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[Die Märchen von Hans Bürgers Kindheit]

I

Du schreibst mir, liebste Mama, dass unser altes Haus in der Ferdinandsgasse niedergerissen werde … Lass es, da wir's ja doch nicht hindern können, immerhin geschehen: um so dauernder wird es uns bleiben. Denn dann, wenn es nicht mehr ist, wird es uns erst gehören. Wir haben es ja nicht einmal wirklich unser nennen dürfen. Sein Eigentümer, der es so schätzt, dass er es besser verwerten zu können meint, wenn er es zerstört, verliert es, und wir gewinnen dabei.

Das alte Haus soll einmal, vor hundert Jahren, ein jüdisches Bethaus gewesen sein. Das war mir immer sonderbar zu hören gewesen. Niemand hat die Sage beglaubigen können.

Ihm gegenüber stand die noch viel ältere Kirche zur heiligen Magdalena. Unser Haus war schmal, und die Kirche war schmal. Um so tiefer waren beide. Das ergab vielleicht eine gewisse Verwandtschaft. Aber nicht daran knüpft sich die Beziehung, die zwischen den Nachbarn bestand, auch nicht einmal an die Besuche, die wir der Kirche abzustatten pflegten. Nein, die Beziehung lag einfach im beständigen Gegenüber. Die Gasse war eng, und der Kirche war nicht auszuweichen. Wann immer man an eines der fünf nicht eben grossen Fenster trat, die auf die Gasse hinausgingen, hatte man es mit der alten Kirche zu tun. Sie wies bloss zwei Fenster, rechts und links von der Eingangspforte, zu der man auf einigen breiten, steilen Stufen hinaufstieg. Dann gab es noch einen kleinen geheimnisvollen Hof neben der Kirche, zu dem in einer niedrigen Mauer eine vertiefte Türe führte. Diese war fast immer verschlossen. Ich glaube, in den zwanzig und mehr Jahren, während deren ich sie beobachten konnte, hat man sie nicht mehr als dreimal geöffnet. Und wir erfuhren auch niemals, was sie, was der finstre Hof zwischen den hohen Wänden, der der Kirche und der des Gebäudes der Finanzlandesdirektion, eigentlich bargen. Aber vor der verschlossenen Tür, die zumal im heissen Sommer einen recht müden, alten, verstaubten Eindruck machte, sass im Winter, der lange währte, tagtäglich der Kastanienmann an seinem kleinen dünnbeinigen Kessel, das heisst, er sass nur, wenn er nicht die Hände reibend umherging. Über ihm an dem Vorsprung des Finanzgebäudes hing, solang ich's denken mag, eine Ankündigungstafel: Leo Wattrich, Schriftenmaler. Sie war lang, breit und in jeder Hinsicht bemerkenswert. Die Buchstaben waren körperhaft gemalt, ich glaube fast, sie warfen Schatten. Man sah gleich, dass er's konnte, das Schriftenmalen. Sonderbar schien es uns nur, dass sein Name noch einmal, klein, aber deutlich genug, in der rechten unteren Ecke angebracht war, so zwar, dass kein Zweifel obwalten konnte, wer den Namen und die sonstigen Mitteilungen, als da sind »Verfertigt in jeder Schrift« usw. hingemalt hatte. Einmal in den Jahren ward die alte Tafel durch eine neue ersetzt, die offenbar schöner und dem Fortschritt entsprechender gemeint und ausgeführt war. Sie hatte keinen weissen Grund mehr, stak hinter Glas und schien schwerer. Aber sie gefiel uns nicht.

Wenn man sich aus einem der fünf Fenster etwas vorneigte, konnte man auch die Tabakniederlage erblicken, die die Überschrift »Tabak-Haupt-Verschleiss« trug. Das Wort halblaut buchstabiert fiel nicht gut ins Ohr. Aber es hatte doch etwas Übermenschliches, besser Unmenschliches. Und dazu gehörte ein riesenhaft gewachsener Mann mit einem angemessen grossen Schnurrbart, der nach acht Uhr früh mit grossen Schritten, begleitet von einer kleinen ängstlich und gebückt, aber überaus rasch neben ihm her trippelnden Frau, in die Niederlage eilte und des Abends nach halb acht Uhr in derselben stummen Begleitung sie verliess. Dass er ein Graf wäre, hörten wir, verbanden aber mit dem Worte keinen deutlichen Begriff. Nur machte es ihn noch merkwürdiger.

Und endlich gab's die Spritzer. Der niedrigen Hofpforte genau gegenüber war ein Hydrant. Sonst sahen wir ihn kaum, aber wenn die Spritzer kamen, ward er lebendig. Und wenn sich sein Becken dann, sobald der Deckel mit dumpfem Hall entfernt und der Schlauch mit den schönen messingnen Rundkerben angeschraubt war, mit Wasser füllte, war er der Beherrscher der Gasse. Die Spritzer kamen in der warmen Jahreszeit täglich gegen ein Uhr nachmittag, vor unserer Speisestunde. Sie brachten einen rumpelnden Fasswagen mit und füllten das rote Fass mit dem Schlauch brausend aus dem Hydranten. Wenn das Wasser gurgelnd aus der Öffnung quoll und unaufhaltsam überlief, ward oben der Deckel zugeklappt, und nun rasselte der Schubwagen die holprige Gasse hinunter. Wir aber verliessen befriedigt das Fenster. Meist sass auch schon der Vater am Tisch, und wir hatten es nur mit Herzklopfen gegen zürnende Mahnrufe erreicht, so lang am Fenster auf dem gepolsterten Lehnstuhl zu knien. Wie langweilig war, mit diesem Schauspiel verglichen, das Essen!

 

II

Das alte Haus war erfüllt von einem eigentümlichen warmen, süssen Geruch. Der kam von der Drogen- und Chemikalienhandlung. Sie nahm das Erdgeschoss ein, bis auf einen kleinen, seinen Besitzer häufig wechselnden Laden, der, flurtief und ausser der Eingangstür ohne Öffnung gegen die Strasse, rechts vom zweiflügligen Haustor lag, und, da er keine Verbindung mit dem dunkeln Flur besass, dem Hause fremd blieb. Den schmalen Flur schloss hinten die abends von einem Hausknecht im Beisein des ersten Handlungsgehilfen mit grossen Schlüsseln gesperrte schwere Tür, die, tagsüber offen, in einen kurzen finstern Vorraum führte, von dem man links durch eine Glastür über Holzstufen ins Geschäft, geradeaus in den mit Glas überdachten Vorhof trat, wo seitlich eine enge steile Treppe in den unergründlichen stockdunkeln Keller hinabging. Vor der Kellertreppe hing stets eine trübleuchtende Laterne. Aus dem gedeckten Vorhof kam man in den offenen Hinterhof, den ein mit einer Schubtür verschliessbares hölzernes Vorratshaus hinten beschränkte. Seine Rückwand war die Feuermauer des alten Theaters. Sie trug etwas über der Höhe des ersten Stockwerks ein vergittertes Fenster, durch das man einst auf unerklärliche Weise in den geheimnisvollen Nachbarraum hatte hineinschauen können. Nun hatten längst innerhalb des verwilderten Gemäuers – das Theater war einmal abgebrannt und an anderer Stelle dem Geschmack der neuen Zeit gemäss, gemein-prächtig wieder errichtet worden – verwehte Samen Wurzeln geschlagen, und schon als ich ein Kind war, ragte dort ein Baum bis zum Gitterfenster empor und bewegte melancholisch seinen verstaubten Wipfel gefangen im Wind.

Vom Hofe eilten die Handlungsgehilfen täglich unzähligemale über eine hölzerne Freitreppe zu einem an unsere Wohnung stossenden Vorratsraum hinauf. Auf diesen Hof ging das einzige kleine Fenster des grossen Kinderzimmers. Von ihm aus erlebten wir die Jahreszeiten. Wir sahen den gefangenen Baum im Herbst sich entblättern und im Frühling sich belauben, sahen aufs verblechte Dach des Holzhauses den ersten Schnee fallen und ihn, der sich den Winter über bald erweichte und bald zu schweren Massen sammelte, die manchmal abgefegt werden mussten, unter den stärkeren Strahlen der nie erblickten Sonne endlich weichen; durch dieses Fenster kamen die stille Melancholie des Sonntagnachmittags herein und der wehmütige Klang des abendlichen Ave Maria-Läutens; an diesem Fenster verbrachten wir Stunden ungestörter Betrachtung aller der merkwürdigen Verrichtungen des innern Geschäftslebens. Dort unten im Hofe tönten den Tag durch die dumpfen Stösse eines schweren Schlegels, der, von einem Knecht gehandhabt, in einem grossen Mörser wohlriechende Stoffe zerstampfte; dort standen die ungeheuren Gefässe aus dickem grünen Glas, die, mit gewaltigen Zetteln beklebt, helle Flüssigkeiten bargen und eröffnet oft einen betäubenden Rauch verströmten; dort auf hohen alten Kisten mit verrosteten Vorhängeschlössern wogen mehr minder behutsame Hände mit messingblinkenden Wagen gehäufte Pulver und Brocken, die aus mächtigen Papiersäcken auf die bebenden Schalen geschüttet wurden. Immer wieder ging die in einer Hemmangel knautschende Tür, die an der Holzstiege in die hintern Räume des grossen Verkaufsladens führte, und hundertmal fuhren unsre kleinen Köpfe über dem mit weisser Leinwand bezogenen harten Fensterpolster auf, um neugierig hinabzublicken, wo sich die verkürzten Gestalten und die unbedeckten Häupter in seltsamer Unablässigkeit hin und her bewegten. Manchmal schaute man sich geradezu auf den Rücken wendend empor. Oben hing ein Freigang, dessen bretternes Gefüge man nicht mit den Blicken durchdringen konnte, dessen von Schritten dröhnendes Schwingen man aber mit sonderlicher Lust so nah entrückt über sich empfand. Dort wohnte die Judenfamilie, ein schmutziges Märchen.

 

III

Vom Hausflur stieg man rechter Hand auf einer dunkeln steilen Holztreppe zum ersten Stockwerk empor. Täglich hat Grossmutters schwerer Atem die immer mühsamere Arbeit getan. Und wie sie selbst schon längst unter der Erde liegt, ausgelöscht ihre grosse Liebe, die sie, fremd und fern allen andern, ganz uns gegeben hat, so ist auch – wer sollte das glauben – das Haus hinweggenommen aus der Welt, nein, von seinem Platz nur im Sichtbaren; denn die Welt, das ist das Menschenherz mit seinen Erinnerungen und Träumen, die Welt, das sind die Künstler, die eines Menschenherzens tiefsten Inhalt weitergeben, lebendig, ewig, an die Fremdesten …

Hinter der letzten Stufe erhob sich eine verglaste Tür, die, wie die elektrische Klingel und das »Vexierschloss«, eine Errungenschaft der neueren Zeit war. Früher war's ein hohes hölzernes Gattertor gewesen, an dem eine im Schüttern des zugeschlagenen Flügels stark mitscheppernde metallene Schelle befestigt war.

Nun stand man im »Gang«. Einst war er offen gewesen; über die niedrige Mauer rechts war stürmend oft der Wind hereingestürzt. Auch diese Seite war nun längst eine hohe Fensterwand, und auf der Bank darunter standen viele Blumentöpfe, im Sommer wohl auch ein oder das andre Vogelbauer. Gegenüber dem Stiegenaufgang hatte die Wand eine Tür, auch sie die zahme Nachfolgerin einer andern niedrigen, die bloss einen Schranken vorstellte. Aber man hatte darauf sitzen und sich hin und her bewegen können. Die Tür eröffnete sich über eine Stufe auf eine Holzbühne, die, gegen den Lichthof links mit einem eisernen Geländer abgegrenzt, zu winkeligen Vorratsräumen führte. Ging man sich links wendend im Gang an der Blumenbank vorbei geradeaus, stiess man nach wenigen Schritten auf die Wohnungstür mit Guckloch, Klingel und Metallschild. Links aber sah man durch ein vergittertes Fenster in die kleine Küche hinein, deren Boden mit grauen und gelben Steinfliesen belegt war.

Der Flur war schmal und düster. Links lag ein Vorzimmer, das sein spärliches Licht einzig den Milchglasscheiben der Speisezimmertüre dankte. Eine niedrige Stufe ging es in den Flur hinab, eine niedrige Stufe ins Vorzimmer hinauf. Und über eine Schwelle auch schritt man geradeaus ins Kinderzimmer durch eine niedrige breite Tür mit uralter Klinke und einem messingnen Puffer in der Mitte … Still, hier hat das Märchen gewohnt. Rechts vom Eingang stand ein wohl hundertjähriger blauweisser Kachelofen. Dem nicht eben kleinen Raum diente bloss ein schmales Fenster, das in einer tiefen Nische steckte. An der Längswand aber war das alte Ledersofa, auf dem uns Kindern, an die junge Mutter geschmiegt, alle raunende Seligkeit der tiefsten Zauber-Gesellschaft friedlich arbeitend unter ihrer weissen Glasglocke.

Aber welche Fieberphantasien auch hat das dann so sonderbar entfremdete Zimmer still erlebt, wenn der Knabe, kaum im Bett erhalten von der unzählige Kinderkrankheiten sonst unbesorgt pflegenden Mutter, stundenlang mit der Qual seiner wüsten Wachträume rang! Einen kreiselartigen Schatten seh ich noch, entsetzlich in seiner Sinnlosigkeit, sich auf meinen glühenden Polstern wirbelnd drehen … Und wie oft sass der starke bärtige Mann mit den goldeingefassten Brillengläsern, ein Arzt und Oheim dazu, den Puls der irren Hände zählend, an einem der beiden grünbegarnten Gitterbetten. Gut wie kühle Limonade war seine gedämpfte feste Stimme … Auch ein grosses altes Holzbett gibt's in meiner Erinnerung; unten darin war eine Lade, die, als sie nicht mehr zum Schlafen diente, geduldig dicke Bücher aufnahm. Und die gemütlichen Bäder, damals noch ohne Badezimmer als ein erwünschtes Wochenereignis abgetan in einem vortrefflichen Bottich, der vor unsern erwartungsvollen Augen mit dem dampfenden Wasser, Butte nach Butte, gefüllt ward. Und der Schutzengel aus Porzellan, die gebreiteten Flügel flach an der Wand, mit der Weihwasserschale überm Bett; ich seh mich im langen Hemde betend vor ihm knien, seh meinen Schatten an der Wand, deren durch ein Zieratenblech gepinseltes unentrinnbar wiederkehrendes Muster mich vor dem Einschlafen bei grünverhängter Lampe in ermüdendem Verfolgen des Nichterreichbaren immer wieder beschäftigte.

Alte braune gelbgerandete Tischdecke, und du, spiegelndes, glattes Wachstuch darunter, wie oft haben meine emsigen Hände euch berührt! Da waren wohl an tausend flache Soldaten aufzustellen in unendlichen süssen Stunden, alle sorgfältig ausgepackt wie sauber wieder auf die vielen dünnen farbigen Papierblättchen eingelegt in die reinen runden Holzschachteln mit den blauen Nürnberger Sortenzetteln. Da waren zu Weihnachten allerlei Kästchen zu bemalen oder Briefkärtchen mit feingezeichneten Figürchen zu versehen, während Mama Märchen vorlas. Und »Wünsche« waren auf den verehrungswürdigen Bogen mit krausen Spitzenrahmen aus braven Vorlagebüchern sorgfältig abzuschreiben, bis man sie, den Formeln entwachsen, besser selbst zu dichten und sauber fertigzustellen wusste. Und Laubsägepeinlichkeit, Tombola mit grünen Glasplättchen und schaukelnden Holzhalbkugeln und Hammer und Amboss, Wettrennspiele auf grossen bunten, die Tischplatte deckenden Gebreiten, und das höchste: das mit stets erneutem pappenen Zubehör nach Gustav Kuhns Sechskreuzerbücheln belebte Tischtheater, in dessen schattende Soffiten die ehrliche alte, alles begleitende Lampe, hochgeschoben an ihrer knirschenden Gliederkette, hineinschien.

 

IV

In einem kleinen Garten, zu dem man auf dunkeln Steinstufen hinabsteigen musste, seh ich mich als kleines Kind. Hoch über mir ragt eine mit Efeu dichtbekleidete heimliche Wand auf; an Rosenstöcken vorüber auf knirschendem roten Sand führt ein sanfter schmaler Weg zu einem tiefen Brunnen, in dessen Mitte auf einem Steinblock ein metallener Kranich steht … Versunkner Garten, bist du wahrhaftige Wirklichkeit gewesen? Als meine Kindheit sich vor unbewusstem Grauen schwankend ihrem Ende zuneigte, schrie ein Pfau hinter der Nachbarmauer. Nahenden Tod kündigte der hässliche schrille Schrei, der mir durch den ganzen Körper fuhr. Aus diesem Garten, in dem ich den ersten, lächerlichen Schmerz erlitt, Kohlrüben, die ich, ein zweijähriges Kind, hatte essen müssen und weinend erbrach, bin ich hinaufgerufen worden zu einer sterbenden alten Frau, der letzten von den drei Schwestern der Grossmutter. Denn in diesem Garten, in diesem stillen schlichten gelben Hause, dessen rotes Ziegeldach uns begrüsste, wenn wir durch die Gartenanlagen des Glacis hinterm Statthaltereigebäude aus der Stadt – hier hiess es schon Vorstadt – ihm entgegeneilten, in dem geliebten Hause mit den fröhlich von Sonne blitzenden blanken Fenstern haben sie alle beisammen gelebt, die freundlichen alten Verwandten; die Grosstante mit glattem Spitzenhäubchen und schlichten gelblichen Scheiteln, feinen weissen fleissigen Händen; Grossonkel Christian, weisshäuptig und mit dichtem weissen Schnurrbart, der dicken goldenen Uhrkette, über der tiefausgeschnittenen schwarzen Weste den weissen Leinwandkittel des behaglichen Schlenderers; junge blonde Tanten, die im Hofe der wohltemperierten kleinen Fabrik zum gemütlichen Surren und Sausen der Räder Croquet spielten und den mit einiger Scheu sich dazugesellenden blauäugigen Buben herzten oder ihm an Sommernachmittagen im kühlen Zimmer hinter grünen Jalousien »Den kleinen Hydrioten« und »Der Blumen Rache« vorlasen oder ihn an wunderbaren Winterabenden vor dem schwarzgerandeten Standspiegel in himmelblauen Ballkleidern zu verstummendem Entzücken brachten …

Manchmal knistert noch der Schnee an einem Nikolausabend, seltsam glüht es hinter Ofentüren, süss duften unbemerkte Bratäpfel. Und an einer Fensterklinke hängt ein schwarz-weisses Horn mit blechbeschlagenem Rand, das in der Nähe nach Leim riecht, aber aus dem, hat man es schüchtern an den Mund gesetzt, ein einsamer Ton tönt, der die Dämmerung bedeutet und das Verweilen an einem von steifen Spitzenvorhängen verhüllten, die Lampe spiegelnden Fenster, hinter dem, gewusst, aber nicht gesehen, der frischkalte verglaste Gang hingeht …

 

V

In dem düstern Gassenzimmer, hinter dessen weissem, in Absätzen durchbrochenen Kachelofen die Ritterrüstung aus Silberpappe verwahrt war und der mit einer Silberborte gesäumte blaue Rittermantel, sassen der rotbärtige böhmische Klavierlehrer und der ungeduldige Knabe am Piano, und abgehackt rang sich der Jägerchor aus dem Freischütz zwischen zwei Kerzen empor. Manchmal klirrten die Gläser an den Leuchtern von tiefen Noten erschüttert mit … Die weissen Leinwandvorhänge an den Fenstern waren herabgelassen, im Wandspiegel standen gespenstisch die geöffneten Türflügel, und im Nebenzimmer am Nähtisch sass unhörbar Mama … In demselben Zimmer hauste auch alljährlich durch viele Tage geheimnisvoll, von gruselig-behaglichen Marzipandüften umhüllt, das Christkind. Wehrend steckte ein starker Schlüssel im glänzenden Messingschloss … Dort erstrahlte eines seligen Abends immer wieder der dunkelgrüne Weihnachtsbaum, und die ganze Welt stand tiefblau und feierlich still um die weissgedeckten, mit den Gaben reich bestellten Tische. Hier schlägt die Seele die grossen Augen dankbar auf, hier verstummt in brausendem Glück, das brandend in die Ohren steigt, das hochklopfende Herz auf einen Augenblick, auf eine Ewigkeit. Es ist Nacht. Tritt man einmal versunken ans Fenster, so hat alles, was sonst drüben ist, eine gespenstisch-süsse Entrücktheit, die schaudern macht. Ist dort der tagtägliche Tag, kann dort gar der kühle Sommermorgen gewesen sein, als die Militärmusik mit Tschinellen und Trompeten vorüberzog oder in hellen hohen langgezognen falschen Tönen die Bittprozession? Hier drinnen hat das Christkind geweilt, noch liegt von seinem goldnen Flügelschwirren etwas in der kerzen- und nadelduftenden Luft. Dort sitzt die Grossmutter in ihre gütige Melancholie versunken am Ofen; verstohlen wirft man einen Blick auf die Geschenke der Erwachsenen, aber man kehrt zurück zu den Soldaten und Büchern, den mit blauen Bändchen gebundenen Taschentüchern, den blinkenden Schlittschuhen …

Alles ist an diesem einzigen Abend Geheimnis und Wehmut zugleich; selbst der Bratengeruch, der im Speisezimmer nebenan festlich sich verbreitet, hat etwas Geweihtes. Und nun verlöschen allmählich die auf den breitausladenden Zweigen niedergebrannten Lichter, der Raum füllt sich mit warmen Schatten. Da schlägt jemand, ein junger Oheim, am Klavier ein paar volle Akkorde an, oder die Schweizeruhr, ein Einsiedler, der den Glockenstrang zieht, klingt hell die Nachtstunde. Wenn dann alle Verwandten fortgegangen sind, steht man unschlüssig noch eine lange Weile vor den in ihrer Unberührtheit wie verzaubert harrenden Schätzen, bis man eine Puppe, einen Reiter, eine Peitsche aus dem Bann erlöst und in die gewohnte, heute so entfernte, seltsam einen erwartende Schlafstube hinüberträgt, eine fremde neue Gestalt in die eigene Vergangenheit.

Aber einmal kommt der Weihnachtsabend, da der Knabe, der sich selbst unbemerkt entwachsen ist, mit verhaltnen Tränen vorm Gutenachtkuss stockend im Dunkel hinter der Schwelle der Mutter die traurigen Worte sagt: »Mama, ich kann mich nicht mehr so freuen wie früher …«

 

VI

Aus meiner frühsten Kindheit ist mir eine rote Ziegelmauer in Erinnerung, auf der spärliches langes Gras im Wind weht. Und melancholische Lieder meiner Mutter hör ich noch, die sie mir wohl zum Einschlafen gesungen hat.

Da droben aufm Bergl,
da weht ein kühler Wind,
da sitzt die Mutter Gottes
und wiegt ihr liebes Kind.
Sie wiegt es sanft und leise
mit ihrer schneeweissen Hand,
da bringen ihr die Engel
ein blaues Wiegenband – –

Meine Mutter ist sehr jung gewesen, als sie mich so in den Schlaf sang. Auch daran hab ich, dünkt mir, eine zärtliche Erinnerung. Und wenn ich heute bei ihr sitze und gerührt ihr von vielen Sorgen und schwerem Kummer frühzeitig gebleichtes und nunmehr längst von feinen Falten gezeichnetes kleines Gesicht anschaue, seh ich hinter diesem immer so gütigen und liebevollen Gesicht, das vor Mut nicht müde werden mag, ein ganz junges frisches, farbiges mit hellen blitzenden Augen. Dagegen hab ich keine Erinnerung an die frühe Berührung ihrer guten, emsigen Hände. Sie hatte, an Geschichten und Versen unerschöpflich – sie kehrten wohl wieder, aber die Lebhaftigkeit ihres Vortrags liess sie unerschöpflich scheinen – keinen Sinn für Musik, kein Gehör dafür. Kümmerlich war auch ihre den Kindern genügende Zeichengabe, obwohl man bei der Grossmutter später staunend und stolz Bilder von ihrer Mädchenhand sich bestätigen konnte. Aber um so schöpferischer behandelte sie das gefügige Leben. Sie schuf uns genial wie Gott die Welt aus dem Nichts, das ihr dazu zur Verfügung stand, sie erlebte mit uns Kindern erst das Leben. Nie hat ein Mensch reicher, tiefer und zauberischer das kleine Leben erlebt. Sie war buchstäblich eine Lebenskünstlerin, eine Goldmarie. Von ihr ging das Licht aus, das alles Dunkel erhellte. Wo sie ging, da blühte dankbar die Welt. Sie hatte die Gnade, die erweckt. In ihrer Nähe wachte alles zu seiner ganzen Lebendigkeit auf, der Augenblick nahm sich zusammen und gab sich her. Und wenn sie gar von ihren Träumen erzählte, die sie, die wenig und nicht fernhin gereist war, alle Wunder der Palmenwälder und der blauen Meere schauen liessen, dann wusste man, dass ihre Patin die Phantasie gewesen war, die allmächtige Fee des wahrhaftigen Lebens.

 

VII

Alle Morgen, wenn die Kinder noch im Bette lagen, flog Frau Denk, die kleine Friseurin, herein. Da stand, im Winter von zwei Kerzen beleuchtet, denn es war noch früh, der leichte Spiegeltisch vor dem einzigen schmalen Fenster, und Mama liess sich das Haar von den eiligen Fingern der gehetzten gelben Person aufstecken. Aber einen Teil der mühelosen Fertigkeit ersetzte sie selbst durch eigene Nachhilfe. Frau Denk schien uns Kindern alt. Wer schien uns denn jung? Ich glaube, Kinder haben kein Gefühl für Jugend. Doch seh ich Mama immer jung; sie kann mir nicht altern. Aber damals war sie bloss die Mama, und solche Dinge wie Jugend und Älterwerden hatten keine Macht über sie.

Alt waren viele. Aber es ist ein andres Gefühl darin, als es die Vorstellung alt begreift. Es ist: nicht zu uns gehörig, drüben. Mama war bei uns. Die andern, die nicht Kinder waren oder sozusagen in einem ungeprüften Begriff aufgingen, wie der Bäcker oder der Schornsteinfeger, waren drüben, jenseits der Grenze.

Herr Stieber, der Friseur, war so einer. Er war mir Würde. Stell ich ihn mir wieder her, so steht ein armseliges, überaus mageres, langes Männchen da, dem ein grosser Bart, der nicht gross wirkte, und ein schwarzgerandeter Kneifer auf einer ängstlichen Nase Ausdruck geben. Mir war er Würde. Er herrschte. Das sah man. Denn die Gehilfen schnitten Haare ab und rasierten, er aber stand auf einem Podium am breiten Fenster hinter den Perückenköpfen und sah hinaus. Er wandte den Kopf, wenn die scheppernde Ladentüre ging, und sagte einen Gruss. Manchmal befliss er sich eines Gesprächs. Zu Hause hatte er eine kranke Frau, und seine erwachsenen Kinder bereiteten ihm Sorgen. Aber das überhörte man, wenn man es etwa vernahm.

Herr Navratil, der Schuster, hiess nicht Herr Navratil, denn er war nicht der Herr, sondern der Gehilfe. Aber man sagte ihm Herr Navratil und meinte das Geschäft. Fast noch herrlicher als das Haarschneiden, die kalte Schere überm Ohr und ihr Klirren, wenn sie die gewandten Luftschnitte tat, um nicht aus der Übung zu kommen, wollüstiger kitzlig war das Massnehmen an dem auf den Strumpf entkleideten Fuss. Dann kniete Herr Navratil, das Geschäft, nieder, legte sorglich die Papierstreifen an, deren er immer wieder viele besass, gelbe, blaue, weisse und gewürfelte, und knipste mit dem Fingernagel die Merke hinein. Aufatmend von süsser Hemmung erhob man sich nachher vom hölzernen Hockerl.

Manchmal am Samstag kam Tante Julie. Sie hatte ein breites Gesicht und sah wie ein alter Komiker aus. Ihr Humor war derb und unbedingt. Sie machte grosse staunende Augen dazu und nach jedem Witz einen satten Mund wie ein Priester. Ihre Nase war wie die eines Schnupfers, und ihr Kleid – sie war arm – war wie das einer Nonne. In die Ewigkeit hat Tante Julie sicherlich ihr Mutz begleitet. Das war ein schwarzer Pudel, der nebst einem Igel – ich glaube, er hiess Martin – und einem mir heut unbestimmbaren Vogel ihre Gesellschaft bildete. Mutz verstand alles, wusste alles, konnte alles. Er hatte deshalb etwas Unheimliches. Fast schien das »du«, das ihm jedermann versetzte, seiner unwürdig.

 

VIII

Ich mochte neue Kleider nicht, wollte meine alten nicht hergeben. Man musste mich zu neuen Kleidern überlisten oder dafür, dass ich sie annahm, belohnen. Eine Belohnung war der Besuch des Franzi. Er hatte Sommersprossen über das ganze gutmütig-derbe Gesicht und Haare von der Farbe dieser rotgelben Flecken. Seine Mutter war eine Köchin, die schon bei der Grossmutter viele Jahre gedient hatte und seit vielen Jahren der Tante diente. Der Franzi war zu allerlei Dingen geschickt, die wunderbar schienen, weil man sie nicht konnte. Zum Beispiel verfertigte er aus Bestandteilen, die er aus so bewandten Bilderbogen ausschnitt, Häuschen, Blockhäuser. Es war so selig, ihm dabei zuzuschauen. Die Soldaten konnte man ja auch aufstellen. Nicht so überzeugt wie er; aber doch nicht gerade ungeschickt: man tat mit. Jene Dinge aber waren gnadevolle Künste, wie etwa einen Finger in den Mund stecken und nun pfeifen oder auf den Händen stehen, wobei die Hosen von unten, was jetzt oben war, hinauffielen und man seltsam schaudernd gewisse grobe Unterwäsche sah, wie ja auch rote »Stützel« oder »Pulswärmer« etwas Arbeitermässiges, Fremdes, freilich auch etwas Erwachsenes an sich hatten. Gleichaltrige wurden besser gemieden. Sie boten nichts, wollten nur immer etwas hören oder waren einfach unartig. Andere wieder waren sehr arm, dienstfertig, aber auch aus Verlegenheit zudringlich.

 

IX

Auf dem alten Ledersofa zwischen den beiden Kinderbetten, während die Nachmittagsdämmerung vor dem stärkeren Leuchten des Schnees auf dem Dach des kleinen Hinterhauses und dem im grossen Kachelofen röter glühenden Kohlenfeuer verblasste, erzählte die Mutter, an die wir uns schmiegten, Märchen. Von dem jungen Alexander, der die halbe Welt bezwang, indem er sie staunend in ihrer Seltsamkeit und Grösse kennen lernte, der im Zorn seinen besten Freund erstach, dann aber, von Schmerz und noch tieferer Reue ergriffen, ein König, über der Leiche laut vor allen seinen Hofleuten weinte; wie er, der so schön und klug und mächtig war, dass ihn die weissbärtigen Priester in den uralten Tempeln an den heiligen Strömen als einen Gott begrüssten, plötzlich sterben musste, weil er sich, erhitzt in einem eisigen Flusse badend, erkältet hatte. Das Märchen von Alexander war schöner als alle andern, denn es war vor allem dennoch wirklich und wie die vielen, vielen Schachteln, die, eine immer kleiner als die andre, ineinander steckten: es steckten immer wieder kleinere Geschichten in dieser einen, die so gross war wie die Welt, wie der Himmel über den Häusern, wenn man sich am Fenster auf den Rücken legte und hinauf sah, gar nachts im Hochsommer, wenn der Himmel von lauter zitternden Sternen atmete. – Da gab es die Geschichte von dem weisen Manne, der auf alles verzichtete, was man sonst gern hat, gutes Essen und hübsche Kleider, auf das warme Bett sogar und Sommer und Winter in einer leeren Tonne lag und nur, wenn die Sonne so recht wie auf ein Ährenfeld oder eine Landstrasse herunterbrannte, sich langsam wie eine Schnecke herausschob und sich wärmte. Auch der junge König Alexander hatte von ihm gehört und kam, begleitet von einem seiner Feldherrn, den Weisen zu besuchen. Und er war so voll Bewunderung vor seiner grossen Weisheit, dass er, der Herrscher über viele hunderttausend Krieger, wie er's gewohnt war, wenn ihm jemand zu Gefallen lebte, dem Alten einen Gnadenwunsch freigab. »Geh mir ein wenig aus der Sonne«, das war alles, was Diogenes von dem Manne zu bitten wusste, der seine Heimat besiegt hatte und alle die unzähligen, an Schätzen und Geheimnissen reichen Völker noch unterjochen sollte, die fern über dem Meere tausende von Jahren für seine Sichel herangereift waren … Alexander war schon als Knabe so kühn und klug wie keiner. Und weil er mutig war, gelang ihm alles. Er konnte nicht einschlafen, weil er an die vielen Taten dachte, die er zu tun gewillt war. Und er weinte, dass ihm sein Vater Philipp vielleicht nichts mehr werde zu tun übrig lassen. Unter seinem Kopfkissen hegte er die unsterblichen Gedichte des alten blinden Sängers Homer, und er beneidete den Achilles um das selige Los, dass ihn dieser gewaltige Dichter besungen hatte, Achilles, den Sohn der Meeresgöttin Thetis, Achilles, für den die Mutter vom Vater der Götter und der Menschen ewigen Ruhm erbeten hatte und der dafür so bald hat sterben müssen, er, der schönste, stärkste und edelste aller Achäer; so bald wie Achilles Alexander …

Einmal aber erzählte die Mutter das Märchen vom Kaiser Napoleon. Er sass in einem grauen Mantel mit einem kleinen Hut auf einem weissen Pferde. Der Blick seiner grossen blauen Augen war so gewaltig, dass sich alle Könige bebend vor ihm beugten. Er war ein armer, blasser Artillerieoffizier gewesen und hatte einer alten Obstfrau, als er noch einsam und wortkarg auf der Kriegsschule fleissig lernte, Geld für Birnen schuldig bleiben müssen. Aber als Kaiser hat er ihr's dann zurückgezahlt. Seine Adler flogen ihm voraus über die Erde, und über ihm stand hellleuchtend sein Stern. In hundert Schlachten hatte er gesiegt, war, der Korse, im befreiten Frankreich erster Konsul geworden, hatte sich selbst zum Kaiser der Franzosen erhoben und, vom Papst in Paris gekrönt, die Kaisertochter aus dem Hause Habsburg geheiratet; sein Wille gebot allmächtig und grenzenlos, das Echo seines gewaltigen Namens ward im fernsten Osten vernommen, also dass fremde Völker Gesandte schickten, seiner Huld ihre Herrscher zu empfehlen. Aber ihn, dem kein Mensch und kein Heer gewachsen waren, hat Russlands riesiger Winter bewältigt. Im Kreml, der Krönungsstadt der Zaren, stand der Einsame stumm am Fenster und blickte auf das brennende Moskau, vor dessen himmelanlodernden Flammen sein Stern verbleichte. Und in einem kleinen Schlitten floh der Kaiser einsam vor dem eisigen Umfangen des unüberwindlichen Russland. Er wollte das Verderben seiner grossen Armee nicht mit ansehen … Die Mutter erzählte auch, dass sich endlich alle zusammengetan hätten gegen den grossen Kaiser, den einzigen Kaiser, ihn, der, von eigenen Gnaden, gleichsam zum ersten und letzten Male diesen Namen verwirklicht hatte, und dass sie ihn endlich, als ihn seine Marschälle verraten hatten, fingen und auf die Insel Elba verbannten. Da stand er und schaute über den Ozean nach Frankreich hinüber. Bis er eines Tages an seinen Wächtern vorbei auf einem kleinen Schiff, seine Adler an Bord, nach Frankreich entrann. Und hundert Tage war er wieder Kaiser. Entsetzt hatten der dicke König und sein Hof sich vor dem herannahenden Sieger geflüchtet. Aber sein Stern war verblichen, bei Waterloo ward er geschlagen und dankte, entmutigt von Schwachen in seinem ersten Schwanken bedrängt, dem Thron ab. Und nun setzten sie ihn, vor Angst, er könnte doch noch wiederkommen, weit hinaus ins Weltmeer, auf eine Felseninsel, St. Helena, wo er traurig und langsam starb …

 

X

Der feuchte Geruch von Glashäusern erinnert mich an die Kindheit. Es war bei einem Oheim, als ich zum erstenmal in ein Glashaus treten durfte. Die roten Ziegelstufen, über die man hinunterstieg, die immer schwitzenden Fensterscheiben, die grossen Giesskannen, zumal ihr mächtiger durchlochter Giessmund, die modernde Schöpftonne, alles hatte etwas Geheimnishaftes. Die eng aneinandergerückten unübersichtlichen Blumentöpfe schwiegen wie eine Versammlung von Abgeschiedenen. Blumen in Glashäusern ist das Leben verboten. Sie sind wie edle Gefangene. Ein Schmetterling flatterte gegen die Glasscheiben und erfüllte den dumpfen stillen Raum mit seinem ängstlichen Geräusch …

Efeu ist traurig, wilder Wein bloss schwermütig, Winden sind heiter. Aber dem Kinde waren im Garten auch die vereinzelten Rosen rührend und Früchte im Laub ein wenig unheimlich. Wenn gar der Wind die Bäume wütend beugte, bangte es, verlangte hinweg. Unter Gras, das auf einer Gartenmauer wucherte und herabhing, stand es sehnsüchtig. Schmerzlich wie der erste Gedanke der Ewigkeit aber war die Sonnenuhr.

 

XI

Alte Standbilder von Heiligen stehen auf manchen Frühlings- und Herbstwegen meiner Kindheit. Unten am faltigen Steingewand glimmt ein Laternchen, und seltsam spielen die flackernden Schatten. Auch ein Leidensgang des Heilands mit den bezifferten schmerzhaften Rasten dämmert mit manchem melancholischen Sonntagabend in die Unendlichkeit hinüber, die wir Nacht nennen.

Ohne sich noch zu ahnen, empfindet sich des Kindes gleichsam im dumpfen Dunkel des tiefsten fernsten Innern pochende Seele, und solche Schauer bleiben geheimnisvolle Erinnerungen noch des späten Manntums.

Überhaupt dieses Sich-selbst-Fühlen, Mit-sich-Zusammenkommen, wie Wellen werden in einem ewigen Gleiten … Habt ihr schon von kleinen Brücken hinabgesehen in grundklare, raschfliessende Bäche? Liegt alles Dasein nur im Bemerktwerden, oder ist es auch selbstbewusstes Für-sich-Sein? Kann es ein völliges Allein geben? Ist nicht jedes durch ein andres bedingt? Ein Bach durch sein Bett; ein Mensch durch das, was nicht er selbst ist?

Fragen ohne Antwort. Aber Märchen sind Antworten ohne Fragen. Und eines Kindes selten nur durch solche Wellen gestörtes Sein ist reines Märchen. Nicht den andern, die es sagen, sondern sich selbst, freilich ohne Ahnung.

Meine Kindheit ist sanftes Dunkel. Öffnet die Augen in die Nacht hinaus; sie öffnet ihre tausend Augen in euch hinein, bis ihr, überwunden, eure wieder schliesset.

 

XII

Ich bin nach vielen Jahren durch die alte Stadt, eigentlich bloss an ihr entlang, gegangen, wo ich geboren bin und wo ich mehr als zwanzig Jahre gelebt habe. Überall sind mir Schatten von Menschen begegnet, an die ich zwanzig Jahre nicht gedacht hatte. Und ich habe wieder einmal die traurige Wahrheit mir bestätigen müssen, dass nur die Erinnerung, dass überhaupt bloss der Gedanke wirklich ist. Denn diese hässliche und gleichgültige Stadt hat ausser den Erinnerungen, die ich ihr schenke, mit denen ich ihre gemeinen Züge mir melancholisch verschöne, wahrhaftig nichts herzugeben, was irgendwie erfreulich und von Dauer wäre: Gaslichtständer und schlechte Bauten gibt es überall, wo Menschen die Natur zerstört haben. Was hatte das Kind aus dieser engen Gasse, jenem düstern Torbogen geschaffen! Selbst das nach einer öden Schablone erbaute Theater hat ihm vom Geheimnis umwoben gedünkt.

Von den Fenstern der neuen Wohnung Mamas, in ihrem auch schon recht alten Hause, hab ich über kahle Wipfel und durch das schwarze Geäst der winterlichen Bäume hinüber- und hinaufgeschaut in einen sehr traurigen Nachmittagshimmel und mich ganz von ihm aufnehmen lassen. Der Himmel über Bergen muss zur Ehrfurcht stimmen; der Himmel über Häusern macht bloss traurig. Aber da sagte meine Kindheit, in meinem blonden Neffen verkörpert, freudig erregt: Und schau nur, Onkel Hans, hier hab ich noch einen Arm. Der Arm gehört natürlich einem Beleuchtungskörper und ist sehr praktisch. Kerzen sind mir lieber. Aber das verstehen die Knaben nicht mehr, die heute zehn Jahre alt sind. Sie finden, das elektrische Licht sei doch schöner. Vielleicht finden spätere, dass ein Automobil schöner sei als ein Pferd.

 

XIII

Heute, Sonntag, vor achtzig Jahren ist meine Grossmutter zur Welt gekommen. Sie ist schon zehn Jahre tot. Meine beiden Kleinen, Georg und Mully, haben sie nicht gekannt. Und es ist doch ihre Urgrossmutter und ihr Vater ist der Grossmutter Liebling gewesen. Ist es möglich, dass Zusammenhang nur gedacht ist? Freilich fliesst ihr Blut in den Kleinen, aber was für Blut fliesst sonst noch in ihnen! Ihr Bild, ein gütiges Antlitz voll milder Trauer, erweckt ihnen keine Erinnerung, und die Geschichte ihrer Ahnen ist ihnen bloss ein Märchen. Aber kann Liebe sterben? Und ist nicht mehr als Blut, mehr als Gedanke, ist nicht die Seele wirklich und wahrhaftig gegenwärtig? Wenn das Bewusstsein eines Menschen mit seinem Leibe stirbt, lebt es nicht in anderer Verbindung wieder auf, und kann es eine nähere, verwandtere geben als die mit seinem eigenen Blute? Manchmal seh ich in den Kinderzügen der kleinen Mully Grossmutters Gesicht auftauchen und aus den Augen des kleinen Ockl ihre Augen blicken. Denn Augen sind nicht jung oder alt, Augen sind unsterblich, weil sie die Seele spiegeln.

Hört mich, spielende Kinder, von eurer Urgrossmutter erzählen.

Sie war sehr einsam und hat nie nach Menschen verlangt. Hat wenig von sich gesprochen, überhaupt nicht viel nach aussen gelebt; aber ihre Gegenwart war sehr stark, und die stille Wirkung ihrer uneigennützigen Zuneigung war unendlich friedevoll. Doch das versteht ihr nicht, jauchzende Fremdlinge des Lebens, spielende Wach-Träumer, selige Verurteilte: ach, verurteilt seid ihr ja dazu, wie wir zu werden, das, was ihr bewundernd gross nennt und was ich klein heisse, was ihr euch reich vorstellt und was ich als arm bemitleide und verachte, Menschen.

 

XIV

Einmal sind in unser Speisezimmer neue Geräte gekommen. Was aus den alten geworden war, hab ich damals nicht gefragt, und heute, nach dreissig Jahren, ist es mir plötzlich merkwürdig. Denn Geräte, die einen Tag und Nacht umstehen, sind nicht gleichgültig. Sie nehmen von unserm Wesen an, und man soll ihre Treue nicht mit dem ärgsten Undank, der Gleichgültigkeit, belohnen. Heute kommen die Künstler der Raumgestaltung und schaffen einem die ständige Stimmung. Soweit sind sie noch nicht gelangt, dass sie einem eine jeweilige Stimmung bereiten könnten, mischen wie der Barkeeper, im Abonnement sozusagen. Es gibt Kinderuhren, armseliges Spielzeug, dessen beide Zeiger, immer im selben Winkel zueinander verbleibend, bewegt werden können. Das Machwerk täuscht selbständige Bewegung vor. Künstler der Raumgestaltung verzichten noch darauf, Bewegung vorzutäuschen. Sie erneuern lieber von Zeit zu Zeit die ganze Umgebung. Aber Geräte, die wir nicht mit dem Raum vom Künstler bezogen haben, lebendige Geräte verändern sich unmerklich mit uns.

Genau so, wie sich Menschen unmerklich mit uns ändern. Ist es denn nicht bloss eine Einbildung, dass Zeit verstreiche und wir älter werden? Sind wir nicht immer dieselben, wenn wir die Zeit nicht bemerken? Ach, aber es ist eine Täuschung, der wir uns hingeben, wenn wir uns von der Zeit befreit haben. Wir sind ja doch älter geworden und haben es uns vor allem daran traurig zu bestätigen, dass uns so vieles verlässt, was wir nicht gern hergeben, Leichtsinn und Freude, Menschen und Tiere, Bäume sogar und Geräte …

Die Sonne ist schon stärker: wir nähern uns wieder dem Frühling. Wieder stehen Hyazinthen auf allen Tischen, und die Sperlinge sonnen sich schon über den starren Weinranken an der Südseite des Hauses unter den Fenstern. Und die Luft hat einen Geschmack von einer immer näherkommenden Ferne. Sie schmeckt nach Sehnsucht, die Erfüllung hofft, kräftiger Sehnsucht, die ihr Ziel herbeizieht. Kinderfrühling, ich erinnere mich deiner als im Sonnenstrahl tanzender Myriaden Stäubchen, als leis rieselnd auftauender leicht vereister Radrinnen, als wundervoll weich anzuschauender Palmkätzchen und kleiner grüner Knospen an zarten Zweigen gegen einen reinen, wirklich himmelblauen Himmel.

 

XV

Ich lese meinen Kindern täglich Märchen vor und kann sie sehr deutlich und doch so kindlich lesen, dass sie sie verstehen und ihnen doch ihr Duft zu Kopf steigt. Sie schlafen dann oft unruhig, träumen davon. Aber das, was ich selbst bei diesen alten Märchen fühle, die aus Hinein-zurück und Daran-herum gemischten Empfindungen von plötzlich gebannter Vergangenheitsgegenwart und das Nachkosten mutmasslicher Eindrücke, das Streicheln sonst flüchtigster, ungreifbarer, ja unberührbarer Zusammenhänge – etwa das abgegriffene Gelb eines nicht mehr vorhandenen, nicht mehr auftreibbaren Buches, darin zum erstenmal Falada war, oder die in einem Buche wirklich noch immer lebende Abbildung voll von all den süssen Schauern ihrer damaligen Wirksamkeit – das bleibt unaussprechlich, ewig hinter meinen Lippen verschlossen, und kein noch so tiefer Blick in die horchenden Augen der unbefangen und gern alles von einem Erfahrenden ersetzt diese allerheimlichste Mitteilung des mit niemand, niemand gemeinsam so Besessenen. Zusammenschweigen kann man nur mit Menschen, die zusammen erlebt haben, man kann sich als Mann in seine Mutter hineinschweigen, nicht in seine Kinder. Kinder leben ja von einem weg.

 

XVI

Immer wieder packt mich, mich anfallend, der Einfall, dass es nur die Übergänge, die Zwischenstufen sind, die leiden machen, dass hingegen die Gegensätze, die Umwandlungen, das Verkehren, nicht weh tun. Aus dem Automobil aussteigen und im Sonnenbrand barhäuptig von nun an einen beladenen Karren ziehen, das ist Saulus-Paulus-Wende, ist das begnadete Schicksal Buddhas, ist unmöglich, aber leicht. Schwer sind nur die Mängel, die Unvollkommenheiten, etwa nicht im Automobil, sondern im Einspänner zu fahren. Zerlumpt sein und auf einer Bank im Volksgarten schlafen, zwischen dem und dem, im Viererzug in die Schlosseinfahrt einzubiegen, liegt bloss eine tiefe Kluft, und der befreite Gedanke überspringt sie, der gereinigte Wille macht sie zunichte (man kann hier oder drüben bleiben, bewusstermassen, es ist gleichviel). Aber um acht Uhr früh, den Cylinder auf dem Kopf, in Gamaschen und Pelz ins Amt zu gehen, ist erbärmlich, zumal wenn man an einem ragenden weissen Herrenhause vorüber muss, das, mitten in der Stadt, mit einem dichten Park gegen die gemeine Gasse sich abschliesst und wo acht Reitknechte täglich edle Pferde bewegen.

Es gibt einen einzigen Gegensatz im Leben, der wirklich durch keinen Gedanken, keinen noch so starken Willen zu vernichten ist: den zwischen Kindsein und Nicht-mehr-Kind-sein. Was helfen mir alle Erinnerungen: ich bin nicht mehr Kind. Ich bin nicht mehr das Kind, das ich gewesen bin, ich bin nicht mehr ich. Denn bin das ich, der ich da hinüberträume, ins verlorene Paradies? Nein, das ist ein völlig anderer, ein Vertriebener, Verstossener, Enterbter. Ich habe vom Baum der Erkenntnis genossen und bin nach aussen sehend geworden, also nach innen erblindet.

 

XVII

Mein kleiner Bub hat heut, als ich ihn an mich herangezogen hatte in den tiefen Lehnstuhl, zärtlich und dankbar für meine Liebe seinen blassen blonden Kopf an meine Brust gelegt und sich still-froh die Stirne leise von mir küssen lassen. Gegenüber im hohen weissen Kamin glühte durch die messinggestäbte Glastür das Feuer tiefer, da die Winterdämmerung schon hereingebrochen war und die Lampe über uns noch nicht brannte; in der Verglasung des grossen Bildes über dem einen der beiden Kaminsitze spiegelte sich undeutlich, schattenhaft allerlei, leuchteten schwache Widerscheine vom Fenster her und vom Kamin empor: es war ein trunkener, gesättigter Augenblick, wie ich sie bei völligem Ausspannen und Nachlassen aller Unruhegefühle im Innern und so frei von allen äusseren Ablenkungen – und seien es die durch die tiefsten Bücher bewirkten – selten besitze und noch seltener ganz empfinde. Aber noch schöner, weil unbefangener und gegenwärtiger, muss das freilich nicht recht bewusste Gefühl bei meinem kleinen Buben gewesen sein; denn deutlich, wenn auch flüchtig, sind mir einige wenige solcher unverlierbaren Ruhepunkte als freilich nicht umrissene Erinnerungen manchmal gegenwärtig. Was ihr Glück, ihre vom Erwachsenen, der zurückdenkt und vorahnt, niemals so zu empfindende Wonne ausmacht, ist eben das Zeitlose, das Unbeirrte, dieses So-muss-es-sein- oder Kann-es-denn-anders-sein?-Gefühl des Kindes, – dem vielleicht binnen kurzem das ärgste droht. Der Erwachsene, dem solche Momente beschieden sind, ist bis zu einem gewissen Grade ja reich – und niemand kann dafür dankbarer sein als ich – reich vor allem schon darum, weil er es eben dahin gebracht hat, nicht nur sich erinnern zu können, sondern gemessen zu dürfen. Aber er weiss doch, woran er ist und wie das alles vergeht; gerade die süsse Erinnerung an das Vergangene, an die eigenen seligen Kindheitsruhepunkte ist ihm eine traurige Mahnung an das unhaltbare, Unfassbare solchen Stillestehens der Zeit … Das schönste ist doch die Erinnerung, denn sie hat man. Und wer sagt einem, dass andere ausser eben in der Erinnerung solche Augenblicke überhaupt auszugeniessen imstande sind? Wer sagt mir, dass es mein Kind vermag?

 

XVIII

Ich lese – wem bringt die Zeitung derlei Nachrichten, die ein feinfühliger Mensch verwünscht wider Willen erblickt zu haben? – von den mörderischen Misshandlungen eines vierjährigen Kindes, und das Herz krampft sich mir zusammen vor Weh, Grauen, Hass und Ohnmacht. Ich könnte den Unmenschen, der das arme Wesen gequält und verletzt hat, kalten, nein, siedendheissen Blutes niederschlagen, erdrosseln, zerreissen. Gibt es denn auf der Welt etwas Rührenderes als ein Kind zwischen dem zweiten und dem vierten Lebensjahr? Es ist nicht mehr der bloss nach Nahrung zappelnde seelisch stumpfe, sinnendumpfe Wurm der ersten Zeit und noch nicht der dem Verhängnis der Schule entgegengetriebene himmelabtrünnige, krauswuchernde Verstand von später; es ist das Kind im seligen Zustand der Gnade, ganz abhängig und doch ganz unabhängig, wahr, unschuldig, ohne Bewusstsein von der Not des Lebens, mit einem Stecken und einem Apfel ebenso zufrieden wie mit einem kostbar eingerichteten Pferdestall und einer Düte Konfekt, ebenso stolz auf ein paar neue Schühlein wie auf ein Säbelchen, glücklich erstaunt über den Ruf eines Vogels, den Anblick des fallenden Schnees, des Feuers im Ofen, innig ohne Arg mit allen Geschöpfen, voll Vertrauen. Mit dem Erwachsenen mag man mitunter mitleidlos sein, grausam sogar: denn der Erwachsene ist ja meist ein schändlicher Schacher und schmählicher Schwindler, wenigstens ein bewusster Schauspieler seiner selbst; aber wer ein kleines Kind martert oder bloss ärgert, dem kann nicht vergeben werden, der, nicht der Brudermörder, ist verflucht. Ein Bruder, das ist das Irdische neben mir, das zufällige Zusammen, ein Kind, jedes kleine Kind aber ist das Überirdische unter mir.

 

XIX

Ich habe gestern einen Grotesk-Putten gekauft, das Erzeugnis einer Tiroler Kunsthandwerkerschule – 240 Stunden hat, heisst es unten auf dem Fuss, ein Alois … daran vor elf Jahren gearbeitet. Monatelang, Jahre hindurch hat die Gestalt, die treffliche Nachbildung einer italienischen Palast-Barockfigur, keinen Liebhaber gefunden, hat sie sich, zuletzt schon scheu, verschüchtert, von Scham verzehrt, ausstellen, ausbieten lassen müssen; seit gestern gehört sie mir, uns, ist ein alter Freund geworden, heisst »Peter Suttit, frech und dick« und lebt auf.

So sind im Laufe der Jahre viele einzelne Dinge zu mir gekommen, Möbel, Bilder, Gefässe, uralte und neue, und sind mein geworden, haben ein Heim und eine Heimat gefunden und sich selbst, vom Trödler, von Versteigerungen, aus Erbschaft, geschenkweise.

Über der Tür, die von der Galerie ins Speisezimmer führt, hängt ein altes Ölbild. Es stellt einen General im Maskenanzug vor, ist unbeholfen und unbedeutend, hat aber, mit starken und glücklichen Farben, ein seltsames Eigenleben und fühlt sich, das seh ich, bei mir wohl, weil es mit hundert andern Dingen sogleich sichern Zusammenhang gewonnen hat. Wir, ich und es, können uns gar nicht denken, dass es jemals anderswo hätte hängen können.

Sonderbar mutet einen das Schicksal vereinzelter Überbleibsel aus dem zerstreuten Hausrat verstorbener Vorfahren an. Sie kehren zu Enkeln zurück und verschweigen ihre Geschichte. Da ist der Rahmen neu vergoldet worden, der ein steif und sorgfältig gemaltes Blumenstück umschliesst. Die tote Tante hat es als ein strebsames Mädchen vor einem halben Jahrhundert gemalt. Einst war es ein Geschenk gewesen, zu einem Festtag wohl den Eltern überreicht, dann hat es durch Erbgang die Besitzer gewechselt. Heut hängt es als ein frischer Wandschmuck da, altmodisch-heimlich, voll von unweckbar schlafenden Erinnerungen. Meine kleinen Kinder haben die Tante nicht gekannt. Über Georg, den Ritter Ork, hat sie sich noch gebeugt, als er freundlich mit den Händchen zutappend auf dem Wickeltische lag; dem Mädchen, das sie uns für sich, die Kinderlose, oft gewünscht hatte und das sie nicht mehr hat erleben sollen, hat sie wohl von ihrer Seele geben müssen nach dem unerforschlichen Gesetz der Übergänge …

Im Glasschrank stehen alte Prunkstücke aus rotem und grünem geschliffenen Glas, mit zierlichem Bildwerk und Gedächtnissprüchen, Hochzeits- und Taufangebinde, die Besucher nun, weist man sie einmal her, als Gegenstände bloss bewundern.

Familienschmuck trägt ja die jeweilige Frau des ungekannte Vorgänger fortsetzenden Hauses, nicht so benutzbares Erbe aber muss sich unter Fremden müssig zur Schau stellen lassen, und einmal mag der Tag kommen, da es lieblosen Händen höchstens Wert und nichts mehr von der Würde des Gewohnten hat.

Alte Uhren pendeln neue Tage durch, und der helle Klang ihres Schlages ruft Lebenden die flüchtende Zeit aus, wie er sie vielen Toten treu verkündet hatte. Die grosse vergoldete Wanduhr, die meinen Ältesten, seinem Bette gegenüber, früh zur Schule mahnt, sie hat, ihrem Bett gegenüber, die schweren Sterbenswochen seiner Grosstante begleitet und sich dann einmal herüberbringen lassen müssen in eine fremde Stadt, in ein fremdes Haus und dennoch, wenigstens will's mir so scheinen, heim.

 

XX

Fünfundzwanzig Jahre soll die Marlitt tot sein. Die Mitteilung weckt mir Erinnerungen, die älter sind.

Ich sehe mich vor den dicken Bänden der weiland »Gartenlaube« sitzen und »Goldelse« und »Das Geheimnis der alten Mamsell« lesen. Es war ein schöner Garten, der sogar eine wirkliche Gartenlaube besass. Er ist erfüllt von Vergangenheit. Obwohl er, etwas verändert freilich, noch vorhanden ist, kann ich ihn mit Meister Anton und seinem Meister Wilhelm Raabe nur als einen versunkenen betrachten. Auf seinem Grunde liegt die Kindheit. Ich erlebe ihn manchmal in wundervollen melancholischen Wachträumen, die zwar nicht länger als Minutendauern, aber Ewigkeiten einschliessen. Ist nicht die Kindheit überhaupt Ewigkeit, ohne Anfang und Ende, nur sich selbst gleich, ohne Zusammenhang mit dem sogenannten Leben, das draussen liegt und sich plötzlich wie ein Ring, der unsichtbar herangewachsen ist, um sie schliesst? Denn sie endigt nicht: sie versinkt. Der Ring hat nichts erfasst, er breitet sich aus in die unendliche Öde, an deren Rändern wieder die Ewigkeit wogt.

Die »Gartenlaube« gehört noch zur Kindheit. Man hatte ja schon lesen können, war sogar reif geworden im Sinne des bekannten Untertitels der verschiedenen Bücher, die nicht mehr Märchen sind, sondern nur sonst unwahrscheinlich, aber das macht nichts: Kind ist man, solange man nicht ausser sich gelangt ist. Das ist das Wesen des Erwachsenen, dass er ausser sich gelangt. Viel, viel später erst findet er – und nicht auf lange, aber wohl immer öfter – heim, zu sich. Und dann ist alles so merkwürdig, unbekannt und bekannt zugleich. Wie wenn man in einer gleichgültigen Gasse, die man seit langer Zeit immer nur in einer Richtung, etwa in einer sie kreuzenden andern Gasse, durchschritten hat, plötzlich merkt – man muss dazu nicht einmal stehen geblieben sein –, dass dieselbe Gasse, von einem andern Standpunkt aus betrachtet, sogar eine sehr liebe alte Gasse ist, mit allerlei Erinnerungen an bestimmte Stellen: dort vielleicht sogar eine Wohnung, in der man als Student gewohnt hat … Es kommt nur auf die Richtung an, in der man lebt. Und überhaupt auf das Hinleben und plötzliche Stehenbleiben und Sichzurechtfinden.

Also die Gartenlaube gehört zu meiner Kindheit, mit »Goldelse« und der »Alten Mamsell«. Ich weiss, dass eines Tages meine Mutter, der ich unter der Hand alles Lesbare weggelesen hatte, zu ihrer Mutter sagte: »Nicht wahr, Mutter, ich glaube, jetzt könnte er schon die Marlitt lesen?« Und da ich es konnte, so tat ich's denn auch. Es war sicherlich ein kleines Ereignis. Nicht so wie Robinson oder Lederstrumpf, nicht wie 1001 Nacht und Gullivers Reisen, aber doch fast so wie das »Wirtshaus im Spessart« oder Hebels Schatzkästlein und jedenfalls viel mehr als Franz Schmidt oder Gustav Nieritz oder – nein: die gelb kartonierten Büchlein von Franz Hoffmann waren doch noch mehr, zumal Peter Simpel oder der arme kleine Dauphin von Frankreich und manche andere mit besonders unheimlichen Stahlstichen – Gott, wie unheimlich sind diese Stahlstiche gewesen und so unerschöpflich, die Hauptszene immer von einigen kleineren Auftritten eingerahmt!

Ich habe also »Goldelse« gelesen, wobei es zu den Seltsamkeiten gehörte, dass man es in einem dicken Buche las, das die Grossen aus Heften hatten binden lassen, und worin so manche gelehrte Sache stand, die man, eingeführt in die Technik des grossen Lesens, überschlug, um bei einer Fortsetzung sozusagen das Buch stets von neuem zu beginnen. Und die Teilnahme der andern, der Frauen zumal, an diesen Lesefortschritten! »Bist du schon da, wo …?«

Ich habe keine Ahnung mehr davon, was die Marlitt eigentlich dargestellt hat, aber ich habe eine Erinnerung an den Eindruck des Lesens dieser angenehm langen Geschichten; freilich ist mir dabei die Marlitt gleichgültig und nur die Tatsache der »Gartenlaube« merkwürdig.

Band an Band stand sie in einem hoch an der Wand aufreichenden verglasten Schrank beim Grossonkel, der sonst nur noch den »Figaro«, den »Kickeriki«, den ganzen Gerstäcker und den Brockhaus – den alten, alten Brockhaus – enthielt. Und wo man immer eine alte Tante oder eine noch ältere Grosstante antraf, die Gartenlaube lag vor ihr aufgeschlagen, und dazu wurde stets gelassen gestrickt. Stricken und – am besten mit Augengläsern – die Geschichten der Marlitt lesen, das gehörte zusammen, so wie zu gewissen sehr appetitlichen Märchen Brot und Salz gehört hatten, was natürlich nur von den Kindern gilt. Und zur Marlitt gehörte es auch, dass man, wenn man die Geschichte, die sich durch einen Band schlang, genossen hatte, allmählich dann darin noch das andere lesen durfte, was Fortsetzungen hatte (unter dreien, vieren war's fad), zum Beispiel die Geschichte von Friedrich von der Trenck, die wegen der Prinzess Amalie schon etwas bedenklicher war und – merkwürdig! – haften geblieben ist.

Es war das eine gute, warme Zeit, da die Marlitt die Familien zu fesseln verstand, nicht darum gut und warm, sondern überhaupt. Um Gottes willen, was haben wir denn dafür bekommen! Erst Ebers und Dahn, dann Sudermann und Tovote, und heute – ich weiss nicht, was heute Tanten – wenn es noch welche gibt – lesen; ich muss meine Kinder und Neffen fragen.

Sonderbarer aber als das alles dünkt einem Nachdenklichen von heute, dass durch dieselbe Gartenlaube als Wochenneuigkeit stets Bismarck gewandelt, dass das Zeitalter der Marlitt das des grössten Mannes gewesen ist, den seit den Hohenstaufen die Geschichte unseres Volkes verzeichnet, und in seinem Riesenschatten wird auch die harmlose Strickstrumpftante Marlitt geradezu historisch, aber nur, wenn die Dämmerung der Erinnerung einfällt, die einen melancholisch macht und gutmütig …

 

XXI

Sonntag. Der »Kapuziner« hat drei Uhr geläutet. Der Kapuziner ist eine hölzerne Schweizer Uhr. Sie stellt, knorplig und kraus aus Klötzchen gefügt, eine Waldkapelle vor, eine Klause, darin ein Waldbruder hinter einem sich alle drei Stunden mit Schnurren öffnenden Türchen emsig pumpend den Glockenstrang zieht. Ein kleines Glöckchen bimmelt dann oben im Dachreitertürmchen leise, aber stark klingt zugleich ein Läutewerk im widerhallenden Gehäuse. Wir haben den Kapuziner als kleine Kinder vom Grossonkel Christian einmal zu Weihnachten bekommen. Seit einigen Jahren steht er auf einem Wandbrett in meiner kleinen Kinder hellem Zimmer. Und er läutet mir oft in der Nacht, zumal gegen Morgen, meine Kindheit aus dem Traum des Lebens … Der Onkel Christian liegt auch schon lang unter der Erde. Der weltfröhliche freundliche Freund meiner Jugend hat seine letzten Jahre recht einsam verbracht. Von seinem zu Tode gefütterten bösen Papagei war ihm eine schmale Leiter geblieben, darauf das Tier in plumper Behendigkeit von seinem Ständer zum Fussboden niederstieg, um zu seinen Füssen zu humpeln und an seinen Beinen, sich an den Hosen haltend, auf seine Knie zu klimmen, damit er ihm den Kopf kraute. Auf dieser Papageienleiter hat dann immer aufgeschlagen ein Buch gelegen; denn der Alte hat, aus einem langen Rohre Zigaretten rauchend, bis in sein siebenundachtzigstes Jahr Gerstäcker, Montesquieu und Dumas, Flygare-Carlén und Radcliffe gelesen …

 

XXII

Ich habe den Winter nicht gern, denn ich mag die Kälte nicht. Als ich jünger war, hab ich das noch nicht so klar empfunden. Wahrscheinlich hängt es mit dem Altern zusammen. Der Jugend, die viel Wärme in sich hat, kann die Kälte nichts anhaben, ja sie sucht sie wie zum Kampf auf. Als ich ein Jüngling war, hat mich der Frühling traurig gemacht. Die Jugend verträgt sich wohl besser mit dem Ungleichartigen. Ihr dünkt der Herbst herrlich, denn sie fürchtet nichts hinter ihm. Ich kann auch jetzt nicht eben den Frühling froh finden, und laute Lust will mir schon gar nicht zu seiner blassen, sanften Art passen. Aber ich liebe ihn zärtlich, den wachsenden, wie ein Kind, mit Rührung, und ich sehne mich nach ihm, sobald er nur von ferne leise sich ankündigt. Der Himmel ist mir jetzt, vom Fenster aus, von schwankenden Zweigen verhängt, die alle noch kahl sind, und viele Stämme stehen weithin in den ansteigenden Gärten. Alles wartet, als könnte über Nacht etwas Wunderbares kommen. Und wenn es dann da ist, das ewig Wiederkehrende, wird es so wenig bedankt. Man betet ja auch bloss, um zu bitten, und nimmt hin, was gegeben wird, ohne sich ausdrücklich zu bedanken. Man dankt überhaupt meist beschämt, verspätet. Die Natur freilich lobt Gott mit ihrem Dasein, jeder knospende Zweig in seiner stillen unbewussten Herrlichkeit preist ihn. Und Kinder.

 

XXIII

In der Wallfahrtskirche Maria Schutz am Semmering fliesst hinterm Altar das kühle Wasser der wundertätigen Quelle ununterbrochen aus der Röhre mit leisem Plätschern durch das marmorne Becken und weiter seinen weltlichen Weg. Vorher und nachher ist es dem Ahnungslosen ein Alltagswasser wie andre. So sind ja auch im Menschen kaum kurze Strecken zu nennende Weilen seiner ununterbrochenen Wanderschaft, die voll Wirkungsfähigkeit sind und wirken, wenn der kommt, der nicht warten kann. Aber wann kommt der Gläubige? Wie viele gehen dahin, ohne ihr Wesen jemals ganz gesammelt dem würdigen Empfänger haben schenken zu dürfen! Und wenn der Mensch sich nicht wenigstens einmal hat ganz hergeben können, hat er nur zum Schein gelebt. Die grossen Künstler und die grossen Helden und die Heiligen sind die wenigen wahrhaftig Lebendigen. Und die Mütter.

 

XXIV

Manchmal erwach ich wie aus mir selbst heraus. Ich hatte im Traum nicht so sehr in meiner Vergangenheit gelebt wie mit Vergangenem, fast lauter Toten. Und noch ist kaum das letzte Wort ausgeredet – tonlos, wie einen alle Traumgespräche anmuten –, so hat das Wachsein begonnen, ohne Übergang. Dann erheb ich mich, schwankend noch von nicht abgeräumtem, unwillig nur abgleitendem Schlaf, und gehe an mein Geschäft. Kann es etwas Trübseligeres geben, als vom Schlaf, vom Traum sich zu trennen, um in den Tag zu traben, diesen sinnlosen Tag der Grossen? Ein Kind erwacht von selbst und wird spielen. Der Erwachsene, der sogenannte Tätige, macht sich erwachen und hastet davon ins Tun, in die Tretmühle, spannt sich ein und zieht wieder an irgendeinem Seil, das eine seiner Machenschaften bewegt … Einer der peinlichsten Eindrücke bleibt mir ein Mann, der mit einem Hunde zusammen an einem Karren zieht, nicht etwa wegen des Mannes, den ich nicht mehr bemitleide, nicht weniger verachte als mich, sondern wegen des Tieres, das da mit muss, bewältigt, gezwungen, um seine Würde gebracht, die Dasein heisst, hinlebendes, untätiges Dasein …

 

XXV

Was kann man seinen Kindern von der eigenen Kindheit sagen? Man kann sagen: ich bin auch so klein gewesen wie du, und meine Mama, deine liebe Grossmama, nennt mich heute noch ihren Hans. Und dann erzählt man Geschichten, wie sie die Kinder, die so gern Tatsachen vernehmen, am liebsten haben: dass man einmal etwas zerbrochen hatte und vor der Strafe bange war, oder dass man einen Hund besessen hat, der Bimbo hiess und ganz schwarz war und die Nacht durch weinte und wimmerte, so dass ihn der Papa, euer Grosspapa, der schon tot ist, am andern Tag unerbittlich fortschaffen und der Tante, die ihn zu Weihnachten geschenkt hatte, zurückgeben liess … Aber die Empfindung, die man von der eigenen Kindheit heute hat, und die Gefühle, die ihr, wie man heute meint, eigentümlich gewesen sind, die traumhafte Erinnerung und das ahnende Erleben, die kann man seinen Kindern ebensowenig vermitteln, wie man selbst teil hat an ihren innersten Gefühlen, die hinter den manchmal hell glänzenden und manchmal tief sinnenden Augen in ihnen verschlossen sind und unerforscht bleiben.


Druck von Mänicke und Jahn in Rudolstadt

 


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