Johannes Scherr
Größenwahn
Johannes Scherr

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Dritter Zwischensatz: Ein literarischer Dialog

Am Abendtisch auf der »Schynigen Platte« hatte ich die Bekanntschaft eines ältlichen Herrn gemacht, welcher sich bei näherem Zusehen als ein alter Bekannter darstellte. Denn nachdem wir uns gegenseitig aufeinander besonnen, kam es heraus, daß wir uns im Jahre des Fluches, d.h. 1849, zuletzt gesehen hatten. Und zwar zu Heidelberg an jenem Junitag, wo die deutsche Demokratie in Waffen einen ihrer letzten kleinen Erfolge errang: – der tapfere »Seidehannes«, sonst Mögling geheißen, warf die »Reichstruppen«, Hessen und Bayern, wieder aus Ladenburg hinaus und bewies ihrem Herrn General, daß selbiger ein Reichsfeldherr von derselbigen Mache sei wie die Herren Reichsverweser, Reichsminister, Reichsgesandten, Reichsprofessoren und alle die sonstigen »besten« und »edelsten« Männer von dazumal, die Gothaner-Väter der heutzutägigen Monopolisten des Reichspatriotismus, will sagen der Schmeißfliegen, welche sich zudringlich auf die Radspeichen des Reichswagens setzen und der Welt vorsummen, sie seien es, welche den Wagen in Bewegung gesetzt hätten und in Bewegung erhielten.

Wir saßen lange mitsammen auf. Wo sich nach langen Jahren so zwei von 1848 wieder zusammenfinden, haben sie gar viele Erinnerungen an die Zeit des großen Exodus auszutauschen. Von ihren eigenen mehr oder weniger bunten und schweren Erlebnissen gar nicht zu reden. Die meinigen waren zahm und sanft, wenn auch nicht gerade süß gewesen, verglichen mit den wilden und sozusagen borstigen, welche Herr Hanns Zackig durchzumachen gehabt hatte. Er war zu den Gegenfüßlern verschlagen worden, hatte in Tasmania etliche Jahre lang als ein Kollege des »göttlichen Sauhirten« Eumäos amtiert und zwar keinen Homerum, wohl aber schließlich eine Nausikaam, will sagen Herz und Hand der Erbtochter des Eigentümers verschiedener tausende von Borsten- und Klauentieren gefunden. Also, wenn nicht nach englischem, so doch nach deutschem Maßstab ein reicher Mann geworden, hatte er sich nach dem Tode seines Schwiegerpapas mit Weib und Wolle, mit Kind und Kegel nach dem alten Europa aufgemacht, willens, in seiner pfälzischen Heimat oder sonstwo im Deutschen Reiche sich anzukaufen und fortan seines otii oum dignitate zu genießen. Hatte ihm aber, sagte er, weder unter den Ober- noch unter den Unterpreußen gefallen und war er daher nach der Schweiz gegangen, um sich da nach einem passenden Heim umzusehen.

»Ober- und Unterpreußen«? Das machte mich stutzig. Es klang nicht ordonnanzmäßig und roch polizeiwidrig. Patrioten, wie sie im neuen Reich hofscharwenzeln und kratzfüßeln, hätten sicherlich sofort einen »Reichsfeind« gewittert. Ich meinesteils nahm nach rasch wiedergewonnener Fassung meinen Gesellschafter so unbefangen, wie er sich gab. Der Mann war vor 1849 allerdings Professor an einer darm- oder kurhessischen Universität gewesen; aber man konnte es ihm billigerweise nicht verübeln, daß er unter der australischen Sonne seine Professorlichkeit verschwitzt hatte. Auch dürfte es zu entschuldigen sein, daß ein Mensch, der erst vor Jahresfrist von den Antipoden gekommen war, sich gewissermaßen antipodisch ausdrückte, d.h. nicht ganz der Konvenienz und Korrektheit gemäß, wie die Berliner und Leipziger Orthographie sie jedem vorschreibt, welcher die Ehre hat, ein Reichsbürger nach Ordonnanzmaß zu sein. Freilich fühlte ich mich in meinem Gewissen nicht wenig beunruhigt, als ich merkte, mit was für einem politischen und ästhetischen Ketzer ich mich eingelassen hätte. Indessen da ich ja kein Parteihöriger bin, so erlaubten mir meine Mittel schon einen solchen Exzeß. Zudem setzt man sich in einem freien Lande und nahezu sechstausend Fuß hoch über dem Mittelmeer über manche Bedenken hinweg, die ja in einem Militärstaat und in den Flachgegenden von Leipzig oder Berlin nicht ganz ohne sein mögen.

Das Berghotel war angefüllt, und wir mußten uns ein gemeinschaftliches Schlafzimmer gefallen lassen. Herr Zackig entschuldigte sich von wegen seiner Gewohnheit, vor dem Einschlafen noch ein Stündchen im Bette zu lesen. Zog also ein Buch aus seiner Reisetasche, legte sich zurecht und las, während ich mich in meinem Bette der Wand zukehrte und bald einschlief. Frühmorgens sodann, als wir unser Handgepäcke zurechtmachten, lag das Buch noch auf dem Tisch und ich nahm wahr, daß es ein Band der Gesamtausgabe von Gutzkows Werken. »Was lasen Sie denn gestern so eifrig?« fragte ich.

»Den Maha Guru. Ich erinnerte mich, daß ich diese ›Geschichte eines Gottes‹ vor etlichen dreißig Jahren mit Genuß und Wohlgefallen gelesen hatte, und nahm den Band mit auf die Reise.«

»Und wie steht es jetzt mit dem Wohlgefallen und Genuß?«

»Wie dazumal.«

»Das ist eine kurze, aber, wie mir scheint, sehr anerkennende und dankbare Kritik.«

»Das soll es auch sein.«

»Ein Buch, welches einem Studenten, NB. einem deutschen Studenten, wie er vor 40 Jahren war, gefiel, und das dann nach so langer Zeit einem sehr bemoosten Haupte noch ebenso gefällt, darf sich schon sehen lassen.«

»Gewiß. Kümmere mich den Teufel um kritische Schulmeinungen und ästhetische Rezepte, wissen Sie? Wenn man in der Welt herumgeworfelt worden und soviel gesehen und erlebt hat wie ich, pfeift man auf alle die Tifteleien gelehrtbornierter Stubenhockerei. Müßte daher meinen längst an die Wand gehängten Schulsack wieder herunternehmen und darin herumklauben, wollt' ich schulgerecht sagen, was alles mir an Gutzkow, dessen ältere und neuere Schriften ich im letzten Winter wieder oder zum erstenmal gelesen habe, so gefällt. Bin so frei, wie in allen andern Sachen, so auch in literarischen meine eigene Meinung zu haben, und da mein' ich nun, mein ausdauerndes Wohlgefallen an Gutzkow rühre hauptsächlich daher, daß ich in ihm einen der wenigen, sehr wenigen wirklich und wahrhaft unabhängigen und, im besten Wortsinn, bürgerlich gesinnten Autoren kenne und ehre, welche Deutschland dermalen aufzuweisen hat.« ...

Eine halbe Stunde darauf befanden wir uns auf dem Wege oder eigentlich Nichtwege zum Faulhorn, wohin von der Schynigen Platte zu wandern wir uns beim Frühstück rasch entschlossen hatten. Diese Wanderung den Kamm des Gebirges entlang, welches zwischen dem Seetal von Brienz und den Tälern von Lauterbrunnen und Grindelwald aufsteigt und im Faulhorn gipfelt, ist etwas lang und stellenweise auch ein bißchen mühselig, aber prächtig. Schon darum, weil der Weg oder, wie gesagt, eigentlich Nichtweg noch nicht von Touristenfüßen plattgetreten ist. Stundenlang auf und ab. Bald durch grüne Mattenmulden, bald durch malerische Schluchten, bald über wildzerrissenes Steingerölle, bald über kühnragende Felskegel hinweg. Jetzt wie völlig abgeschieden, abgemauert von der Welt, dann wieder plötzlich links hinab ein Blick in die Bläue des Brienzer Sees oder rechts hinauf die Schau auf die Jungfrau und die sie huldigend umstehenden Kolosse mit ihren Helmen von Firnschnee und ihren Harnischen von Gletschereis. Der Spätsommertag war herrlich, der Himmel wolkenlos, die Luft rein, still und von jener stählenden Frische, welche das Atmen zu einer Lust und das Wandern zu einer Wonne macht.

Lange schritten wir schweigend dahin, unserem von der Schynigen Platte nebst Mundvorratskorb mitgenommenen Führer nach. In solchen Stunden und auf solchen Wegen hält ja der Mensch gern Einsprache bei sich selbst. Erst dann, als wir gegen Mittag zu unter einer Felswand Rast hielten und an Speise und Trank uns erquickten, kam das Gespräch wieder in lebhafteren Gang.

»Welche Gegensätze« – rief Herr Zackig aus, »diese Gebirgswelt und die Welt australischer Wälder und Steppen! Und doch im Grunde dieselben Eindrücke hier und dort. Die Natur wirkt, sobald man sich mit ihr recht ins Einvernehmen gesetzt hat, allüberall beschwichtigend und tröstend, klärend und erhebend. So spürt man auch in allem Guten und Großen, was unser Volk geschaffen, ihr Weben und Wehen. Die Deutschen sind Naturkneipanten gewesen vom Urbeginn an.«

»Der Satz läßt sich, scheint mir, auch auf unsere Literatur anwenden, die nicht, wie die französische, ein Produkt der deutschen Natur ist.«

»Gewiß. Wenigstens in ihren höchsten Wollungen und besten Vollbringungen. Denn alle die unsern großen Schriftstellern von Naturgnaden innewohnende Genialität und Energie vermochte gegen das Jammertal der politischen und sozialen Zustände unseres Landes keineswegs immer aufzukommen. Im Gegenteil! Dieses Jammertal widert uns aus der Geschichte unserer Literatur nur allzusehr und allzuhäufig an.«

»Ich verstehe. Auch Sie überkommt jenes zornige Mitleid, welches man empfinden muß beim Anblick von allen den Miserabilitäten, inmitten welcher unsere Lessing, Goethe und Schiller sich abquälen mußten.«

»Ja. Solche Riesen, gezwungen, in solchen Schachteln zu wohnen! Einen Nathan schreiben können und in der feuchten Wolfenbüttler Bücherei wie ein Tagelöhner hantieren und schanzen müssen, um jährlich 300 Taler zu verdienen und einen vorzeitigen Tod einzuatmen. Den Sonnensang von den Künstlern dichten, den Wallenstein schaffen und der Küche das Geld abzwacken müssen, um die Apotheke bezahlen zu können. Den Faust unter der Schädeldecke tragen und flachsenfingischer Minister sein. Welche Summe von Elend!«

»Nur allzuwahr. Dieses Elend hat es ja auch mitverschuldet, daß der kühnste dichterische Wurf, welcher unternommen worden, seit es eine Poesie gibt, eben der Goethesche Faust, nicht zum Ziele gelangt ist.« »Leider! In den Faustmonologen, in den Gretchenszenen, in dem Kerkerfinale – Tragischeres ward nie ersonnen, Erschütternderes nie gedichtet – da geht der Odem Gottes und weht der Hauch der Ewigkeit. Aber nun der sogenannte zweite Teil! Den hat – eleleu! ototototoi! – eben der flachsensingische Minister, Herr von Goethe, Exzellenz aus tausend und wieder tausend mythologischen, allegorischen, symbolischen und was weiß ich noch sonst für Einfällen, Grillen, Schrullen und Marotten, Schnitzelchen, Fädchen, Flöcklein und Läpplein mühseligst zusammengeflickt und zusammengeleimt. Die langweiligste Schnurrpfeiferei von A bis Z!«

»Um Gottes willen, wenn uns der Herr Düntzer oder sonst einer der Goethomanen hörte! Ich würde ja, weil mit Ihnen gegangen, auch mit Ihnen gehangen.«

»Ach was! Jeder unbefangene Leser urteilt über ›der Tragödie zweiten Teil‹ gerade so wie ich. Die Leute haben, gemäß der ganzen Verlogenheit unserer gesellschaftlichen und literarischen Konvenienz, nur nicht den Mut, freisam zu sagen, daß ihnen dieses Sammelsurium von widerspruchsvollen, mitunter ganz kindischen Motiven, von romantisierender Klassik und klassizierender Romantik, von fader Rätselei und überflüssigem Blindekuhspiel, dieser steifleinene Karneval und frostige Maskenzug, welchen der Dichter, weil doch alles mal ein Ende haben muß, schließlich ein kraßkatholisches Mysterienballett tanzen läßt, gähnende Langeweile erregt habe, so sie nämlich überhaupt sich überwunden, mehr als die zwei oder drei ersten Szenen zu lesen.«

»Aber Sie werden doch nicht leugnen wollen, daß auch im zweiten Teil vom Faust der Genius Goethes noch häufig sich offenbarte?«

»Häufig? Nein. Mitunter noch? Ja. Und aber man kann auch an diesen sehr spärlich in der allegorischen Wüste verstreuten Oasen keine rechte Freude haben. Man merkt die Treibhausvegetation und wird verstimmt. Mir kommt vor, der alte Olympier von Weimar habe mit seinem zweiten Teil vom Faust nur eine großartige Mystifikation des lieben Publikums beabsichtigt. Denken Sie doch nur daran, daß er mit behaglichem Händereiben sich rühmte, soviel in dieses Opus »hineingeheimnist« zu haben. Ein andermal forderte er seine Scholiasten ironisch auf, ihm da, wo sie ihn nicht auszulegen vermöchten, frischweg was unterzulegen. Ja, ja, der Alte hat neben dem Mystifikationshauptzweck auch noch den menschenfreundlichen Nebenzweck gehabt, einer ganzen Schar von Kommentatoren Arbeit und Verdienst zu verschaffen.«

»Sitzet nicht, wo die Spötter sitzen! sagt der Psalmist.«

»Fällt mir nicht ein, zu spotten. Spreche in vollem Ernste. Im übrigen müssen wir eben den zweiten Teil vom Faust, wie noch manche andere Goethesche' Unerquicklichkeit, auf die flachsenfingische Exzellenz zurückführen. Du lieber Gott, wenn man diese Welt von deutscher Kleinstaaterei, Krähwinkelei und Philisterei aller Art ansieht, in welcher unsere Kulturhelden lebten, so muß man erstaunen, daß die Lessing und Herder, die Wieland, Goethe und Schiller überhaupt werden konnten, was sie wurden. Um dieses Resultat zu erreichen, mußte sich in diesen erlauchten Menschen mit einer Fülle von Genie die höchste Willenskraft, die rastloseste Arbeitslast verbinden. Aber da ihrem Denken und Dichten die feste Basis, die gesunde Atmosphäre eines nationalen Staates abging, was blieb ihnen, wenn sie ihren Genius von der sie umgebenden Jämmerlichkeit lösen wollten, anderes übrig, als in das Wolkenkuckucksheim der Kosmopolitik emporzuflüchten? Ich verkenne nicht, daß gerade diese Flucht aus der Wirklichkeit unserer Literatur jene weltweite Spannung gegeben hat, welche sie vor allen übrigen auszeichnet. Aber hier lag doch auch, vollends für eine Natur wie Goethe, allzu nahe die Verlockung, sein eigen Land und Volk ganz beiseite liegen zu lassen, um sich in der Region des abstrakten Kunstdusels anzusiedeln.«

»Und ein Gewächs dieser Gegend ist der zweite Teil vom Faust, wollen Sie sagen?«

»Ja, aber das Wort Gewächs paßt nicht, sondern ist durch das Wort Machwerk zu ersetzen. Das Ding ist ja so recht ein Tächtel-Mächtel. Ganz aus der abstrakten Kunstduselsphäre ist Goethe nur noch einmal herausgetreten, als er ›Hermann und Dorothea‹ schuf. Was aber aus dem Schöpfer des Werther, Götz, Egmont, Faust (I. Teil) und der Iphigenie, was aus dem Dichter der Goetheschen Lieder, Balladen und Hymnen in jener Region nachgerade geworden, das zeigte in erschreckender Weise ›Des Epimenides Erwachen‹. Es ist doch eine traurige Tatsache, daß unser größter Dichter seiner Nation nach ihrem Erwachen im Jahre 1813 nichts Besseres zu bieten wußte, als diese frosthauchende mythologisch-allegorische Fratze.«

»Dem kann und mag ich nicht widersprechen.«

»Natürlich. Wer kann und mag es, wenn nicht ein Goethenarr in Großfolio? Höchlich ist auch, meines Erachtens, zu beklagen, daß sich Schiller von seinem olympischen Freunde in das Kunstdusellaboratorium hineinziehen und darin zu so unersprießlichen Experimenten verleiten ließ, wie ›Die Braut von Messina‹ eins war. Nachdem er kaum angefangen hatte, sich wieder auf sich selbst zu besinnen und auf sich selbst zu stellen – wie die Rütliszene im Tell und einiges im Demetrius herrlich ankündigten – starb er. Ja, es, ist doch, alles in allem genommen, ein helles Wunder, daß unsere Literatur aller nur denkbaren Ungunst der Verhältnisse zum Trotz geworden ist, was sie wurde ...«

Wir nahmen unsere Wanderung wieder auf, und im Weitergehen sagte ich: »Wenn ich Sie vorhin recht verstand, lieber Zackig, halten Sie die ganze Literaturtendenz, auf welche Goethe in seiner späteren Zeit, ja wohl schon von der italischen Reise an, mehr und mehr hindrängte und welche man als ›modernes Griechentum‹ zu bezeichnen pflegt, für ein Unglück, nicht?«

»Allerdings. Die ganze Griechelei war doch nur eine Künstelei. Selbst bei Goethe und Schiller. Nur bei einem deutschen Poeten hat sie sich allenfalls wie Natur ausgenommen.«

»Beim Hölderlin?«

»Ja, und darum ist er auch darüber verrückt geworden. Er hatte das Land der Griechen mit der Seele nicht nur gesucht, sondern auch gefunden und konnte doch nicht aus seiner deutschen Haut heraus. Das übernahm ihn. Hat doch das moderne Griechentum, wie Sie das Ding nennen – ich meinerseits nenne es falsche Idealität – zur damaligen Zeit auch andere Leute zugrunde gerichtet und nicht allein auf dem literarischen, sondern auch auf dem politischen Gebiete Schaden und Unheil angestiftet. Denken Sie nur an die armen griechelnden Wolkenwandler von Girondisten.«

»Bei so bewandten Umständen müssen Sie höchlich erbaut sein von der Wendung, welche die deutsche Literatur in unsern Tagen genommen hat.«

»Erbaut? Wieso?«

»Nun, wir leben ja jetzt in dem Zeitalter des hochgelobten Realismus.«

»Sie wollen sagen, in einer Zeit wo es Narren gibt, welche breitschwatzschweifig behaupten, die wahre und zeitgemäße Poesie sei ein aus Worten konstruierter Photographischer Apparat, und andere Narren, welche das glauben?«

»So ungefähr meint' ich es, ja.«

»Und wenn der Apparat noch ehrlich arbeitete! Aber das tut er ja gar nicht. Er reflektiert nur künstlich zurecht gemachte und kokett gruppierte Bilder, wobei es je nach dem Koteriebedarf darauf abgesehen ist, der Junkerei oder der Jobberei, dem Geldprotzentum oder dem Kathederzopf zu hofieren. Dabei ein ideenarmes und gefühlverlassenes Schablonenwesen, eine Freimaurerei der Mittelmäßigkeit, welche jeden ursprünglichen Ton, jeden eigenwüchsigen Gedanken, jeden eigenartigen Ausdruck verpönt und verfemt und die teetischfähige Prosa der eigenen Gewöhnlichkeit einem mehr oder weniger einfältigen Publikum als die richtige, der bekannten richtigen Realpolitik ganz entsprechende Realpoesie aufschwatzt.«

»Sehr wahr. Gesetzt aber auch, diese angebliche Realpoesie wäre eine wirkliche, dieser falsche Realismus ein wahrer, gesetzt, der photographische Apparat reflektierte tatsächlich das Leben, ganz genau, wie es ist, getreu bis zu jeder Falte oder Warze herab, würden Sie das für Poesie halten?«

»Bewahre! So wenig, als ich einen beliebigen Menschen, welcher einem andern einen Spiegel vorhält mit den Worten: Sieh, da realisier' ich dein Porträt! – für einen Maler halte. Der falsche Idealismus, von welchem wir vorhin sprachen, beging den Fehler, jedem und allem, namentlich allem Nationalen den Leib ab- und ausziehen zu wollen, um es zum Schweben in einer exklusiven Kunstsphäre zu befähigen. Der bornierte Materialismus von heute dagegen tadelt es an der jetzo modischen Holländerei, daß man ihre gemalten oder beschriebenen Düngerhaufen nicht auch noch rieche, geht in breitspurigem Hundetrab auf dem Hegelschen ›Alles, was wirklich, ist vernünftig‹ – einher und glaubt wunder was zu sein und zu leisten, wenn er sich den Anschein gibt, gänzlich vergessen zu haben, daß die ewige Aufgabe der Poesie, wie aller Kunst, war, ist und sein wird, dem Realen das ideale Gepräge zu geben.«

»Fügen Sie hinzu, daß unsere Herren Realisten vor lauter Realismus ganz unfähig geworden sind, jene andere – übrigens aus der ersten logisch folgende – Aufgabe der Poesie, wie aller Kunst, auch nur zu fassen, geschweige zu lösen, die Aufgabe, den Menschen von der »Angst des Irdischen« zu befreien, seine Seele vom Schmutz und Staub des Werktagslebens rein zu baden und ihm zum Bewußtsein zu bringen, daß seine Bestimmung doch nicht darin aufgehe, ›des Nutzens grobem Dienst verkauft zu sein‹.«

»Ja, das ist es! Darum erregen die mancherlei realpoetischen Experimente unserer Tage nur das flüchtige Interesse von Tagesmoden, darum hinterlassen sie im Gemüte des Lesers nur Öde und Leere. Mehr oder weniger lautes Eintagsfliegengesumme, das ist alles, obzwar die liebe Kameradschaft krampfhafte Anstrengungen macht, das Fliegengesumme zum Orgelkonzert oder gar zum Donnerwetter auszutrompeten und aufzupauken.«

»Lassen wir sie trompeten und pauken. Nach zwanzig oder schon nach zehn Jahren spricht von den angeblichen Orgelkonzerten oder angeblicheren Donnerwettern kein Mensch mehr oder höchstens noch so, wie man heutzutage vom Don Quichotte Fouqué und seinem Sancho Pansa, dem Grafen von Löben, spricht. Keinem jungen Menschen von heute wird es nach dreißig oder nach vierzig Jahren einfallen, eins der von der Kameradschaft klassisch gesprochenen Bücher unserer sogenannten Realpoeten wieder vorzunehmen, und falls einer diesen Einfall hätte, würde es ihm sicherlich nicht ergehen, wie es Ihnen mit dem ›Maha Guru‹ ergangen ist.«

»Natürlich. Denn nicht allein ist Gutzkow ein Autor von echtem und dauerhaftem Metall, sondern er hat es auch stets unter sich erachtet, ein Modepoet sein zu wollen, den augenblicklichen Stimmungen zu schmeicheln und den Gewalten des Tages zu Hofe zu reiten. Seit vierzig Jahren ist in Deutschland kein zweiter Schriftsteller aufgestanden, welcher so mit Kopf und Herz in und mit seiner Zeit gelebt und gestrebt hätte wie Gutzkow, dessen tüchtige und vielseitige Bildung ihn befähigte, alle die tausend Fäden des Gewirkes auf dem Webstuhl der Zeit zu kennen und zu nennen, ihr Wesen zu werten und sie allesamt zu nationalliterarischem Ausdruck zusammenzufassen. Mit offenem und scharfem Auge hat er das Wirkliche angesehen, aber er hat sich daran nicht so kurzsichtig gesehen, daß er den Blick auf das Ewige eingebüßt hätte. Sein Dichten, seine ganze schriftstellerische Tätigkeit trägt die Signatur des Idealismus, aber eines mit realen Anschauungen gesättigten Idealismus. Er gesteht der Materie ihre Berechtigung zu, aber kein Monopol, kein Privilegium. Auch er ist Realist, insofern er Menschen und Dinge sieht und malt, wie sie sind; aber er läßt das Zentralsonnenlicht der Idee auf sie fallen. Er zeigt, daß die wirkliche Welt dieses aus der idealen herblitzenden Lichtes bedürfe, um nicht ein träger und kalter Kloß zu sein. Dieses Verfahren, mein' ich, ist es gerade, was den schaffenden Künstler vom photographierenden Mechaniker unterscheidet.«

»Es tut mir ordentlich wohl, Sie so anerkennend von Gutzkow reden zu hören, lieber Freund. Denn auch mir ist dieser Autor von lange her als sehr achtungswürdig erschienen, und ich bin von Zeit zu Zeit immer wieder zur Lesung seiner Werke zurückgekehrt. Diese sind ihrer Makel und Mängel ungeachtet ein höchst wertvoller nationalliterarischer Spiegel der Epoche. Ich meine der Zeit von 1830 bis heute. Alle Erscheinungen und Begegnisse derselben hat Gutzkows Autorschaft kenntnisreich und teilnahmevoll begleitet, ich möchte sagen wie der mitfühlende und mitredende Chor im griechischen Drama, aber zugleich als ein rastloser Vorkämpfer der Sache der Vernunft, der Freiheit und des Vaterlandes.«

»Welcher Vorkampf zu unserer Zeit weder eine so leichte noch eine so lohnende Sache war wie heutzutage.«

»Jawohl! Heutzutage, wo der Liberalismus hoffähig geworden, obzwar vorerst noch auf den Hintertreppenzugang verwiesen, und wo ein gelinder Reichschauvinismus, soweit er höheren Ortes ›opportun‹, ein Panisbrief ist, wissen nur wir Leute von der älteren Generation noch, was es früher heißen wollte, in den Reihen der patriotischen Opposition zu stehen und unter der Vorschrittsfahne zu fechten. Bei Gutzkow kam noch das Erschwerende hinzu, daß er, wie jeder oppositionelle Schriftsteller dannzumal, von seiner Feder leben mußte – ein Umstand, welcher bekanntlich vollauf geeignet ist, den deutschen Autor die himmlischen nicht nur, sondern auch die höllischen Mächte ganz anders kennen zu lehren, als etwa den englischen oder französischen, welcher ja von seinem Publikum ganz anders unterstützt wird als jener.«

»Sie haben recht, und darum ist die Gesamtausgabe von Gutzkows Werken, wie sie jetzt vorliegt, ein Ehrendenkmal nicht allein für den Dichter, sondern auch für den Menschen.«

»Ich verstehe. Sie wollen sagen, daß eine literarische Hervorbringung, welche zugleich ein fortwährender Kampf ums Dasein ist und sein muß, als doppelt ehrenwert anerkannt werden sollte, so sie sich stets fernhält vom Gemeinen, nie den Grundsätzen, von welchen sie getragen wird, und der ihr ziemenden Selbstachtung etwas vergibt, selbstgebahnte Wege der Modeheerstraße vorzieht, und dem Dienste des Ideals um so treuer anhängt, je strenger derselbe ist.«

»Ja, so wollt' ich sagen. Wir haben also hier eine Autortätigkeit vor uns, welche auf Eigenartigkeit, Grundsätzlichkeit und Unabhängigkeit als auf ihren drei Grundpfeilern ruht. Ich weiß gar wohl, daß die literarischen Lumpe an diesen ihnen so verhaßten Grundpfeilern unausgesetzt rütteln; allein dieselben werden ihnen zum Trotz feststehen und allzeit die Stützen einer redlichen, ersprießlichen und dauerhaften literarischen Tätigkeit sein. Betrachten Sie sodann den Umfang und die Vielseitigkeit von Gutzkows Begabung. Hierin steht er in der deutschen Gegenwart geradezu einzig da, wenn auch, wie selbstverständlich, nicht alle seine Gaben zu gleich gedeihlicher Entwickelung gelangt sind. Seine lyrische Ader z.B. ist so brüchig und spröde, daß sie niemals in Liederfluß zu kommen vermag.«

»Wahr. Ich meine sogar, die metrische Form überhaupt stehe ihm nicht recht natürlich zu Gesichte. Leicht, frisch, spontan, dem Inhalt meisterlich charakteristischen Ausdruck gebend, gleitet, strömt, rauscht seine Prosa dahin. Aber den ›Gedichten‹, wie sie jetzt in bescheiden zurückhaltender Auswahl im ersten Bande der Gesamtausgabe stehen, merkt man den Zangengriff und Hammerschlag an. Einen großen Vorzug jedoch – er gilt freilich in den Augen unserer Modelyrik und ihrer Liebhaberinnen für einen Nachteil: – haben diese Gedichte: sie enthalten Gedanken und geben zu denken. Geist ist in allen, mitunter zu viel, denn er sprengt die lyrische Form und läßt uns zu keiner beruhigten Stimmung kommen, weil eben Geist und Form einander nicht decken. Von Gutzkows epigrammatischen Pfeilen treffen die meisten scharf ins Schwarze. Als Epigrammatiker ist er ganz in seinem Element. Im übrigen haben Sie vorhin mit Recht den Umfang und die Vielseitigkeit seiner Gaben und Leistungen hervorgehoben. Wenn ich recht erwäge, ist es ein nicht untergeordnetes Merkmal von Gutzkows Erscheinung, daß er als der erste Norddeutsche, dessen Genius umfangreich und schmiegsam genug, die ganze Skala dichterischer Äußerung durchlaufen zu können, in unsere Literatur eingetreten ist.«

»Gewiß ist das ein Merkmal seines schriftstellerischen Charakters. Aber bei dem Norddeutschen fällt mir ein, daß ihr Schwaben dem Gutzkow gerade seine norddeutsche Natur zum Vorwurf gemacht und ihn auf Grund derselben des Mangels an Gemüt beschuldigt habt.«

»Ihr Schwaben? Bitte sehr, da lassen Sie mich aus! wie die Wiener sagen. Wer so, wie ich, erfahren mußte, was die vielbelobte schwäbische ›G'mietlichkeit‹ ist und bedeutet, dem macht schon das bloße Wort übel. Es gibt nichts Verlogeneres. Meine mehr oder weniger lieben Landsleute sind in ihrer Art gewiß ganz vortreffliche, begabte, brave und tüchtige Leute, aber die berühmte schwäbische Gemütlichkeit glänzt in Wahrheit und Wirklichkeit nur durch ihre Abwesenheit. Wer namentlich in Altwürttemberg gelebt hat, welches ja darauf hält, für das Urschwabenland zu gelten, der weiß, wie weit es Menschen in der Viereckigkeit, Klotzigkeit, Selbstschätzung und Ober-Oberschaft bringen können. So ein richtiger Altwürttemberger hält natürlich das bekannte Tübinger ›Stift‹ für den Nabel der Erde, geht herum, als hätte er Hegels sämtliche Werke und daneben den ganzen altwürttembergischen ›,Verwandtschaftshimmel‹ in seinem Bauche, und bildet sich bei alledem noch ein, der ›g'mietlichste‹ Mensch von der Welt zu sein.«

»Ei, bei einer solchen weniger schmeichelhaften als wahren Meinung von schwäbischer Gemütlichkeit werden Sie mir kaum widersprechen, wenn ich behaupte, es stecke gewiß in Gutzkows selbstbiographischem Buche ›Aus der Knabenzeit‹ ebensoviel Seele und Gemüt wie in den Liedern der schwäbischen Dichterschule.«

»Gewiß, ebensoviel und noch dazu ohne den Anspruch, alles, was Gemüt heißt, gepachtet zu haben. ›Aus der Knabenzeit‹ ist ein durchweg liebenswürdiges Buch. Ein Berliner Kind schildert uns da seine Vaterstadt in so anschaulicher und zugleich so anspruchsloser Weise, daß uns die Physiognomie und Temperatur Berlins, wie es vor sechzig Jahren war, hier so nahegebracht worden wie nirgends sonstwo. Auch erreicht der Verfasser, ohne es eigens darauf anzulegen, daß wir eine deutliche und sympathische Vorstellung gewinnen von der tapfern Arbeit, welche es ihm gekostet haben muß, aus der Enge und Dunkelheit der gedrückten, ja knechtischen Verhältnisse seiner Kindheit und Jugend auf den weitschauenden Standpunkt sich emporzuringen, welchen er nun seit vierzig Jahren mit Ehren behauptet hat. Die ›Rückblicke auf mein Leben‹, welche sich den Erinnerungen aus der Knabenzeit anschließen, sind ein schwerwiegender Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte der letzten vier oder fünf Jahrzehnte. In höchst anziehender Weise läßt uns Gutzkow die innersten Krisen seiner Entwickelung miterleben und macht uns ohne alle Selbstüberhebung klar, wo er im großen Kampfe der Zeit gestanden und wie er seine Waffen geführt hat. Dabei ist auch höchlich zu loben, daß unser Autor alles Schöntun mit der eigenen Person, wie es die Reklamekünstler unserer Tage bis zur höchsten Virtuosität der Unverschämtheit ausgebildet haben, durchaus verschmäht und uns das viele Schwere, ja das Schwerste, was er zu tragen hatte, nur erraten läßt. Mit den ›Rückblicken‹ muß man Gutzkows publizistische Werke zusammenhalten, die ›Säkularbilder‹, die ›Öffentlichen Charaktere‹, ›Paris und Frankreich‹, ›Zur Geschichte unserer Zeit‹, so man deutlich erkennen will, wie ernst er es sich angelegen sein ließ, einen klaren Einblick in den Kulturprozeß des Jahrhunderts zu gewinnen und die Schäden, Bedürfnisse und Forderungen der Zeit kennen zu lernen; ebenso, wie wohlvorbereitet und tüchtig gerüstet er in dem vielwechselnden und hochwogenden Streite seinen Mann gestellt hat. Daß die Bitterkeit der Erfahrung mitunter bitter sich laut macht, namentlich in den ›Rückblicken‹, wird nicht tadeln, sondern ganz in der Ordnung finden, wer alle die schmerzlichen Enttäuschungen des selbstlosen Patriotismus erlebt und alle die Erfolge schamloser Apostasie mitangesehen hat, welche die letzten Dezennien uns brachten.«

»Zum Glück hat Gutzkow in den Aufregungen publizistischer Fehdeführung den Humor nicht verloren. Dieser tritt, wie in seinen ältesten, so auch in seinen jüngsten Hervorbringungen, erfreulich hervor und scheint mir die humoristische Seite seines Dichtens und Trachtens überhaupt der Beachtung sehr wert zu sein.«

»Allerdings. In einigen seiner Erstlingswerke, z. B. in den ›Briefen eines Narren an eine Närrin‹, lehnte sich Gutzkows Humor noch hilfebedürftig an Jean Paul und Börne. Später hat er sich aber fest auf die eigenen Füße gestellt und, abgesehen von den zahlreichen humoristischen Zügen in den Dramen, in den ›Rittern vom Geiste‹, in dem ›Zauberer von Rom‹, in den ›Söhnen Pestalozzis', eine ganze Reihe von humoristischen Kabinettstücken geschaffen, wie sie in unserer Literatur keineswegs überreichlich vorhanden sind. Und zwar sowohl aus dem Bereiche des tragischen wie des komischen Humors. Ich erinnere Sie nur an die Episode vom Trompeter und vom Tambour in der Wally‹, an den Brief der Tante Rebekka in den ›Säkularbildern‹, an die Predigt des ›Kandidaten‹ – (Gutzkow selber war der Kandidat) – im ›Blasedow‹.«

»Ich begreife nicht, warum dieses Buch, ›Basedow und seine Söhne‹ nicht größeren Beifall gefunden hat. Es ist doch eigentlich der einzige satirische Roman höheren Stils, welcher seit lange bei uns zum Vorschein gekommen ist. Gutzkow hat sich, dem starken spekulativ-grüblerischen Zug in seinem Wesen nachgebend, wiederholt und einläßlich mit dem Problem der Erziehung beschäftigt, welches ja am Ende aller Enden immer wieder als der Kern der sozialen Frage sich ausweist. Er ist eben und war nie so ein Goldschnittler und Buchbinderpoet, welcher nur die Oberfläche der Erscheinungen sieht. Gutzkows Blick will überall in die Tiefe dringen. Die pädagogische Frage, welche er als junger Mann im ›Blasedow‹ satirisch behandelt hatte, griff er später noch einmal auf, um sie in den ›Söhnen Pestalozzis‹ pathetisch zu wenden. Auch nicht ohne satirische Seitenblicke wiederum, wie ein solcher ja fällt, die als ›Modulative‹ ganz prächtig persifliert werden. Nebenbei bringen die ›Söhne Pestalozzis‹ die einzige – freilich nur dichterische – Lösung des Kaspar-Hauser-Rätsels, welche sich sehen lassen darf. Was aber Gutzkow in der Schilderung hochgespannter Seelenzustände zu leisten vermag, das hat er da schön bewiesen, wo er die Auffindung des unglücklichen Knaben in dem unterirdischen Verlies der Waldmeisterei durch den Förster Wülfing erzählt. Diese und ähnliche Stellen in seinen Hauptwerken muß man mit seinen Erstlingsversuchen vergleichen, wenn man erfahren will, wie redlich Gutzkow sich bemühte, vorzuschreiten, und wie bedeutend er wirklich vorgeschritten ist.«

»Zugegeben, aber mit dem Einwand, daß sich bei Gutzkow etwas Ähnliches wahrnehmen läßt wie bei Schiller. Nämlich, daß der Vorschritt bei jenem wie bei diesem nur als ein beziehungsweiser bezeichnet werden kann.«

»Wie das?«

»So, daß beide zuerst ihr relativ höchstes gegeben haben. Ist es doch anerkannt, daß Schiller in keinem seiner reiferen, kunstgerechteren Werke die Ursprünglichkeit, die elementare Kraft und Leidenschaft seiner ›Räuber‹ wieder erreichte. Ähnlich, sehen Sie? hat Gutzkow, wenn ich richtig urteile, in seinen Erstlingen ›Maha Guru‹ und ›Nero‹ sein Genialstes geleistet.«

»Sie können Recht haben.«

»Nicht wahr? ›Die Geschichte eines Gottes‹ als einen der originellsten Würfe zu bezeichnen, welche in Deutschland jemals ein Dichter getan, stehe ich keinen Augenblick an. Auch die Inszenierung des aus philosophischer Tiefe geschürften Themas ist vortrefflich, der von seiner Ironie durchschlängelte Ton sehr anziehend, die saubere Detailmalerei reizend. Für den Lesepöbel ist das Buch natürlich nicht geschrieben, wie denn Gutzkow überhaupt zu viele Anforderungen an das Denken und Wissen seiner Leser macht, als daß sich das Leihbibliothekenpublikum jemals um ihn ›reißen‹ könnte. Tut nichts! Gibt es doch in unserer Literatur dermalen der Popularitätshascher und Lesepöbelschmeichler – ich meine Schmeichler des oberen Pöbels mehr noch als des unteren – ohnehin genug und übergenug. Was den ›Nero‹ angeht, so ist er kein geschlossenes dramatisches Kunstwerk, wohl aber ein von Geist funkelndes historisch-poetisches Feuerwerk, dessen Prachtmoment die große Szene Neros mit der ihm aufwartenden Dichterschar. Hier, wie übrigens durchweg, hat Gutzkow schon vor vierzig Jahren diesen Mischmasch von Phantast und Wüterich, welcher zugleich der ›Herr der Welt‹ war, ganz gut gefaßt und gezeichnet, und das eigentliche Wesen des Cäsars, den artistischen Größenwahn, zur klaren Anschauung gebracht. Ich möchte aber den genannten beiden Jugendwerken unseres Autors noch ein drittes nicht weniger anerkennend anreihen, die Novelle ›Der Sadduzäer von Amsterdam‹. Gutzkow hat später noch manche Novelle geschrieben, allein jene blieb doch von allen die beste. Begreiflich auch, daß das hier behandelte Problem den Dichter bewogen hat, es später als Dramatiker noch einmal aufzunehmen und daraus seine Tragödie ›Uriel d'Akosta‹ zu schaffen. Diese darf sich, meines Erachtens, unbedingt neben jedes tragische Experiment stellen, welches seit dreißig Jahren aus der deutschen Bühne gemacht worden ist. Sie bemerken, daß ich den Ausdruck ›Experiment‹ gebraucht habe, weil mir, mit Recht oder Unrecht, die gesamte deutsche Dramatik der letzten Jahrzehnte nicht viel mehr als ein Experimentieren zu sein scheint. Ich habe freilich hierüber kaum ein Urteil, weil ich seit vielen Jahren kein Theater mehr besuchte und das bloße Lesen von Dramen leicht irreführt. Vordem sah ich von Gutzkows dramatischen Dichtungen eben den ›Uriel‹ und die Charakterkomödie ›Das Urbild der Tartüffe‹ aufführen und zwar beide gut. Beide Male war der Gesamteindruck, welchen ich empfing, ein sehr günstiger. Es mag ja sein, daß im ganzen Aufbau dieser Stücke wie in der Motivierung von einzelnem darin dies und das und das und dies anders zu wünschen wäre, aber durchweg fühlt man, daß hier ein geistvoller Mann und ein wirklicher Poet von der Bühne herab zu uns spricht.«

»Denselben Eindruck habe auch ich beim Lesen der Gutzkowschen Dramen empfangen. Spielen hab' ich keins gesehen. Ich kann mir daher nur diese Ergänzung Ihrer Ansicht erlauben, daß auch die Tätigkeit Gutzkows als Dramatiker durchaus von dem Prinzip erleuchteten Freisinns getragen und von einem stets regen Mitgefühl für die Sorgen, Strebungen und Leiden der Zeit durchatmet ist. Das nenne ich einen im besten Sinne des Wortes sittlichen Geist.«

»Mit Recht. Es kommt uns heute doch recht wunderlich vor, daß Gutzkows Schriftstellerei vorzeiten auf die Angeberei Menzels hin als eine unsittliche strafrechtlich verfolgt werden konnte.«

»Was? Ihnen, lieber Freund, kommt es wunderlich vor, daß die Dummen dazumal, wie zu allen Zeiten übrigens, die Zahlreichsten nicht nur, sondern auch die Mächtigsten waren? Sie fallen ja ganz aus ihrem Charakter.«

»Nun, man hat eben seine schwachen Augenblicke, wissen Sie? Die furibunde Menzelei, auf welche hin Gutzkow in Mannheim eingetürmt wurde, ist ja auch eine Extradummheit gewesen, welche sich sogar im deutschen Krähwinkel von damals grotesk ausgenommen hat. Sie erfolgte aus der fable convenue vom ›Jungen Deutschland‹ und da sie sich insbesondere auf den Gutzkowschen Roman ›Wally‹ stützte, so war die ganze Polizeihatz ›viel Lärm um nichts‹.«

»Sie meinen?«

»Daß die ›Wally‹ eine der schwächsten Hervorbringungen Gutzkows sei. Mit Ausnahme der Tambourepisode ist gerade die verketzerte oder vermenzelte Siguneszene weitaus das beste darin. Sie ist kühn entworfen und mit keuscher Anmut gemalt. Durchaus nicht à la Watteau, sondern à la Tizian. Man hat einige Mühe, zu glauben, daß ein Berliner, ein Preuße, das gemacht haben soll; denn wir Süddeutschen sind ja von jedem Preußen überzeugt, daß er einen der eisernen Ladstöcke von Mollwitz verschluckt und noch nicht verdaut habe.«

»Ei, in neunundneunzig Fällen von hundert ist es ja so. Diese Steifheit! Die gefrorene gerade Linie in Person! Der Dünkel in Ordonnanzhosen! Da ist mir eure schwäbische Viereckigkeit und Klotzigkeit doch noch lieber.«

»Geschmackssache! Ich für meine Person finde die preußische ›Strammheit‹ und die schwäbische ›Latschigkeit‹ gleich ungenießbar. Aber was halten denn Sie von der Gutzkowschen ›Wally‹?«

»Mir scheint, unser Autor habe einen weiblichen Werther schreiben wollen, einen Werther der Sturm- und Drangzeit von 1830. Aber das Vollbringen ist da freilich weit hinter dem Wollen zurückgeblieben. Personal und Handlung nichts als Abstraktionen, man atmet wie unter einer Luftpumpe und mag mit den Menschen, d.h. mit den Phantomen von Menschen, welche uns vorgespiegelt werden, nicht verkehren. Ein unerquickliches Ding von Buch, welches dadurch nicht erquicklicher wird, daß der Verfasser das Richtschwert poetischer Gerechtigkeit sehr streng handhabt, indem er zeigt, daß und wie die Heldin an ihren Emanzipationsversuchen zugrunde geht. Auffallend ist, wie sehr der Dichter in diesem Jugendwerk das Detail vernachlässigt hat. Es ist, als hätte die Verstimmung, an welcher er selbst wie jene ganze Zeit krankte, ihn nicht dazu kommen lassen, auf die Zeichnung und das Kolorit die liebevolle Sorgfalt zu verwenden, welche seinen späteren großen Zeitgemälden so außerordentlich zustatten kam. Einmal sogar ist diese Sorgfalt zu weit gegangen, glaub' ich. In dem historischen Roman ›Hohenschwangau‹ kann das poetische Interesse vor lauter kulturgeschichtlichem Beiwerk nicht recht heraus und zur Geltung kommen. Die Bemühung des Verfassers, die reichen Resultate seiner sehr eingehenden Detailforschung zur Verwendung zu bringen, macht das ganze Buch weit mehr zu einer historischen Studie als zu einer dichterischen Schöpfung. Dagegen trägt in den ›Rittern vom Geiste‹ und im ›‹Zauberer von Rom‹ gerade die sorgsame Behandlung auch des Nebensächlichen zu der großen Gesamtwirkung nicht wenig bei. Man hat, soviel mir bekannt, an diesen beiden Werken nach Art deutscher Kleingeisterei und Scheinmeisterei viel herumgenörgelt, und jeder Esel glaubte zu dieser Nörgelei auch sein Ja und Amen geben zu müssen. Nun wohl, beide Werke sind nicht vollkommen, denn wo wäre überhaupt Vollkommenes auf Erden zu finden? Ich selber habe meine Bedenken gegen dies und das und möchte namentlich der Diktion im ›Zauberer‹ weit weniger Hast und Vibration und weit mehr Ruhe und Stetigkeit wünschen. Aber das kann mich doch nicht abhalten, laut anzuerkennen, daß Gutzkow auf hochbedeutsamen Grundideen zwei Romandichtungen aufgebaut hat, wie sie in Deutschland seit Goethes Wilhelm Meister und Jean Pauls Titan nicht unternommen worden. Groß angelegt, sind sie kräftig durchgeführt, schildern mit Anschaulichkeit das deutsche Leben nach allen Richtungen hin, machen uns mit einer Menge von eigenartigen, unsere Teilnahme sympathisch oder antipathisch anregenden Charakteren bekannt, beschäftigen spannend unsere Phantasie und gleichermaßen unser Denkvermögen. Dabei haben wir immer das Gefühl, daß es sich hier nicht um leeren Zeitvertreib, sondern vielmehr um die höchsten Interessen unseres Volkes, ja der Menschheit handle. Was will man denn mehr von einem Dichter und einem Dichterwerk?«

»Gescheite, und gerechte Menschen wollen und verlangen nicht mehr; dumme und dünkelhafte Gesellen aber, die mehr verlangen, muß man schwatzen lassen, wie ihnen der Starmatzschnabel gewachsen ist oder die Koteriegehässigkeit ihnen einbläst. Wir beide und mit uns gewiß Tausende und wieder Tausende und abermals Tausende unserer Landsleute sind dem Schöpfer der ›Ritter‹ und des ›Zauberers‹ für diese Gaben überhaupt und für alles das Bedeutende und Schöne, was er geleistet hat, aufrichtig dankbar und erkennen und anerkennen in ihm den nationalliterarischen Hauptträger der Kulturentwickelung unseres Landes binnen der letzten vierzig Jahre ... Doch sehen Sie, wir nähern uns unserem Tagesziele, Freund Zackig, nachdem wir uns als richtige Deutsche ein ermüdendes Stück Wander- und folglich Lebensweges mit Literatur gekürzt haben. Dort ragt die Dachfirst des Faulhornhauses über den Kamm der Kuppe herüber und wir haben nur noch den letzten Aufstieg zu überwinden.«

»Wissen Sie was? Wenn wir den Bergmajestäten da drüben, welche ihre abendliche Purpurglorie anzutun im Begriffe sind, unsere gebührende Huldigung dargebracht haben werden, wollen wir zum Abendessen eine Flasche Sekt auffahren lassen, um die Gesundheit von Karl Gutzkow zu trinken, wie?«

»Von ganzem Herzen!«


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