie mit Küssen bedeckend. Dann hielt sie mit der Linken die Hand des Großvaters fest, faßte mit der Rechten nach der widerstrebenden Hand ihres Vaters, und mit ihrer tiefen Glockenstimme sagte sie, während de Lussan auf sie mit erregter Spannung blickte:

»Es steht geschrieben: Die Liebe bleibt immerdar; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles. Und weiter: Das Weib wird Vater und Mutter verlassen und dem Manne anhangen. Ich bin Raouls Weib. Mein Herz, mein Eid, alles, alles bindet mich unauflöslich an ihn. Wenn alle Welt Acht und Bann über ihn spräche, ich würde ihn dennoch lieben und ehren. Er ist mein Held, mein Geliebter, mein Gatte, mein alles!«

»Du willst ihn nicht verlassen?« fragte der Greis tiefbewegt.

»Ich kann nicht!«

Ein Strahl des Triumphes fuhr über die Züge des Flibustiers. Aber der Puritaner schleuderte die Hand seiner Tochter von sich und fluchte ihr, der Fluch, den er am Totenbette der Mutter über sie gesprochen, möge sie weiter begleiten.

»Zu mir, Desdemona!« rief de Lussan. »Der Himmel ist taub für die Flüche des Wahnwitzes.«

Sie verhüllte ihr Antlitz mit den Händen und wandte sich wankenden Fußes zu gehen. Aber der Greis, unfähig, den Regungen seines Herzens länger zu widerstehen, hielt sie zurück.

»Nein, so sollst du nicht von uns gehen, Tochter meiner Ellen. Komm und nimm meinen Segen mit dir,« und segnend legte er die Hände auf die Tieferschütterte, während sie ihre Knie vor ihm beugte.

Dann umfaßte sie die Füße ihres Vaters und flehte in herzzerreißendem Tone zu ihm empor:

»Vater, bei der Seele meiner Mutter, nimm den Fluch von mir!«

Es arbeitete heftig in seinen Zügen, und seine Lippen zuckten krampfhaft. Endlich aber lösten sich seine verschränkten Arme, und seine Hände sanken wie von selbst auf die Stirnlocken der Tochter.

»Ich nehme den Fluch von dir,« sagte er tonlos. »Leb' wohl!«

Sie sprang auf und bedeckte sein Antlitz mit Küssen und Tränen, sie warf sich in die ausgebreiteten Arme des Großvaters, sie drückte die Schwester an ihre Brust und flüsterte ihr zu: »Sei glücklich mit Thorkil!«

Dann winkte sie allen ein letztes Lebewohl zu und legte ihre Hand in die de Lussans. Der aber hob sie in seine Arme und eilte mit der teuren Beute an die Küste, sprang in das Boot und stieß dann einen jauchzenden Schrei aus. Die Matrosen setzten mit lautem Hussa ihre Riemen ein, und die Pinasse flog über das Wasser der Fregatte zu, wo der Flibustier und seine Herrin mit lautem Jubelgeschrei empfangen wurden. Die Mannschaft der »Gloria« entbot den Freunden auf der Landzunge mit sämtlichen Geschützen den Abschiedsgruß.

Als sich der Pulverdampf verzogen, erblickte man die Fregatte noch einmal, wie sie in voller Fahrt, einer weißen Wolle gleich, in die Dämmerung südwärts glitt.


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