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Ein wundersames Klingen und Brausen weckte mich; als ich die Augen öffnete, blickte ich in das freundliche Gesicht der Base, die mit einem Licht vor meinem Bett stand. Leise strich sie mir mit der Hand über die Stirn und sagte: »Armer Junge! 's ist schade um Deinen Schlaf! Aber hörst Du? – es läutet schon eine Weile, die Choradstanten werden gleich da sein; willst Du für den Vetter auf den Thurm, darfst Du Dich zurecht machen! – Weißt Du noch, Karl, wie andächtig Du sonst gebetet hast, wenn ich Dir sagte: jetzt wird das Christkindlein in den Himmel geläutet? Ich hatte meine liebe Noth mit Dir, durchaus wolltest Du das Christkind und sein goldenes Kütschlein sehen. Lieber Gott, wie die Zeit vergeht! – Aber komm' jetzt, der Vetter wird sonst ungeduldig!« Damit schlüpfte sie aus der Thür.
Die Worte der Base, das fortklingende Geläute erweckten Erinnerung auf Erinnerung aus meiner glücklichen Kindheit. Das Weihnachtsfest ward von jeher mit besonderer Liebe im Schulhaus gefeiert; die Pathenleute verstanden es, diesen Tagen eine eigene, schöne Weihe zu geben. Das hatte sich tief in meine Seele gesenkt, und all' die schönen, schönen vergangenen Festtage machten mich in der Erinnerung unbeschreiblich glücklich.
Aber nun war es Zeit zum Aufstehen. Rasch fuhr ich in die Kleider und eilte frierend hinab in die Wohnstube.
22 Der Vetter war schon auf, saß im Lehnstuhl und lauschte dem Geläute, das in vollen Wellen durch ein halboffenes Fenster hereinflutete. Nach und nach rückten auch die Choradstanten ein. War es, weil der Vetter so ernst drein sah, oder waren sie selber ernst gestimmt – sie setzten sich stille nieder, nur über die grimmige Kälte klagten Alle. Besorgt verpackte mich die Base in Mantel und dicke Tücher, dann ging es mit zahlreichen Laternen hinaus in die Nacht; ein eisiger Morgenwind pfiff durch die öden Gassen, in allen Häusern ward jetzt Licht.
Fast eine halbe Stunde hatten die Glocken geklungen; als wir den Thurm betraten, verstummten sie. Ueber halsbrechende Leitern, wacklige Treppen, bei fast greifbarer Finsterniß stiegen wir in dem alten Gemäuer zum Glockenstuhl empor; trotzdem wir oben im scharfen Luftzug zusammenschauerten, verlohnte es sich der Mühe heraufzuklettern. Durch die hohen Bogenfenster strahlten die Sterne hell herein, aus den Häusern zu unsern Füßen funkelten und glänzten die Christbäume herauf, von nahen und fernen Dörfern blitzten die Lichter wie rothe Sterne durch die Nacht und der Wind trug leise Glockenklänge aus den Nachbarorten herüber. Auf der dunkeln, einsamen Höhe waren wir nicht allein; ringsum, so weit der Blick trug, in der Nähe und Ferne begegneten wir Herzen, die von den gleichen Gefühlen bewegt waren als wir selbst! O heilige, weihevolle Nacht!
In den offenen Fenstern tief, tief unter uns lauschten dunkle Gestalten; während die Glocken neben uns noch zitterten und verhallend tönten, stimmten wir mit Trompetenklang und Posaunenhall den Choral an: 23
Er kömmt, er kömmt, der starke Held voll göttlich hoher Macht.
Sein Arm zerstreut, sein Blick erhellt des Todes Mitternacht.
Wert kömmt, wer kömmt? wer ist der Held voll göttlich hoher Macht?
Messias ist's! Lobsinge Welt! Dir wird Dein Heil gebracht.
Dir, Menschgewordener, singen wir Anbetung, Preis und Dank;
An Deiner Krippe schalle Dir der Erde Lobgesang!
Feierlich klangen die Akkorde über das stille Dorf dahin; tief ergriffen blickte ich sinnend hinaus in die Nacht und merkte nicht, wie die Choradstanten die Treppen hinabpolterten, wie drunten ein Licht nach dem andern erlosch. »Willst allein oben bleiben?« fragte der Mühljohann und zeigte auf die Laternen der Musikanten, die wie Irrlichter über die Straße huschten. Rasch kletterten auch wir nun hinab und eilten frierend heim.
Das war der Beginn des Umsingens, gewiß ein schöner Anfang.
An eine stille Feier des Festes war in der Schule nicht zu denken, der erste Feiertag war für den Kantor ein mühevoller Arbeitstag. Kaum zog der Weihnachtsmorgen leuchtend herauf, so riefen die Glocken den Vetter und mich zur Hauptprobe der Kirchenmusik in's Gotteshaus. Mit Tagesanbruch war es noch kälter geworden, die Choradstanten, von denen viele aus den umliegenden Dörfern herbeigekommen waren, konnten sich der Kälte nicht erwehren, Lippen und Finger versagten oft den Dienst, und an den Blasinstrumenten froren die Klappen und Ventile ein. Es war ein böses Stück Arbeit, diese Musikprobe; der Vetter ward seine Sorgen nicht los wegen der Aufführung. Zum Glück blieben trotz aller verdrießlichen Störungen die Choradstanten guten Muthes. So gab es ein großes Gelächter, als der kleine sulzdorfer Schneidershannikel seinem Nebenmann, 24 dem himmellangen Michelsveit – seiner rothen Haare wegen und weil er am Wasser wohnte, gewöhnlich »Wasserfuchs« genannt – seine Klarinette zum Halten übergeben wollte. »Ja, was fällt Dir ein?« zankte der Michelsveit. »Bin ich Dein Bedienter? Ich hab' an meiner Klanett genug zu halten!«
»Nu, nu!« entschuldigte sich der Kleine, »ich hab' nur gemeint, droben bei Dir wär's vielleicht wärmer als da unten, und meine Klanett würd' nicht so gleich einfrieren!«
Nach der Probe füllte sich die schöne Kirche rasch und der Gemeindegesang brauste herrlich durch die weiten Räume. Bei der Musik ward mir die Ehre, auf der Orgel »Generalbaß« spielen zu dürfen; als der Wagnersjörgnikel von seinem »Kirchenstand« auf der obern Empore gleich neben der Orgel aufmerksam mein Spiel beobachtete und mir freundlich zunickte, ward ich fast ein wenig stolz. Die Aufführung der Musik gelang musterhaft; schmunzelnd die Hände reibend gestand mir der Vetter: »Karl, jetzt, da die Musik so gut gegangen ist, jetzt gehen meine Feiertage erst an!« Ich theilte seine Freude, und die Choradstanten waren glücklich, daß ihr verehrter, zu Zeiten auch gefürchteter Herr Kantor so zufrieden dreinschaute. Als nun der Pfarrer die Kanzel betrat, wickelten wir uns fester in die Mäntel und lauschten andächtig, dabei von Herzen fröhlich, der Predigt, wir hatten ja das Unsrige gethan!
Nach der Nachmittagskirche – kaum blieb uns Zeit, den Kaffee zu trinken – rückten die Choradstanten wieder im Schulhaus ein. Fast war das Stübchen zu klein für diesen Schwarm – wohl an zwanzig Männer und ein Haufe Diskantbuben fanden sich zusammen. Nachdem die 25 Instrumente gestimmt, ging es mit Lust hinaus in Schnee und Eis, in den leise herabdämmernden Winterabend. Kalt funkelte und glitzerte das rothe Sonnenlicht an den Eiszapfen der Dächer, an den Eisblumen der Fenster; aus den Schornsteinen qualmten dichte Rauchsäulen in die Luft, und der Schnee knisterte und heulte. Im Pfarrhof ward zuerst Halt gemacht. Während der Pfarrer den Vetter freundlich in die Stube nöthigte, wo die Töchter schon hinter den Vorhängen lauschten, tönte unser erstes Umsinglied mit Trompetengeschmetter und Posaunenklang fröhlich hinein in den Winterabend:
Jauchzet, ihr Himmel, frohlocket, ihr Engel, in Chören!
Singet dem Herrn, dem Heiland der Menschen, zu Ehren!
Sehet doch da: Gott will so freundlich und nah'
Zu den Verlornen sich kehren.
Jauchzet, ihr Himmel, frohlocket, ihr Enden der Erden!
Gott und die Sünder, die sollen zu Freunden nun werden.
Frieden und Freud' wird uns verkündiget heut;
Freuet Euch Hirten und Heerden!
König der Ehren, aus Liebe geworden zum Kinde,
Dem ich auch wieder mein Herz in der Liebe verbinde,
Du sollst es sein, den ich erwähle allein!
Ewig entsag' ich der Sünde!
Menschenfreund Jesu, Dich lieb' ich, Dich will ich erheben!
Laß mich doch einzig nach Deinem Gefallen nur leben!
Gib mir auch bald, Jesu, die Kindesgestalt,
Völlig mich Dir zu ergeben!Von G. Tersteegen.
Ei, wie stimmte die erstarrte Natur um uns und die Christfreude im Herzen so gut zusammen, Abendsonnengold und Jubelgesänge über den anbrechenden Morgen der 26 Menschheit! Gerührt dankte uns der Pfarrer, der Vetter gesellte sich zu uns, ohne Aufenthalt wendeten wir uns dem nächsten Haus zu.
Nicht bloß die Pfarrfamilie erfreute sich an unseren Liedern. Trotz Wind und Kälte öffneten sich die Fenster, wenn wir uns einem Hause näherten. Dann nahm der Hausvater sein Käppchen ab und that die Pfeife aus dem Mund, die Mutter faltete die Hände und legte sie auch dem Kinde zusammen, das in ihrem Schooß stand; selbst das junge Volk stand ernst hinter den Eltern. Rührung, Freude leuchtete aus allen Augen. Da war es eine Lust zu singen! Ich wunderte mich nicht mehr, daß dem Vetter das Umsingen in's Herz gewachsen war, hatte er doch noch das Beste dabei für sich allein. War ein Lied zu Ende, dann kam der Hausherr, gewöhnlich aber die Hausfrau oder ein schmuckes Töchterlein und übergab mit herzlichen Worten dem Vetter das »Umsinggeld«. Das war nicht etwa eine entwürdigende Gabe, das Umsinggeld galt als ein ehrwürdiges Herkommen, es ehrte Geber und Empfänger. Oft ward der Vetter auch in's Haus genöthigt, sich zu erquicken und aufzuthauen.
Und das war ihm zu gönnen. Trotz aller Hüllen ging der eisige Wind durch Mark und Bein, selbst der Schnee war besonders feindselig, biß grimmig durch die dicksten Stiefeln und Strümpfe und heulte bei jedem Schritt laut auf. Besonders der kleine Schneidersnikel konnte sich nicht erwärmen. Nach jedem Gesang steckte er die ›Klanett‹ unter den Arm, die Finger in den Mund und hüpfte mit hoch heraufgezogenen Schultern wie toll von einem Bein auf's andere zum großen Ergötzen seiner Kollegen.
27 Dennoch waren wir nicht allein im Freien, die gesammte hoffnungsvolle Jugend Bergheims folgte uns unermüdlich auf Schritt und Tritt. Zwar waren die Gesichtchen verhüllt in gewaltige Pelzkappen und dicke Tücher, dennoch glühte manches Stumpfnäschen im feurigsten Rubinroth, die blitzblauen Mäulchen popperten vor Frost. Besonders die Mädchen empfanden die Kälte bitter. Wie die Küchlein drängten sie sich zusammen, tief zogen sie die Köpfchen zwischen die Schultern, wickelten die Händchen in die Schürzen. Standhafter hielten sich die Buben, freilich vergaßen sie wohl in ihrem Eifer die Kälte. Konnte es eine bessere Gelegenheit geben, die musikalischen Instrumente, mit denen sie der heilige Christ bedacht, all' die Trompeten, Pfeifen und Harmonikas, in Anwendung zu bringen, als eben bei dem Umsingen? Die kleinen Künstler vollführten oft einen gräulichen Lärm, aber wer hätte ihnen die Freude verderben mögen? Behandelten doch die Bursche ihre Instrumente mit einem Ernst, einer Ausdauer, als hinge das Heil der Welt allein von ihren Pfeifen und Trompeten ab.
Die Wagnersmargareth fuhr erröthend vom Fenster zurück, als ich ihr zunickte, der Wagnersjörgnikel dagegen stimmte vernehmlich in unser Lied mit ein:
Lobet den Herrn! Der Welten Meister
Waltet ewig nach und fern!
Singet ihm! Dem Geist der Geister
Weihet Lieder! Lobet den Herrn!
Lobet den Herrn! Vereinigt loben
Land und Meer ihn nah und fern!
Singet ihm! Er wird erhoben
Hoch im Chore! Lobet den Herrn! 28
Lobet den Herrn! Auch schwache Lieder
Hört der gute Vater gern.
Singet ihm! Empor, ihr Brüder,
Herz und Stimme! Lobet den Herrn!
Lobet den Herrn! Des Lebens Freuden
Gönnet uns der Vater gern.
Singet ihm! Er führt durch Leiden
Uns zur Weisheit! Lobet den Herrn!
Statt uns weiter zu begleiten, folgte der Vetter Margarethens Einladung und ging mit ihr in's Haus. Er ahnte natürlich nicht, welche tiefsinnigen Betrachtungen über die Verkehrtheiten der Welt ich anstellte, nur Johann errieth meine Gedanken und neckte: »Wärst jetzt auch lieber Dein Vetter, nicht?«
Die Kälte machte die Choradstanten wohl ausgelassen lustig, aber es war ihnen doch nicht wohl dabei. Auf den Abend blies der Wind schärfer, schneidender, es war kaum mehr auszuhalten im Freien, dazu waren die Instrumente fast nicht mehr aufzuthauen, Finger und Lippen versagten den Dienst – wir Alle athmeten auf, als wir unser heutiges Ziel, das Zieglershäuschen, einsam droben am Berg gelegen, erreichten. Während wir auf der Höhe schon im Schatten standen, im Dorf zu unsern Füßen hie und da Lichter aufblitzten, brannten die Fenster der hochgelegenen Dörfer jenseits der Wertha, vom letzten Strahl der untergehenden Sonne getroffen, in rother Glut, und auf dem fernen Waldgebirge lag wie ein rosiger Duft der Widerschein der Abendröthe. Da erklang unser letztes Lied:
Es ist so still geworden,
Verrauscht des Abends Weh'n,
Nun hört man aller Orten 29
Der Engel Füße geh'n.
Rings in die Thale senket
Sich Finsterniß mit Macht –
Wirf ab, Herz, was dich kränket
Und was dir bange macht!
Es ruht die Welt im Schweigen,
Ihr Tosen ist vorbei,
Stumm ihrer Freude Reigen
Und stumm ihr Schmerzensschrei.
Hat Rosen sie geschenket,
Hat Dornen sie gebracht –
Wirf ab, Herz, was dich kränket
Und was dir bange macht!
Nun steh'n im Himmelskreise
Die Stern' in Majestät;
In gleichem festen Gleise
Der gold'ne Wagen geht.
Und gleich den Sternen lenket
Er deinen Weg zur Nacht –
Wirf ab, Herz, was dich kränket
Und was dir bange macht.Von G. Kinkel.
Leise verschwammen die Akkorde. Als das Echo den letzten Posaunenhall zart verklingend zurücktrug, klang es fast wie ein Friedensgruß aus dem Jenseits.
In lichter Klarheit stand der Mond am Himmel, sein mildes Licht glitzerte auf den Schneeflächen, die Schlittengleise funkelten wie Silberstreifen, daneben warfen die Häuser und Scheunen tiefschwarze Schatten, als wir rasch nach Hause eilten. In großen Aengsten kam uns die Base entgegen; die Ohren oder die Nase, die Fußzehen wenigstens müßten wir erfroren haben, klagte sie, und es dauerte lange, bis wir sie beruhigen konnten.
30 »Viele Grüße von den Wagnersleuten, Gertrud!« berichtete der Vetter, während wir uns das Warmbier schmecken ließen. »Wenn Du Hülfe brauchst, soll Dir in den nächsten Tagen die Margareth an die Hand gehen!«
»'s ist schön von den Wagnersleuten, daß sie auch daran denken!« sagte die Base. »Ihr geht nachher doch in's Wirthshaus, da will ich selber gleich mit der Wagnerschristel reden.«
Nach dem Essen saßen wir still zusammen im traulichen Stübchen. Das Licht war gelöscht, der Mond leuchtete hell herein und seine Strahlen blinkten seltsam in den Eisblumen am Fenster, die dem knisternden Feuer im Ofen zum Trotz immer höher an den Fensterscheiben emporklommen. Die behagliche Wärme, das Knistern des Feuers, die trauliche Dämmerung, der eigenthümliche, märchenhafte Glanz des Mondlichtes – das Alles lockte zu stillem Sinnen und Träumen. Meine Gedanken weilten längst bei dem geliebten Mädchen. Wie war es so sittig und bescheiden, so mild und herzensfreundlich; wie zeugte jeder Blick, jedes Wort von seiner Sanftmuth und Güte! Die Dorfburschen warfen ihr freilich Stolz und Hoffart vor, ich wußte das; aber dieß geschah doch nur aus Zorn, weil sie an ihrem wilden Treiben keinen Gefallen fand, lieber still für sich blieb. Ob sie mich liebte? – Gewißheit hatte ich nicht; aber je mehr ich über ihre gestrigen Worte, über ihr ganzes Verhalten nachsann, desto gewisser ward meine Hoffnung, desto größer meine Freude.
Als sich die Base zum Ausgang in's Wagnershaus rüstete – wie beneidete ich sie! – meinte der Vetter: »Komm, 31 Karl, wir wollen in's Wirthshaus, die Musikanten und die Nachbarn erwarten uns gewiß längst.«
Er hatte Recht gehabt! Die Choradstanten, der Wagnersjörgnikel, der Herrnbauer und noch mehr Nachbarn wären fast ungeduldig geworden über unser langes Ausbleiben. Sie redeten eben vom Umsingen, und nachdem wir den Nachbarn die Hände geschüttelt, allen Bescheid getrunken, unsere eignen vollen Gläser vor uns stehen hatten, auch unsere Pfeifen brannten, nahm der Zimmerdick, ein genauer Freund des Vetters und eine Art natürliches Oberhaupt der Musikanten, das unterbrochene Gespräch wieder auf: »Ja, ich bleib' dabei, ohne Umsingen gibt es kein rechtes Weihnachten!«
»Das ist rechtschaffen wahr!« stimmte ihm der Martinsschneider bei. »Wo blieb nachher die Feierlichkeit? Mir wird's erst wahrhaftig heilig zu Muth, wenn ich die Singer hör'.«
»Eiskalt läuft mir's alleweil den Buckel nunter!« sagte der alte Schäferspeter. »Grad so muß's den Hirten gewesen sein, wie die Engel gesungen haben.«
»Ja freilich!« nickte der Wagnersjörgnickel. »Durch das Singen wird man erst daran erinnert, was die Feiertage bedeuten, was man für Ursache hat, sich zu freuen und Gott zu danken. Es wird Einem das freilich in der Kirch' auch gesagt und der Gottesdienst bleibt immer die Hauptsach'. Aber wenn dann Nachmittag im Dorf die Musik losgeht, man hört die Lieder singen: ›Jesus ist gekommen, danket ihm ihr Frommen, dankt ihm, daß er kam!‹ – ›Vom Himmel kam in dunkler Nacht, der uns des Lebens Licht gebracht!‹ – ›Dich preisen, Herr, Gesang 32 und Lieder, aus allen Winkeln der Natur!‹ – und wie all' die schönen G'sätz' heißen: ach, da wird's Einem im Herzen so wunderlich, 's ist nicht zu sagen, und das Wasser kommt Einem in die Augen, man weiß nicht wie.«
»'s Donnerwetter, so is – auf's Haar so is!« knurrte der Schmiedsjakob, auch ein Musikant, sonst allgemein »Willer« genannt, wischte sich die Augen und that einen tiefen Zug. Die Nachbarn nickten bestätigend.
»Ueber mein Leiblied geht doch keines!« sagte der Schäferspeter eifrig. »Ich mein' das: ›Die frommen Hirten lauschten still und harrten, was noch werden will!‹ – Herr Kanter, das Lied müßt Ihr mir singen lassen, hört Ihr wohl? Kann ich einmal Nachts bei meinen Schafen nicht einschlafen oder steht ein Wetter am Himmel, dann summ' ich das Lied so vor mich hin und hab meine Freud' dabei, daß wir armen Schäfer wenigstens im Himmel noch was gelten – zu den Hirten sind doch die Engel zuerst kommen.«
Das Gespräch ward bewegter. Alle Nachbarn hatten in ihrer Jugend ebenfalls mit umgesungen und kannten die Gesänge genau; jeder nannte nun sein Lieblingslied und wußte meistens eine lange Geschichte zu erzählen, warum er gerade das allen anderen vorzog. »Eure Meinung in Ehren, ihr Nachbarn!« begann endlich Hansaden, auch ein Musikant, mit Würde. »Aber die alten Umsinglieder reichen doch den neuen Arien, die der Herr Kanter einübt, das Wasser nicht!«
»'s Donnerwetter! ich wollt' gleich, der Teufel holt 33 die neuen Arien mit'nander!« schrie der Schmiedsjakob, lenkte aber sogleich wieder ein: »Nichts für ungut, Herr Kanter! Aber die Donnerwetters Hornsolo, die müßt Ihr 'raus thun, die bringen mich noch unter die Erden! – 's ist ja wahr, die Millionenracker, die Hornsolo, muß der Teufel extra aufgebracht haben, die Musikanten zu plagen. Nichts für ungut, Herr Kanter, 's ist halt so meine Meinung, und wenn Ihr Horn blasen müßtet, Ihr machtet gewiß keine Solo mehr in die Arien!«
Als sich das Gelächter über diesen Zornausbruch des unglücklichen Hornisten, der nun einmal kein Solo fertig brachte, legte, meinte der Wagnersjörgnikel: »Was die Musik betrifft, davon verstehe ich nichts. Aber – hör' Kanter, Du darfst mir's nicht übel nehmen – die alten Lieder sind mir doch lieber, wenn sie gleich nicht so schön sein mögen, als die neuen Arien. Wenn ich ein Lied hör', das ich als Bub' selber mitgesungen hab', da ist mir's grad, als begegnet' ich einem alten guten Bekannten; da geht mir gleich das Herz auf und die guten Gedanken kommen ganz von selber. Wenn ich so ein Umsinglied selber leis mitsingen kann, dabei wird mir's erst so heilig, wie der Martinsschneider gesagt hat.«
»Ein gutes Wort!« sagte der Vetter und gab dem Jörgnikel die Hand. »Glaube nur, mir sind die alten Gesänge auch in's Herz gewachsen; so lange ich Kantor in Bergheim bin, soll keiner vergessen werden. Aber es muß doch auch mit der Zeit Neues hinzukommen, damit sich der Nachwuchs daran gewöhnt. Wir wollen reicher, nicht ärmer werden!«
Das leuchtete den Musikanten wie auch den Nachbarn 34 ein. Wer ihn erreichen konnte, schüttelte dem Vetter die Hand, und der Herrnbauer sagte: »Ja, unser Herr Kanter, das ist einmal ein Mann! Solch' einen trifft man weit und breit nicht wieder.«
Die Unterhaltung wendete sich nun andern Dingen zu, ich kam mit dem Wagnersjörgnikel in ein Gespräch. Der Mann hatte Anno zwölf den unglücklichen Feldzug in Rußland mitgemacht und war auf dem Rückzug in Gefangenschaft gerathen – zu seinem Glück! – Wahrscheinlich wäre er sonst auch im Eis und Schnee umgekommen, wie alle seine Kameraden aus der Heimat. Weit ward er in dem ungeheuren Reich herumgeworfen, sah viele Länder, mancherlei Völker, und als er endlich die Freiheit wieder erlangte, reiste er noch durch die Türkei, sah Konstantinopel und kehrte nun erst über Ungarn und Oesterreich in die Heimat zurück. Da gab es nun viel zu erzählen, ich ward nicht müde zuzuhören und hätte den Mann liebgewinnen müssen, wäre er auch nicht Margarethens Vater gewesen. Unsere frühere Freundschaft ward heute erneuert, und als wir uns ziemlich spät in der Nacht trennten, mußte ich ihm einen baldigen langen Besuch versprechen.
Auf dem Heimweg sagte der Vetter: »Hab' mich gefreut, daß Du mit dem Wagnersjörgnikel so bekannt geworden bist. Das ist ein braver Mann und mein bester Freund!«
Heimlich lächelnd, im Herzen glücklich, drückte ich dem Pathen die Hand und eilte auf mein Kämmerchen.