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Von dieser letzten kurzen Fahrt nahm Janna nichts mehr wahr und ebensowenig von ihrer Ankunft im Gasthof, nicht einmal von dem Zimmer, in das sie geführt wurde. Vielleicht daß sie für einen Augenblick zu sich kam, um die grünen Vorhänge des Alkovens zu gewahren und darin die weißen, vom Schein einer Kerzenflamme freundlich beleuchteten Kissen. Bald darauf lag sie darin, schaudernd an ihrer Kühle und doch wohlig und nur nach Schlaf verlangend, setzte sich jedoch später wieder auf und sah nun wirklich eine große braune Tasse auf sich zuschweben, aus der es dampfte mit dem vertrauten süßlichen Kindheitsgeruch des Fliedertees. Den Dampf wegblasend, der in ihre empfindliche, verdickte Nase stieg, sagte sie heiser »Danke« zu dem derben apfelroten Gesicht der kleinen Magd, über dem die Zipfel ihres weißen Kopftuchs wie große Ohren abstanden.
Der Raum, in dem sie sich befand, war, wie sie jetzt sah, so groß, daß die einzige Kerze seine braun getäfelten Wände im Dunkel ließ. An der jenseitigen Wand standen noch zwei Betten mit spitz von oben fallenden dunkelgrünen Gehängen im Wechsel mit drei mächtigen, gegiebelten Schränken, die fast unter die Balkendecke reichten; an der anderen Wand standen ein Waschtisch und ihre Koffer; immerhin mußte dies der stattlichste Gasthof im Ort und dies sein Staatszimmer sein. Janna hörte in der Stille langer Minuten das Schlürfen ihrer eigenen Lippen, füllte ihr Inneres mit der flüssigen Glut und empfand sonst nur die Gnade, angelangt und trocken und warm aufgehoben zu sein. Sie leerte die Tasse und stellte sie auf den Nachttisch neben die Kerze, indem sie sich aus dem Bett herausbog, und im gleichen Augenblick wurde an die Tür geklopft.
Zu sehen war keine für sie, da sie im Alkoven lag und die Tür sich in der gleichen Wand befand. Sie streifte mit den Händen über das hochgeplusterte Federbett und zog es an sich, fand, daß sie ein Tuch über den Schultern hatte, und zog es vorn zusammen, griff nach ihrem Haar, fand es überall hin gesträubt und brauchte geraume Zeit, um es glatt nach hinten zu streichen. »Nun, es ist gleich«, murmelte sie und rief, als es zum zweitenmal klopfte, herein! heiser, und sie mußte lange danach husten und ihr Tuch an den Mund halten, während ein unsicherer Schritt hörbar wurde, dann eine männliche Gestalt im Raum erschien; und sie erkannte Hans Edlev, ihren Verlobten, in seiner schmalen Länge.
Er stand kerzengrade, und es war trotz des schwachen Lichts zu sehen, daß er nicht wie ein Prinz gekleidet war. Seine hohen Reitstiefel waren bis oben voll gelber Lehmspritzer, seine kurze Jacke schimmerte verschossen fahlblau, ein gelbes Tuch hing halb offen um seinen langen Hals, der steif grade den Kopf hielt mit schief sitzendem Federhut. Und dies ihr als sehr hübsch bekannte Gesicht war entstellt durch rote Flecke, wässerige Augenschlitze, und das blonde Haar klebte in seiner Stirn. So stand er, eine Hand fest auf den Magen drückend, und so bewegte er sich langsam vor und zurück, hob dann die Hand zum Hut, nahm ihn ab und schwenkte ihn so, daß er davonflog.
Endlich verbeugte er sich steif, machte nach dem Aufrichten einen unwillkürlichen Schritt – aber dabei versagte das andere Knie, knickte ein, und er drehte sich mit ausgestrecktem Bein einmal vollständig um sich selbst, doch mit einer tänzerischen Grazie und ganz still. Dann stand er wieder, mit dem Fuß aufstampfend, grade und fest.
»Pardon«, ließ er nun hören, »pardon! Oh, pardonnez mille fois, allerteuerste – verehrteste – Janna.«
Verstummend schüttelte er mit Bedauern seinen Kopf und gab die kaum noch nötige Erklärung seines Zustandes ab, indem er mit kleiner Stimme beinahe lieblich sang: »Leider – völlig betrunken.«
Jannas kurzes Auflachen, das sie dem folgen ließ, war eher ein Bellen zu nennen. Er horchte auf und lächelte selber begütigend. Und nun brachte er sich in Gang und bewegte sich näher heran, während Janna mit aufgestützten Händen im Bett zur Wand zurückwich.
»Tut mir sehr leid«, sprach er weiter. »Bedaure allerdings – ja. Zuviel – zuviel Mut angetrunken, als dieweil –« Er stammelte hilflos Erklärungen, aus denen hervorging, daß er seit einer Woche in Herford lag, um Janna zu erwarten und sich Mut anzutrinken. Sie roch den Bierdunst schon lange; ihre Lider hatten sich zusammengezogen, und sie sagte nun, da er still war: »Warum Mut?«
Ein verlegener Blick kam in seine Augen, er versuchte vergeblich zu lächeln, fing an zu stottern und sagte endlich, indem er sich wieder verbeugte:
»Erlaube mich vorzustellen: Hans Edlev – Markgraf.« Nach einer Pause setzte er hinzu: »Aus Schötmar.«
»Ja«, wiederholte er, »aus Schötmar. Mehr nicht. Bedaure wohl –«
Janna atmete auf; die dumpfe Betäubung, die der Keulenhieb in der Torstube bewirkt hatte, ließ nach unter dem Geständnis. Sie erwiderte nichts; ihr Inneres füllte sich nun mit wilder Empörung, Abscheu und Verzweiflung über sich selbst, so daß sie in ihrer Geschwächtheit nahe daran war, in Tränen der Wut auszubrechen. Indes machte er, unfähig zum Stehen, wieder einen Schritt vorwärts, stolperte, riß sich hoch und war nun dicht vor ihr, schwankend und mit einer Hand am Bettvorhang Halt suchend. Aus seinem Mund wölkte der Alkoholdunst so, daß ihr Gesicht sich verzerrte; und als jetzt das seine zu ihr hereinfuhr, kniete sie im Nu im Bett und hieb mit gesammelter Kraft hinein.
Sie sah noch die Wirkung – wie sein Gesicht, auf einmal blutlos weiß, stehenblieb mit sinnlos gewordenen Augen – ehe sie sich in die Kissen gleiten ließ, das Deckbett hochzog und sich zur Wand umdrehte. Eine Weile war Stille, dann der Laut seiner Schritte, die sich entfernten, langsam und mit einer unheimlichen Ruhe und Festigkeit; dann das Schließen der Tür. Im nächsten Augenblick hatte sie sich emporgeworfen und bis an die Rückwand des Bettes zurück und sagte mit flammenden Augen: »Du Schuft!« und weiter: »Du Schuft! Lump! Strauchdieb! Betrüger! Schuft! Lügner!« Sie zog ihre Knie in die Höhe und trommelte mit beiden Fäusten darauf, während ihre Augen überliefen, legte dann die Stirn darauf und schluchzte. Endlich warf sie sich wieder zur Wand herum, zog das Federbett über den Kopf und rührte sich nicht mehr.
Die Kerze brannte tiefer, träufte reichlich, brannte schief, flackerte endlich aus und erlosch, nur noch eine blaue, dunkle Flamme im Talgsee. Vielleicht merkte Janna nun doch, daß es finster geworden war, und drehte sich um, auf dem Rücken zu liegen, und blieb so, laut atmend und öfters hustend, in der Stille der landfremden Nacht. Erst gegen Morgen entschlief sie.
Janna hob ihren Kopf und öffnete mühsam ihre verklebten und schmerzenden Augenlider. Es war noch dunkel im Zimmer, von den Fenstern her kam kaum ein Schein. Sie hörte Schritte, beugte sich aus dem Bett und sah hinten im Raum einen ihrer Koffer schräg in der Luft schweben; Beine bewegten sich darunter, leise Tritte – und ebenso leise das Schließen der Tür. Ihre Koffer waren nicht mehr da, Janna lachte leer, warf sich dann wieder zur Wand herum und entschlief nun so fest, daß sie von dem mehrmaligen Kommen der Wirtsfrau nicht geweckt wurde. Sie schlief bis Mittag.
Als die Frau, die ihrem Gewerbe entsprechend behäbig und freundlich war, wieder erschien, bat Janna nur um neuen Tee; sie versuchte die Suppe, die ihr die gutherzige Person trotzdem brachte, zwang aber nicht mehr als drei Löffel hinunter. Dem Hans Edlev, der nach ihr gefragt hatte, ließ sie sagen, sie bleibe im Bett. Danach versuchte sie es weiter mit dem Heilmittel ihrer Kindheit, dem Schlaf, und es gelang ihr, mit Unterbrechungen bis zum anderen Morgen zu schlafen und jedenfalls kein Bewußtsein zu haben.
Beim Aufwachen fühlte sie sich zwar matt, aber nicht eigentlich krank, obwohl sie noch Fieber hatte, und, als sie aufstand, fest genug auf den Füßen. Wie sie aber in ihren kleinen Spiegel schaute – einen anderen gab es nicht –, erschrak sie vor dem, was sie sah, einem hochroten Gesicht voller Flecken, mit geröteten Lidern, und die halbmondförmigen Falten unter den Augen, die sie als junges Mädchen bekommen hatte – mit ganz zarten Runzeln in den äußeren Winkeln (von denen aber jemand ihr gesagt hatte, daß sie die Zartheit der übrigen Reize nur erhöhten) –, waren bläulich verschattet und vertieft. Indes – nachdem sie eine halbe Stunde erst mit Salbe, dann mit Puder die Verwüstung bearbeitet hatte, waren die Schäden ausgebessert und Stirn, Wangen und Kinn für einen kenntnislosen, also einen nicht-weiblichen Blick von natürlicher Rosigkeit. Der Glanz ihrer Augen war vom Fieber eher erhöht und zeigte ihr seine Wirkung auch unter dem Schatten der langen Wimpern, wenn sie die Lider senkte und zugleich lächelte – mit zwei schimmernden Schneidezähnen.
Inzwischen hatte Hans Edlev nach ihrem Befinden fragen lassen, und sie hatte zurückgesagt, daß sie gleich kommen werde. Doch es dauerte noch geraume Zeit, bis ihr Korsett neu geschnürt und das schwarze Trauerkleid mit seinen vielen kleinen Jettknöpfen geschlossen war, mit engem und hohem Kragen bis unter das Kinn und spitz zu den Ohren emporreichend. Ihr schwarzer Reisefilz war so verbeult und zerknittert – eines der Kinder hatte meistens darauf gesessen –, daß er nicht zu gebrauchen war; sie schlang ihr schwarzes Spitzentuch um den Kopf, und nachdem sie eine Locke links und rechts hervorgezupft hatte, das kleine Spitzendreieck über der Stirn in die richtige Tiefe gezogen und der gelungenen Vollendung die Bekrönung ihres Lächelns aufprobiert, fand sie sich bewaffnet genug, um vom Stuhl aufstehend zu sich zu sagen: Ja, nun werden wir sehn.
In der Zwischenzeit war an die Tür gepocht, und es pochte jetzt wieder. Janna zog ihren pelzgefütterten Mantel über und ging zur Tür, und als sie öffnete, stand der zu Erwartende draußen. Er verbeugte sich und erwiderte ihren unbefangenen Morgengruß, ohne die Augen zu erheben, mit der Frage, wohin er sie bringen dürfe?
Wohin? Janna war sekundenlang in einer Starre. Hatte er nicht ihre Koffer fortgeschafft? Und woandershin konnte er sie geschafft haben als nach Schötmar? Hatte er sich inzwischen anders besonnen? Wollte er ihre Verlobung –? Sollte sie jetzt ohne Koffer sein? Wohin konnte sie gehen? Erwartete er, daß sie antworten würde: Bring mich auf eine Wiese? Was für eine unsinnige Frage! Eine nichtswürdige Frage von ihm. – Und genug Fragen für Janna in zwei Sekunden.
Weibliche Wesen denken nicht wie männliche Wesen; besonders tun sie es nicht in ungewissen, schwebenden Situationen, in denen sie wissen, daß die Entscheidungen des Augenblicks aus ihrer Hand genommen sind. Sie berechnen nicht im voraus, sie bedürfen nicht eines sichtbaren Weges vor sich, sie machen ihren Weg selber, indem sie gehen; sie bedürfen keiner Fakten, keines klaren Bewußtseins, keiner Verstandesstützen, besonders nicht, wenn sie einem Mann entgegentreten. Denn so ungenau sie sich selbst kennen mögen, so genau kennen sie seine Art – und ihre eigene Art, die von der seinen in allem das Gegenteil ist und – wenn sie nur wollen – so, daß vor einer kleinwinzigen Äußerung alle seine Vorausberechnungen über den Haufen fallen. Das gibt ihnen die Sicherheit, um sich in jedem Augenblick zu fügen – ohne im geringsten dadurch gebunden zu werden.
Wenn daher Janna jetzt mit einem neuen Lächeln ihrer Unbefangenheit als Antwort die Frage gab: »Mein Gepäck ist schon fort?«, in gewisser Erwartung dieser Bejahung, so tat sie es nur, um erwidern zu können: »So folge ich meinen Koffern.«
Das hieß aber für sie: Seht alle her, ich gehe den Weg, der mir vorgeschrieben wird! Trotzdem gehe ich meinen eigenen Weg, den niemand weiß außer mir. Natürlich hatte sie nichts vor sich gesehen als Schötmar. Denn um das Ränkespiel, das sie im Sinn hatte, mit ihm zu treiben, mußte sie ihn bei der Hand haben. Einen Anfangserfolg konnte sie bereits beim Hinabsteigen auf der breiten Treppe buchen; denn er hatte zwar ihren Anblick mit gesenkten Augen vermieden, aber als er jetzt sittegemäß ein wenig hinter ihr war, konnte sie mit jeder leisen Wendung des Kopfes – ja auch ohne das – wahrnehmen, daß ihre Erscheinung bereits wieder ihre Wirkung getan hatte, wenn auch auf seinem Gesicht zu lesen stand, daß er vor Tücke außer sich war. Es war sehr blaß, noch schmaler als sonst, der eingekniffene Mund nur ein Strich. Doch war er sorgfältig rasiert und gepudert, die Schnurrbartenden standen emporgedreht, und das lange, von der Stirn nach hinten gestrichene Haar war gekräuselt und duftete nach Lavendelöl. Er hatte aber höflicherweise nicht unterlassen, sich nach ihrer Gesundheit zu erkundigen, und die kleine Decke und die Tasche, die sie über dem Arm hängen hatte, ihr abzunehmen.
Es war nicht ihr eigener Wagen, auf dem Janna nun über die Landstraße rollte, aber sie hatte nach dem nicht gefragt. Dies Gefährt, dem ein Paar schwarzbraune, zottige Pferdchen vorgespannt waren, war zumindest so alt wie das Jahrhundert, in seinem dreiundfünfzigsten Jahr; seine untere Hälfte war die einer Kutsche, aber so flach, daß Janna entweder mit von sich gestreckten Beinen oder mit hochgezogenen Knien sitzen mußte, war gelb gestrichen und mit Blumengirlanden bemalt, von denen freilich nur noch Reste erkennbar waren. Vier gewundene, einst vergoldet gewesene Säulen auf den Ecken trugen einen Baldachin, der innen mit verschossenem blauem Stoff faltig bespannt war und von dem an allen vier Seiten blaue Vorhänge herabhingen.
Im blauen Dämmer dieser Vorhänge, mit spitzen Knien auf dem alten riechenden Polster sitzend und sich links und rechts bei dem Stoßen und Schütteln festhaltend, fuhr sie dahin, und sie konnte, wenn die Pferde rascher liefen und die Vorhänge im Luftzug wehten – sie rührte, da sie einmal geschlossen waren, keine Hand, um sie aufzuziehn –, draußen nur dichten weißen Nebel und Schatten von Bäumen erkennen. Daß es an der rechten Seite immer wieder die armlosen Rümpfe von Kopfweiden und ihre schon kahlen Ruten waren, konnte ihr anzeigen, daß ein Gewässer die Straße begleitete; zur Linken schien Wald zu sein. In der Tat folgte die Straße den Windungen des kleinen Flusses Bega. Immer wieder ging es bergauf und bergab.
Einmal wurde der Schritt eines Pferdes hinter dem Wagen laut, und Janna war neugierig genug, um den Vorhang hinter sich aufzuheben; sie sah einen hochbeinigen Rotfuchs mit weißen Füßen, und oben darauf saß anscheinend Hans Edlev – also war er nicht mehr auf dem Bock? Sie hatte keinen Kutscher gesehn.
Janna wußte nicht, wie lange sie gefahren sein mochte, als sie in ihrem Mantel zu glühen begann und ihr schwindlig wurde. Sie hätte um keinen Preis gerufen und um Anhalten gebeten; sie verließ statt dessen den Wagen. Es war nicht schwer zu bewerkstelligen, denn er fuhr eben auf das langsamste bergan. Der Lehm der Straße war vom Regen ein Brei; sie versank mit dem einen Schuh, erreichte aber die Böschung mit einem Sprung und trat auf einen Hang hinauf, über dem hohe Tannen standen. Der Wagen fuhr weiter und verschwand bald über ihr im Nebel. Die Luft war warm, sie legte ihren Mantel ab und auf den begrasten Boden und setzte sich darauf. Allmählich ließ das Schwindelgefühl nach, sie zog ihren lehmüberzogenen Schuh aus und wollte ihn eben im Grase säubern, als sie abermals Hufschlag hörte und ihn rasch wieder überzog. Das rote, weißfüßige Pferd tauchte tiefer unten im Nebel auf, aber der Reiter hatte statt Hans Edlevs blauer Jacke eine aus Wolfsfell. Seine Züge waren Hans Edlevs, die gleiche niedere und zurückfliehende Stirn, das kleine, runde Kinn, die kleine und zarte Nase; aber der Blick der Augen, der sie jetzt traf, war der eines Fremden, war gesammelter, fester und innerlicher, ohne Hochmut, und alles übrige war feiner, zarter, obwohl nicht ohne den Wert für Janna, die Männlichkeit. An der Stelle der aufgedrehten Bartspitzen über den Mundwinkeln lag nur eine leichte blonde Welle.
Er stieg sofort aus dem Sattel, führte sein Pferd auf den Rasen des Hangs und ließ es stehen. Im Herankommen lächelte er zuerst, wurde dann ernst, hielt an, verneigte sich zu der gebührenden Tiefe, sprach sie an mit »Miß duCoeur« und präsentierte sich als Ludwig Markgraf, ihren Diener. Ihre Verwunderung bemerkend, sagte er dann leicht lächelnd: »Wußtet Ihr auch nicht von mir?«
Sie schüttelte den Kopf, lächelte aber und bemerkte, es habe nichts zu sagen – als Antwort auf sein »auch«. Es gab freilich Zwillinge überall in der Welt, aber die Zeit, wo sie mit zwei weiblichen nach London gefahren war, lag jetzt sehr weit hinter Janna. Wie er nahe vor ihr stand, in der besten Haltung, sahen sie sich eine Weile an und gefielen einander. Dann lud sie ihn ein, sich zu setzen – ihr sei schlecht geworden im Wagen – und gab ihm ihre Decke, da das Gras noch feucht war. Wie er dann ein wenig hinter ihr saß, war er Hans Edlevs veredeltes Spiegelbild, und die Klammer, die um ihr Inneres gespannt war, fing an sich zu lockern.
Es sei nur mehr eine Stunde bis Schötmar, sagte er, bis zum Dorf; der Hof liege dann noch ein kleines Stück weiter.
Es ging auf Mittag; ein leises Wehen hatte sich erhoben, ließ den Nebel steigen und wieder sinken und sich da und dort sanft zerteilen. Die braungelbe Decke des Flüßchens erschien zwischen den Uferbüschen und Binsen, hohe Eschenbäume schimmerten auf dem anderen Ufer, und ferner wurde flaches braunes Ackerland, Wiesen und Baumgruppen im Nebel sichtbar.
Es sei vielleicht gut, hörte sie ihn sagen, daß sie ihn hier getroffen habe. Sein Bruder habe ein großes Unrecht an ihr begangen, aber sie würde ihm wohl erlauben, seinen Fürsprecher zu machen, und es sei am Ende nicht irreparabel.
Janna versetzte, den Kopf erhoben, mit steifem Gesicht, sie fürchte, das sei es nun doch; es habe nun eine andere Wendung genommen. Da er erwiderte, er habe seinem Bruder etwas Besonderes angemerkt, und mit Besorgnis danach fragte, berichtete sie ihm mit ein paar Sätzen das Vorgefallene, und er sagte bestürzt:
»Das ist hart. Kein Mann in der Welt läßt sich schlagen, und wenn einer doch, nicht er. Wer ihn schlägt, zerschlägt all sein Gutes. Jedenfalls ist er nun überzeugt, mit Euch quitt zu sein.«
»Wie redet Ihr?« unterbrach sie ihn. »Ich sprach von seinem Zustand, Ihr sprecht von meinem Schlage.«
»Ach ja«, sagte er, »das letzte Übel ist immer das bleibende Übel.«
Janna versetzte: »Und er hat meine Koffer genommen«, indem sie das Wort »gestohlen« noch rechtzeitig verschluckte. »Und nun fährt er mit leerem Wagen«, sagte er lachend, »warum seid Ihr eingestiegen?« »Ich folgte meinen Koffern«, sagte sie obenhin, nicht ahnend, daß das für einen Mann keine Antwort war, und er blieb still.
Als er nach einer Weile fragte, ob sie ihm erlauben wolle, ihr zu erklären, zu wem sie hier gekommen sei, gab sie zunächst keine Antwort. Die Luft wurde wärmer, die Sonne schimmerte durch den Nebel, Janna wurde in ihrem leichten Fieber das Kopftuch zu warm. Sie löste es ab, breitete das schwarze Dreieck über ihren Schoß und begann, es zu einem Bande zusammenzufalten. Dann strich sie ihr Haar zurück, legte das Band im Nacken darunter, dann über den Kopf, kreuzweis oben und wieder nach unten zurück, wo sie es verknüpfte. Sie zog und drückte die Locken links und rechts und oben zurecht und tat, damit noch beschäftigt, die Frage:
»Nun, und was seid Ihr für Leute?«
Es klang mehr von oben herab, als sie wollte, und sie wandte sich daher nach ihm um und sah ihn daliegen, auf einen Arm gestützt, die Augen mit einem feinen Lächeln auf sie gerichtet.
»Haar von Gold übergossen«, sagte er. »Ich sehe, Ihr versteht es.«
»Was verstehe ich?« lächelte Janna.
»Süß zu sein – trotz eines bitteren Herzens.«
Sie erwiderte: »Danke schön!« Und er: »Ich habe zu danken.«
Nach einer Weile fing er dann an und sagte:
»Was wir für Leute sind? Ja – wir sind Maranos.«
Janna fragte: »Was ist das?«
»Getaufte Juden. Aus Portugal.«
Sie blickte ihn ungläubig an, lachte dann und meinte, sie habe in Hamburg Juden genug gesehn, doch die sähen nicht aus wie er.
Auch er lachte und sagte, er wisse, er und Edlev sähen wie Markgrafen aus, seien oft genug dafür gehalten, und das ganze Unglück rühre daher.
»In Rinteln«, sagte er, »als wir studierten – die Menschen waren immer enttäuscht, wenn wir nicht echt sein wollten, und sagten, andere Grafen sähen selten so aus.«
Wenn nichts andres bisher, so war die Handbewegung und der Ausdruck bei seinen letzten Worten Zeugnis für die Vornehmheit seines Wesens. Ein Schein davon hatte auch seinem Bruder nicht gefehlt; was dem fehlte, wurde erst sichtbar durch diesen.
Maranos, erklärte er, seien Juden in Spanien und Portugal genannt, auch Mauren, die gezwungen wurden, die Taufe zu nehmen. Die es nicht taten, wurden zum Teil hingerichtet, zum Teil vertrieben; die es taten, wurden zum Teil echte Christen und kamen oft zu hohen Ämtern und Würden, auch in der Kirche; ein Teil aber blieb insgeheim ihrem Glauben treu, und sie wurden, wenn ihr Geheimnis an das Licht kam, auch entweder getötet oder verbannt, wofern sie nicht rechtzeitig flüchteten – nach Holland, Frankreich, Deutschland. So war Ludwigs Großvater über Holland nach Emden am Dollart gekommen.
»Ob er Christ geworden ist, weiß ich nicht, doch er nahm eine Christin zur Frau, und so tat auch sein Sohn.« Janna unterbrach ihn hier, indem sie vorschlug, statt »getaufte Juden« »jüdische Christen« zu sagen, was er ihr bewilligte, wenn es sie erleichtere. Hieran knüpfte sich ein kleines Gespräch über ihr eignes Bekenntnis; aber Janna war lutherisch getauft und geblieben; in England hatte sie sich nur zum Volk, aber nicht zum Puritanismus bekannt.
Das Gewerbe seines Großvaters, fuhr Ludwig fort, war das des Waffenschmieds. Er war sehr kunstreich. Der Krieg verhalf ihm zu Vermögen, er lieferte Panzer, Helme, Schwerter und Hellebarden an alle Armeen, später stellte er auch Schußwaffen her, auch Monturen, Stiefel und Koller, er beschäftigte Gerber, Lederer, Schneider, war dann nur noch Händler und wurde ein sehr reicher Mann.
Ludwig hielt einen Augenblick inne und sagte, Janna möchte ihm zugute halten, daß er das erzähle. »Aber nachdem wir Euch um eine Markgrafschaft betrogen haben, sollt Ihr doch sehn, daß wir nicht kleine Leute gewesen sind. Wir haben keine Generalleutnants, aber einen Statthalter und einen Kardinal unter unsern Verwandten in Portugal. Jetzt sind wir freilich im Unglück, und ich komme vom Guten zum Schlimmen.
Mein Vater«, fuhr er fort, »ist von allem das Gegenteil geworden. Ich glaube, er ist all sein Lebtag nur fromm gewesen. Er wollte Gottesgelehrsamkeit studieren; wäre er nicht lutherisch gewesen, so wäre er Mönch geworden. Aber sein Vater ließ es nicht zu und zwang ihn zum Handelsgeschäft. Als er einmal nach Bremen zu reisen hatte, lernte er dort unsere Mutter kennen, und er hat es durchgesetzt, daß er sie bekam; sie war eines Stadtpfeifers Tochter und besaß nichts als ihre Kleider und« – er hielt inne – »sehr schönes Haar.
Der Großvater starb – sehr alt. Nun verkauften unsere Eltern alles. Vater sagte: Der Mensch darf nicht Händler sein, und sie zogen mit uns nach Herford, ich kann nicht sagen, warum. Vater sieht von der Welt nur wenig; er lebt in Büchern und Schriften, besonders solchen von der mystischen Art, und zumal seit er gelähmt ist.«
Janna fragte, da er innehielt, ob er schon lange gelähmt sei, und erhielt die Antwort: seit vier Jahren.
»Unsere Mutter – es ist kein Fehler an einer Mutter, außer bei ihr, daß sie in ihre Söhne zu sehr verliebt ist und von jeher gemeint hat, sie sähen wie Prinzen aus, und gewollt hat, daß sie es würden. Auf dem Wege hat sie uns denn alle in das Unglück gestürzt, das ich Euch nun offenbaren muß.
Sie geriet an einen Mann, den Sekretär eines Freiherrn in der Gegend von Rinteln, der sich auf Reisen befand. Es war ein großer, erlesener Betrug. Er hatte sich mit dem Verwalter des Freiherrn zusammengetan, Vollmachten kunstvoll gefälscht, und sie verkauften meinen Eltern das ganze Besitztum, zwei Schlösser, sechs Dörfer, Weiler und Meiler, Waldungen, Acker, Weideland – eine riesige Menge. Die Eltern gaben dafür ihr Vermögen, ohne noch den vollen Kaufpreis zu zahlen. Der Rest sollte als Hypothek stehenbleiben, viel hätte sich auch wieder verkaufen lassen, damals, nach dem Frieden. Heute kauft niemand mehr etwas.
Die zwei Gauner waren über alle Berge, sobald die Eltern gezahlt hatten, dann kehrte der Freiherr zurück. Schließlich verblieb uns ein Gut, das dem Sekretär zu eigen gehört hatte; nach einem Prozeß von drei Jahren ist es uns endlich zugesprochen, aber wir leben dort schon seit damals.
Mein Bruder und ich – wir waren Studenten in Rinteln, wir erfuhren von alledem wenig. Da rief Mutter uns heim, fast kein Geld war mehr da, der Rest durfte nicht ausgegeben werden, es blieb nichts übrig, als das Gut zu bewirtschaften. Der Donopshof heißt es. Nun sollten wir Bauern sein, hinter dem Pflug gehen, Vieh füttern, säen – die wir davon nichts verstanden. Es war uns aber recht, und wir gaben uns Mühe.
Edlev besonders, seit er Euer Verlobter ist. Ich will nichts beschönigen, er mag auf Eure Erbschaft gerechnet haben, obwohl er von der erst nicht wußte.
Wir sind kräftiger, als wir aussehen, Edlev ist noch zäher als ich – unverwüstlich, er hat wie ein Ochs geschuftet in den Jahren, wo Ihr nicht wiederkamt. Aber vorher hat er diesen Anfall gehabt – daß er es plötzlich nicht aushalten konnte und erklärte, er wolle fort und Soldat werden. Mutter bekam eine kleine Hypothek auf das Haus in Herford, das wir noch haben, und gab ihm von ihrem Schmuck, so daß es für eine Kompanie reichte. So ist er nach Lüneburg gekommen – und wiedergekommen als Euer Verlobter.«
Ludwig lachte. »Er brachte mehr Geld zurück, als er mitgenommen hatte. Ausgegeben hatte er nichts als für ein schönes Pferd und die standesgemäße Kleidung, hat überall als Gast der Barone gelebt und in Hamburg so viel im Spiel gewonnen, daß er Euch Geschenke machen konnte und noch übrigbehalten.
Er hat uns alles eingestanden, der Mutter und mir, als er zurückkam. Er sagte, daß er es zwar geplant habe, aber nichts dazu getan, als im besten Gasthof abzusteigen und sich einzuschreiben als Hans Edlev Markgraf von Schötmar; und da war er's. Aber unser Vater weiß nichts; für ihn wäre das ungut zu hören.«
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Für Janna war es schön gewesen, während sie dem Erzähler lauschte, den Nebel über der Natur sich lösen zu sehen, ein zartes Gespinst nach dem andern sich weghebend, so daß sie in ihrer kräftigen, herbstreifen Süße erschien – der blanke, nun goldschimmernde Fluß, das tiefe Grün der Wiesen, goldbraune Felder der Binsen am Ufer, das rote Braun von Äckern und die bunten Oktoberfarben der fernen Wäldchen im Duft; und zur Linken eine unendliche Fernsicht in ein stilles goldenes, elysisches Land, das in zärtlichen Wellen spielte. Die Sonne stieg noch, doch Mittag war längst vorüber.
Sie fühlte sich schwach, jedoch in einer wohligen Schwäche, der sie sich gern überließ. Die nüchterne Art, mit der er gesprochen hatte, hatte sie ebenso zufriedengestellt und überzeugt wie der Ton der Echtheit aus seinem ganzen Wesen; und er hatte nur von seiner Mutter sprechen müssen, um ihr Herz zu Mitgefühl und Sorge, wo nicht zu Tränen zu bewegen.
Er stand jetzt auf, ging zu seinem Pferd hinunter und kam zurück, die Taschen voll roter Äpfel und grüner Birnen, die er ihr anbot. Sie nahm einen Apfel, indem sie sagte: »Eure Mutter würde ich gern sehn.«
Er erwiderte nichts, doch war das die beste Antwort. Ihren Apfel mit den Händen umschließend, sagte sie nach einer Weile:
»Das war sehr schön gesagt: Süß zu sein, trotz eines bitteren Herzens.«
Er erwiderte ihr auch jetzt nur mit dem ernsthaften Ausdruck, der ihr anzeigte, daß auch er das »süß« jetzt nicht auf ihr Haar und ihr Lächeln bezog, sondern auf innere Dinge.
»Wir haben«, fing er gleich darauf wieder an, während Janna in ihren Apfel biß, »wir haben zu wenig Knechte, zu wenig Gespanne, zu schlechtes Gerät. Noch immer ist neues kaum zu bekommen, und das Flicken und Ausbessern nimmt einmal ein Ende. Trotzdem sind wir vorwärtsgekommen; und wir wären noch besser daran – wären nicht diese Krippenreiter, die vermaledeiten, die alles wegfressen.«
Auf ihre Frage nach dem unverständlichen Wort erklärte er, es seien heruntergekommene Adlige, die so genannt würden, weil sie von Krippe zu Krippe ritten, von Gutshof zu Gutshof, wo es noch Fleisch und Wein gab, und ihre eignen verfallen ließen. Sie waren durch den Krieg oder eigene Schuld verelendet, konnten oder mochten sich nicht aufraffen. Sie taten sich truppweis zusammen und fielen ein wie die Heuschrecken, titulierten den Wohlhabenden »Herr Bruder«, soffen Blutsbrüderschaft mit ihm – dann konnte er sich nicht mehr wehren.
Hans Edlev war leider auch erst stolz auf die Ehre, die sie ihm antaten. »Nun, seit Euer Kommen bevorsteht, schwebt er in heilloser Angst. Denn die schrecken vor nichts zurück. Euer Geld hat er nach Lemgo gefahren, damit Ihr es wißt. Er ist ja selbst so etwas von einem Spieler, hat auch immer Glück gehabt, aber Glück hilft nicht gegen Falschspiel. Und dann seid Ihr selbst –« Er verstummte, setzte aber dann hinzu, sie würde doch wohl kaum kommen, nun da sie alles wisse.
Janna stand plötzlich auf. Der halbe Apfel, den sie gegessen, hatte nicht gutgetan, sie glühte wieder von Fieber, und als sie stand, drehte die Landschaft sich im Kreise. Eine Unzahl von Bildern begann ihr vorbeizufliegen – die Reise, das Grab ihrer Mutter, die Gesichter in Hamburg, das Schiff voller Segel im Abendrot, London … aber von dort ging es nicht weiter in der Zeit zurück, sondern alles zerriß vor ihren Augen, und sie sah in einer Dunkelheit ein weißes Tuch auf dem Boden liegen, aus einer Hand gefallen. Mit dem Fall hatte es angefangen; damit war ihr Leben in eine Bewegung geraten, die unaufhaltsam, als ob ein Geschehen immer ein anderes anstieße, sie willenlos mit sich zog. Sie wollte sich jetzt empören, aber ein Frostschauer überlief sie, die Welt um sie her wurde kalt und klar, sie sah sich an dem Abhang stehen und dachte: Wie geht es jetzt weiter? Sie war ein paar Schritte hinaufgegangen, wandte sich nun zurück und bat um ihren Mantel, ließ ihn sich über die Schultern hängen, die ihr gewohnte männliche Dienstleistung stärkte unbewußt ihre Haltung, und sie lächelte, als sie die Besorgnis in seinem Gesicht sah; als sie aber etwas sagen wollte, bekam sie einen Hustenanfall, der sie minutenlang schüttelte. »Mir scheint«, sagte sie etwas kläglich, »ich habe mich erkältet«, und ließ es zu, daß er sie unter dem Arm faßte und stützte, sie wäre sonst umgesunken. Erst als sie spürte, daß es seine Brust war, an der ihr Haar sich zusammendrückte, konnte sie sich zusammenraffen, doch wußte sie kaum, wie kindlich der Ausdruck ihres Gesichts war, mit dem sie zu ihm aufsah und sagte:
»Ich weiß gar nicht mehr, warum ich hier bin. Ich weiß gar nicht mehr, was ich hier will.«
Er blieb respektvoll still; sie aber wußte es wieder. Süß zu sein mit bitterem Herzen – ja, diesem Mann, der sie betrogen hatte, dem wollte sie – wollte sie es heimzahlen; heimzahlen – ja, auf ihre Weise …
Sie trat von seinem Bruder zurück und sagte mit spröder Kühle:
»Ich bin noch mit Edlev nicht fertig. Und nach Hamburg gehe ich nicht zurück – alles ist nicht so einfach. Nein, ich geh nicht zurück, ich geh nicht zurück – nie im Leben. Es ist alles sehr schön, was Ihr sagt – ich meine, es ist sehr traurig – besonders für Eure Mutter –« Ihre Lippen, ihr Kinn fingen an zu zittern, sie half sich darüber hinweg, indem sie dem Mann vor ihr einen zornigen Blick zuwarf, den er jedoch ruhig auffing, um dann zu sagen:
»Ich bin nicht verantwortlich. Nicht für ihn noch Euer Hiersein.« Danach lächelte er mit männlicher Überlegenheit und sagte: »Geht Ihr immer nur vorwärts, so geht's hier zum Donopshof.« Er setzte hinzu, da sie nicht gleich eine Antwort fand: »Meine Eltern erwarten mit Spannung die englische Schwiegertochter.«
Janna blitzte ihn an. »Gewiß, ich werde kommen, aber Ihr wißt nicht« – O Lord, dachte sie, would only this man not be so pleasant! – Damit setzte sie sich in Bewegung, ihre kleinen Füße heftig vorwerfend. Er nahm das Tuch auf, auf dem er gesessen hatte, und legte es zusammen, während er ihr nachging, aber sie kam nicht weit, stolperte über eine Wurzel und wäre fast gefallen; dann mußte sie niesen, husten und lange ihr Taschentuch brauchen und war den Tränen wieder so nahe, daß sie sich umdrehte und sagte:
»Einen geschlagenen Mann heiratet man nicht – wißt Ihr's?«
Nun hatte sie den Triumph, ihn aus allen Wolken fallen zu sehn, ohne freilich zu ahnen, daß es andere Gründe hatte, als sie glaubte. Nach einigen Sekunden versetzte er mit Höflichkeit, es dürfte dann doch wohl besser sein, daß er sie woanders hinbringe.
»Und meine Koffer?« rief sie, »mein Wagen, meine Kleider?« ihr Tuch an die Nase drückend.
Er antwortete, daß sie sich darauf verlassen dürfe, alles würde ihr zugesandt werden. Er wisse allerdings nicht, wohin sie jetzt gehen könne; in Schötmar gebe es keinen Gasthof. Dann besann er sich und sagte, ihm falle ein, er könne sie im Dorf zu guten Leuten bringen, die sie gern aufnehmen würden – der Pfarrer und seine Frau. Er fragte sie, ob sie noch ein Stück gehen könne, es stehe bald eine Scheune am Weg, dort könne sie ruhen und warten, während er einen Wagen bringe. Schließlich bat er um Erlaubnis, sein Pferd holen zu dürfen.
Janna ging langsam weiter, ihre Schläfen brannten wie Feuer, die sinkende Sonne vor ihr blendete so, daß sie kaum sah, wo sie ging, doch kam sie langsam die Steigung der Straße hinan und blieb oben stehen, um Atem zu schöpfen. Da sah sie zu ihrer Linken, wo der Wald zurücktrat, in einer grünen, schattigen Senke den Wagen mit den blauen Vorhängen stehen; die ausgespannten dunklen Pferdchen grasten da still vor sich hin; und da lag auch weiter hinten dieser Hans Edlev auf einer Decke, die Hände unter dem Kopf.
Sie trat, um nicht von ihm gesehen zu werden, unter das Strauchwerk neben ihr; gleich darauf kam Ludwig, sein Pferd am Zügel, und sie sagte ihm, was sie gesehen hatte. Edlev hatte also bemerkt, daß sie aus dem Wagen gestiegen war. Ja, versetzte er, und sie habe nicht bemerkt, daß er zurückgekommen sei und sie mit ihm selbst habe sitzen sehn. Er wolle ihm nun Bescheid sagen, und daß er den Eltern melde, sie wäre krank – wenn ihr das lieb sei.
Eine Viertelstunde später saß Janna im Wagen und fuhr den Weg weiter, den sie unterbrochen hatte.
Die Erschöpfung fiel über Janna, sobald sie im Wagen saß; sie hatte nur einen gebrechlichen Körper zu ihrer Verfügung, wenn der auch in den englischen Jahren gestärkt war; sie war krank, und diese Fahrt durch den Lehm, der voller Steine in allen Größen steckte, wäre mit ihren ununterbrochenen Rucken und Stößen für eine gesunde Person anstrengend gewesen. Sie wußte bald nicht mehr, wie sie sitzen sollte, wechselte unaufhörlich, zog sich schließlich liegend auf dem Rücksitz zusammen, die Knie unter dem Kleid angezogen, den Kopf auf ihrer zusammengedrückten Decke, und fing trotz des Rüttelns an einzudämmern, während es dunkel wurde.
Sie schreckte auf, als der Wagen stillstand, und teilte den Vorhang neben sich. Draußen war es wie drinnen Nacht, aber ein Lichtschein flimmerte unfern grade vor ihr. Sie erkannte einen Heckengang, der von der Straße fort auf ein kleines Haus zuführte; über seinem schwarzen Umriß funkelten Sterne, und ein Fenster war rötlich hell.
Im Heckengang kamen zwei dunkle Gestalten in weiten Mänteln. Die größere trug eine brennende Laterne, deren schwankender Schein das dürre Laubwerk des Ganges schimmern ließ. Auf einmal strauchelte die kleinere Gestalt und fiel gegen die andre, so daß die Laterne fortflog und erlosch. Die sonore Stimme eines Mannes sagte im Finstern: »Aber Kassiopeja.«
Der gestirnte Name tönte sonderbar in der Nachtstille; ihm folgte leises Gelächter und ein Wortwechsel. Jemand stand dicht vor Janna – Ludwig Markgraf, der vom Bock gestiegen war und ihr zuflüsterte: sie seien es schon, der Pfarrer und seine Frau, aber sie wohnten hier nicht; doch wären sie nun gleich in Schötmar.
Im Heckengang klang jetzt Stahl auf Stein, rote Funken sprühten, dann breitete sich wieder Lichtschein aus. Es folgte ein halblautes Wechselgespräch zwischen Ludwig und dem Ehepaar, und sie kamen zum Wagen. Janna stieg heraus, aber ihre Beine waren so steif geworden, daß die Füße versagten und sie der kleineren Gestalt in die Arme fiel. Im Schein der Laterne, die der Pfarrer hochhielt, sah sie ein seltsam kleines, braunes, verwittertes Frauengesicht, aus dem aber Augen glänzten, nicht groß, doch hell wie Kristall – und mit einem Schein tiefer mütterlicher Güte. Janna stammelte etwas, ließ sich wieder in das Gefährt helfen, auch die Frau stieg ein und saß ihr gegenüber. Die Pferde zogen an; bald warf ein heftiger Stoß Janna vornüber und in den Schoß der Frau. Und da blieb sie im Dunkel liegen und brach endlich in verzweifelte Tränen aus.
Janna lag danach mehrere Tage in hohem Fieber und fast ohne Bewußtsein und blieb noch einige Tage so kraftlos, daß sie nur wenig wahrnahm; nur die Pfarrerin und die Magd und die buntgeblümten, zeltartig von oben fallenden Vorhänge ihres Bettes, die – wenn die Sonne in das Zimmer schien – lieblich durchsichtig schimmerten.
Eines Morgens fühlte sie sich wieder bei Kräften, setzte sich auf und schlug den Vorhang zur Seite. Der Raum war klein und schmal. Das Bett stand im Winkel gleich neben der Tür; ein alter, schlechter Schrank war da und in der Mitte ein Tisch; unter ihm hindurch sah Janna das Fenster, das dicht über dem Fußboden war, mit seinen gelblichen runden, in Bleiringe gefaßten Scheiben. Das Zimmerchen mußte unter dem Dach des Hauses liegen, denn die blaßblau getünchten Wände waren oben abgeschrägt gegen die Decke.
Janna verließ ihr Bett und kam auf noch unsicheren Füßen, am Tisch sich stützend, zum Fenster hin, kniete nieder und zog seine Flügel nach innen. Kräftiger Herbstatem strömte mit dem Geruch von Äpfeln herein. Alles war rundum grün von dichten Laubwipfeln; darüber erhob sich ein riesiger alter Birnbaum, voll hängend von Büscheln kleiner und gelber Früchte.
Lärm von Kindern war schon lange in Jannas Ohren; als sie jetzt in die Tiefe blickte, hatte sie ein höchst bewegtes Schauspiel auf dem Rasen zu ihren Füßen. Kinder waren da wohl zehn – und in jedem Alter zwischen zwei und zwölf – um ein weißgraues Maultier in munterem Betrieb, das da mitten im Grünen stand, wo rote Äpfel umherlagen. Knickbeinig stand dies anscheinend schon hochbetagte Tier, mit eingesunkenem Rücken und hängendem Bauch, einen Sack über den Kopf gezogen – wohl um es am Weggehn zu hindern. An seine Seite war eine Leiter gelehnt, und die Kinderschar – meist nur im Hemde – hatte ein unaufhörliches Vergnügen, die Leiter hinaufzusteigen und von dem geduldigen Rücken jenseits ins Gras zu springen, nicht ohne einen gellenden Juhschrei. Die älteren Jungen konnten schon freihändig hinauf, und einer produzierte sich als Hanswurst, mit einer spitzen Papiertüte auf dem Kopf und die Knie nach außen drückend, die Hände in die Seiten gestemmt. Die kleineren Mätze wackelten nur im Grase herum, schrien und lachten, während die andern, kaum hinuntergeplumpst und sich überkugelnd, herumrannten, um wieder hochzuklettern. In den grünen Laubgewölben glänzten die blanken Früchte; unten standen flache Körbe gehäuft voll roter und gelber Berge, und die sanfte Oktobersonne besprenkelte den Grasboden mit Goldflecken.
Aber auf einmal ein gellender Pfiff; das ganze Kinderpack sah stillhaltend nach rechts, Janna beugte sich vor. Dort stand ein Schuppen aus braunem Holz, und in seinem Fenster waren Brust und Kopf eines feuerhaarigen Jungen zu sehn, dessen Gesicht braun war von Sommersprossen. Er grinste, schielte und schnitt Grimassen, und auf einmal hielt er einen langen nackten Männerarm zum Fenster hinaus, während er selbst unten verschwand. Die Kinderschar jauchzte auf und stürmte zu dem Schuppen hin; bald kamen sie wieder zurück und hockten und knieten im Kreis um den Arm im Grase. Sie waren still, zeigten und tupften mit Fingern auf diese und jene Stelle und unterhielten sich auf lateinisch.
Es dauerte aber nicht lange, so ertönte wieder ein Pfiff, und aufheulend stob alles unter die Bäume davon, so daß auch das Maultier erschrak und zur Seite sprang, die Leiter fallen lassend, und den Kopf heftig auf und nieder warf, um den Sack loszuwerden. Unter Janna kam die kleine Gestalt der Pfarrerin aus dem Haus hervor, ein blaues Tuch um den Kopf mit hochstehenden Zipfeln. Im Grase war außer dem Arm nur ein Zweijähriges zurückgeblieben, das, auf seinen fetten, rotgepolsterten Schenkeln sitzend und selig krähend, sein Gesicht und Hemd zu der Mutter emporhob. Die nahm es auf den Arm, und wie sie es tanzen ließ und sich selbst dabei drehte, streifte ihr Blick zu Jannas Fenster hinauf. Sie winkte erst lachend, drohte dann mit dem Finger und rief:
»Subito! Subitissime! In lectum!« Das heißt: »Stracks! Am stracksten! Ins Bett!«
Hier sprach anscheinend alles Lateinisch.
Die Pfarrerin sprach auch Hochdeutsch, doch ungern, da sie das Plattdeutsche gewohnt war. Die Sprache der gelehrten Welt war noch immer das Lateinische, wie die der Vornehmen Französisch war; doch war es bei diesen Modemanier, während das Latein zwischen deutschen, französischen, englischen, italienischen Gelehrten das geeignete Verständigungsmittel bildete. Aber Hochdeutsch war keineswegs Allgemeingut, und ebenso wie das Volk redeten auch Kaiser und Könige ihre Mundart. Kassiopeja Deuterlein schätzte es nicht; es war ihr zu matt gegen Plattdeutsch und zu unpräzis gegen Latein. Und da Janna es verstand, so erzählte sie ihre Geschichte, auf Jannas Bett sitzend, in dieser Sprache.
Sie war in ihrem Hauptberuf nicht Pfarrerin, sondern Ärztin, die einzige nicht nur in Deutschland, sondern auf dem ganzen Planeten. Ihr Vater war Arzt gewesen – und mit solcher Leidenschaft, daß er seine Kinder Äskulap, Hippokrates und Galenus taufte; seine Tochter sollte Hygieia heißen, was Gesundheit bedeutet, doch stand er zuletzt davon ab, denn sie konnte doch krank werden. Tatsächlich wurde sie es nie. Der Sternenname, den er ihr dann gab, erwies sich für den täglichen Gebrauch – auch für ihre sehr unansehnliche, kleine Gestalt – als zu großartig und wurde nur von ihrem Vater und – in seltenen Fällen – von ihrem Mann angewendet. (Es erhellt seine geistige Gelassenheit, daß er dies in dem Augenblick tat, wo sie ihm die Laterne weghieb.) Sie wurde daher erst Peja, dann Pea gerufen, auch von ihren Kindern, und der Vater dazu Pai.
Während aber die medizinischen Namen bei den Arztsöhnen keine Neigung zu diesem Beruf bewirkten, begann Kassiopeja bereits in früher Kindheit die innigste Teilnahme an der Tätigkeit ihres Vaters zu bezeigen – und auch niemals die geringste Furcht oder gar Ekel vor Leiden oder Gebresten. Da saß sie in seiner Ordination auf einem Fußschemel, das immer bräunliche, ältliche – gleichsam wie aus Teig gebackene – kleine Gesicht mit zu großen Naslöchern und den wie demantenen, strahlenden Augen zu dem Patienten erhoben, dem ein Zahn gerissen oder Blutegel angesetzt wurden. Und bald fing sie an, Handreichungen zu tun, Blut aufzufangen, Geschirr zu säubern, Klistiere zu füllen. Von den Klagen und Schreien der Gepeinigten schien sie ganz ungerührt zu bleiben; hierüber einmal befragt, antwortete sie ernsthaft: »Sentio. Si clamo etiam, an fit melius?« Das heißt: »Ich spür's schon. Aber wenn ich auch schrei, wird's da besser?« Der Vater belehrte sie dann, von Anfang an wie zu einer Erwachsenen redend, über alles, was sie ihn tun sah, ließ sie auf diese Weise von außen her allmählich immer tiefer in das Innere der Leiden eindringen, und so kam es kurzum, daß sie lernend mit hellem Verstand und brennender Leidenschaft – im noch mädchenhaften Alter die Heil- und Arzneikunde besser als ein in Leiden oder Bologna Studierter beherrschte. Die Fertigkeit im Latein ergab sich dabei von selbst.
Und ebenso von selber ergab es sich, daß nach dem Tode ihres Vaters die Patienten zu ihr kamen wie vorher zu ihm. Und ihr Wissen, und mehr noch ihre Wärme, das tiefe, wissende Herz für alles Leiden, das, je älter und reifer sie wurde, um so klarer und gütiger aus dem Kristall ihrer Augen strahlte, ließ sie zur angebeteten Heilandin aller Kranken werden. Dies störte aber sehr – weil sie nicht approbiert war – die Ärzteschaft und die Fakultät der Stadt Rinteln, damals Universität, wo sie lebte, ja, der ganzen Umgegend bis ins Westfälische und Hannoversche hinein, woher ihr Patienten zureisten. Um die allmählich unliebsam werdenden Anfeindungen loszuwerden, ging sie zunächst nach Herford. Und als sie dort einmal den durchreisenden Kurfürsten von Brandenburg von einem Gerstenkorn unglaublich schnell befreite, erwirkte sie von ihm ein Dekret, sich von einem Ärztekollegium prüfen zu lassen und auch als homo insapiens – nämlich als bloßes Weib – den Doktorgrad zu erwerben. Sie machte indes keinen Gebrauch davon, sondern – weiblich beschaffen, wie sie doch war – heiratete sie den Klemens Deuterlein, Pfarrer zu Herford, und begann mit ihm sogleich eine solche Menge Kinder zu zeugen, daß die Praxis sich erheblich beschränkte.
Was übrigens jenen Arm anbelangt, so war es natürlich der einer von ihr sezierten Leiche – »admirabiliter recens« wie sie Janna begeistert wissen ließ: wunderbar frisch, nämlich die eines armen Teufels aus der Fremde, der weiß Gott woher gekommen war, um sich frisch gestorben in ihre Hände zu überliefern, indem er sich hinten im Obstgarten erhängte. Wie das Sezieren dazumal eine Leidenschaft der Mediziner, die Beschaffung toter Körper aber weit schwieriger war als heute – das zu erörtern würde zu weit führen. Da es keine Kühlanlagen gab, konnte sie dieser Passion sonst nur im Winter frönen, deshalb war die Frische des Leichnams besonders erfreulich.
Ihren Kindern war alles Medizinische durch Anschauung, die ihnen ihre Mutter niemals verhehlte, so geläufig wie das Latein durch beständiges Sprechen.
Das Dorf Schötmar war zu Anfang des Krieges noch ein großes Kirchdorf von mehreren hundert Seelen gewesen. Nach den Belagerungen Herfords, welche die mächtige Stadt selber gut überstand, war es auf achtzig zusammengeschmolzen, vom Zustand seiner Häuser und Felder ganz zu schweigen. Noch im fünften Jahr nach dem Frieden lebten die Einwohner nur am Rand des Verhungerns einher. Die Deuterleins waren vor einem Jahr nach Schötmar gezogen, teils auf die Bitten der Schötmarer hin, denen ein Pfarrer abging, teils weil die Praxis und ebenso die Widerwärtigkeiten durch die Anfeindung wieder überhandnahmen; und sie liebten beide das Landleben.
Pea Deuterlein stand, als Janna zu ihr kam, in ihrem sechsunddreißigsten Jahr. Sie hatte achtmal geboren, zweimal Zwillinge, aber zwei Kinder waren gestorben, es lebten nur noch acht. Der Pfarrer sah infolge einer knolligen, bläulichen Nase voll Pockennarben und mit schwarzem Schnurr- und Kinnbart und kleinen Augen eher wie ein Wachtmeister aus. Aber sein Blick war sanft und zerstreut, von Wesen war er es auch, wenigstens im Hause, wo die nie erzogenen Kinder ihr Zepter schwangen. Er ging oder fuhr tagein und tagaus und vom Morgen bis in die Nacht, soweit er konnte, im Land umher, um Wein und Brot oder die Tröstung des Gotteswortes allen zu bringen, die seiner bedurften.
Am Abend, einige Tage später, saß die Ärztin wieder bei Janna, die im Bett lag; eine schlechte Kerze brannte auf dem Tisch, die fast unaufhörlich geputzt werden mußte. Janna hatte auch von ihrem Leben so viel aus sich herausfragen lassen, wie sie aussprechen konnte, was ihr ungewohnt und daher nicht lieb war; hatte daher nur Tatsachen angegeben, und ihre letzten Abenteuer in England waren so wenig darin vorgekommen wie ihr Empfang durch ihren Verlobten. Der war übrigens an jedem Tag gekommen, um nach ihrem Befinden zu fragen, und hatte außer Grüßen von seinen Eltern eine Menge Dinge gebracht, die für Janna bestimmt, aber für ihre Gastfreunde Schätze waren: Tauben und Hühner, Eingemachtes, Eier und Wein, aber auch einen schönen Becher, Teller und Löffel von so schwerem Silber, wie Janna es noch nicht gesehn hatte.
Als es nichts mehr zu berichten gab, fragte die Deuterlein in ihrer geraden Art, was Janna nun zu tun gedenke; Janna, die solche Fragen an sich nicht schätzte, geschweige denn diese – auf die sie eine Antwort zwar hatte, aber nicht aussprechen konnte –, erwiderte mit der Gegenfrage, was Pea in ihrem Fall tun würde. Die überlegte es sich, während sie den Docht beschnitt und säuberte, und versetzte: alles in allem könne sie in Hans Edlevs Verhalten keine Todsünde erkennen, sondern nur eine große Leichtfertigkeit. Es scheine aber, als ob weniger er deshalb anzuklagen sei als seine Mutter, die gleichsam den Weg dazu angelegt habe. Aber er hatte diesen Weg wieder aufgegeben, war in die Armut zurückgekehrt und hatte die Arbeit fest angegriffen. Überdies: er hatte keinen Betrug speziell an Janna verübt, um sie einzufangen; er war ihr in der Maske begegnet, die er schon trug, und hatte sie nur anbehalten; vielleicht hatte er das gleich bereut, aber nicht mehr zurückgekonnt.
Nun, und da seine Vorfahren in ihrem Land Markgrafen gewesen waren, so hatte er schließlich nur das wieder aufgenommen. »Waren sie Markgrafen?« fragte Janna verwundert. Aber woher hatten sie sonst diesen Namen, der nur die Verdeutschung des portugiesischen Titels war? Janna dachte, daß Ludwig ihr das verschwiegen hatte; und das sprach sowohl für Stolz wie für Bescheidenheit. Es sprach sehr für ihn.
»Und du, meine Tochter«, sagte sie, Janna das verwirrte Haar aus der Stirn streichend, zärtlich und verliebt, wie sie längst war, »hättest du ihn genommen, wenn er kein Prinz gewesen wäre?«
»Natürlich nicht«, sagte Janna, »warum sollte ich? Ich war beinah ein Kind, ich habe an kein Heiraten gedacht, aber sie wollten es alle, Knaben und Greise, es war gar nicht auszuhalten.«
»Und da hast du dem Unwesen auf diese Weise ein Ende gemacht?«
»Wahrscheinlich.«
Dann, sagte Pea, sei es ihr ja recht geschehn, daß sie betrogen wurde. »Wolltest du bloß schönen Schein, so bekamst du auch schönen Schein.«
Dies war für Janna eine neue Beleuchtung der Sache, an die sie ihre Augen erst gewöhnen mußte. Sie schwieg daher still, und die Ärztin begann wieder zu sprechen, indem sie die Markgrafs lobte; sie waren von bestem Herkommen, so gut wie die Hamburger Kaufherren; die Mutter hatte diesen verkehrten Zug nach oben, war aber hart bestraft dafür.
Sie tue ihr auch sehr leid, sagte Janna, aber das sei nun, wie es sei – lauter Betrug und Verstellung, und da liege sie nun bei fremden Leuten und müsse sich pflegen lassen. Sie küßte Peas kleine, ledrige Hand, die indessen sagte: »Die Frau Markgraf ist betrogen worden, weil sie eine Schloßfrau werden wollte, und warum bist du betrogen?«
Janna blieb stumm, drehte sich hin und her und fand alles sehr unerquicklich. Sie wollte mit ihren Dingen lieber allein fertig werden; Pea war ihr von Herzen lieb, aber nun schien es ihr höchste Zeit, daß sie sich den fremden Händen entwand und wieder auf ihre eigenen Füße stellte. Was sie vorhatte, konnte nur sie wissen; doch fing die Ärztin nun wieder von Hans Edlev in einer Weise an, daß Janna sich genötigt fand zu offenbaren, was zwischen ihm und ihr war. Zu ihrer Verwunderung war Pea sehr ungehalten über den Schlag, den sie ausgeteilt hatte, und tadelte sie, zu ihrem großen Mißfallen; denn in ihren Augen war Edlev allein der Schuldige, und daß sie sich nun verteidigen sollte, schien ihr die verkehrte Welt. Indes blieb sie sanftmütig und fragte, ob wohl Pea an ihrer Stelle nicht dasselbe getan hätte.
Die versetzte: »Sicherlich nicht.« Sie sagte: »Einen Mann schlägt man nicht.«
»Ach – sind Männer besser als Frauen?«
»Besser nicht, aber mehr.«
»Das sagst du?«
»Ja, ich. Ich habe Kranke zu heilen gelernt, aber habe ich die Heilkunst erfunden? Bin ich«, fragte sie, »Paracelsus, bin ich Galen? Hast du jemals ein Weib gesehn, das etwas erfunden hat?«
»Und Hans Edlev hat das Lügen erfunden – jedenfalls für sich selbst.«
»Du hast wohl nie gelogen?«
»Jedenfalls nur zur Not.«
»Was weißt du, wie er in Not war – nachdem er sich in dich verliebt hatte.«
»Da war keine Not, mich zu heiraten.«
»Aber für dich, mein Herz?« Pea lachte, daß es sie schüttelte, nahm die Kerze in Arbeit und sagte: »Wir plappern, als wären wir Weiber.« Und sie gab Janna den Rat, aufzupacken und wieder hinzukehren, woher sie kam. Aber das, fuhr Janna nun auf, sei das Letzte, was sie im Sinne habe. Sie hasse Hamburg, alle großen Städte; vielleicht würde sie hier ein Gut kaufen, sie sei nicht so unerfahren; aber Pea nannte das Schnickschnack, ohne einen Mann könne sie nicht wirtschaften, und sei da nicht der Donopshof, dem sie aushelfen könne mit ihrem Geld? »Alapa maledicta«, sagte sie, »vermaledeite Ohrfeige«, und stand auf und riet, Ludwig zu nehmen.
»Einer ist wie der andre«, murrte Janna in ihr Kissen, und Pea erklärte, da habe sie vollkommen recht, und sie könne also den einen nehmen, wie sie den andern genommen habe. Sie stand auf und sagte, sie müsse morgen zum Donopshof fahren, der alte Markgraf habe einen Abszeß am Bein, und ob Janna mitkommen wolle. Darauf lächelte diese und sagte: »Wenn das der Schluß ist, hättest du uns viele Reden ersparen können.«
Die Ärztin putzte zum letzten Male das Licht und verließ, gute Nacht wünschend, das Zimmer mit noch immer verwunderten Augen.
Der Pfarrer sagte, als sie ihm die Sache berichtete, einen alten Vers abwandelnd: »Sunt feminae feminae, feminae feminae tractant.« »Weiber sind Weiber, und sie tun weibliche Dinge.«
Das sei gewißlich wahr, sagte Pea, doch verhelfe es ihr nicht zum Verständnis.
Das Gefährt, in dem die beiden Frauen sich zum Donopshof aufmachten, war nach Pea Deuterleins Anweisungen gebaut und daher Zeuge für ihre Weiblichkeit; das heißt, daß es mit Fehlern behaftet war, die sie nicht vorausgesehn hatte. Es war ein großer, oben offener Kasten aus Korbgeflecht, der zwischen zwei hohen Rädern hing, hinten eine Sitzbank und eine Tür hatte. Wollte man hinein, so mußte man über die Bank hinweg nach vorn treten, doch war es auch gut, das zu tun; unterließ man es nämlich, indem man auf die Bank stieg oder kniete, so senkte der Kasten sich hinten durch das Gewicht, der lange Deichselbaum fuhr in die Höhe und riß das rechts daran geschirrte Maultier am zähnefletschenden Kopf mit sich hoch. Daher mußte der Sicherheit halber immer jemand, der gerade zur Hand war – eines der älteren Kinder –, beim Einsteigen der Mutter vorn auf der Deichsel sitzen. (Da sie nicht selten lange zu warten hatten, waren sie mitunter versehentlich grade aufgestanden, wenn die Erzeugerin eilfertig einstieg; die Folgen davon waren unbeschreiblich.) Auch konnte sie nicht sitzend fahren, weil sie wegen ihrer Kleinheit nicht über den vorderen Rand sah; sie fuhr daher stehend dahin wie ein Lenker von Olympia. Das Maultier seinerseits liebte die Deichsel nicht und drehte sich, da es vorn daran gebunden war, hinten so weitab wie möglich, und hüpfte so schräge dahin. Janna versuchte einmal, die Zügel zu nehmen, aber das Tier verspürte sogleich die fremde und allzu energische Hand und blieb stehn, unbeweglich.
Der Donopshof lag auf einer Anhöhe im Zusammenfluß der Bega und Werre, in seinem Rücken von Wald geschützt. Ein paar hundert Schritte vor diesem Wald – Wiesen und Äcker lagen dazwischen – stand der Hof über der Gabelung der Gewässer, eben hoch genug darüber, um im Frühjahr nicht erreicht zu werden, wenn sie anschwollen und stiegen. Es war ein langes, einst stattlich gewesenes Gebäude aus Fachwerk mit zwei Geschossen und einem mächtigen Dach voll kleiner Mansarden. Die lange Feuerleiter stand angelehnt und ragte über den First der altersgeschwärzten Schindeln empor. Die rechte Hälfte des Hauses gehörte den menschlichen, die linke den tierischen Bewohnern, über deren Ställen der Kornspeicher lag. Ein Heuschober stand gegenüber für sich allein, und an seine Holzwand war eine Laube aus Lattenwerk angelehnt, vom Wind oder der Schneelast im Winter schief gedrückt, aber aufrecht gehalten von einem darüber gekrümmten Holunderbaum, in dessen Äste der wilde Wein sich gerankt hatte – jetzt rot von Laub.
Zu der schön profilierten, dunkelbraunen Haustür führten drei geschweifte Stufen hinauf, die ein steinernes Säulengeländer hatten; das Schloß und der Türklopfer glänzten von blankem Messing. Ordnung und Sauberkeit waren peinlich, aber nicht wenigen Fenstern fehlten die Scheiben oder ganze Flügel; zwischen den Balken des Fachwerks bröckelte der Kalkbewurf, und das Stroh starrte aus dem Lehm hervor. Vor der Stalltür lag aber der Dünger sorgsam rechteckig geschichtet, mit einer Laufplanke von der Tür her. Weiter links ließ das offene Tor zur Remise den Vorhangwagen sehen, in dem Janna gefahren war. Eine Menge Hühner lief und stand umher, der Dachfirst saß voller Tauben, und die Uferhänge waren mit weißen Gänsen bedeckt.
Bauern pflegen den Platz für ihr Haus nicht wegen der schönen Aussicht zu wählen, die es bietet, aber der Erbauer des Donopshofs hatte es anscheinend getan und nicht sonderlich weise obendrein, denn der schützende Wald lag im Süden, woher niemals ein Wind wehte. Er war auch kein Bauer gewesen, sondern ein ritterbürtiger Mann, Ratsschreiber in Lemgo hundert Jahre zuvor, und er und seine Nachkommen hatten den Hof von Pächtern bewirtschaften lassen und ihn nur im Sommer bewohnt. Die Hütten der hörigen Bauern oder ihre zerfallenen und leeren Reste bildeten weiter zurück eine kurze Straße. Von dem Sandplatz vor dem Hause, von dem die Grashänge hier mehr, dort minder abschüssig zu den Weidenufern der beiden gelben Flüßchen fielen, ging der Blick nach Nordwesten ungehindert in die blaue Unendlichkeit des welligen Geländes, das jetzt im Herbstduft und in den letzten braunen und rostroten Farben des späten Oktobertags glühte. Das ferne braune Städtchen Salzuflen hob sich kaum davon ab. Weiter ostwärts zur rechten Hand beschränkten schöne, laubbraune und tannengrüne Hügelrücken den Blick: im Westen blaute der Osning und fernerhin die Kette des Gebirges in der unsichtbaren Welt.
Drinnen im Haus war es um so enger; die Stuben waren mit Ausnahme zweier Staatszimmer zu ebener Erde nur klein und niedrig, und alle waren mit Hausrat vollgestopft: gewaltige Schreine und Truhen, Sofas und Sessel, Himmelbetten und Säulenbetten von beträchtlicher Größe, alles mit köstlicher Intarsia oder Schnitzarbeit; und die Wände waren bedeckt mit blaugrünen Tapisserien, Ölgemälden und Stichen, den Boden bedeckten die edelsten Brüsseler Teppiche. Schränke und Truhen waren angefüllt mit Leinwand, Damast, Kristall, Zinn und Silber, Schätze, die für die Markgrafs keine waren, weil unverkäuflich in einer Zeit, wo einer ein Haus haben konnte für ein Paar Stiefel von dem, der sie eben brauchte. Janna hatte weder in Hamburg noch in England so viel üppige Pracht gesehn, und die Mutter Hans Edlevs zeigte es alles mit sichtbarem, wenn auch verschwiegenem Stolz.
Sie war eine pompöse Frau, noch vergrößert durch eine weitfaltige Robe von schwarzem Samt und den ungefügen, hundertfach gefältelten Mühlsteinkragen, den sie noch auf den Schultern trug; darin saß eingefügt ihr langes, mageres Gesicht mit gesunden hellroten Flecken voller Äderchen auf den Wangen. Die Söhne konnten ihre Blondheit nicht von ihr haben, denn ihr reiches Haar war schwarzbraun; über einer Eulennase standen fast schwarze Augen enge beisammen, die mit einer schwermütigen und angestrengten Güte blickten. Doch es fehlte Klugheit und Überlegenheit; den Augen war anzusehn, daß sie alles, was ihr gesagt wurde, glaubte. Mitunter wurden sie auf eine unheimliche Weise blicklos und starr; der Leerblick einer Verstörten, die in ihrem Innern ein und denselben unseligen Gedanken wälzt.
Sie trug keinen Schmuck und hielt sich in Gegenwart der andern in der ruhigen Würde, mit der sie Janna begrüßt hatte; doch war eine Scheu zu spüren, und sie hielt sich zurück mit Umarmung und Küssen, nahm auch Janna nicht als Braut in Empfang – in der Haustür über den Stufen stehend –, sondern sprach sie mit Jungfer Janna an und küßte sie nur auf die Wangen. Indes konnte Janna bald ihre schnell wachsende Zärtlichkeit fühlen. Als sie den Hut abnahm – den puritanischen flachen aus England, den sie für richtig gehalten hatte, übrigens sicher, daß sie ihn nicht lange auf dem Kopf behalten würde –, geriet sie in Entzücken über ihr Haar – das frischgewaschen all sein Gold schimmern ließ – und ließ ihren Mann es bewundern. Der konnte indes mit ihr wetteifern; er saß, halb liegend, als die Ärztin sie in sein Zimmer einließ, auf einem tiefen schwarzledernen Sofa und sah wie ein Ezechiel oder Daniel aus – mit einer Fülle rotbraunen, kupferflammigen Haares und Bartes, worin noch kein weißes war. Trotz seiner feuerblauen Augen war seine fremdländische Herkunft an der gekrümmten und flachen Nase, der mattgelben Haut und der sinnlichen Fülle der Lippen deutlich zu sehen. Janna wurde ein Bild der Großmutter gezeigt, die fast weißblond war und auch sonst als die richtige Mutter der Brüder erschien. Der stillernste Blick, mit dem er Janna begrüßte – ohne ein Wort zu sprechen, und er blieb auch weiterhin schweigsam –, durchdrang sie mit seiner blauen Reinheit und vollkommener Abwesenheit irdischer Dinge. Trotzdem nahm er sie darin auf, zu ihr aufblickend, ihre Hände in den seinen. Janna errötete, als er dann lächelte, und war froh, den Kopf zu Ludwig herumwerfen und lachen zu können, als sie in der Stille ihn andachtsvoll sagen hörte: »Gewogen, gewogen, und nicht zu leicht befunden.« Doch sah er nicht andächtig dabei aus, und auch die übrigen lachten.
Sie war selber noch blaß, durchsichtig, und die Zartheit wurde durch das schwarze Kleid noch erhöht. Was Hans Edlev angeht, der beim Trinken des süßen spanischen Weins aus geschliffenen Gläsern neben ihr saß, so hielt er seine Augen von Anfang an vor ihr gesenkt; allein Janna spürte, daß er dies nicht tat, wenn sie woandershin sah.
Später führte seine Mutter Janna durch das Haus und bis auf den Speicher, um ihr alles zu zeigen. Und dort im Halbdunkel, auf einer Truhe sitzend, ergriff sie Jannas Hand und fing an zu weinen und sie um Verzeihung zu bitten. Danach geriet sie ins Beichten und Aussprechen und hörte nicht auf, bis sie mit unzählbaren Wiederholungen ihre eigenen und ihres Sohnes Verfehlungen bekannt und entschuldigt und wieder bekannt hatte und die Schuld an allem sich allein aufgeladen. Und sie widerriet Janna den Eingang einer Ehe und Einzug in ein Haus, die beide auf Falschheit aufgebaut seien und keinen Bestand verbürgten. Es war ein so verworrenes Durcheinander, daß Janna erschrak und kein Wort zu erwidern fand, was indes auch von ihr nicht verlangt wurde. Die unglückliche Person war so eingekapselt in sich selbst, daß sie nichts sah als die inneren Wirbel, und die Menschen nur, soweit sie hineingezogen waren. So sprach sie auch Hochdeutsch und ihre bremische Mundart durcheinander, fand immer Neues zum Klagen, zuletzt auch die Krippenreiter, die sie noch zur Stunde erwartete. »Kein ein kann die loswarden«, sagte sie. »Schalls du seihn, die witterns, daß du hier büst. Die wittern ümmer wat Niges. Se hebben ook äwerall Spions deponeert.«
Nun, Janna konnte wie gesagt nichts erwidern und es alles kaum in sich bewältigen. Ihr wurde wohl das Herz schwer von Mitleid, aber sie hatte an sich selbst zu denken, und zwischen dieser verunglückten Mutter hier in ihrer Verzweiflung und ihrem Sohn bestand gar keine Verbindung. Schicksal und Verschuldung und all diese Verknüpfungen kamen ihr noch unglaubhaft vor; jeder Mensch gehörte sich selbst an und handelte auf eigne Verantwortung, besonders, wenn er ein Mann war. Die Rechnung zwischen ihr und Hand Edlev war keineswegs ausgeglichen, aber das betraf niemand sonst außer sie und ihn.
Die Krippenreiter ließen sich an dem Tage nicht sehn, aber Janna fand sich an seinem Ende zu Pferd sitzen. Auch die Herzensschwere und Unruhe durch die Frau Markgraf verging alsbald; denn als sie nach der Ärztin fragte, um aufzubrechen, war diese längst auf und davon. Die Mutter und Janna hatten, als sie vom Speicher herabkamen, im Hausflur Ludwig getroffen, und seine Mutter hatte Janna ihm überliefert, damit er ihr auch den Viehstand zeige, der – wie er sagte – freilich nicht sehenswert sei. In der Tat waren die sechs Kühe, zwei Ochsen und der Stier in dem halbleeren Stall zwar gut genährt, aber so schlecht, daß selbst Janna es erkennen konnte, die englisches Vieh genug auf den Weiden gesehn hatte. Im Roßstall befanden sich außer den Ponies und dem weißfüßigen Fuchs noch ein Zwilling von dem, und sie fand auch ihre eigenen Pferde wieder, mit denen sie hergereist war. Ziegen waren auch da, und im Schweinekoben wimmelte es von älteren und eben geborenen Ferkeln. Ludwig konnte sich an Jannas kindlichem Entzücken weiden, die noch nie ein lebendiges Ferkel gesehn hatte – in Mosley-Haus gab es kein Vieh – und sich eins davon ausbat; aber sie mußte mit einem der größeren fürliebnehmen, da die kleinen noch an den Zitzen waren. Als Ludwig dann anspannen wollte, weigerte sie sich, in dem Vorhangwagen oder auch in dem ihren zu fahren, der abscheulichen Straße wegen, und sie wollte zu Fuß gehn. Es war aber schon spät und kein Mond; Edlev war hinzugekommen, und die Brüder berieten, worauf sie reiten könnte. Ein alter hölzerner spanischer Damensattel war im Haus, derselbe, auf dem angeblich die Ahnin neben ihrem Mann aus Bragança in Portugal über die Pyrenäen und durch Frankreich und Holland geritten war. Aber keines von den Pferden war eine Dame gewohnt, nur die Ponies waren zu allem geduldig. Also zog Janna – die auf die Frage, wer sie begleiten dürfe, geantwortet hatte: beide oder keiner – auf ihrem niedrigen Sitz »wie auf einem Maulwurf« zwischen dem ihr hoch überlegenen Brüderpaar erheitert dahin; und diese Ungleichheit und das Ferkel, das Ludwig mit zusammengebundenen Füßen vor sich liegen hatte, und das große Abschiedsglas spanischen Weins, das sie hatte trinken müssen, und eine Kruke davon, deren Inhalt die Brüder unterwegs teilten, bewirkten, daß die Ausgelassenheit, mit der sie aufgebrochen waren, am Ende zu schreiender Albernheit anschwoll. Unterwegs schon wurde es so finster, daß sie einmal alle drei auf ein Haar in die Bega geritten wären, weil sie sie für einen Acker ansahen. Sie schrien den Pfarrer aus dem Haus, um Licht zu bringen, da sie ohne das nicht von den Pferden fänden. Indes war Janna bereits aus dem Sattel geglitten und kam selbst mit der kleinen Laterne, die für sie im Hausflur aufgehängt war, und leuchtete Ludwig zum Ziegenstall, um das Ferkel hineinzubringen. Er benutzte dies, ihr zu versichern, er sei nicht betrunken und liebe sie bis zur Entsagung; sein Bruder suchte beim Scheiden nach ihren Augen und fragte: »Du kommst doch wieder?« Doch blickte sie ihm nur starr ins Gesicht und gab keine Antwort.
In den nächsten Tagen finden wir Janna in einem Zustand der Lebensberauschung – wunderlich genug, da sie dabei ganz allein war – oder der Glücksberauschung; denn was andres ist Glück zu nennen, als wenn eine Seele befreit ist und von nichts beschwert in sich selber schwingt, und das eigene Leben mit dem äußeren Leben in Einklang ist? Aber wenn es eine Berauschung war, so war es die hellste und klarste und freieste. Denn der Wein entbindet zwar, aber er macht nicht frei; er ist ein Treiber, ein Dränger, ein Zwänger, aber er ist kein Läuterer. Scheint er uns zu beflügeln, so verwandelt er uns doch in keinen Vogel, sondern er treibt uns nur hoch wie eine Art Luftballon, der nur eben etwas leichter ist als die Luft, aber immer dorthin muß, wohin ihn der Wind bewegt.
Aber Janna war frei, zum erstenmal im Leben, und das war ihre Beglückung. Zum erstenmal wußte sie freilich auch, was Freiheit ist, und daß sie Freiheit brauchte und, wenn sie auch nach ihr sich nicht gesehnt hatte, sie entbehrt. Sie brauchte Freiheit – wozu? Das war ihr Geheimnis, das ihr selber noch unenthüllt war. Eine sehr weise Frau hat gesagt: »Wir sind eigentlich die, die wir sein möchten, nicht die wir sind: wie auch die größten Opfer nur von dem gewußt werden, der sie bringt, und sonst keine Opfer wären.« Janna wäre keine Frau gewesen – oder keine Frau, von der zu erzählen lohnte –, wenn sie nicht gewußt hätte, daß Hingabe und Opfer allein das Leben zu Leben machen. Wer aber kann sich allein wirklich hingeben, es sei denn der wirklich Freie? Deswegen mußte sie frei sein, und deswegen war sie jetzt glücklich.
Bis dahin war sie, noch kindlich, die Wege gegangen, die andere ihr bezeichnet hatten; jetzt waren alle Lenker und Aufseher plötzlich verschwunden; jetzt war sie aus dem Wagen gestiegen und ging auf ihren eigenen Füßen des Wegs. In England, wenn sie die windüberstrichenen Hügel von Somerset schreiend hinauflief, die Unermeßlichkeit des Meeres mit seinem Hauch von Salz in den rollenden Flächen und Wellen atmete, hatte sie Freiheitslust schon erfahren, aber nur immer in Pausen; sie war noch an Menschen gebunden. Dann war sie in den Wagen gestiegen und aus einem Wagen stets in einen andern: aus dem, der sie nach London brachte, in den Wasserwagen des Schiffs, dann in den, der sie nach Herford, endlich in den, der sie hierher gebracht hatte, aus dem sie ausgestiegen war, ohne zu wissen, was sie damit tat. Nun stieg sie so bald in keinen wieder; nun war sie unendlich fern von Obrigkeit, Menschen und Mauern und vorgebahnten Wegen; nun konnte sie anfangen, sich ihre Wege selbst zu treten, anfangen, sie selbst zu sein.
Janna wanderte wieder wie in Somerset allein in der Landschaft umher. Sie hatte die Kleidungsstücke angelegt, die sie damals hatte anfertigen lassen: kniehohe Stiefel, einen kurzen grauen Rock, eine Friesjacke über dem blusigen Hemd und ein buntes Tuch um den Kopf, was ländlich aussah und sie unauffällig machte. In einem breiten Ledergürtel mit Schlaufen und Haken, an denen sie – wenn sie ihren Onkel auf seinen Exkursionen begleitete – einen kleinen Hammer, ein Beil, ein Messer und einen Kompaß getragen, hatte sie James Hicks große Pistole, die auch ungeladen durch ihr bedrohliches Aussehen zur Abwehr genügte. Sie trug sie übrigens nur, weil die Deuterleins über ihr einsames Schweifen entsetzt waren und der Pfarrer ihr eine alte Steinschloßpistole aufnötigen wollte.
Nun also lief sie über Wiesen, Äcker und Stoppelfelder, kletterte Berghänge hinauf durch Gehölz und Gesträuch und konnte zum erstenmal im Leben ihren Mut an das Ersteigen hoher Bäume wagen, auf den Gipfeln, um freie Ausschau zu haben, wo sie dann oben darin stand, schreiend wie ein Reiher oder auch singend, wenn auch selten, denn es war unmelodisch; für Musik hatte sie kein Organ. Ihr eigentliches Glück war dies Land – »dies Deutschland«, mit übersetztem Shakespeare zu reden. Sie hatte das schon geahnt, als sie neben Ludwig Markgraf über der kleinen Bega saß, den Herbstgeruch einsog und aus den fliehenden Nebeln die liebliche, schlichte, so bescheidene Landschaft erscheinen sah: das Gesicht der Erde, das ihr Gesicht war, ein schwesterlich-brüderliches, ihr süß verwandtes, auch – so irdisch kräftig es leuchtete – mit einem Lächeln von Engeltum. Es mochte viele ihm ähnliche in Deutschland geben, sie war in dies durch Zufall hineingeraten, aber schon unauflöslich hineingefügt. Sie würde hier bleiben, nie wieder von hier fortgehen, hier leben und hier sterben, wenn es einmal dazu kam, was ihr übrigens nicht von Wichtigkeit war.
In diesen drei oder vier Tagen hatte sie alles vergessen, was bis dahin gewesen war; das war nicht nur Hamburg, Somerset, London, Herford gar, ihr ganzes Leben, mit und ohne Männer – sondern auch die zwei letzten. Sie gedachte ihrer nicht einen Augenblick; sie war durch und durch und ausschließlich sie selbst. Aber das hieß natürlich nicht, daß sie nicht in ihr vorhanden waren und zu ihrer Glückserhebung beitrugen. (Nicht so viel, wie man denkt.) Wenn einer sie hätte fragen und zum Antworten hätte bringen können, dann hätte sie gewußt, daß der eine wie der andre nur darauf brannte, ihren Fuß auf seinen Nacken zu setzen, und daß – obwohl ihr das lange bekannt war und nicht von besonderem Wert – dies Gefühl sie beschwingte. Daß es mit diesem Kopf-Unterlegen auch getan war, wußte sie gut genug, und das war der Grund, daß sie es niemals hatte ernst nehmen können. Es war nur Feuer, das in sich selbst brannte – sie glaubte nicht an dies Feuer und hätte keinen Mann für einen echten gehalten, der selbst daran glaubte. Sie war vielleicht nicht wie Pea Deuterlein überzeugt, daß Männer mehr wären, aber zu anderen Dingen da, als »Janna duCoeur« zu singen. Das war für sie erfreulich und eine Genugtuung, aber nicht für lange. Und das war der Grund, weshalb sie ihr Herz für sich behalten hatte und all dies für sie nur Musik war oder ein Wellengekräusel über Tiefen, die davon unbewegt blieben. Und wenn einmal der Blick aus einem unbewegten Gesicht in ihr Inneres hineingelangt war, so war seine Unbewegtheit für Janna von ungeheurer Bedeutung gewesen. Diese beiden hier, Ludwig und Edlev, würden sich ihretwegen nicht in Stücke zerreißen. Dergleichen pflegten weder ihre griechischen und römischen Heroen zu tun noch auch die Männer, die jetzt auf der Welt waren; dazu brauchten sie andere Gründe (Gründe, die mehr waren als ihre jammervolle und jämmerliche Wirkung). Janna glaubte an Heldentum, aber das hatte nicht diese Züge; es hatte überhaupt keine für sie, weder göttliche noch menschliche; nur die von eines Traumes Traum, der im Herzen unfaßbar zittert, aber durch Vorwegträumen nur zu entwerten ist.
Um zum Donopshof zu gelangen, führte eine steinerne Brücke mit einem einzigen Bogen, der noch aus römischen Zeiten stammte, über die schmale Bega. Auf der Hofseite war das Ufer den Hang hinauf von hohen und alten Eschen, Erlen und Weiden bestanden, dazwischen Jungholz, Haseln und andere Sträucher, durch die sich der Fahrweg zu dem Platz vor dem Hause hinaufbog. Janna trat aus dem Buschwerk auf ihn hervor, an einem der letzten Oktobertage, die von reinem Gold und von sommerlicher Wärme waren, und fand ihn von Menschen leer, in der friedfertigen Stille des Nachmittags. Die Hühner waren im Schatten eines alten Goldregenbaums versammelt, der an der Hausecke stand, ein paar scharrten auf dem Düngerhaufen, die Tauben liefen herum oder flogen zum Dach empor. Zwischen dem Haus und der gegenüber-, etwas zurückliegenden Scheuer mit der Laube hindurch sah sie fern auf den Wiesen kleine Männergestalten, die Gras schnitten; eine Sichel blitzte. Einmal war das langgezogene Muhen einer Kuh von der Weide her zu hören; sonst war kein Laut als das gleichmäßige Klingen einer gedengelten Sense.
Als sie dann weiter vorschritt, gewahrte sie mit Verwunderung eine Reihe von langen Spießen, Partisanen und Hakenbüchsen, die an der Wand des Stallgebäudes lehnten, konnte sich indes nichts dabei denken. Dann erkannte sie zwischen den rotbelaubten Gehängen des wilden Weins im Innern der Laube die fast ebenso rote Mähne des Vaters Markgraf, und sie ging zu ihm hin. Er pflegte, wie es schien, auf herankommende Schritte kein acht zu haben, erhob jedenfalls bei ihrem Kommen sein Gesicht nicht von dem Buch, das er auf der Tischkante hielt; mehrere andere lagen aufgeschlagen vor ihm, und er zog jetzt eins von diesen heran, als Janna in die Türöffnung trat und ihn begrüßte – etwas unsicher zwischen zwei Onkeln den liebenswürdigeren wählend. Denn den Pfarrer Becker im Studieren zu unterbrechen, war Entheiligung, aber ihr Onkel Edward hatte jede Störung durch sie eine Zugabe genannt. (Das Leben, sagte er, gehe von selbst in sich selber dahin, und nur die Stunden, wo sie in der Tür seines Herzens stehe, machten es ihm länger.) Dieser Studierer hier schien sich so in einer leidlichen Mitte zwischen beiden zu befinden, denn er lächelte, obwohl nicht ganz anwesenden Geistes, und reichte ihr, seine eiserne Brille von der Nase nehmend, die linke Hand, die sie hielt, während er den Zeigefinger der rechten auf die Stelle im Buch stützte, die er nicht verlieren wollte. Seine Beine waren in ein Bärenfell eingehüllt. Janna blickte in das Buch und las die Worte, die über seinem Finger standen, nicht ohne Eitelkeit, daß sie es konnte, wenn nicht überhaupt nur deswegen:
»Makarioi hoi ptochoi to pneumati, hoti auton esti hä basileia ton uranon. Selig sind, die da geistig arm sind, denn das Himmelreich ist ihr«, übersetzte sie mit Luther.
»Ich sehe«, sagte er ohne besondere Überraschung, »du verstehst es besser als ich. Aber verstehst du auch, warum Dr. Luther das übersetzt: ›die da geistig arm sind‹?« Er könne, setzte er hinzu, Griechisch nur mangelhaft, aber, sagte er, »ptochoi« heiße in seiner Grammatik Bettler, und in der Vulgata … Er zog ein anderes Buch heran, suchte und sagte: »Nein, da steht auch ›pauperes spiritu‹, also die Armen im Geiste.«
Ob es nicht richtig wäre? fragte Janna, da er nun fragend zu ihr emporsah. Er schüttelte bedenklich den Kopf und erklärte:
»Bettler – das heißt betteln; betteln heißt bitten, verlangen. Ein Bettler ist wohl arm, aber er bettelt, er verlangt. So lege ich das aus. Und klingt es nicht ganz anders, wenn ich sage –«
Ein Schatten fiel neben der Tür hin, und Ludwig stand da, eine Sense in der Hand, und grüßte. Janna faßte daher die Worte seines Vaters nur mit den Ohren auf: »Selig sind, die da verlangen nach dem Geist, denn ihrer ist das Himmelreich.«
Ludwig sagte leise, er rufe seine Mutter und Edlev; Janna wandte sich wieder seinem Vater zu, schaute wieder in das Buch und sagte, nachdem sie begriffen hatte:
»Ja, dann ist die Armut fort, und nur das Verlangen ist da.«
»So ist es!« Der alte Mann leuchtete auf. »Siehst du«, sagte er – er allein hatte das väterliche Du angenommen, ohne zu bemerken, daß keiner der andern es brauchte – »siehst du, man muß aus der Quelle schöpfen; diese Übersetzer schütten immer ihren Wein in das reine Wasser. Da entdeck ich noch viel solche Stellen; so zum Beispiel –«
Er fing vor sich hin murmelnd zu blättern an; Janna trat in den Eingang der Laube und sah zugleich die beiden Brüder aus der Stalltür treten, miteinander sprechend; Ludwig lief zur entfernten Hausecke, und sie hörte einen schrillen Pfiff. Hans Edlev kam näher und grüßte, rot im Gesicht und nicht ohne Verlegenheit, und Janna fühlte sich gestört, weil er heute die schwarze Wolfsjacke anhatte. Er machte ihr ein Kompliment über ihr Aussehen und streckte gleich die Hand nach Jannas Pistole aus, die unter ihrer Jacke sichtbar war, die sie nur umgehängt hatte. Auf ihre Erlaubnis hin nahm er sie, stellte fest, daß sie ungeladen war, lachte und zeigte sie seinem Bruder, der eben hinzukam. Sie lasen zusammen die Inschrift auf dem silbernen Plättchen und fragten ebenso zusammen: »Wer war das?« Sie versetzte: »Ein Bekannter in England«, und bemerkte selbst das Zucken in ihrem Innern, das ihr das »war« verursachte. War er wirklich nicht mehr?
Überdem kam die Frau Markgraf die Stufen der Haustür herab, ein Tablett mit einer Weinkaraffe, Gläsern, Obst und Backwerk tragend; und dann saßen sie alle in der Laube auf der herumgeführten Bank eng zusammen, aßen und tranken und plauderten – der alte Mann, seine Bücher auf den Knien, nur sanft und abwesend vom einen zum andern blickend; bis ein Getrappel von Pferden sie aufschrecken ließ und die Brüder aus der Laube ins Freie stürzten. Und da kamen sie denn.
Auf der Uferstraße vom Dorf Schötmar her, also im Rücken der in der Laube Sitzenden, jenseits der Bega, galoppierte die bunte Horde heran, mit fliegenden Mänteln und Federn ihrer Kavaliershüte, einige auf hohen, mageren, die meisten auf kleinen, unansehnlichen Pferden, mit Geschrei und Gelächter auf die Brücke zu; dort hinter der Waldung verschwunden, donnerten sie darüber. Janna trat jetzt auch aus der Laube und sah Hans Edlev in der Haustür, den Gurt eines Rapiers sich umwerfend und vorn zusammenschnallend; aus der Stalltür kamen nacheinander die beiden Knechte und traten zögernd und unlustig zu den Waffen, die an der Wand lehnten, als letzter Ludwig, ebenfalls einen Raufdegen an der Seite. Edlev schlug die Tür hinter sich zu, lief die Stufen hinab, um einen ellenlangen Spieß zu ergreifen und die Stufen wieder emporzulaufen und sich vor der Tür aufzustellen. Überdem kam die Kavalkade unten aus dem Wäldchen hervor, entfaltete sich zu einer breiten Front vor dem Platz, und Janna sah mit Grauen diese furchtbaren Kriegsüberbleibsel in die sonnenheitre Stille des Nachmittags hereinbrechen. Unter den schiefsitzenden Hüten, mit herunterhängenden Krempen und Hiebschlitzen darin, die feixenden, gierigen, schiefen, entarteten Gesichter, unrasiert und mit spitzen Bartzwickeln; doch waren auch ein paar jugendliche, nicht unedle und noch frische darunter. Mit klaffenden Stiefelsohlen, manche mit Bastseilen statt der Steigbügel, in zerschlissenen und entfärbten Wämsern, waren sie von oben bis unten die verkörperte Verwahrlosung und Verwüstung. Ein Großartiger ritt voran auf einem hochrückigen Fliegenschimmel, den er, auf dem Sandplatz angekommen, zurückriß, daß er das gequälte Maul mit blutigen Lefzen und dem gelben, gebleckten Gebiß hochwarf und den Kopf hin und her, bis er ihn, da der Reiter aus dem Sattel stieg, plötzlich mit einem Seufzer tief herabhängen ließ. Janna hätte allein für dies den Kerl erschlagen mögen, der jetzt herankam, ein Hüne von Wuchs, in einer schlotterig großspurigen Haltung. Unten an seinen Beinen schlotterten die alten, lappig gewordenen Trichter seiner kotigen Stiefel, in die schmutzige Spitzenlappen seiner Hosenbeine hineinhingen. Sein Gesicht war gedunsen, und wie er von einer tiefen Reverenz mit weit geschwungenem Hut sich wieder aufrichtete, schielten seine blau vorquellenden Augen leer und töricht nach oben. In der linken Hand hielt er eine weiße Tonpfeife mit langem, dünnem Rohr.
Es war schauderhaft zu sehen, wie der stille Platz samt dem Haus und der Landschaft plötzlich ausgelöscht war von dem Getümmel der Mähren und Kerle mit Pistolen und Hiebern, die durcheinander schwatzten, sich überschrien und lachten, als wäre niemand da als sie selbst, ihre Gäule im Kreis drehten und absaßen und sie wegführten, und dabei auf eine schreckliche Weise nur sie selber waren, ohne einen Zusammenhang mit der Welt.
Janna fühlte ihre Hand von der Frau Markgraf ergriffen, die jetzt neben ihr stand. Sie selbst hatte ihr Kopftuch längst abgenommen, so wirkte sie neben der hohen Gestalt in schwarzem Samt unscheinbar, und der Häuptling, verdutzt, fragte, ob er die Ehre habe, die Lady aus England vor sich zu sehen, forderte dann seine Genossen auf, ein Vivat auf sie auszubringen, dem freilich nur wenige folgten, da sie mit ihren Pferden beschäftigt waren. Danach begann er, französische Tiraden fließen zu lassen, wobei er sich zu Hans Edlev hinüber wandte und innehielt, indem er so tat, als ob er ihn jetzt erst bemerke; der hielt das Schaftende seiner Pike zwischen die Schenkel geklemmt, so daß sie lang und schräge emporragte. Der Häuptling musterte auch die übrigen mit ihren Waffen flüchtig und fragte staunend:
»Was soll das bedeuten?«
Hans Edlev versetzte – er war bis in die Lippen bleich, mit kleinen, ganz harten Augen –: sie sollten sich alle zum Teufel scheren!, worauf aus der Rotte Freudengelächter schallte, und sie kamen nun alle und drängten sich und bildeten einen Halbkreis, während der Anführer, wie ein schlechter Schauspieler sich in den Hüften wiegend, zu Hans Edlev hinüberging, dessen Pike sich gegen ihn niedersenkte. Er tippte mit dem Pfeifenstiel daran, sie bewegte sich, das Rohr sprang in Stücke, sogleich schmiß der Bramarbas den Kopf nach, daß er zerspritzte, riß seinen Raufdegen aus der Scheide und schwang ihn mit einen »Ohoo!«, worauf er sich, als ob er auf dem Theater wäre, mit dem geschwungenen Hieber langsam und mehrmals die Knie beugend im Kreis um sich selbst drehte, glotzäugig und sein »Ohooo!« wiederholend. Aber dann brüllte er plötzlich: »Los!«, und in einem Nu war alles herangestürmt, die beiden Brüder waren umringt, alles war ein Tumult, Schreie: »Nom du batard! Mille tonnères!« und Gelächter, die Brüder waren eingekeilt, Stimmen schrien: »Ausfechten! Auf die Wiese!« Noch kam für Janna ein Schein von Ludwigs heller, hoher Stirn und glühenden Augen; er und Hans Edlev staken eingekeilt in der Masse, die sich mit ihren plumpen Stiefelglocken und riesigen Sporenrädern zwischen dem Haus und dem Schober auf die Wiesenfläche hinauswälzte, einige ihre Gäule hinter sich ziehend, ein paar nach der Laube zu ihre Hüte schwenkend und grinsend.
Janna hörte die Stimme der Frau neben sich sagen: »Jetzt werden sie beide totgeschlagen.« Sie ging in die Laube und setzte sich auf die Bank. Jannas Füße bewegten sie zur Ecke des Schobers, und sie sah in der Ferne nahe dem Wald den Haufen einen großen buntfarbenen Kreis bilden. Dort wurde also gefochten, und eine Stimme in ihr sagte: »Wundervoll!«, mehrere Male, wie aus einer weiten Ferne her und einer Erinnerung, die sie nicht finden konnte. In ihren Schläfen hämmerte es und brauste, sie konnte kaum sehen, die Welt war plötzlich nicht mehr, die sie gewesen war, etwas war von außen her in sie hereingebrochen, die Tiefe hatte sich erbrochen und einen scheußlichen Klumpen Unmenschlichkeit ausgeworfen und eine Entsetzensangst; sie lehnte an der Wand, sehend und nicht sehend, sie hörte wieder das schauderhafte, irrsinnige »Wundervoll!«, und als sie sich dagegen verschließen wollte, kam ein großes flaches, braungraues Gesicht hervor, aber mit geschlossenen Augen, als ob es tot wäre. Schließlich verging alles, sie sah über sich die späte Bläue des reinen, kalten Himmels, dann die Knechte, die zusammenstanden und auf die Wiese hinausspähten. Darüber kam sie zu sich und war fähig, in die Laube zu gehen – aber nicht, die beiden Eltern anzusehn. Sie warf sich nur schnell zwischen beide und saß dann, ihre Hände links und rechts ausgestreckt, deren jede von zwei ergriffen war, als ob diese zwei Menschen sich wie Ertrinkende an ihr festhielten. Was sie dann nach einer Zeit wieder hochtrieb und aus der Laube, wußte sie nicht; aber als sie ins Freie lief und den bunten Haufen in der Ferne erkannte – ohne zu erkennen, daß es kein Kreis mehr war –, kam einer daraus hervorgedrängt, fing an zu laufen, blieb stehen und rief: eine blutrote Hand hochhebend, mit der Stimme Hans Edlevs:
»Mutter! Mutter! Schnell! Schnell, eh er verblutet!«
Dieses Unglück war dadurch zustande gekommen, daß die Krippenreiter bisher niemals in einer solchen Zahl von mehr als zwanzig erschienen waren, sondern nur zu fünfen oder sechsen; denn mehr waren für einen Besuch zu viel. So wenigen hatten die Brüder mit ihren Knechten und Schußwaffen sich gewachsen geglaubt und sich vorbereitet, sie abzuschrecken, zumal sie wußten, daß die Kerle vom Luderleben entmannt waren und trotz ihrer Rauflust ihr Leben lieber behalten wollten als verlieren. Dazu kam dann die Übereilung, daß sie sich nicht erst von der weit größeren Zahl überzeugten, infolge der Aufgeregtheit Hans Edlevs, der stets, wenn er aus der Ruhe gescheucht wurde, nur wild werden konnte – dann kalt rasend, und so hatte er – als er seinen Bruder neben sich fallen sah – seinen Gegner, den Häuptling, mit der Klinge gespießt. Dies regte die andern weiter nicht auf; sie waren durch nichts miteinander verbunden als ihre Wüstheit; als sie daher sahen, daß er tot war, berieten sie nicht lange, trugen ihn zur Bega und warfen ihn hinein. Einige Wochen später ließ der alte Graf Lippe, der zu lange Geduld mit dem Unwesen gehabt hatte, mehr als die Hälfte der Bande aufheben und vor dem Detmolder Rathaus auf dem Markt aufknüpfen, einen an jedem Tag. Doch für Ludwig war es zu spät.
Eine Stunde, nachdem alles vorüber war, lag Janna unten am Wasser, in das Buschwerk hineingekrochen, das Gesicht im Kraut, und konnte die Welt nicht wiederfinden. Sie war wie mitten entzweigerissen; sie konnte nichts mehr fassen, die Welt war unhaltbar geworden, wohin sie griff, da zerrann es, es war wie kalte Flammen, die aufzuckten und verschwanden, sie hatte das Land und den Himmel gesehen wie eine grellbunte Malerei auf einem Grund von Schwarz, das überall durchsah – etwas Unmögliches war geschehen, etwas das nicht wahr war, das es nicht geben konnte. Tot war dieser Mensch, lag da und konnte sich nicht mehr bewegen, nie mehr sich bewegen, dieser Junge, dies Geschöpf aus Gottes Gold und Pflanzensüße, ein heiliges Lebendes, so wie sie, vor ihren Augen ausgerissen und ausgelöscht, und hatte eben noch mit Augen geblickt, mit Lippen geredet, gelacht, war gegangen, gelaufen – lag da tot auf der Erde. Süß zu sein mit bitterem Herzen … Du Süßer! sagte sie flüsternd, o du Süßer! Du süßes Gesicht, süßes Gesicht, liebe Augen, liebe Augen! All ihr Innerstes quoll und strömte über von Liebe, bis ein Schmerz sich hineinwarf, daß ihr Herz am Zerspringen war, und dann wieder das Unmögliche, das ihre Augen trocken brannte, und die Liebesglut, die keinen Mann meinte, sondern nur das Lebendige, jetzt, wo es tot war, ergoß sich ins Leere mit dem Stein des Schluchzens darin, der sich nicht löste. Sie sah seine Mutter mit Kopf und Armen über den Tisch gefallen, als der Überlebende immerfort rufend herankam, aber sie bewegte sich nicht, auch als er sie schüttelte vor Verzweiflung. Der alte Mann hielt sein Gesicht in den Händen; Edlev, wie ohne Augen, mit dem blutigen Degen in der Hand, ging neben den Knechten, die einen Menschenkörper zwischen sich trugen wie einen schlaffen Sack, und das sollte der gewesen sein, der eben noch – so fing alles von vorn wieder an.
Der Himmel war noch hell, als Janna sich aufgerafft hatte und am Wasser hockend ihre Hände hineintauchte und das kalte über ihr Gesicht warf. Sie ging dann zum Hause hinauf; der Platz lag leer und still, es war kühler Abend, einer der Knechte war da mit einem Rechen – er rechte Sand über die Blutspur, die zur Treppe und über die Stufen hinaufführte, und es dauerte eine Weile, bis Janna die Tür zu öffnen vermochte; da war gleich alles im Hausflur.
Hohe brennende Kerzen in der Dunkelheit; eine liegende Gestalt auf einem weißen Laken auf dem Boden und daneben halb kniend saß Hans Edlev und blickte auf ein Gesicht herab, das – sie konnte nicht hinsehen. Dicht vor ihr lag Ludwigs Mutter, seine Füße mit den Armen umschlungen haltend und eine Wange darauf, die Augen geschlossen, mit einem Ausdruck tödlicher Selbstzufriedenheit. Janna streckte die Hand nach ihr aus, zog sie aber zurück, und dann, als sie sich wieder aufrichtete, hatte sie es doch gesehn, das tote Gesicht, auf einem schwarzen Kissen; es lag ein wenig zur Seite gesunken, mit einem solchen Lächeln des Schlafs – Janna drehte sich um, eine Wasserflut sprang aus ihren Augen, daß die Kerzen darin erloschen, und blind, mit den Händen vor sich tastend zur Tür hin, brüllte es aus ihrer Kehle, daß sie zu zerreißen schien, und sie ließ es, schlug die Tür hinter sich zu und saß auf den Stufen, schlug ihre Stirn auf die Knie, auch die Arme darum und spürte langsam, wie sie sich wegstarb.
Janna kehrte nicht in die Schötmarer Pfarre zurück; dies erwies sich als unmöglich. Die Mutter des Toten ließ sich in der ersten Nacht von seinen Füßen nicht losreißen. Janna wollte sie nicht verlassen, legte sich in einer der Stuben auf ein Bett, die fiebernden Bilder jagten sich in ihr noch lange, bis andre des Friedens sie ablösten, Traumbilder ihres Schlafs, aus dem sie dann mit Entsetzen emporfuhr. So von Stunde zu Stunde, und jedesmal wenn sie in den Flur ging, lag die Frau unverändert. Am Morgen kamen der Pfarrer und seine Frau, die ein Knecht geholt hatte, und Pea bekam es fertig, sie zum Aufblicken zu bewegen. Gott weiß, was bis dahin in ihr vorgegangen sein mag, denn als jetzt ihr Blick auf das Gesicht des Toten fiel, fing sie auf eine furchtbare Weise zu schreien und am ganzen Leibe zu zittern an. Ihrem Sohn und dem Pfarrer gelang es, sie in ihr Zimmer zu bringen, obgleich sie um sich schlug, biß und heulte; aber sie fiel dann auf ihr Bett und schlief plötzlich ein. Janna fühlte sich wie ohne Glieder, aber sie ging in die Küche und fand den einen Knecht am Herd, das Feuer schürend; es war ein Schwede vom Heer Oxenstjernas, überlang und dünn, mit einem winzigen Kopf und einer Hand ohne Finger. Janna erfuhr von ihm, was es zum Frühmal gebe, er zeigte ihr die Vorräte, und sie kochte das Hafermus. Eine Magd war da, hatte aber nur geringen Verstand und konnte nur die Stall- und Feldarbeit leisten, womit sie auch genügend zu tun hatte.
Janna nahm von der Stunde an den Platz der Frau im Hause ein, die alles selber besorgt hatte, das Kochen, Säubern der Zimmer, die Wäsche, auch das Abrahmen der Milch und was es sonst noch zu tun gab, hunderterlei. Es erwies sich, daß Janna kochen konnte, ohne es gelernt zu haben; sie fand so wenig Schwierigkeit darin, daß sie nicht begriff, warum so viel Aufhebens davon gemacht wurde, und bildete sich daher nichts darauf ein. Das Fegen der bewohnten Zimmer und andere schwere Arbeiten wurden ihr bald von dem schwedischen Knecht abgenommen, auch von Hans Edlev, wenn auch zögernd, denn der Haushalt war Frauenarbeit oder Knechtsarbeit, aber nicht Mannsarbeit.
Die Mutter kehrte nicht wieder in die äußere Welt zurück; sie war kindisch geworden über Nacht und wußte wieder nicht mehr, als sie als Kind gewußt hatte. Sie konnte sich waschen, wenn Janna es ihr sagte und dabeistand, und die Kleidungsstücke anziehn, die sie ihr hinlegte; sonst aber tat sie nichts, ließ sich jedoch mit der Zeit zu Arbeiten verwenden, Kohl zu schneiden oder Rüben zu schaben, auch den Fußboden zu fegen, und Holz und Torf zu tragen; aber alles nur auf Geheiß und auf Kinderweise unter Ermahnungen, es auch gut zu machen, und Lobsprüchen, über die sie sich freute. Sie wich Janna kaum von der Seite, und verließ diese den Raum – nicht ohne zu sagen, daß sie gleich wiederkomme, so saß sie bei Jannas Zurückkommen untätig, die Hände mit den Geräten im Schoß und mit einem leeren Lächeln hineinstarrend. Sie hatte anscheinend nur Leben, wenn ein anderes in der Nähe war. Mitunter, wenn Janna lange ausblieb, hatte sie sich hinter der Tür an die Wand gestellt, stand da mit einem verschlagenen Lächeln.
Auf einmal waren dann Wochen dahingegangen, Flocken wehten in der Luft, der Winter war da. Es dauerte nicht lange, so war der Hof und die ganze Erde umher in der gleichmäßigen weißen Decke verschwunden, und der Winter ging im Innern darunter weiter hin, tags Arbeit, nachts Schlaf, und an den langen Abenden saßen sie in der Stube des Vaters zwischen den großen Bücherschränken, dieser auf dem Sofa vor den Kerzen mit seinen Büchern, Hans Edlev auf der Bank am Ofen, die Mutter hinter Janna, die am Tisch saß, einen Korb neben sich und für vier Männer und drei Frauen Kleider, Wäsche und Strümpfe flickend und stopfend, dabei dem alten Mann bei seinen Studien helfend, selbst ein Buch vor sich auf dem Tisch. Mit ihrem Beistand arbeitete er sich Wort für Wort und Satz um Satz durch das ganze Neue Testament und fand überall Fehler in den Übersetzungen und eigene Auslegungen, die Janna oft schön erschienen und einleuchteten. War sie müde, so bat sie ihn vorzulesen, und er willfahrte ihr gern; sie verstand von seinen mystischen Philosophien nicht das geringste – für das reine Denken hatte sie kein Organ –, doch blitzte immer wieder ein Gedanke auf, den sie fassen konnte und daran auf eigene Hand weiterbilden. Also lebten diese vier da zusammen, als der Winter begann. Bis dahin hatte noch ein fünfter zwischen ihnen geweilt und eine traurig bedrückende Macht ausgeübt; doch nun fing er an zu verschwinden. Sein Vater übrigens war schon am Morgen nach dem Unglückstag unverändert erschienen; höchstens daß er noch etwas stiller und auch strenger geworden war. Was an dem Tage in ihm vorgegangen war, wurde sichtbar an seinem Haar, das im Lauf des Winters seine Farbe völlig verlor und schneeweiß wurde. Eines Abends wurde Janna gewahr, daß sie schon seit mehreren Tagen nicht mehr an den Toten gedacht hatte, und sie erschrak darüber, konnte jedoch nichts daran ändern, daß er sich bald auf keine Weise mehr fassen ließ. Doch hatte sie ihn kaum gekannt, sie hatte nicht ihn verloren, sondern war nur durch seine Vernichtung mit in die Tiefe gerissen. Übrigens wußte sie nicht, daß jenes Ereignis zu denen gehörte, die durch ihre Übergewalt sich selbst zerstören und am Ende nichts zurücklassen als die trübe Erfahrung, daß auch das Unmögliche möglich ist; daß immer auch geschieht, was nicht geschehen darf; ja, daß das Leben im Ganzen daraus besteht.
So lebte sie denn wieder auf – und das heißt, sie sah wieder sich selbst. Sie war so besinnungslos in den nötigen Pflichten aufgegangen, daß sie sich drin vergessen hatte, und bemerkte nun, daß sie völlig verwahrlost war. Sie ging noch immer in den Kleidungsstücken, die sie bei ihrer Ankunft getragen hatte, als ob sie an ihr festsäßen und ein Teil von ihr selbst wären, kämmte nur flüchtig ihr Haar und band irgendein Tuch darüber. Nun war der Kleidrock mit Flecken bedeckt und hatte Brandlöcher; so auch die Jacke. Nur die Stiefel glänzten, weil der schwedische Knecht sie in Pflege genommen hatte. Eines Tages, als sie in der Küche saß, kam er mit Bürsten und Schuhschwanz und kniete vor ihr nieder. Nachdem er mehrere Tage lang diese Arbeit an ihren Füßen verrichtet hatte, stellte Janna eines Abends die Stiefel vor ihre Tür, fand sie jedoch frühmorgens so, wie sie gewesen waren, und entnahm daraus, daß er seine feste Art des Verehrens hatte, denn im Laufe des Vormittags erschien er wieder in der Küche. Sie zog nun ein Hauskleid an, band eine Schürze darüber, frisierte sich jeden Morgen und Abend, wo sie ihr Kopftuch ablegte, und an den Sonntagen kleidete sie sich selbst und die Frau Markgraf in Samt und Seide. Diese hatte anscheinend eine Genugtuung darin gefunden, eine Armut zur Schau zu tragen, die gar nicht bestand. Ihr Alltagskleid war in einem Zustand, daß Janna es kaum anfassen mochte und ins Feuer steckte, nachdem sie es eines Abends mit einem andern vertauscht hatte, das sie hinlegte, worüber die Frau auch große Freude bezeigte. Die Familie hatte mit den Dienstleuten an einem Tisch gegessen – eine Ungewöhnlichkeit, die den Leuten selbst gar nicht behagte – und von der rohen Platte aus einer großen braunen Tonschüssel, in die ein jeder mit dem Holzlöffel selbst hineinlangte, nach bäurischer Sitte. Nur der alte Markgraf bekam seine Schüssel für sich. Es gab auch nur ein Gericht, wie Janna von Hans Edlev erfuhr, ein Gemüse, frisch oder gedörrt, mit Stücken von Fleisch oder Speck darin. Janna wies nun die Leute in die Küche und fing an, Gerichte herzustellen, wie sie sie kannte, deckte Leinen auf den Tisch, am Sonntag feinen Damast, legte an den Werktagen zinnerne Teller und Löffel und an den Sonntagen Silber auf, gab auch Wein und kristallene Gläser und setzte in die Mitte des Tisches eine große Silberschüssel oder eine Kanne mit Tannenzweigen und Misteln.
Was nun den Mann angeht, mit dem sie verlobt war, so war Janna ihm in den ersten Wochen so begegnet wie irgendeinem Menschen, mit dem man alltäglich zusammen zu sein genötigt ist, nicht wie einem Mann, geschweige einem Liebhaber oder Bräutigam, und sie hatte die Gleichgültigkeit eher übertrieben. Als Mann gegen ein solches weibliches Verhalten wehrlos, verhielt er sich entsprechend, nur – da er ein Mann war – konnte er es nicht auf so feine Weise; er mußte einen Ton anschlagen, verhielt sich daher mit Kälte und affektiertem Respekt. Als sie dann die Neuerungen einführte und selbst in ihre Weiblichkeit zurückkehrte, tat er auf seine Weise das Gleiche; kleidete sich entsprechend und fing an, ihr Dienste zu leisten. Weiter verfiel er darauf, ihr ein Zimmer einzurichten. Janna hatte sich selbst das einfachste ausgesucht, in dem außer einem Bett ohne Himmel nur die nötigsten Geräte standen. Nun fing er an, diese mit schöneren zu vertauschen und mehr und gefälligere aufzustellen, die er aus den anderen Zimmern holte, dazu Teppiche auf den Boden, einen wundervollen großen Gobelin an eine Wand, Bilder an die andren, Vorhänge an die Fenster, einen Spiegeltisch, Silberleuchter und chinesisches Porzellan. Für alles das konnte sie nicht umhin ihm zu danken, und wenn sie dankte, zu lächeln, und wenn sie lächelte, Janna duCoeur zu sein. An den Abenden fing er an mitzusprechen, Fragen zu stellen, dadurch ihren Augen zu begegnen, ihren Blick festzuhalten – nachdem er seinen Platz am Ofen verlassen und sich zu seinem Vater gesellt hatte, dem er nachschlagen und suchen half. Der Ofen in Jannas Zimmer wurde mit Holz und Torf, und zwar von außerhalb, vom Flur her geheizt; das tat vom Dezember an des Morgens der schwedische Knecht, was auch von ihm eine eigenmächtige Aufmerksamkeit war, denn Zimmer, die kaum benutzt wurden, wie Jannas, wurden nicht geheizt, auch keine Schlafzimmer. Aber Janna fand außerdem am Abend beim Zubettgehen das Feuer erneuert und den Ofen gefüllt, so daß es die Nacht über vorhielt, und da der Knecht früh schlafen ging, Hans Edlev aber um eine gewisse Zeit die Stube stets für eine Viertelstunde verließ, so konnte nur er der Erwärmer sein. Auf diese und andere Weise wurde ihre Beziehung wieder der gleich, die vor Jahren bestanden hatte, als sie verlobt waren; und Janna trug noch seinen Ring. Als sie dann eines Abends auf ihrem Spiegeltisch einen anderen Ring fand, schien ihr dies zu weit gegangen, und sie hätte ihn gern zurückgegeben; aber das konnte sie doch nicht. Sie ließ ihn aber liegen, doch er vermehrte sich, bis es fünf waren; dann sah sie an einer anderen Stelle des Zimmers Ohrringe glitzern, dann ein Armband, dann eine Halskette, immer ungehalten, weil sie nur aus dem Besitz seiner Mutter kommen konnten, doch auch gerührt, zumal er nie einen Dank empfing und selbst nie ein Wort äußerte. Einmal mußte sie aber etwas sagen, und so sagte sie, daß Trauer nicht erlaube, Schmuck zu tragen; worauf er so schlagfertig versetzte, als ob er es vorher gewußt hätte: dann müßte sie ohne Haar gehn.
Vor dem Alleinsein mit ihm sich zu hüten, wurde Janna nicht schwer, da seine Mutter ihr nie von der Seite wich. Doch seine Blicke fingen an, bittender und flehend zu werden; seine Haltung änderte sich und nahm einen Schatten von Melancholie an, die nicht unterwürfig, keineswegs unmännlich war. Doch sie war nun in der Falle; ihn in Feuer zu setzen – und dann davonzugehn, wenn er brannte, das war ihr Plan der Rache gewesen; doch davongehn konnte sie nicht. Und als der Dezember sich dem Ende näherte, begann sie den Frühling herbeizuwünschen, wo sie hoffte, eine geeignete Person als Ersatz für sich zu finden. Jetzt war der Hof durch den Schnee von der Außenwelt abgeschnitten; nur die Butter und der Käse wurden mit dem Schlitten nach Schötmar geschafft. Am Weihnachtstag ließ Janna bei mildem Wetter sich von dem Knecht zur Kirche fahren, Hans Edlevs Mutter in seiner Obhut lassend; aber die Verlassene hörte während ihrer Abwesenheit nicht auf, im ganzen Haus nach ihr zu suchen, leise weinend und jammernd, immer verzweifelter mit gleichförmigem »Wo ist Janna?« von Zimmer zu Zimmer laufend. So war die Falle für den Mann zu ihrer eignen geworden; sie hatte ihre Freiheit nicht länger als drei Tage gehabt. Sie verlor ihren Schlaf, hatte ängstliche Träume, lag dazwischen stundenlang wach und war wütend. Zu schlafen war in diesen Nächten überhaupt nicht leicht, wenn der Nordwest über die Hügel kam und das Haus von oben her packte wie mit Krallen und Zähnen und es rüttelte. Dann blies der Eiswind die Treppe herab, durch die klappernde, unfeste Tür in die Stube, ein Fenster sprang auf, und ein Eisfinger weckte sie, wenn sie schlief. Überall klapperte es oder krachte, polterte, pfiff, winselte, stöhnte und klirrte. Das Haus schien sich oft zu heben wie ein Schiff im Orkan, und es ächzte wie eine Kreatur. Jeden Augenblick konnte die Tür aufspringen; und jeden Augenblick konnte jemand zu ihr hereinstürzen, der jetzt vielleicht wach lag wie sie, aber ein Mann war.
Dann wurde dieser Mann liebeskrank. Er verfiel sichtlich, vom einen Tage zum andern; die Augen sanken ihm in den Kopf, sein Gesicht wurde gelb, die Nase spitz, seine Haltung erschlaffte, er überließ alle Arbeit den Leuten – es war im Winter nur wenig –, saß den ganzen Tag in der Stube, sprach bald nicht mehr; die Lider hingen ihm über die Augen, und wenn er sie gegen Janna erhob, war es mit dem Blick eines Ertrinkenden. Unter gewöhnlichen Umständen hätte das auf Janna entweder keinen oder einen unerfreulichen Eindruck gemacht; das tat es jetzt auch, aber die Umstände waren nicht gewöhnlich, und sie hatte kein Mittel, sich zu wehren oder es abzustellen. Sie konnte ihn weder wegschicken noch ihm den Rücken zuwenden; sie hingen beide an ein und derselben Kette. Aber schließlich hatte sie nicht auf den Donopshof kommen müssen; schließlich waren die Krippenreiter wo nicht ihretwegen ihres Geldes wegen gekommen. Janna kam nahe daran, die Schuld an Ludwigs Tod bei sich zu finden; die Schwere in ihrer Natur fing an zu wirken und sie nach unten zu ziehen. Denn es ist allgemeine Menschennatur, nicht nur sich nachzugeben, sondern auch an unguten und verkehrten Zuständen erst ein bittres, dann eine Art süßen Behagens, ja eine Lust zu finden und, statt sich herauszuarbeiten, dem Sinken sich hinzugeben; und so machte Janna es auch.
Aber nur für eine Weile; dann mußte sie sich entscheiden, ob sie frei oder unfrei war.
An einem Abend, als sie ihre Arbeitssachen zusammengeräumt hatte, den Vater auf die Stirn geküßt und zur Mutter das Übliche gesagt hatte – »Zeit zum Schlafengehn, Mutter« –, dann ihren Leuchter genommen und sich wie immer Hans Edlev gegenübersah, der von der Ofenbank aufgestanden war, neben der Tür, begriff sie seinen Blick. Sie hätte das längst tun können, aber sie tat es erst heute. Eine halbe Stunde später, nachdem sie seine Mutter zu Bett gebracht hatte und, ihr Haar bürstend, vor dem Spiegeltisch saß, hielt sie plötzlich inne, faßte ihr Bild ins Auge, das im Schein der entfernten Kerze dämmerlich schwebte, und sagte nach einer Weile zu ihm: »Nun mußt du einstehn, Janna.«
Sie wiederholte den Satz noch mehrere Male, als sie im Dunkel lag. Sie dachte nicht darüber hinaus; der Satz enthielt es in sich, daß sie im Besitz ihres eigenen Willens war, und damit schlief sie dann ein. Am nächsten Abend kehrte sie in die Stube zurück, nachdem sie bei der Mutter das Licht gelöscht hatte, und holte ein Buch vom Tisch. Hans Edlev hatte bei ihrem Kommen, auf der Bank sitzend, den Kopf erhoben, doch ohne sie anzusehn. Er saß nicht so weit von der Tür, als daß sie mehr als einen Schritt zur Seite gehn mußte, um die Hand auf sein Haar zu legen, einen Augenblick liegen zu lassen und zu seiner Schläfe hinabgleiten.
Januar – Februar – das Leben im Donopshof ging seinen gleichmäßigen stillen Gang, während außerhalb Sturm und Stille wechselten und die Wälle des Schnees um das Haus zu Bergen anwuchsen.
Der Schnee blieb liegen bis tief in den März hinein, dann setzte Tauwetter ein, die weißen Berge versanken in den Boden, doch immer wieder kam Frost, Regen fiel darauf, es gab Glatteis, und so blieb es im Wechsel bis in den April hinein. Ostern war früh in dem Jahr, und am Ostertag wollte Janna, die bis dahin noch kaum im Freien gewesen war, mit Edlevs Mutter eine Fahrt zur Kirche unternehmen. Der Schlitten hielt vor den Türstufen, die Mutter stand schon in der Haustür, Janna ging hinunter, um den Sitz für sie in den Decken und Pelzen zurechtzumachen, Hans Edlev, der unten stand, streckte die Hand nach ihr aus und mahnte zur Vorsicht, allein es war zu spät. Janna glitt aus und setzte sich hart auf die unterste Stufe. Sie mußte leicht aufschreien, sammelte sich dann, ließ sich emporhelfen, und dann – mit einem hilflosen Blick auf die Wartende oben – sagte sie: »Mußt mich allein fahren, es ist nicht anders, fahr, so schnell du kannst.« Er begriff und peitschte die Pferde durch den Schneeschlamm der Straße, daß sie triefend und dampfend, mit blutenden Füßen und am Ende ihrer Kraft vor dem Pfarrhaus anlangten. Edlev entlieh ein Pferd im Dorf, um sogleich zurückzukehren. Pea Deuterlein war noch im Haus und konnte Janna rechtzeitig von einer Bürde befreien, die ihr sonst hätte schwer werden können.
Aber Janna hatte sich nicht gegen den schneidenden Fahrtwind schützen können, fing in der Nacht an zu husten und konnte nicht zum Hof zurückkehren; am dritten Tag war sie ohne Bewußtsein und blieb es fast eine Woche. In ihren Lungen raste das Fieber, die Ärztin fand sie so mager und von Kräften gekommen, daß sie nicht glaubte, sie könnte es überstehn. Allein Janna war es nicht bestimmt, aus dem Leben zu gehen, bevor sie ihre Aufgabe darin gelöst hatte, und das lag noch in weiter Ferne; doch sie blieb noch für Wochen so schwach, daß sie ihr Bett erst am ersten Maitag verlassen konnte.
Da war die Frau Markgraf längst nicht mehr am Leben. Schon in der zweiten Nacht, nachdem Janna das Haus verlassen hatte, war sie aus dem Fenster ihres verschlossenen Zimmers gestiegen – denn in der ersten Nacht war sie immer wieder aufgestanden und im Hause umhergeirrt; ihr Sohn hatte sie die halbe Nacht darin leise weinen hören, doch als es still wurde, gemeint, sie sei eingeschlafen. Ihr toter Körper wurde erst viel später gefunden; sie war die Straße nach Schötmar gegangen, aber in der Dunkelheit abgeirrt und im Walde erfroren. Janna wurde dies erst mitgeteilt, als sie im Genesen war.
In jenen Tagen konnte Pea Deuterlein es nicht lassen, die Frage an Janna zu richten, warum Hans Edlev sie nicht geheiratet habe. Janna, zur Entrüstung zu schwach, erwiderte nach einer Weile mit gehaltenem Unmut: »Er mich?« Pea lachte und meinte, daß es so das Übliche sei, und darauf wiederholte Janna die Worte, die sie schon einmal gesagt hatte: »Einen geschlagenen Mann heiratet man nicht.« Das war auch die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze. Sie dachte noch etwas anderes – vielmehr sie dachte es nicht mit Worten, sondern sie hatte es ohne zu denken in ihrem Bewußtsein; in Worten hätte es gelautet: Entweder – oder; Verheiratetsein – oder Nichtverheiratetsein, aber nicht beides vermengt durcheinander.
Sie wies daher Hans Edlev ab, als er jetzt einen Brief schickte, um sie zur Ehe zu bitten; daß er es schriftlich tat, konnte bedeuten, daß er ohne viel Hoffnung war. Er hatte ihr bereits im Januar die Trauung angeboten, aber Janna hatte erwidert, sie wolle es sich bedenken – und das Trauerjahr sei dagegen; danach war weder sie noch er darauf zurückgekommen.
Sie sah ihn dann nur noch einmal, als sie mit dem Ehepaar Deuterlein zum Donopshof gefahren war, um von seinem Vater und ihm Abschied zu nehmen. Der hatte unterdessen beschlossen, den Hof zu verlassen, mit dem er nichts zu tun hatte, und wenn möglich zu verkaufen. Er hatte noch etwas Vermögen und wollte zu einer Schwester seiner Frau nach Bremen gehen, die dort als kinderreiche Witwe in dürftigen Umständen lebte. Hans Edlev war unentschlossen, ob er sein Studium der Jura wieder aufnehmen oder Soldat werden sollte – beim Kurfürsten von Brandenburg, oder dem von Bayern, oder in Holland; irgendwo in der Welt war immer Krieg. Die beiden boten Janna den Hausrat des Donopshofs an, und sie nahm ihn, gab ihm dagegen die Schmuckstücke zurück, die er ihr geschenkt hatte, indem sie leise – denn sie waren nicht allein – zu ihm sagte: »Für eine geeignetere Braut!«, und er nahm sie, ein wenig gekränkt, doch das war gut für den Abschied; es erleichterte das Vergessen. Übrigens war es Janna nicht entgangen, daß die Flamme in ihm nicht mehr so licht brannte und in absehbarer Zeit jedenfalls erloschen sein würde. Und da er, wenn er nicht brannte, nur kühl oder kalt sein konnte, so konnte sie – alles in allem – zufrieden sein, im Wiederbesitz ihrer Freiheit.
Sie hatte der Forderung entsprochen, die an sie gestellt worden war, den Opferbetrag geleistet, der von ihr gefordert wurde; sie hatte sich selbst erfüllt, indem sie so viel von sich darangab, wie der Sache und ihr selbst gemäß war. Denn so war sie geartet, immer, in jedem Falle, ob klein oder groß, das von ihr Verlangte zu leisten.
Nachdem sie in ihrem Zimmer auf dem Donopshof ihre Sachen aus den Schränken genommen und sonst zusammengesucht und eingepackt hatte, ließ sie ihre Augen zum Abschied umhergehen, trat dann vor den Spiegel, gleichsam um von sich selbst hier Abschied zu nehmen. Sie hatte in den letzten Wochen keinen Grund gehabt, sich um ihr Gesicht viel zu kümmern, da sie auch wußte, daß es durch die Krankheit kaum gewonnen haben konnte, und faßte es nun ins Auge. Es war noch blaß, war noch zarter als früher, obgleich die Knochen unter der Haut sich zeigten, die Augen waren verschattet, aber an Süße und Reiz war nichts verlorengegangen, eher das Gegenteil. Sie lächelte, ihrer Gewohnheit gemäß, aber schon im Sichwegwenden begriffen sah sie, daß etwas fehlte. Sie wußte erst nicht, was es war, drückte da und dort an den Locken, drehte den Kopf ins Profil, lächelte – etwas war fort, und das war die Jugend. Für ein paar Sekunden wurde ihr Auge starr; dann sah sie das in der Spiegelung und lächelte, aber schwach. Es war für niemand zu sehn als sie selbst, denn es war nirgendwo im Gesicht, sondern das war aufs beste erhalten; es war in ihren Augen allein, es kam aus innen. Was also fort war, das war die Jugend nicht, die kräftig weiter blühte, sondern nur die Frische des Taus, der Schmelz, das Unberührte, das berührt worden war. Sie war nicht umsonst durch Blut und Feuer gegangen.
Janna hatte zu lachen und tat es wirklich, als – kaum daß der eine Freier zur Tür hinaus war – ein zum Unglück bestimmter neuer hereintrat – bildlich gesprochen, denn er befand sich in weiter Ferne, in Hamburg, ihr Vetter Thomas.
Nun wäre Janna nicht Janna, sondern keine wirkliche Frau gewesen, hätte dies eine Überraschung für sie bedeutet. In dem Augenblick damals vor drei Jahren, als er aus der Tiefe des Lotsenbootes zu ihr emporsah und, von ihrem unverhofften Anblick überrascht, aufleuchtete, die Trauernachricht, die er für sie hatte, vergessend, in dem Augenblick hatte sie vollständig Bescheid gewußt und konnte seitdem sein Gefühl, sowenig er es zur Schau trug, in seiner Haltung, in jeder Miene lesen – und natürlich auch in seinem Widerstand gegen ihre Reise, wenn er das auch selbst bestritten hätte und sogar vor sich selbst abgeleugnet. Wir hätten dies damals schon mitteilen können, allein jedes Ding hat sein gewisses Maß, so auch das Erzählen; man kann nicht alles auf einmal sagen, und es war damals von keiner Wichtigkeit.
Jetzt haben wir nachzuholen, daß Janna in jenen glücklichen drei Oktobertagen, bevor sie zum Donopshof kam, nach Hamburg geschrieben hatte, ihre Ankunft meldend, und weiter wahrheitsgetreu den Stand der Dinge, Hans Edlevs Betrügerei, die Lebensumstände und Persönlichkeiten der Familie Markgraf, ihren Wert und ihr Unglück, ebenso die der Deuterleins, und daß sie bei ihnen das beste Unterkommen gefunden habe, wobei sie natürlich das Günstige wie das Ungünstige je nachdem vergrößerte oder verkleinerte. Ihre Verlobung ließ sie aus, schrieb nur, sie gedenke zu bleiben, es sei ein herrliches Land, sie fühle sich wie da geboren und hoffe allem, was an sie herankommen würde, gewachsen zu sein. Auf diesen Brief erhielt sie nie eine Antwort; sie vermutete den Grund dafür in dem Temperament ihres Onkels Becker, der zum Grimm neigte, Janna schon in Hamburg Undankbarkeit und Treulosigkeit vorgeworfen hatte und wahrscheinlich auch Thomas verboten, ihr zu antworten. Gerade aus Thomas' Schweigen ließ das sich erraten. An ihn schrieb sie nun in den Tagen ihrer Genesung, in einer weichen Stunde, als die Erinnerung über sie kam, und die sie deshalb benutzte, um sanft und freundlich zu schreiben. Was sie erlebt hatte zu schildern, war freilich ganz unmöglich, und so schrieb sie davon weiter nichts, als daß sie sehr schwere Dinge durchgemacht habe, die im Brief sich nicht darstellen ließen, doch deren Folge die Auflösung ihrer Verlobung gewesen sei. Sie erwähnte im Vorübergehen ihre Krankheit, bat vor allem um Nachrichten und ihr doch nicht zu zürnen, daß sie darauf beharre, nicht nach Hamburg zurückzukehren. Aber mit dem Verschweigen ihres derzeitigen Zustandes und aller Pläne für die Zukunft wollte sie zeigen, daß sie ihre Selbständigkeit nach wie vor für sich beanspruchte.
Diese Berechnung war jedoch fehlerhaft; dem Brief wurde nur entnommen, daß sie in Unglück geraten, hilflos und ratlos sei und nur zu stolz oder eitel, um das einzugestehn. Und dies gab Thomas den Mut, wie er schrieb, aber auch die Pflicht, ihr nun seine Hand anzubieten, was er in Hamburg leider nicht habe tun können, und sie zur Heimkehr aufzufordern, in die alten Räume ihrer Kindheit und der Liebe aller Verwandten. Ihn selbst betreffend, gestand er ihr seine tiefe Liebe, die bestehe, solange er ein Mann sei, und die auch durch ihre Verlobung und die Jahre ihres Fernseins unerschüttert geblieben sei, wie sie ja sehe. Nun sei sie zuletzt in die Irre gegangen, aber sie habe gewiß nichts zu bereuen, und sein ganzes Herz stünde ihr in unwandelbarer Treue und in Sehnsucht offen – und so weiter, ein so unglücklicher Brief, wie er ihn nur schreiben konnte. Denn trotz all seiner Liebesbeteuerungen hörte Janna einen Klang der Selbstsicherheit, so als ob sie bereit sein müsse, in seine ausgebreiteten Arme hineinzufliegen, dazu der pastörlichen Anmaßung zur Errettung einer verlorenen Seele, so daß sie am liebsten zurückgeschrieben hätte, sie sei keine verlorene Eselin und er nicht der Sohn Isais, sie zu suchen. Das Wort »bereuen«, obwohl in negative Fassung gesetzt, nebst der Wendung vom Irrweg, den sie gegangen, hatte sie mit einer giftigen Nadel gestochen, so daß sie erst im dritten Briefe – nach zwei zerrissenen – das Maß der Höflichkeit fand. Sie habe allerdings, schrieb sie dann, nichts zu bereuen, sei auch keinen Irrweg gegangen, sondern habe sich bloß geirrt, aber nicht bemerkt, daß sie von einem Weg abgewichen sei, sondern es sei ein guter und richtiger, wenn auch kein leichter Weg gewesen. »Irrtümer und Leiden«, schrieb sie, »die daraus entspringen, sind wohl unumgänglich; das weiß man jedenfalls hinterher, und weiß man es nicht, um so schlimmer. Und dann habe ich ein Wort gehört, aus dem Mund eines weisen Mannes, von einem anderen weisen Mann, der im Altertum lebte – hab leider mit meinem unordentlichen Gedächtnis seinen Namen vergessen – ein ganz einfaches Wort, Thomas, nämlich: ›Die nach Gold suchen, graben viel Erde um und finden wenig.‹ Viel Erde umgraben, das ist das Leben, und wenig finden – aber dann Gold. Gold? fragst du, was für Gold? Das behalt ich natürlich für mich.« (So schrieb sie, nachdem sie das »Süß zu sein mit bitterem Herzen«, das eine Weile hartnäckig vor ihr schwebte, verscheucht hatte, da es sich wohl denken, aber nicht schreiben ließ.)
Schwieriger als dieser Teil des Briefes war der abzufassen, in dem sie für seine Liebe zu danken und sie zurückzuweisen hatte, denn die Treue war rührend, und der arme Mensch dauerte sie sehr.
Als Janna dies schrieb, befand sie sich nicht mehr in Schötmar, sondern in dem benachbarten Lemgo, wo sie ein Haus gekauft hatte. Es war ein im Innern ganz neues, schönes und großes Eckhaus aus Stein, am Marktplatz gelegen, und sie hatte es mit dem Donoper Hausrat von oben bis unten ausstatten können. Lemgo war eine alte Hansestadt, zwischen Herford und Detmold in der Grafschaft Lippe gelegen, ehemals reich und stattlich, in Jannas Tagen fast eine Ruine. Aber das war für Janna einer der Gründe, um es für sich zu wählen. Sie hatte auf ihrer Reise die Verwüstung des Landes gesehn; sie war selber durch eine Verwüstung gegangen; sie sah sie wieder in Lemgo und konnte sich nur darin am rechten Ort sehen, um heilen zu können, heil machen, soviel in ihrer Macht stand. Ihre Macht war ihr Geld – ein Betrag, der – mit dem von ihrem Vater Ererbten – noch an die dreitausend englische Pfund in Gold war, im Wert von zwanzig Schillingen, doch im mehr als zehnfachen Wert von heute. Das Haus war in seinem Mauerwerk schon betagt, hatte aber der Feuersbrunst widerstanden und war nur im Innern ausgebrannt. Der Besitzer, der sein Vermögen gerettet hatte, hatte es neu ausgebaut, war aber danach gestorben. Es blickte mit seinem hohen gotischen Treppengiebel, Erkern und Fialen über die Länge des Marktplatzes zum Rathaus hin, einem schönen Bau der deutschen Renaissance, der von den Flammen verschont geblieben war. Janna richtete die unteren großen Räume für das zuerst Notwendige ein, die Speisung der Kranken und Krüppel, Witwen und Waisenkinder. Sie hatte einen Knecht und mehrere Mägde und eine Zofe oder Gesellschafterin für sich, ohne eigentlich Gebrauch dafür zu haben. Das Geschöpf war auch zu wenig mehr zu gebrauchen. Sie war die noch junge Frau eines Kürschnermeisters und hatte in einer einzigen Nacht erfahren, was für eine Menge Menschen ausgereicht hätte: ihren Mann im Kampf erschossen gesehn, seine Eltern und ihre Mutter erschlagen, ihre Kinder verbrannt und sich selbst von so vielen vergewaltigt, daß sie sie nicht zählen konnte. Schließlich hatte ihr Leib noch fünf Monate später gleichsam eine Nachgeburt von sich gegeben, eine Mißgeburt, die zum Glück tot war. Was von ihr selber danach übriggeblieben war, das war eine Art Rinde um einen Hohlraum – so wie es Obstbäume gibt, die nur noch aus Rinde bestehen, aber noch grünen und blühen; und das, wovon sie lebte, war nichts als die Bewegung des äußeren Lebens um sie her: sie plapperte unaufhörlich alles vor sich hin, was sie sah und hörte, das Vorbeigehen von Menschen und was sie von denen wußte, das Spielen, die Rufe der Kinder, Wagenfahren, Glockenläuten, auch was sie selber tat, Tischdecken, Kleidung säubern, was immer: alles das wiederholte sie mit Worten, sprach es in einem fort aus: Den Teller, ich nehme den Teller, ich setze den Teller hin, da steht er, er steht nicht richtig, hier liegt der Löffel … und dazu alles Weibergeschwätz, das sie in Gassen und Höfen mit anhörte, in einem unaufhaltsamen halblauten Gemurmel oder auch, wenn Janna sie zur Stille ermahnte, nur die Lippen bewegend. In ihr ging es beständig weiter; sie war wie ein Mühlenrad unter ständig fließendem Wasser. Ihr noch junges kleines und blondes Gesicht mit einem Haarschopf war dabei sonderbar schief, als ob es verbogen wäre, und sie hielt es nach oben gedreht mit ganz leeren Augen. Janna hatte sie zu sich genommen, weil niemand da war, sich um sie zu kümmern; sie hatte seit Jahren von geschenkten Brotrinden und Abfällen gelebt; aber auch in Erinnerung an die irre Frau, die sie im Stich gelassen hatte, und von der sie das Irresein schon gewohnt war.
Den äußeren Anlaß, nach Lemgo zu ziehen, hatten die Deuterleins gegeben, die ihren Wohnsitz dorthin verlegten. Auch für sie war der besonders lange und harte Winter sehr bitter gewesen. Gehalt bezog der Pfarrer kein nennenswertes in Münze; was die kleine Gemeinde an Naturalien aufbringen konnte, reichte für die zahlreiche Familie kaum aus, und sie waren nur durch Jannas Unterstützung über den Winter hinweggekommen. Denn auch was die Praxis eintrug, war äußerst wenig; die meisten Patienten hatten selber nichts und kosteten die Arzneimittel noch dazu; diese waren jedoch fast ausschließlich pflanzlicher Natur und wurden von Pea und den Kindern gesammelt, auch vom Pfarrer auf seinen Gängen, oder im Garten gezogen. Die wenigen wohlhabenderen Patienten zahlten auch lieber statt in Münze mit einem silbernen oder goldenen Gegenstand, dessen Wert sie gern überschätzten; und je wertvoller er war, um so weniger brachte – im Verhältnis dazu – sein Verkauf ein, zumal der Pfarrer über Geschäftstüchtigkeit nicht verfügte und von dem einzigen Lemgoer Juden nahm, was der zu geben für gut hielt. Der hatte selber nichts, außer mehr Kinder als Finger.
Aber im Winter waren von Januar bis März die Wege kaum passierbar, auch die Praxis schrumpfte ein, die Menschen blieben gesund oder starben allein. Doch der Holzvorrat reichte bei der Länge des Winters nicht aus, die Kinder saßen voller Frostbeulen, zwei bis drei von ihnen waren beständig krank. Als Janna im Frühjahr erschien, war der Pfarrer eben aus dem Bett aufgestanden und blieb noch lange verkrümmt vom Rheumatismus. So ging es nicht weiter – und es war doch in früheren Jahren schon noch schlimmer gewesen.
Da starb der Seelsorger von Sankt Marien in der Lemgoer Neustadt. Das Gehalt, das die Stadt bot, war gering, aber es bot eine Sicherung; und war auch die Stadt Lemgo kein freundlicher Aufenthalt, so bot sie Weinbergsarbeit des Herrn in Fülle. Die Stadt hatte furchtbar gelitten; einst war sie reich, mit vielen steinernen Häusern und mit köstlicher Schnitzerei und Bemalung an denen aus Fachwerk. Nach dem großen Kriege lebte von ihren Einwohnern nicht mehr als ein Fünftel; die Belagerungen, Hunger, die Pest, Ruhr, Pocken, Typhus – hatten sie hingerafft. Die Lebengebliebenen lebten verbissen und trotzig, innerst verzweifelt, daß es je besser würde – obgleich eben damals nach der Erschlaffung die ersten Lebenskeime wieder zu Kräften kamen –, geschwächt von Krankheit oder von Seelenleid. Selbst die Kinder wuchsen unfroh heran, von vergrämten, hart oder gleichgültig gewordenen Erwachsenen kaum beaufsichtigt, geschweige erzogen. Sie zankten und schlugen sich nach dem Beispiel der Eltern, gründeten Räuberbanden und stahlen alles, was lose war. Die Dörfer der Umgegend waren ausgebrannt, leer. Nirgend gab es Kredit. Wer beim Handwerker ein Stück bestellen wollte, mußte das Material selbst bringen oder vorher bezahlen. Das Ganze sah aus wie ein Schöpfrad im Schlamm, das nur das Untere immer wieder nach oben kehrte, ohne daß der Jammer weniger wurde.
Janna wurde nun in Lemgo die reichste Person, aber wenn sie sich nach den ersten Wochen nicht selber Einhalt geboten hätte, so wäre sie nach einem Jahr schon so arm wie alle gewesen. Ein neues Spital einrichten, täglich unzählige Armut speisen, Bräute ausstatten, Pate stehen, verschenken oder ausleihen, oft auf Niewiedersehen, zu dem niedrigsten oder gar keinem Zins, an Handwerker und Krämer, an die Stadt, sogar an den Grafen von Lippe, der den niedrigsten Zins anbot, von dem aber Janna lernte, von nun an besser hauszuhalten, indem sie zunächst ihn aufs Höchste hinaufschraubte. Sie sollte ihn später noch kennenlernen – einen der immerhin seltenen Menschen ohne Herz und Gewissen. Wenn er die Krippenreiter aufhängen ließ, so tat er das nur wegen des Unfugs, der Schaden war ihm ganz gleichgültig, und ihre Besitzungen konnte er einziehen. Aber trotz aller Vernunft und Beherrschung hatte Janna am Jahresende nicht mehr viel bares Geld in der Truhe und statt dessen eine große Menge Hypotheken und Pfandbriefe, die aber gesichert waren und gut zinsten. Indes war die Genugtuung, die sie eingeheimst hatte, nicht gering. Dieses Lemgo, eine bittere, kranke, verfinsterte und verödete Stadt, gesundete, lichtete, versüßte sich unter ihren Händen, die in den Augen der Menschen von Gold flossen. Segensreiche Wirkung um sich her zu verbreiten – welchen Menschen freute das nicht und glättete ihm die Falten des Daseins? Wo sie kam, glänzten die Gesichter, Frauen und Kinder liefen, um ihre Hände und Füße zu küssen. Es kamen aber auch die Söhne der Adligen herbei, die in der Umgegend wohnten und sie in die Stadt schickten, um Rosse zu tauschen oder andrer Geschäfte halber, und ihretwegen war die Elisabeth gut; sie konnte sich ohne Begleitung nicht auf dem Markt sehen lassen. Denn diese, in riesigen Sporenstiefeln einhertretenden, in Birnengrün, Eiergelb, Zinnober oder Lavendelblau prangenden Fasanhähne – mit schiefen Riesenhüten, Riesenhiebern und Riesenpeitschen, mit Hängestrümpfen und mit Puffen, Rosetten, Schleifen und Spitzen – flößten ihr nur geringes Vergnügen ein. Sie schlug deshalb auch die wiederholten Einladungen der Gräfin Lippe zu Jagden und Festen aus, obwohl diese ein zartes und feines, noch junges Geschöpf war, das von ihrem Mann malträtiert wurde, von zu vielen Geburten kränkelte und zu Janna eine kindlich fanatische Zuneigung gefaßt hatte; sie auch öfters besuchte, um sich auszuklagen. Janna lebte daher gern, obwohl sie unter der Einsamkeit litt, so daß sie vor jedem Betreten ihrer leeren Zimmer Atem schöpfen mußte, als ob die Luft darin schwer wäre.
Denn sie wußte doch nun, wie es sein konnte; sie wußte nun, was sie sein konnte! In den Armen eines Mannes zu sein – auch bei nur geringer Verliebtheit – das, so genußreich es war, das hatte nicht viel Gewicht. Aber dies einem Manne zu sein, ihm Reiz und Genuß und Entzücken, Erfüllung erratener Wünsche … dazu dies Haar, diese Lippen, diese Wimpern und Hals und Glieder; dazu Gang und Haltung und Anmut, Augenaufschlag und Lächeln; dazu Samt und Spitzen, Kleidausschnitt, Schnürbrust und Ohrgehänge; dazu Hingabe und Widerstand, Spiel und Ernst, Natur, durch Kunst überraschend, verhüllter geheim bei Tag, offener geheim bei Nacht; dazu dies alles zu haben, zu sein, zu verstehn, zu können – und an den Mann auszustreun: das war der wahre Genuß, weil der feine – weit überlegen dem einfältig plumpen Fürsichhabenwollen. Das hatte sie nun gelernt und konnte vor der armen kleinen Gräfin mit entsprechenden Lehren sich brüsten, die in diesen Dingen so ahnungslos war wie eine Katze vom Fliegen: »Eine Frau, die einen Mann für sich haben will, verdient gar nicht, eine zu sein«, und dergleichen reife Sätze, die sie selbst weit weniger befriedigten, als es klang.
Denn was frommte ihr das Wissen? Was hatte sie als das Wissen? Das zu haben war nicht mehr, als die Grammatik beherrschen, wenn kein Vergil oder Horaz zur Hand war, um sie anzuwenden. Anzuwenden? Ja, und dann überm Zauber der Verse, über der Göttlichkeit des Gedichts sie wieder ganz zu vergessen, um bewußtlos es selber zu sein, das Gedicht, gejubelt, gestammelt, geschluchzt, von vier trunkenen Lippen.
In der vierten Woche nach ihrer Ankunft in Lemgo, an einem sonnenhellen Junitag, als Janna mit ihrer Elisabeth am Markt entlangging, zwischen der Häuserzeile und einer kleinen Reihe von jämmerlichen Gemüseständen der Bäuerinnen, ließ ein plötzliches Getrappel von Hufen auf Pflasterstein sie in der Richtung des Rathauses blicken. Fern drüben, neben ihm hervor, trabten mehrere Koppeln junger Pferde, nackt, meist Apfelschimmel und Rotschimmel, von berittenen Knechten an Halftern gehalten. Wie sie, sich drehend und ihre Köpfe werfend, schnaubend, tänzelnd und glänzend, über den leeren Platz daherkamen, kam ein einzelner Reiter neben ihnen im Trabe hervor und setzte sich an ihre Spitze, ruhig im Sattel auf und nieder steigend in dem langen Trab seines stämmigen weißroten Rosses. Unter seinem breiten Federhut … James!
Das Unmögliche möglich geworden … Die Lebendigen fallen tot um, und die Toten stehn auf. Vor Jannas Augen zuckten die Häuser auf und nieder, als ob sie dehnbar wären. Ein großer goldener Schrecken war quer durch sie hindurchgefahren mit einem Schnitt solcher Süße, daß sie sich danach wie zerteilt fühlte, ihre Füße tief unten, Brust und Kopf hoch oben, ohne Atem und Herzschlag. Das braungraue, regungslose Gesicht, und der Schrecken in seinen Augen … sie mußte nach zwanzig Schritten stehnbleiben, und im nächsten Augenblick ließ eine Berührung sie so zusammenzucken, daß sie wie von einem Schlage herumfuhr. Es war aber nur die Elisabeth, die sie am Kleid gefaßt hatte und ihr zuwisperte: »Der Roßkamm von Detmold, Jungfer Janna«, und danach immer wieder: »Der Roßkamm von Detmold, von Detmold, der Roßkamm und seine Pferde«, und so weiter, bis Janna es nicht mehr hörte.
Sie erfuhr in der Folgezeit, soviel sie wissen wollte, von James Hick, und dies waren in der Zwischenzeit seine Schicksale.
James Hick war aus seinem Gefängnis, nachdem er seine Kleidung wieder erhalten hatte und auch eine Börse mit Geld, auf ein Schiff gebracht worden, das noch in derselben Stunde mit ihm nach Amsterdam fuhr. Er ging in den Haag zum König Karl, wurde gnädig aufgenommen und belobt und erhielt ein Schreiben mit Empfehlungen in seinen Gasthof geschickt, dem ein Patent seiner Beförderung zum »obersten Leutnant«, Obristleutnant, beigeschlossen war. Da die Holländer keine Pferdezüchter waren, zog Hick Erkundigungen ein und hörte von einem Gestüt, das dem Grafen zu Lippe gehörte und von besonderer Art war. Es lag, von Holland nicht weit entfernt, in der Senner Heide, einfach »die Senne« genannt, einem Landstrich Westfalens, unbebaut, meist Heide, am westlichen Abfall des lippeschen Waldes. Das Gestüt war ein sogenanntes »halbwildes«, denn die Pferde waren dort das ganze Jahr durch im Freien, wodurch sie besonders gekräftigt wurden, mit tüchtigen Lungen, ausdauernd im Lauf, ein derbes Halbblut von mittlerer Größe, besonders als Post- und Kurierpferde tauglich. Der Graf war eben dabei, ein neues Gestüt in seinem Schlosse Lopshorn bei Detmold einzurichten, und nahm Hick als Bereiter. Er hätte ihn zum Gestütmeister gemacht, doch es schob sich etwas andres dazwischen.
Vom Grafen Simon nach Celle gesandt, zum Herzog von Calenberg, mit einer Anzahl erlesener Zuchtstuten, kam Hick auf der Rückkehr, bei Dunkelwerden, in einem Wald dicht vor Lemgo dazu, wie vier schwer bewaffnete Kerle zwei Reiter von den Rossen zerren wollten. Er und sein Knecht schlugen sie leicht in die Flucht, aber der eine der Überfallenen, der Roßhändler Schley von Detmold, hatte einen Stich in die Lunge erhalten, so daß er kaum noch atmete, als Hick mit ihm vor seinem Haus in Detmold ankam. Dort sah er die Frau dieses Roßkamms, als sie, ihr Licht mit der Hand schirmend, aus einer Seitentür über drei Stufen, in die nachtfinstre Torfahrt trat, mit schweren braunroten Zöpfen, auch schweren schwarzen Augen mit langen Wimpern und einem lustvollen Munde. Sie war Jüdin, so wie ihr Mann, obgleich das Gewerbe sonst nicht in jüdischen Händen war. Auch hatte erst der jüngere Schley es ergriffen; sein Vater war Händler, lieh Geld auf Wucherzins und war ein reicher Mann, ohne daß jemand es wußte.
Als dann Hick am dritten Tag kam, um sich nach dem Befinden des Schley zu erkundigen, war der inzwischen gestorben, und die Frau war verzweifelt, weil ihr Schwiegervater seit langem an einem Bluthusten litt und die Ritte auf die Märkte nicht hätte ausführen können, wenn er Lust dazu gehabt hätte; er wollte, daß sie nach jüdischer Sitte den Bruder des Toten ehelichte, der um mehrere Jahre jünger als sie, unansehnlich und kränklich war. Darauf übernahm Hick zunächst das Geschäft und bald darauf auch die Frau. Daß sie die neue Ehe so bald nach dem Tode ihres Mannes einging, war ihr nicht zu verargen; er war ein Trunkenbold und Sadist, und ihr eigenes Wesen neigte zu Schwermut; infolge seiner Mißhandlungen hatte sie schon einmal Gift genommen, aber nicht die genügende Menge.
Der Pferdehandel war einträglich, das Geschäft florierte und tat es noch mehr unter Hick. Er hatte den Obersttitel, sprach fließend Französisch wie Englisch, am schlechtesten noch Deutsch; er hatte Aussehen und Haltung des geborenen Kavaliers, nach dem dritten Humpen sogar die bessere. Wir können vorgreifen, indem wir noch mitteilen, daß er sich – als im Laufe des Jahres 53 kurz nacheinander der alte und der junge Schley starben – als reichen Mann fand. Er kaufte dann den Donopshof, um selber in Konkurrenz mit Graf Simon »halbwilde« Pferde zu züchten, gab dann den Handel auf und widmete sich allein der Zucht.
Auf diese Weise waren er und Janna von Osten und Westen im Norden her zu der gleichen Stelle im Süden zusammengeführt worden; aber was Janna geglückt war – nach drei Jahren am Ende ohne Fessel zu sein –, war ihm in drei Monaten verunglückt; und so waren sie, fast am gleichen Erdenfleck lebend, beieinander nicht näher als vorher.
Ein Sommer, ein Herbst, ein Winter waren vergangen, es war wieder Frühling geworden. An einem sonnenhellen Sonntag im Mai hatte Pea Deuterlein Janna eingeladen, sie auf der Fahrt zu einem Patienten zu begleiten, für sie selbst zugleich eine Erholungsfahrt an dem schönen Tage. Sie fuhren, die Ärztin im Stehen lenkend, Janna neben ihr sitzend, in einem schwarzen, faltigen Samtrock mit lavendelblauer Taille, über dem Schoß spitz zulaufend, und einem gleichfarbigen kleinen schiefgesetzten Hut mit schwarzer hängender Straußenfeder an der aufgeschlagenen Krempe. Von der Kleidung der Ärztin ist nichts zu sagen.
Aus dem westlichen Tor der Stadt, dem Johannistor, nach Norden auf einen Feldweg einbiegend, fuhren sie erst unter den hohen grünen, mit Maßliebchen weiß gefleckten Abhängen des Walles einher, den sie zur Rechten hatten, zur Linken und vor sich das Wiesengelände, wo rosiges Schaumkraut und gelber Hahnenfuß blühte. Dann stieg ihr Weg nordwärts an, zwischen abgeholzten kahlen Hügelwellen einem Höhenzuge zu, der die Lemgoer Mark hieß, mit Wald überzogen, der jetzt im lichtesten, zartesten Grün der eben sprossenden Laubbäume schimmerte, mit schwarzgrünen Tannen überall getupft; und schöne weiße Wolkenballen waren leuchtend darauf gelegt. In den erst leicht übergrünten Gesträuchen am Weg zwitscherten zart Kohlmeise und Distelfink. Mittag war vorüber, und die Luft senkte sich glühender. Pea Deuterlein fing an, von ihrem Patienten zu erzählen.
Auf dem Bergrücken, in dessen Wald sie hineinfuhren, hauste ein Freiherr von Krosigk in den Ruinen seines Schlosses. Er war ein hoher Sechziger jetzt, war nach frühem Tod seiner ersten Frau viele Jahre lang auf Reisen gewesen und hatte sechsundvierzigjährig noch einmal ein Weib genommen, das jung und schön, so holdselig wie ein Engelsknabe gewesen sein soll, aber sogleich, anfing, ihn mit jedem Mann zu betrügen, der ihr in den Wurf kam, ohne Ansehung des Alters und Standes. Was alle Welt längst wußte, erfuhr der Freiherr erst, als sie ihm mit einem Trompeter der Wallensteinschen Ihlow-Dragoner davonging, was er mit einem weichen Herzen erst nicht zu fassen vermochte. Dann ergriff ihn ein Ekel; er begab sich wieder auf Reisen, mit dem Vorsatz, nicht zurückzukommen, ehe der Krieg in Deutschland zu Ende sei. Er hielt auch Wort, sosehr es sich in die Länge zog, und blieb anderthalb Jahrzehnte fort, zuerst in Europa; später ging er über Ägypten zu den Negern nach Afrika, an die Elfenbeinküste und tiefer ins Innere; ging auch nach beiden Indien, Osten und Westen, und wieder nach Afrika in die Wildnis.
Als er dann heimkehrte, standen von seiner Burg nur noch ein paar Türme und sonst nicht viel außer den Mauern. Seine Dörfer waren fast alle zerstört oder verödet. Indes nahm er von den noch vorhandenen Bauern weder Arbeit noch Produkte an, sondern sagte, sie hätten Plage allein genug, und er könnte sich selbst helfen; und er baute allein seinen Acker und Gemüsegarten mit einem alten Knecht. Pea sagte, er wäre ein großes Leckermaul; er zog Edelobst und Erdbeeren und Beerensträucher, hielt auch Bienen, um Töpfe mit zarten Gelees und in Honig gelegter Früchte für sein Winterbehagen einzukochen, denn auch seine Küche besorgte er selbst. Er hätte Wälder verkaufen und reichlicher leben können, aber er mochte sie nicht kahl schlagen lassen. Er war gesund, abgesehen von der Malaria, die ihn aller Regel zuwider bereits im dreißigsten Jahr mit wiederholten Anfällen heimsuchte, ein alter Jäger, der Löwen, Tiger und Büffel geschossen hatte, jetzt nur noch Rehe, Hasen und Schnepfen.
Dies war der Freiherr; er bekam eines Tages einen Sohn. Der erschien in Herford, ein Jahr vor der Zurückkunft des Freiherrn, kaum fünfzehnjährig, abgerissen und abgezehrt, nahe am Tode. Er hatte nach Lemgo gewollt, kam aber vor Schwäche nicht weiter. Nachweise für seine Abkunft vom Freiherrn hatte er keine, außer seine eigene Aussage und einen Ring. Seine Mutter, sagte er, war in Holland gestorben und hatte ihn vom Totenbett hergeschickt. Sie war, wie es schien – er äußerte wenig darüber –, mit ihm durch den ganzen Krieg gezogen. Er selber sprach, als er gesunder und heiterer geworden war, sämtliche deutsche Mundarten und die meisten Sprachen des Kontinents; er konnte lesen und schreiben, ziemlich gut Latein und sogar etwas Griechisch. Entlaufene Theologen, relegierte Studenten waren ja überall in den Heereskörpern leidliche Lehrer, und er erzählte von einem, der ihn liebgehabt und viele Jahre mit ihm zusammengelebt hatte.
Pea Deuterlein sah ihn durch Zufall im Spital, als sie einen ihrer Patienten dort einbettete. Sie hatte schon von ihm gehört, er dauerte sie, und sein fremdartiges, anmutiges, aus dem Leiden mit einem matten Humor lächelndes Gesicht zog sie an, aber auch sein Leiden selbst, das sie am hektischen Aussehen als Lungensucht gleich erkannte. Sie nahm ihn daher zu sich, um ihre Kunst an ihm zu versuchen und ihn zu verwahren, ob sein Vater vielleicht doch einmal wiederkäme. Der kam dann, und da der Junge ihm gefiel, kümmerte er sich weiter nicht darum, ob er wirklich sein Sohn war oder nicht, sondern nahm ihn zu sich.
Als Pea so weit in ihrer Geschichte gekommen war, lenkte sie vom Wege auf einen im Wiesengrase kaum sichtbaren ab und auf ein Haus zu, das vor hohem Fichtenwalde in seinem Schatten stand, befremdlich düster, denn es war mit Ochsenblut dunkelrot angestrichen; ein kleines, einstöckiges Gebäude, mit schwarzem Strohdach, dessen Rand es den Kommenden zuwandte. Aussteigend sagte die Ärztin, sie habe auch hier einen Patienten, doch es würde nicht lange dauern. Eine kleine braune Kruke in der Hand, ging sie zu der Tür hin, die sich seitwärts unter dem Giebel befand. Neben ihr hing an einem starken Haken ein gewaltiger Tierschenkel, dessen dunkles Fleisch und gelbes Fett nicht vom Rinde stammte; es war vom Roß.
Im Haus schien aber niemand zu sein; wiederholtes Klopfen und Rufen blieben ohne Erfolg. Sie waren schon wieder im Zurückfahren zu ihrem Wege, als Janna fragte, wer denn hier so abgelegen wohne. Pea versetzte: »Der Nachrichter.« Darauf wieder Janna, der das Wort unbekannt war: »Was ist das? Was heißt ›nach‹?« Die Ärztin mit ihrer Vorliebe für knappe Formeln entgegnete: »Dicit unus, agit alter.«
Der eine spricht Recht, der andere führt es aus – also der Henker. Wie auf einem lautlosen dunklen Blitz flog das Antlitz James Hicks auf Janna zu, und sie fragte mit einem leichten Schauder:
»Rührst du den Henker an?«
»Lieber, als daß er mich anrührt«, versetzte Pea und lachte; sie fügte hinzu, daß nicht er, sondern seine Frau ihre Patientin sei. Sie bogen nun wieder auf den Weg, der in den Wald hineinführte, und als sie jetzt auf engem Waldweg Schritt vor Schritt des greisen Zugtiers langsam höher kamen, fuhr die Ärztin in ihrer Erzählung fort.
In Holland, so fing sie an, lebte ein Mann, Leeuwenhook war sein Name, ein jüdischer Mann, ein Krämer. Aber der liebe Gott, der seine Menschen sich auswählte, und auch die Zeit, wo er etwas getan haben wollte, hatte sich endlich entschlossen, so viele Jahrtausende seit Erschaffung der Welt, diesem Mann einzugeben, Gläser zu schleifen, viel schärfer als die schärfste Brille, durch die man überall Dinge erkennen könne, für die das Auge nicht reichte, und die staunenswert waren. Mikroskope nannte man sie, auf deutsch etwa mit Winzigschauer zu übersetzen. Durch sie konnte das Menschenauge nun in das Innere der Natur schauen und die zartesten Geheimnisse in der Materie und des inwendigen Lebens erkennen. Sie setzte Janna in hoher Begeisterung auseinander, daß ein Regentropfen, nein, ihre eigenen Blutstropfen, nein, alle Körper aller Kreatur angefüllt wären innen, in allen Adern und Geweben, mit einer unerschaubar winzigen Bevölkerung, einem myriadenfach wimmelnden Leben von Getier, wie dieser Mann Leeuwenhook entdeckt hatte. Dieser war aber nun leider kein guter Mensch, sondern ein boshafter Schurke, denn er teilte seine Erfindung nicht, wie Gott ohne Zweifel es gewollt hatte, der Welt mit, damit sie den Nutzen davon hätte, sondern er behielt sie für sich, die Gläser und die Kunst, sie zu schleifen. Er hatte nur darüber geschrieben, auch einmal der Royal Society in London einen Vortrag über sie gehalten und sie gezeigt, und von dort aus war die wunderbare Kunde in die Länder und auch nach Herford gedrungen. Er war aber heimgefahren und saß und schliff und beschaute weiter in seiner Einsamkeit die geheimen Wunder des innersten Lebens und des Sterbens.
Sie selbst nämlich, Pea Deuterlein, hatte aus diesen Berichten einen Schluß gezogen oder eine Entdeckung gemacht, nämlich die: daß gewisse, vielleicht sogar alle Krankheiten durch solche Tierchen hervorgerufen würden, die jener Leeuwenhook entdeckt und auch beschrieben hatte; die, von außen hereinwandernd – was man Ansteckung nennt –, zu Millionen über die innen eingesessenen Lebenstierchen herfielen – ihre Vermehrung sei ganz unermeßlich – im Blut, in allen Organen, so auch in der Lunge, um sie zu ersticken oder zu verzehren. Herausgefunden hatte sie dies nur durch Logik. Denn – schau in die Natur, sagte sie in schönem Latein, was erblickst du? Alles Lebendige vernichtet sich gegenseitig. Sind es also wirklich Tierchen, die uns innen anfüllen und gesund sein lassen, so können es auch nur Tierchen sein, die sie vertilgen, damit wir erkranken.
»Sin autem videbo has bestias maledictas«, rief sie siegesgewiß in den Wald, »delebo!«
»Wenn ich sie sehe, diese vermaledeiten Bestien – so zerstöre ich sie!«
Janna, die von so unglaubwürdigen Dingen wenig begriffen hatte, lachte und sagte: »Wenn du es mich nur hättest wissen lassen, wäre ich längst nach Holland gefahren, um dir solch ein Glas zu holen.«
»Dir hätte er grad eins gegeben!«
Dessen war Janna gewiß, lächelnd in ihrer andern Art von Siegesgewißheit, und die Ärztin sagte: »Du irrst dich! Es ist ein Glas, durch das man sieht, was dahinter ist, nicht davor.«
Sie war unterdessen auf dem von Buschwerk eng zugewachsenen Pfad im Bogen um den Berg und hinangefahren. Nun drehten sich die Räder im halb mannshohen Gras einer breiten, aber verwahrlosten Schneise durch den Föhrenhochwald, in tiefem Schatten, wo nur seltene Sonnenlichter spielten. Gestürzte Stämme, wie sie vielfach im Walde lagen oder noch schräg standen, zu beiden Seiten des Weges hatten ursprünglich wohl quer darüber gelegen und waren zur Seite geräumt worden. Fast lautlos auf dem weichen Boden rollte der Wagen in der schönen Waldstille, die kein Vogelruf unterbrach, und die gelben Zitronenfalter, die als die frühesten erscheinen, weil sie überwintert haben, flogen auf.
Die Schneise lief bald in eine weite und runde Lichtung aus, während zugleich der Fichtenwald ein Ende nahm und Laubwald begann, und sie hatten vor sich einen sonderbaren Rundbau. Aus seiner Mitte stieg, fast unglaublich zu sehen, das ungeheuerste Ungetüm eines Eichbaums auf, das deutscher Boden je hervorgebracht haben mochte. Der Bau, aus dessen Mitte der Stamm emporwuchs, war eine große flache Rotunde, mit einem Bretterboden mehrere Fuß hoch über dem Erdboden und mit altersbraunen Pfosten, die das rundum von außen her nach innen steigende Schindeldach trugen. Es war aber nur ein breiter Kranz von Dach, denn sein höher gelegener Innenrand umgrenzte eine kreisförmige Plattform, um die ein Geländer von Ästen geflochten war. Und aus dieser Scheibe stieg der Stamm, ein fünffaches Bündel von Pfeilern, hoch oben sich auseinander wuchtend mit riesigen Knollen vor alters gebrochener Äste, bis er sich in einer Höhe von sechzig Fuß in ein Enaksgeschlecht von gewaltigen Ästen teilte, überallhin gebogen und hochgewunden mit tausend Zweigen im ersten noch gelblichen und bräunlichen Grün der jungen Blätter, mit hundert Klüften zerteilt, locker offen bis in den höchsten Wipfel, kirchturmhoch im Licht, in der goldenen Bläue des Himmels. Dieser Baum hatte, wie Pea sagte, hier schon gestanden, als der Heiland geboren wurde; Janna staunte fast mit einem Grauen vor diesem Sturm der aus dem Erdboden hervorbrechenden Kraft, die Ärztin aber sagte: »Incolat ibi in summis«; da oben wohnt er, nämlich ihr Patient, Tassilo Krosigk. Wirklich war eine dunkle Masse in der Höhe zu erkennen, und dann wurden ganz leise Akkorde einer Laute vernehmbar.
Nachdem sie unter den nötigen Vorsichtsmaßregeln den Wagenkasten verlassen hatten, gingen sie in das Dunkel der Rotunde und stiegen auf einer kleinen Treppe neben dem Felsen des Stamms in die Plattform hinauf. Dies Bauwerk hatte in glücklicheren Friedenszeiten der Vater des Freiherrn errichtet, um Tanzfeste darin und darauf zu feiern. Auch dem Landvolk hatten er und sein Sohn es zu Hochzeiten und Tänzen überlassen, hatten auch ihre eigenen Hochzeiten darin getanzt. Im Wipfel oben aber lebte jetzt seit vier Jahren der brustkranke Jüngling Tassilo, jetzt, wie die Ärztin hoffte, ein Geheilter. Sein Zustand hatte sich damals überraschend gebessert, als er aus der Stickluft des Hospitals entfernt und in die reine und leichte Höhenluft des Schloßberges gebracht wurde. Der Baum selber hatte es der Ärztin dann eingegeben, daß er dort oben wohnen müsse, als das einzige Heilmittel, solange sie nicht nach Holland reisen und den elenden Leeuwenhook zwingen konnte, seine Gläser auf eine erkrankte Lunge zu richten; denn ihre Briefe hatte er gar nicht beantwortet. Dies leuchtete ihr ein als das natürliche Mittel, dem geschwächten Organ seine Arbeit zu erleichtern und die zarten Lebewesen darin zu stärken, und der Baum hatte ihr Recht gegeben; im dünnen Reinen der oberen Luft siechten die Todestierchen hin, verhungerten oder verdarben, und der Leib genas.
Janna, die Märchen zu hören glaubte, fragte, ob er wirklich bei jedem Wetter und auch im Winter dort oben hause. Gewiß; nachdem er sich mit seinem jungen Willen zum Leben daran gewöhnt hatte, mochte er es gar nicht anders. Auch war er da oben nicht angebunden an die Plattform, die er selber gebaut hatte, und seine Hängematte; es genügte längst, daß er dort oben schlief und auch sonst ein paar Stunden des Tages zubrachte. Im Winter baute er sich wie der Lappländer ein Haus aus Schnee; gegen Regen schützten Ochsenhäute, die über seine Plattform gespannt wurden; er hatte auch ein Zimmerchen in einer tieferen Höhle des Stammes. An das Schaukeln im Wind und Sturm war er so gewöhnt, daß er fest dabei schlief, wenn der Lärm nicht zu laut war. Eine kräftige Leiter aus Stricken und mit eingeflochtenen Ästen als Sprossen hing neben dem Stamm herunter.
Die Ärztin klatschte nun in die Hände und rief: »Ego sum! Pea! Descende!« Ich bin es, Pea, komm herunter!
Tassilo kam nach einiger Zeit herunter, frei schwebend, nur an den Händen hängend, und erwies sich schon dadurch nicht als ein leidender Kranker, sondern als ein junger Herkules: zwei Köpfe höher als Janna, mit einem kleinen, schwarz- und kraushaarigen Kopf und braunem Gesicht über breiten Schultern, aber schmal in den Hüften. Sein Gesicht war rund und blank wie aus Erz, die kleine Nase sehr zierlich mit vibrierenden Nüstern, also daß er mit blitzenden weißen und kleinen Zähnen ein Südländer schien, abgesehen von den Augen, die befremdlicherweise blau waren und mandelförmig unter schwarzen Tupfen der Brauen. Sein häufiges, leises Lächeln, das still aus den Augenwinkeln keimte, jede seiner Bewegungen war schwellend von einem Geheimnis innerer Kraft und südlicher Anmut; und er war nur zu Anfang verlegen, als er sich vor einer geschmückten Dame fand in seinem offenen groben Hemd, ledernen Hosen bis unter die Knie und mit bloßen Beinen. Seine langen Zehen waren so beweglich wie Finger – und wie seine Lippen, sein ganzes Gesicht, in dem jeder Zug eine Begleitmusik zu seinem leisen Geplauder – all seine Äußerungen waren nur leise – mitspielte.
Sie standen beide an das Geländer gelehnt, Janna in die Höhe der Wipfel schauend, während die Ärztin auf einer um den Stamm laufenden Bank saß und er mit kleinen, kurzen, huschenden Sätzen auf Jannas Fragen antwortete. Ja, wenn Regen tage- und wochenlang fiel, konnte es auf dem Baum trostlos sein; nein, das Schwanken und das Knarren bei Sturm war nicht beängstigend; so schwankte der Baum schon bald ein Jahrtausend lang. Er hatte Bücher zum Lesen und Studieren in toten und lebenden Sprachen; er hatte seine Laute, er dachte sich Verse aus und setzte sie in Musik, er zeichnete und malte, er knetete Figürchen aus Ton, er schoß im Wald, stellte Fallen, sammelte Beeren, Pilze, Falter, Käfer und Kräuter. Beschäftigung gab es immer, sein Vater war in der Nähe, und er half ihm bei seinen Arbeiten, er führte das schönste Leben.
Wenn das stärkste und anmutvollste Tier, ein großer Leopard, durch zauberhafte Verwandlung hinüberschmölze in die Menschengestalt, so daß alles Tierische bliebe in Bewegung und Wellenspiel der Glieder, und es doch ganz umgeprägt wäre durch den Adel der Vernunft, so war das hier zum Ereignis geworden, und Janna konnte es einatmen wie einen Duft, der – ohne daß sie es bemerkte – so auf sie wirkte, daß sie beständig lächelte.
»In Böhmen«, sagte er, »gibt es eine Sage, von einem Mädchen namens Libussa, deren Mutter die Elfe eines Eichbaums war. Solch ein Elferich bin ich auch. Der Baum ist durch mich hindurchgewachsen, und von ihm bin ich lebendig. Wenn der Baum gefällt würde, müßte ich sterben, so wie auch die Elfe gestorben ist.«
»Oder wenn man dich fortnähme«, sagte die Ärztin, der nicht entgangen war, wie seine Blicke an Janna festhingen, und die sich schon vorwarf, daß sie daran nicht gedacht hatte. Er lachte leise und sagte melodisch: »Kaum – kaum – kaum – denn ich bleibe im Baum.«
Später turnte er aufwärts, um seine Laute zu holen; und er saß dann, mit einem Bein auf dem Geländer, den schön gewölbten, weiblichen Lautenleib an sich drückend, und sang zu den zarten und vollen Akkorden die alten Lieder der Völker, melancholische gälische Weisen, die er von den Schotten, andere, die er von Tschechen und Kroaten gehört hatte, heiter charmante aus der Provence und die wehmütigen deutschen. Er wurde sonderbarerweise – da doch Lautenspiel und Singen nicht eben das männlichste Tun ist – männlicher dabei, weil er gefaßter und strenger wurde.
War er dies – war er dies – noch im Werden – der geträumte Mann, in einer Form von Feste und Kraft ein zartes Inneres, überlegen – aus Zartheit, verstehend – aus Stärke, unkriegerisch, wild-sanft, kein Zerstörer, ein Liebender, süß und reif wie Natur?
Endlich beugte er sich über die Laute, warf einen Blick voller Grazie mit einem Hauch von List auf Janna, lächelte und begann eine rauschend schmachtende Melodie als Vorspiel, zu der er dann sang:
»Janna duCoeur!
Janna duCoeur!
Sieh mich hier flehen
und schenk mir Gehör!«
Er war sehr enttäuscht, als Janna nur lachte und dann erklärte, er habe es nicht richtig gesungen. Er fragte: »Warum?« verwundert, und sie sagte, es heiße: »Schenk meinem Flehen – liebreich Gehör!« »Und warum das?« »So«, sagte Janna, »haben es vor fünf Jahren alle Gassenjungen in Hamburg gesungen.«
Er konnte das nicht glauben und fragte, wie es denn weiterginge. Janna deklamierte darauf – da sie nicht schön singen konnte wie er – doch nicht ohne Erröten:
»Hoch fliegt der Falke,
schlank ist das Reh,
Janna duCoeur
ist mein Wohl und mein Weh.«
Tassilo fand dies reizend – so natürlich wie wohlgelungen. Der Falke – die Unerreichbarkeit, das Reh – die Erscheinung, und dann sie selbst – »Wer hat es gemacht?« fragte er, und sie sagte: »Ein Kellner in Sankt Pauli.« »Haben sie«, fragte Pea, »in Hamburg Kellner in den Kirchen?« Die beiden konnten ihr vor Lachen kaum erklären, daß Sankt Pauli keine Kirche, sondern ein Viertel am Hafen war.
Er fragte – als Pea vor ihr die Treppe hinunterstieg –, sie werde doch wiederkommen; und Janna nickte, als sie sah, wie seine Brauen sich zusammenzogen, da sie zögerte und er hinzusetzte, er könne ja nicht fort. Unten half er ihnen beim Hineinsteigen in den Wagen, indem er nach Peas Anweisung die Deichsel vorn niederdrückte, und sie fuhren davon.
»Ich wußte gar nicht«, sagte die Ärztin nach einer stillen Weile, »daß du auch Witz hast.«
Janna versetzte: »Aber nur unter Männern.«
»Wenn das eine Anspielung auf meine Scherze sein soll«, sagte Pea heiter ergrimmt, »ich habe doch zehn Kinder zur Welt gebracht.«
Janna gab darauf keine Antwort, und als Pea Deuterlein auf sie blickte, war ihr Gesicht steif und trocken, und nun sagte sie:
»Wer einen im Ernst hat, braucht kein Dutzend zum Spiel.«
»So ist es. Und Tassilo ist so viel wie ein Dutzend allein.«
»Aber er ist doch nicht krank!«
»Nicht, solange er auf dem Baum ist.«
Janna fand dies traurig, allein Pea meinte, ihm komme es nicht so vor – warum also?
»Dann ist er nicht wie ein Vogel im Baum, sondern im Käfig.«
»Du wirst ihn nicht herauslassen, du!«
»Das versprech ich dir gern – obwohl –«
»Nun, obwohl?«
»Du würdest nicht drei Tage im Käfig leben.«
Den Freiherrn fanden sie Unkraut jätend in seinem herrlich gelegenen Garten. Dorthin waren sie gelangt, fünfhundert Schritte die Waldstraße hinunter, um die Ecke und über die – von Schilf und Blättern der Wasserrose fast unsichtbare Fläche des Burggrabens, über die breite Bohlenbrücke, zwischen den unversehrt aussehenden braunroten runden Tortürmen hindurch in den Hof, der aber nur eine enge Talschlucht zwischen Halden des Schutts und der Trümmer war, von stehengebliebenen Stücken der Mauern mit Fensterhöhlen überragt. Endlich gelangten sie durch ein neu gezimmertes Tor in einen langen, schattendunklen Hof, den Turnierhof, an dessen hohen roten, von Efeu übermantelten Mauern braune Balkengalerien liefen. Sein fernes Ende sahen sie offen hell, voll Himmelsbläue und Wolkensegeln über grünem Gewipfel. Und als sie dort anlangten – längst zu Fuß gehend –, lag ein mächtiges Gartenrechteck ganz im sonnigen Freien, in eine niedrige Mauer gefaßt, auf dem vorspringenden Feld. Da schweifte der Blick, links und rechts von vorgeschwungenen Waldhöhen beschränkt, über die kleine gewundene Bega in der Tiefe, südwärts über das unendliche goldene Land zu den blauen Duftketten der Berge. Janna war von dem Anblick so ergriffen, daß sie ihre Zurückhaltung ganz verlor, die Arme emporwarf und rief: »Hier sollten wir alle leben!«
Hinten bei den Johannisbeersträuchern kniete eine männliche Gestalt, die ihnen den Rücken zuwandte, und sie gingen dorthin, erst durch eine quer gezogene Rabatte, wo große rote und gelbe holländische Tulpen, einzeln und wie aus Papier geschnitten, auf regenfeuchter schwarzer Erde standen; dann zwischen den Reihen der vielen Beete hindurch, die sauber und genau wie Kompanien in Rottenfront nebeneinander geordnet waren. Auf der samtschwarzen Erde standen in schnurgeraden Linien die zartgrünen, eben gesproßten Pflänzchen. Bohnenstangen ragten schon, zeltartig gekreuzt, doch darunter keimte noch nichts; die Bohnenvertilger, die drei Gestrengen Herren, standen noch bevor. Aber die Erdbeeren blühten mit unzählbaren weißen und goldenen Sternen im dichten Grün.
Der Freiherr, der sich mühelos von den Knien erhob und streckte, wuchs dabei zu einer ebensolchen Höhe wie sein Sohn, obgleich er ein wenig krumm in den Schultern war; vordem mußte er ein Riese gewesen sein, denn drei bis vier Zoll Altersschwund waren hinzuzurechnen. Unten war er in alten Lederpantoffeln und hängenden grünen Strümpfen; vor seinen Leib hatte er eine uralte, schmutzfleckige, ehemals blaue Schürze gebunden. Sein kleines Gesicht war bartlos, am Kinn ganz fest von glattgespannter braungelber Haut; sonst war alles voller Falten und Runzeln, der vorgestreckte Hals wie der eines alten Papageien, das glänzend weiße Haar fiel mit gelblichen Locken auf seine Schultern. Ganz groß in diesem alten Gesicht waren die hellen blauen Augen, die mit einer weichen, doch überlegenen Freundlichkeit blickten. Bei Jannas Anblick leuchteten sie unverhohlen auf, und er bog sich zurück und pries sich, seinen Garten und das ganze Land für ihr Erscheinen darin. Da Pea sie als Engländerin vorstellte, fing er an diese Sprache zu sprechen, zwar mit guter Aussprache, aber so unbekümmert um die Grammatik, daß Janna ihn bat, deutsch zu reden, zumal die Ärztin es nicht verstand.
Auf einer kleinen Bank, die vor der Mauerbrüstung stand, saßen dann die beiden Frauen mit dem Blick in die offene Landschaft, der Freiherr auf der Mauer, die Füße übereinander gelegt; und nachdem er Janna ein Kompliment über die blaue Blüte ihres Kleides gemacht hatte, fing er an über das Unkraut zu reden.
»Nun geht das wieder an«, sagte er, »jeden Tag von morgens bis abends. Mein Garten ist nun so groß, daß ich von vorn anfangen muß, wenn ich grade herum bin. Aber ich liebe das Unkraut, es macht sich so tapfer breit, als ob ihm die Welt gehörte; es steht da und preist Gott, der es hingepflanzt hat. Ich reiße es dann aus und sage: Preise nun Gott nicht länger, er hat jetzt genug von dir, an der Reihe sind nun die Stachelbeeren.«
»So liebt Ihr es wegen des Ausreißens?« sagte Pea.
»Freilich. Ich buddele und buddele da an den Wurzeln in der Erde herum, das ist ein herrliches Gefühl. Dann das Ausrupfen – bei jedem ist das verschieden. Der Ehrenpreis und der Löwenzahn, die Quecken und die Disteln – jedes hat an seiner Wurzel eine bestimmte Stelle, wo sie angefaßt werden muß, so daß sie bis unten herausgeht und nicht abreißt. Das ist ihr Geheimnis, denn sie wollen ja nicht heraus. Aber ich bin schlauer als Unkraut, ich überliste sie alle. Wenn ich dann fühle, wie es nachgibt, wie es sich lockern läßt und langsam herauskommt – das ist ein Vergnügen. Nun, und dann reißt es doch ab – ich fluche nicht schlecht. So liege ich da und brumme und plappere mit dem Zeug – ganz kindisch – aber so bin ich eben. Ein alter, einsamer Mann«, sagte er mit leuchtendem Auge auf Janna. »Was soll ich tun? Ich kann keine Büffel mehr jagen.«
Er wechselte einen Blick mit der Ärztin, die nun fragte, wie sein Arm sich befinde, und auf seine dankende Bejahung zu Janna gewandt fortfuhr: Mitten im Winter, durch den tiefen Schnee, sei dieser einsame, alte Mann zu ihr nach Lemgo gekommen mit einem ausgekugelten Arm. Zwei Stunden hatte er sich vom Knecht durch den Schneesturm schleppen lassen; ihr Mann, der Knecht und sie selbst brauchten eine halbe, um ihn einzurenken. Nachher trank er eine Flasche Rum im Gasthof und ging wieder heim.
Er hörte zu, vor sich hinlächelnd, und ermahnte sie dann, auch zu erzählen, was sie an seinem Leibe gefunden habe. »Ein Loch«, sagte Pea, »eine solche Narbe! Darunter ist es ganz weich, und wie ich da drücke und suche – lacht er und sagt: Sucht Ihr vielleicht meine Rippen? Die werdet Ihr hier nicht finden. Ich frage: Wo sind sie denn? In Afrika, sagt er, in dem Land Abessinien; zwei Stück, ein Büffel hat sie mir eingebrochen.« Und sie forderte ihn auf, Janna von dem Büffel zu erzählen, und wie ihn die Mohren mit Ameisen genäht hatten. Der Freiherr begann darauf – wie er mit seinem Mohrendiener ausgezogen war – »Gallas heißen sie dort, schöne, prächtige Menschen, sehr groß und stark« –, um in der Steppe Büffel zu schießen; sie seien dort riesengroß, schwarz, mit langen, tief gewundenen Hörnern. Einer lag einsam da, ein schwarzer Klumpen im Dunst der Steppe, als sie heranschlichen, der Freiherr mit der Hakenbüchse, der Mohr mit seinem Speer. Wie er aber Feuer gab, traf er den Büffel nicht gut, er sprang auf und rannte sehr schnell herbei, und ehe der Freiherr es sich versah, lag er an einer ganz andern Stelle der Erde, mit einem großen Loch in der Seite. Dann wurde er ohnmächtig.
Seinen Mohren sah er nicht wieder; ihn fanden später die anderen Mohren, bei denen er lebte, und trugen ihn in ihr Dorf, vor Schmerz brüllend. »Und nun taten sie mit mir Folgendes. Sie gruben eine Mulde im Lehmboden, etwas größer als ich; da legten sie mich nackend hinein. Und sie setzten sich überall auf mich, auf Arme, Beine und Hals, damit ich nicht um mich schlüge, aber schon ihr Gestank machte mich fast wieder ohnmächtig. Aber die Jünglinge saßen im Kreis und kauten Heilkräuter zu einer Masse. Was sie gekaut hatten, gaben sie dem Doktor, einem alten, ganz eingeschrumpften Mann, und der legte diesen Brei auf die Wunde, nachdem er die Lunge hineingedrückt hatte, die etwas vorsah. Dann wurde mein ganzer Leib in Bast eingewickelt, und so lag ich fünf Tage in Fieber, hatte aber fast keine Schmerzen. Am fünften Tag kam der Doktor mit seinen Ameisen. Die sind dort riesengroß, wie ein Fingerglied lang, und weiß. Er hatte sie in einem hübschen Kasten aus buntem Bastgeflecht. Da wurde erst der Brei abgenommen, alles ausgewaschen mit einem Pflanzensaft – ach, habe ich da wieder gebrüllt! Und die Jünglinge saßen auf mir und stanken.
Nun nahm der Doktor die erste große Ameise; er hielt die Wundränder mit zwei Fingern zusammengedrückt und die Ameise mit zwei Fingern der andern Hand dicht darüber. Einer von den Jünglingen kitzelte sie am Hinterleib, so daß sie ihre mächtigen Beißzangen weit öffnete, und riß ihn auf einmal ab. Da packten die Zangen im Todeskrampf in die Wundränder und hielten sie zusammen. Und so nähten sie die ganze Wunde mit Ameisen, erst von der einen, dann von der andern Seite – zweiunddreißig Stück haben sie gebraucht.«
So erzählte der Freiherr, aus seinen blauen Augen lächelnd, alles so klar und deutlich, daß es nicht zu bezweifeln war. »Aber«, fragte die Ärztin, »wenn so viele Jünglinge auf Euch saßen, wie habt Ihr es denn gesehn?«
»Gesehn habe ich es nicht. Sie haben es mir später erzählt, und die Ameisenköpfe saßen noch in der Narbe.«
»Wunderbar!« sagte Janna, und die Ärztin wiederholte: »Ja, wunderbar ist es, und wie höre ich doch so gern von tapferen Männern ihre Taten erzählen. Sinn ist keiner darin, da brauchen wir nur zu staunen und gar kein Mitleid zu haben. Diese ganze Tapferkeit – wozu ist sie da? Um einen Büffel zu schießen. Wenn sie aber keine Büffel zur Hand haben, so sagen sie eines Tages mitten im Sonnenschein: So kann es nicht weitergehn – es muß in Gottes Namen wieder einen Krieg geben. Auf, und laßt uns die Tapferkeit zeigen. Und sie zeigen sie – dreißig Jahr. Dann kommen sie wieder nach Hause – ausgenommen alle, die tot sind; dann ist alles wie vorher.« Ihre Rede war am Ende härter geworden, jetzt lachte sie und sagte: »Das sind die Männer; wir indessen gebären ein Kind nach dem andern, um die Reihen wieder zu füllen – und daß es niemals ein Ende nimmt. Herr, erbarme dich, wir sind nicht tapfer. Denn von unseren Taten hat Vergil nicht gehört, und wir halten den Mund darüber.«
»Seht, wie er dasitzt«, sagte sie. »Seine Augen und seine Stimme sind so sanft – als ich sie das erstemal hörte, unsichtbar unten im Hausflur – ich dachte: Wer ist die neue Patientin?«
Sie stand auf, nickte ihm freundlich zu, und auch Janna und der Freiherr erhoben sich. Als sie zu dem Wagen und Maultier kamen, hatte der Knecht es ausgespannt und ihm zu trinken gegeben, und während Pea das Anschirren beaufsichtigte, sagte der anmutige Greis zu Janna: »There's something on you what makes one tremble.«
»Vater und Sohn auf einmal«, sagte die Ärztin, kaum daß sie wieder im Wagen saßen, »ist das nicht viel auf einmal?«
Sie erhielt aber nur ein schwaches Lächeln als Antwort. Janna war schon vorher erregt gewesen; von dem letzten Ausspruch, den sie nie so gehört hatte, geschweige aus solch einem Munde, war sie dunkelrot geworden und hatte keine Antwort gefunden. So fuhren sie schweigend weiter, bis sie an den Baum kamen; es war schon dämmerlich im Wald geworden, aber die Wipfel in der Höhe brannten wie helles Gold. Pea sagte, nachdem sie eine Weile emporgeblickt hatten: »Du könntest doch recht haben«, und fuhr weiter.
Nach einer Viertelstunde schweigsamen Fahrens sagte sie:
»Was für ein Geschöpf bist du nur! Ich bin in dich verliebt, das weißt du; aber das muß doch eine ganz andre Ursache haben als bei diesen Männern – und wie geht das zusammen?«
Darauf lächelte Janna nur und schüttelte ihren Kopf.
»Ich kann es nicht wissen«, sagte sie dann.
Obgleich sie zwei Frauen waren, fuhren sie ohne zu sprechen weiter und langten in der Dämmerung des Abends wieder an dem roten Hause an. Daß jetzt Licht in einem der Fenster glimmte, nahm ihm von seiner Düsternis wenig. Die Ärztin verließ mit ihrer Salbenkruke wieder den Wagen; dabei war auch Janna ausgestiegen und ging, als die Ärztin zur Haustür hinein war, zögernd zu dem erleuchteten Fenster. Sich umwendend, bevor sie hineinblickte, sah sie die Dunkelheit über dem tiefen Wiesenland, doch über dem scharfen Schattenriß der Dächer und Türme von Lemgo war der Himmel noch hellblau mit verwischten kleinen scharlachnen Wolkenstreifen. Durch das Fenster mit seinen bleiverglasten Scheiben hätte sie drinnen nur Undeutliches sehen können, aber der eine Flügel war angelehnt, und wenn sie sich hin und her bewegte, konnte sie das meiste des niedrigen Raums übersehen.
Die ihr unsichtbare Kerze gab nur schwachen Schein. Da war gegenüber ein brauner Ofen, wie eine riesige Kruke geformt. Links daneben saß oder lag jemand auf einer Bettbank, den die darüber gebeugte Gestalt der Ärztin verdeckte. Sich weiter links bewegend, sah Janna einen Tisch und den eisernen Leuchter mit der Kerze, und nun hinten im Schatten zu Füßen des Bettes eine ungeschlachte Mannsgestalt in beuteligem Hemd und Hose, ducknackig mit hängenden Armen – diesen Armen, deren Arbeit es war, Menschenköpfe vom Rumpf zu schlagen. Sein runder Schädel war blank geschoren. Die Lider hingen schwer über die Augen – aber nach einer Weile floß ein traurig schimmerndes Blicken seitwärts und verging wieder in sich selbst.
Janna wollte zurücktreten, als die Ärztin sich aufrichtete und den Blick freigab auf die sitzende Frau. Sie hatte aber statt eines Gesichts nur einen dicken weißen Belag von Salbe, und quer darüber, über eine nicht vorhandene Nase, legte sich eben ein breites schwarzes Band, das die Frau im Genick verknüpfte. Janna hatte an Geschwüren und Wunden schon mancherlei gesehen, aber diese nasenlose weiße Maske, aus der dunkle Augen funkelten, entsetzte sie so, daß sie eine Anzahl Schritte die Wiese hinablief.
Nach einer Weile trat Pea Deuterlein neben sie und legte ihren Arm um sie, und sie sahen zusammen in die Tiefe oder den langsam ausglühenden Himmel.
»Auf deine Frage«, sagte Janna, »wüßte ich vielleicht eine Antwort; obgleich – aber du bist eine alte Frau, und die Antwort ist nicht von mir. Ein junger Mann hat sie gesagt – er war sonst von keiner Bedeutung.
Er sagte – du weißt doch, wer Amor ist?« Pea nickte. »Und wer Psyche ist?« »Gewiß.«
»Also er sagte, bei mir wären die beiden eins.«
Pea meinte, das sei nicht so übel gesagt, und küßte das Mädchen. Dann gingen sie zum Wagen zurück und fuhren heim.
Einige Tage später erhielt Janna wieder einmal den Besuch der betränten Gräfin Lippe, und diesmal folgte sie ihrer Einladung zu einem Besuch von einigen Tagen in Lopshorn, wo sie ganz allein sein und mit ihren Kindern spielen wollten. Janna konnte indes wissen, daß etwas anderes daraus sich entwickeln würde, denn die Gräfin war nicht für Alleinsein; sie hatte auch einen jüngeren Bruder, der im Krieg einen Arm verloren hatte und dadurch ein stiller und ernster Mensch geworden, Sekretär beim Grafen, aber schon lange mit sich ringend, ein Mönch zu werden. Er und seine Schwester waren katholisch, doch sie war ihrer Ehe wegen evangelisch geworden. Die Gräfin versprach sich in Janna eine Ablenkung für ihn – nicht mit Unrecht, denn er war einer von denen, für die sie das an sich hatte, was sie zittern machte, und hatte es deutlich gezeigt. Die Folge des Besuches in Lopshorn war daher, daß Janna mit Einladungen zu Jagden, Besuchen, Tanzfesten und Theateraufführungen überhäuft wurde und so in den Strudel der sommerlichen Adelsgeselligkeit hineingezogen; und daß alsbald wieder die nächtlichen Serenaden unter ihren Fenstern erklangen, Liebesschwüre in ihren Ohren – und beständig Gelächter, Gewitzel, Gelärm, eine süßlich fade Musik, französische Phrasen und übertünchte Roheit, wenn auch einige darunter waren, deren noch unverbrauchte Natürlichkeit bei Jannas Berührung frisch und reinlich zum Vorschein kam. So plätscherte sie eine Weile in dem seichten Gewässer herum, wollend und nicht wollend; doch sie war – sie wußte nicht wie – eines Tags in Bewegung geraten, nachdem sie lange stillgelegen, und so in den Wirbel hineingezogen, aus dem sie so bald nicht wieder herausfand.
Es hatte daher mehr als vier Wochen gedauert, bis sie eine Gelegenheit fand, den Mann im Baum wiederzusehen. An einem Nachmittag im Juni ritt sie auf einem kleinen braunen Pferd, das sie inzwischen gekauft hatte, von einem Landsitz in der Umgegend zurückkehrend, den Schloßberg von der anderen Seite her auf der Fahrstraße hinauf, die sich im Zickzack emporwand, dann an der Brücke und den Türmen vorüber, wo kein Mensch zu sehn war, bis zu dem Baum auf der Lichtung, der sich jetzt in lichten Massen von Blättergrün auftürmte. Rufen konnte sie nicht gut, allein die Zeichen ihrer Anwesenheit, die sie gab, indem sie ihr Pferd im Kreis gehen ließ, seinen Hals klopfte und mit ihm sprach, und die für ein feines Ohr auch in der Höhe des Baums vernehmbar sein mußten, blieben ohne Erfolg. Endlich stieg sie ab, hängte die Zügel an einen Haken an einem der Pfosten, der dazu bestimmt schien, und stieg die innere Treppe zur Plattform hinauf – übrigens in einem Reitkleid von leuchtend gelbem Samt und einem kleinen schwarzen Hut mit einer dicken silbernen Kordel mit Troddeln um seinen Kopf. Die Strickleiter hing von ihrem hohen Ast still neben dem Stamm herab, an eine tote Schlange erinnernd, und sie ging zu ihr hin, faßte sie an und bewegte sie, so daß eine Welle nach oben lief. Schließlich setzte sie einen Fuß auf die unterste Sprosse, faßte die Sprosse über sich mit den Händen, geriet aber ins Schaukeln und sprang rasch zu Boden. Sie warf einen Blick in die Höhe, schüttelte den Kopf und sagte zu sich selbst: »Hast du Angst?«
Eine Weile stand sie noch am Geländer und sah in das dichte Grün, ging dann wieder hinunter, stieg in den Sattel und kehrte zum Schloß zurück. Dort war es still wie vorher; sie ließ ihr Pferd an einem Mauerring in dem verschütteten Hof, ging in den Turnierhof und sah dort eine Tür in der Mauer halb offen. Ein breiter dunkler Flur lag dahinter, dessen fernes Ende erhellt war, und sie ging, leise sporenklirrend, mit ihren behenden Füßen dorthin, ihre Kleidschleppe vorn in den Händen, und blieb plötzlich stehn.
Es war ein großer, niedrig gewölbter Raum voll allerlei Möbel, aber sie sah nur in der Helle eines breiten Fensters mit flachen Bogen ihr gegenüber die zwei Gestalten sitzen: rechts den Freiherrn, das Kinn in der Hand, über ein Schachspiel gebeugt, und auf der anderen Seite, gerade aufrecht sitzend, James Hick. Er hielt den Kopf hergewandt, aber dadurch war sein Gesicht im Schatten und unerkennbar. Der Freiherr hatte ihre Schritte entweder nicht gehört oder, in sein Spiel vertieft, nicht beachtet. Nach zwei Augenblicken legte Janna einen Zeigefinger vor die Lippen, drehte dann um und ging mit leiseren Schritten durch den Flur zurück. Niemand folgte.
Im Freien draußen blieb sie stehen und murmelte: »Habe ich eben den Finger an den Mund gelegt? Und warum?«
Sie hatte keine Erinnerung daran, daß sie diese Bewegung in der Nacht in England gemacht hatte, als die Zwillinge schliefen und James Hick in die Laube hereinkam.
Sie ritt dann rasch trabend den Waldweg zurück und sah schon von weitem eine Gestalt hoch über der Plattform an der Leiter hängen. Tassilo blickte ihr entgegen, und als sie Schritt reitend näher kam, schien er an der Leiter grade herabzufallen, war am Geländer und darüber hinweg und über das schräge Dach herabkrachend aus seiner Höhe unten auf dem Grasboden gelandet mit einem Sprung, der ihr Pferd seitwärts wegzucken ließ, während hinter ihm ein Regen von Schindeln und Splittern prasselte. Schon dicht vor ihr, nur halb sich aufraffend, umschlang er ihre Beine, wühlte sein Gesicht in die Kleidfalten, küßte ihre Knie, ihre Füße, preßte wieder sein Gesicht in den Stoff und wurde allmählich still, ohne zu sprechen, aber so heftig keuchend, daß sie sich nun über ihn beugte, ihre Hand auf sein Haar legte und innig und leise sagte: »Lieber, ja, was ist denn? Was ist denn?« Sie lachte leise und sagte: »Du Wirbelwind«, mit zärtlicher Ironie, »du Vesuv, wird es jetzt besser?« Er blieb stumm, warf nur nach einer Weile sein Gesicht in ihren Schoß empor, mit einem Laut zwischen Jubel und Schluchzen, dann ein leises »Endlich!«, so, daß es sie zittern machte. Als er dann aufsah, war sein Gesicht verzerrt zwischen Lachen und Schmerz; er flüsterte: »Gold der Welt, wo warst du? wo warst du so lange?« und hatte sie plötzlich umfaßt und, groß wie er war, auf seine Arme gehoben. Allein, kaum daß sie die Gewaltsamkeit spürte, schnellte sie in sich hoch, krümmte sich zusammen, stemmte sich mit beiden Händen von seinen Schultern ab und erreichte, daß er sie auf den Boden herabließ. Sie war so außer sich, daß sie nur undeutlich sah – seine Gestalt dunkel und übergroß –, ging drei Schritt von ihm fort, warf sich herum und sagte: »Mit Gewalt –« und stand dann, wieder von ihm abgewandt und den Kopf gesenkt.
Nach einiger Zeit hörte sie ihn hinter sich ihren Namen sagen und drehte sich langsam um; ihr Blick war noch feindlich, aber sein ganzes Gesicht war von solcher Bestürzung verzerrt, daß sie im Augenblick alles vergaß, und er sagte mit seiner leisen Stimme: »Verzeih mir, um Gott, verzeih mir! Ich wußte nicht – ich meinte nicht …« Da kehrte sie langsam zu ihm zurück, ohne ihn anzusehn, und stand vor ihm, legte eine Hand auf seinen Arm und mit einemmal, mit einem zärtlich gurrenden Laut des Lachens, auch die Wange. Und dann war sie eingeschlossen in seine Arme und die mächtige Festigkeit seiner Gestalt wie eines Baumes; sie hob ihr Gesicht zu dem seinen empor, sah es, und es brach aus ihr hervor: »Gott, bist du schön! Mein Gott, wie bist du schön! Nie im Leben habe ich einen so schönen Mann gesehn! Wie sich bei dir alles bewegt und läuft und – wunderbar! Wunder –« und brach in ein so wütendes Schluchzen aus, daß es sie minutenlang schüttelte mit der Stirn auf seinem Arm, bis sie unter ihrem Gesicht alles naß fühlte, sich aufrichtete und nach ihrem Taschentuch suchte. Sie lächelte ihm durch die Tränen zu und sagte: »Du bist gut; du bist sehr gut.«
Er erwiderte nichts, und sie ging dann zu ihrem Pferd, das ein paar Schritte fortgetrabt war und zu grasen versuchte. Sie hob die Zügel auf und streifte sie ihm über den Hals, und nun kam er zu ihr, half ihrem Fuß in den Steigbügel und ihr selbst in den Sattel. Bei der Kleinheit ihres Pferdes war ihr Gesicht nur wenig höher als seines; sie legte den Arm um seinen Hals und nahm seinen Blick still und fest in die Augen; eine Weile blieben sie so, ganz ernst, während sie dachte: Wenn ich ihn jetzt küsse, bin ich verloren. Sie fingen dann gleichzeitig beide zu lächeln an, sie nahm ihren Blick fort und sagte mit zärtlich kindlicher Andacht: »Da oben wohnst du – da oben!« »Wirst du zu mir heraufkommen?« »Oh – vielleicht …« »Wann?«
Sie gab keine Antwort, und dann hatten sie sich umschlungen, über ihr Gesicht lief Feuer, ihr Mund brannte, ihr ganzer Körper zerschmolz und löste sich in flammende Süße auf, in seinen und ihren Mund, die verschmolzen waren, und ein Brausen.
Dann waren sie wieder getrennt; er nahm ihre Hände, küßte sie und sagte: »Wann wirst du kommen?« Sie erwiderte leise: »Du mußt Geduld haben.« »Nicht morgen – morgen nicht?« Sie lächelte, ihr Pferd setzte sich in Bewegung, und sie sah ihn zurückblickend in dem Schatten stehen, aber sein Gesicht war darüber in der Sonne so leuchtend, als wäre es Gold, und das glücklich-traurige Lächeln der blauen Augen so hinreißend, daß sie rasch winkte und nickte und nur eilte, davonzukommen.
Sie lenkte im Bogen um die Rotunde; aber als die Schneise sich vor ihr auftat, stand das Pferd und wollte nicht weitergehn. Sie beugte sich über seinen Hals, klopfte ihn und gab gute Worte, doch es trat mit den Vorderfüßen auf der Stelle und wich zurück. Da blickte sie auf, und vor ihr schwebte, zehn Schritte vor ihr mitten im Weg, so groß, daß es ihn anfüllte, das andere, braune, regungslose Gesicht mit unbeweglichen Augen. Während sie bewußtlos hineinstarrte, fing es schon an zu vergehen, die Zweige der Tannen schimmerten dunkel hindurch, und schon ging ihr Pferd wieder vorwärts, fing von selbst an zu traben, von selbst an Galopp zu gehen, während die Lider ihr zufielen, so daß sie lange Zeit wie blind dahingetragen wurde, über dem lauten Getrommel der Hufe, die Schneise hinabfliegend, eine lange, gelbe, blinde Fanfare.
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Am nächsten Tage strömte der Regen vom Himmel und am folgenden Tage ebenso; im Laufe des dritten Vormittags klärte der Himmel sich auf, am Mittag schien die Sonne, und ein paar Stunden später machte Janna sich auf den Weg. Sie hatte die Kleidung angelegt, in der sie damals zum Donopshof gegangen war, doch war es ein anderer Rock, und da der Sommertag glühend warm war, trug sie über Hemd und Mieder ein vorn offenes blaues Jäckchen. Ihr schien dies passender für die Örtlichkeit, und sie wollte nicht wieder zu Pferd sein, wenn es auch nur ein Weg von anderthalb Stunden war.
Um die gleiche Stunde verließ Tassilo seinen Baum und lief gradeaus ohne Weg und Steg durch den Wald hinunter nach Lemgo. In Jannas Haus erfuhr er, daß sie es vor einer Stunde verlassen habe; er ließ sich einen Trunk Wasser geben und kehrte zurück, aber langsamer jetzt, da er bergauf zu gehen hatte und die ungewohnte Schwere der Luft im Tal ihn bedrückte.
Als Janna auf der Lichtung anlangte und in den Baum hinauf seinen Namen rief, blieb daher alles still. Sie stieg zur Plattform hinauf, dachte, sie wollte auf ihn warten, und saß einige Minuten lang auf dem Geländer, sehr glücklich gestimmt im Alleinsein, in dem dichten Grün und überall durchbrechendem Sonnengold und dem lauten Geschmetter der Buchfinken aus dem Laubwald, nur leider gestört von den Mücken und grauen Stechfliegen, die sie dicht umschwärmten, so daß sie unaufhörlich um sich zu schlagen hatte und bald ihre Wangen und ihre Stirn von den Stichen brannten. Darauf beschloß sie, die Leiter hinaufzusteigen.
Sie bekam zwar einen Schreck, als die Leiter, wenn sie im Höhersteigen den zweiten Fuß zum ersten auf die Sprosse setzte, weit nach vorwärts schwang; doch das ließ sich überwinden, und sie kam Zug um Zug höher hinauf, nach oben blickend zu dem gewaltigen grauen Ast, von dem die Leiter frei herabhing, und dem sie langsam, aber erfreulich näher kam. Nach einer Weile fiel es ihr ein zu sehen, wie hoch sie schon über dem Boden war; sie blickte in die Tiefe und stieß einen wilden Schrei aus; der Schwindel hatte sie und löste sie auf; die Höhe, so gering sie war, schien entsetzlich, unter ihr kreiste alles, und die Tiefe saugte sie in sich hinunter, so daß sie schon spürte, sie fiel. Schwindel dieser Art war ihr unbekannt, sie wußte kaum, daß es ihn gab, sie hing und fühlte sich fallen, mußte, wollte fallen, mußte, wollte hinunter – endlich preßte sie ihre Augen zu und warf zugleich ihren rechten Arm über die Sprosse vor sich, hakte sich fest mit dem Ellbogengelenk und umklammerte das Handgelenk mit der Linken. Dann hing sie da in purpurner Nacht und der Not und Angst des Todes – aus der aber nach einiger Zeit der Schrecken hineinzuckte: Wenn er jetzt kommt und sieht dich, und du hast nichts an … Und dieser Schrecken erwies sich als so heilsam und stärkend, daß sie sich sagen konnte, sie brauche nicht nach unten zu sehen, und die Augen öffnete und emporsah. Der Anblick des Astes oben und des ganzen Gewipfels über ihr war mit Himmelsblau darin sehr tröstlich, doch sie fühlte sich so schwach, daß sie lange Zeit nicht weiterwußte. Hinunter war unmöglich; sie bebte an allen Gliedern, es war ihr, als müßte sie doch in die Tiefe blicken, aber dann trieb die Angst, daß er kommen könnte, sie über das Versagen hinweg in die Höhe hinauf – während sie durch das betäubende Brausen ihres Blutes hinabhorchte. Wenn er kommt, sagte sie, laß ich mich fallen, ihr Gesicht brannte vor Scham über sich selbst, daß sie so unwürdig dahing, und als sie am Ende den Ast erreicht, sich mit halbem Leibe darübergeworfen hatte, mußte sie minutenlang so liegenbleiben, bis sie die Kraft fand, zu knien. Sie kroch auf Händen und Knien blindlings weiter – flüsternd: »Gott, verzeih meine Sünden!« in einen dunklen Raum hinein, und dann war es zu Ende mit ihr; ihre Sinne erloschen und sie selbst in der Wohltat des Hinwegschwindens.
Hier, wo der Ast mit der Leiter sich waagerecht abbog, teilten noch vier andere von gleicher Größe und Mächtigkeit sich nach allen Seiten in verschiedener Schräge von dem senkrecht aufsteigenden Stamm; sie waren rund herum mit Eichenbohlen belegt, und im Stamm war eine Höhle, die nach oben spitz zulief. Als Janna wieder zu sich kam, fand sie sich im Halbdunkel am Boden und brauchte einige Zeit, bis sie sich erinnern konnte, wo sie war und was mit ihr sich ereignet hatte. Mehrere große Tonkrüge standen da, ein zinnerner Becher, Teller und Löffel; die Höhle war mit Teppichen und Kissen wohnlich ausgestattet, Werkzeuge, Fallen, Fuchseisen hingen an den Wänden, die fast mannshoch waren, eine Laterne, die Laute. Sie war noch so schwach, daß sie sich kaum aufrichten konnte, und unfähig, als sie Wasser in einem Krug entdeckte, ihn zu heben und den Becher zu füllen; sie mußte ihn hineintauchen und schöpfen. Das kalte Wasser erquickte sie, sie netzte ihre Fingerspitzen und mit ihnen die Stirn, noch immer am Boden liegend, aber dann hörte sie ein Geräusch und hatte nur noch die Zeit, sich an der Wand aufzusetzen und ihre Füße unter den Rock zu ziehen, bevor Tassilos Gesicht in der Öffnung der Höhle erschien und sie ihn ausrufen hörte: »Hier bist du?«
Er lachte und sagte, er habe ihr Kopftuch unten liegen gesehn; es mußte ihr abgefallen sein. Wie er ganz heraufkam, sah er sie nun erst deutlich und sagte: »Wie siehst du aus?« und: »Wie blaß du bist!« Sein augenscheinliches Nichtbegreifen ihrer Leistung nötigte sie um so mehr, sich zusammenzunehmen, aber sie versuchte vergeblich zu sprechen und sagte endlich mit einer kleinen, kindlichen Stimme:
»Das war gar nicht so leicht.«
»Wie denn nicht – das erste Mal! Du bist wunderbar, Janna, in allem! Wie hast du es fertiggebracht?«
»Gott weiß es – ich nicht. Aber nun bin ich oben.« Sie spürte, daß ihr Kinn zu zittern anfing. Alles in ihr verlangte, an seiner Brust zu liegen und einzuschlafen, sie sprach indes weiter mit dem kindlichen Laut, der halb natürlich, halb zärtlich gemacht war:
»Und da sitze ich nun zur Strafe und bereu meine Sünden.«
»Tust du das schon lange?«
»Ziemlich lange. Aber bleibe nur draußen«, bat sie, da er jetzt in seiner Übergröße in den Eingang getreten war und sich bückte, um hereinzukommen. »Du kannst da im Eingang sitzen, ich muß erst mein Haar machen.« Er gehorchte und setzte sich abgewandt hin, und sie strich ihr Haar, das aufgelöst um den Kopf hing, mit den Händen nach hinten und lockerte es wieder, so gut es ging. Er fragte indes wohlgemut, was für Sünden sie habe, und sie erwiderte: Eitelkeit. Sie strotze von Eitelkeit. »Nur aus Eitelkeit bin ich heraufgekommen.« Er fand das nur löblich, fragte, ob er sich wieder umdrehen dürfe, und sagte, als sie es erlaubte, sie sähe zauberhaft aus, und mehr dergleichen.
»Einmal«, sprach sie weiter, »habe ich zu Pea gesagt, Knaben und Greise hätten nach mir begehrt –«
»War das nicht die Wahrheit?«
»Aber man sagt es nicht. Neulich habe ich ihr das von Amor und Psyche gesagt, ich werde es dir nicht wiederholen, immer sage ich solche Dinge, ganz schamlos, aber ich kann es nicht lassen, ich kann nicht –« Ihr Kinn bebte, er sah, wie ihr die Augen zufielen, warf sich zu ihr hinüber und fing sie auf, wie sie langsam umsank. Dann konnte sie nur noch sich zurechtlegen, streckte sich aus und war nach einer Minute fest eingeschlafen.
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Als sie wieder erwachte, war es dunkle Nacht; doch blieb sie noch eine Weile liegen, das Nachglück dieses Schlafs genießend, bis sie sich aufrichtete und fragte: »Ist es Nacht geworden?« »Ja, Janna.« Eine Weile war Stille, dann sagte sie:
»Was war denn das? Wie ich schon beinah oben war – und nach unten schaute … ich glaubte, ich müßte hinunter.«
»Nur der Schwindel, Liebling.«
»Ist das bekannt? Gibt es das?«
»Wie denn nicht? Viele faßt es.«
»Da konnte ich nicht mehr nach unten –«
»Aber wenn du hinunter wolltest, brauchtest du doch nicht hinunterzusehen.«
»Brauchte ich nicht? Ja, du weißt das – ich wußte es nicht. Ich hätte es auch wissen sollen.« »Ich danke Gott«, sagte er, »daß du oben bist.« Sie erwiderte nichts, doch sie dachte: Todesangst – das war Todesangst … So kann sie einen doch in die Höhe treiben?
»Man soll immer wissen, was man tut«, sagte sie vor sich hin, während sie dachte: Wie komme ich jemals wieder nach unten?
»Darf ich dich jetzt küssen?« fragte er leise. »Ein wenig«, sagte sie, »vorsichtig«, und er küßte sie behutsam und sagte: »Ich danke dir, Janna, Liebste! Ich danke dir tausendmal.«
Janna fragte: »Wofür dankst du mir?« »Daß du heraufgekommen bist.«
Darauf sagte sie nichts, und er fragte nach einer stillen Weile:
»Warum bist du heraufgekommen, als ich nicht da war?«
Sein Ton war ohne Gekränktheit, doch war etwas davon in der Frage; sie parierte daher mit der Gegenfrage:
»Ich war in Lemgo, in deinem Haus. Ich glaubte, du kämest nie.«
»Wie konnte ich – bei dem Regen? Wie du aber nicht da warst – ich bekam ein solches Verlangen, oben zu sein …«
»Warst du denn ganz oben?«
Diese Frage durchstach sie heftig mit dem Gedanken: daß sie nicht oben gewesen war, wie sie gewollt hatte, sondern nur auf dem untersten Ast; sie mußte weiter denken, daß, was sie fast das Leben gekostet hätte, für ihn gar keine Leistung war. Und folglich – folglich war es von ihr nur eine Torheit gewesen und eigentlich ganz umsonst.
»Da war keine weitere Leiter«, fing sie behutsam an, und nachdem er geantwortet hatte, die obere Leiter hinge an einem Ast auf der anderen Seite, fuhr sie fort, sie hätte ihn da auch schon kommen hören. »Es war auch ein wenig anstrengend«, sagte sie, »da kroch ich rasch in die Höhle.«
»Und saßest da als Überraschung für mich –«
»Ja – und ich muß auch sagen – es ist wohl mehr eine Männersache, auf so hohe Bäume zu steigen.«
»Ja, gottlob«, sagte er zärtlich, »daß du keiner bist.«
Danach waren sie beide still für lange Minuten.
Wenn ich hinunter will, dachte sie verzweifelt, muß ich doch nach unten sehen. Schon die Vorstellung machte sie grausen – aber dann leuchtete es auf in ihr, daß es jetzt finster war, daher überhaupt nichts zu sehen. Wenn sie dann nur so viel Mut aufbrachte, vom Ast in die Finsternis hinab auf die erste Sprosse zu kommen – sie konnte nicht weiter denken, da sein Mund den ihren suchte. Sie erwiderte seinen Kuß, tat aber fast zugleich die Frage:
»Liebster, was knistert nur immer so? Was sind all das für Geräusche?«
»Das sind hier die Nachtgeräusche. Das Knistern sind Käfer … die Nachttiere gehen aus … der Iltis fängt seine Jagd an … über uns rappeln die jungen Eulen … die Fledermäuse streichen umher … Das leise Brummen – hörst du? – das sind Bienen; sie wohnen über uns in einer anderen Höhle.«
»Vor Fledermäusen fürcht ich mich aber«, sagte sie, wohl wissend, daß kleine Angst die Weiblichkeit so gut steigert wie eine wohlangebrachte Locke. Sie hörte sein entsprechendes Lachen und fragte: »Wo schläfst du eigentlich?« »Oben, viel höher oben, da habe ich meine Hängematte.«
Es war wieder still. Seine Lippen ruhten auf ihrem Hals, glitten dann zu ihrem Nacken hinauf, und sie hörte ihn flüstern: »Liebst du mich, Janna?« »Ja, Lieber.« Er drückte sie an sich. »Daß du gekommen bist … du darfst niemals nach unten, Tag und Nacht werden wir hier wohnen. Janna! Riechst du all den Duft? Dies ist die erste Nacht, die von deinem Haar duftet! Janna, wie liebe ich dich, oh, wie liebe ich dich!«
Sie lachte zärtlich, strich über sein Gesicht und richtete sich auf; ein Weilchen später erhob sie sich. Sie fand, daß ihre Füße fest genug waren, und sagte: »Oh, nun weiß ich – im Dunkel ist nichts zu sehn, da finde ich leicht nach unten«, obgleich im selben Augenblick ihr Herz aussetzte bei der Vorstellung, in das schwarze Nichts hinunter zu müssen. Aber sie stand bereits im Eingang der Höhle, und gleich darauf war sie niedergekniet und tastete mit den Händen vor sich, bis sie die Stricke der Leiter fühlte. Sie hörte seine Stimme fragen: »Willst du wirklich fort?« und antwortete triumphierend: »Oh, da ist die Leiter!« Ihr Herz hämmerte rasend, sie langte mit der Hand in die Tiefe, fand die oberste Sprosse, ließ sich nieder, ohne zu denken, und tauchte den Fuß hinab, bis er die Sprosse erreichte; dann, mit beiden Füßen darauf stehend, rief sie: »Gute Nacht, Tassilo, leb wohl!« »Du kannst nicht!« hörte sie ihn rufen, »warte, ich bringe Licht!« und fing an, abwärtszusteigen, Sprosse um Sprosse, wobei sie die Entdeckung machte, daß es eine Art gab, sich grade senkrecht niederzulassen, ohne daß die Leiter ins Schwingen geriet. Emporblickend sah sie nach einiger Zeit in der Höhe einen Lichtschein und Tassilos dunkle Gestalt mit einer kleinen Laterne.
Aber in dem Augenblick, als ihre Füße den Bretterboden berührten, fühlte sie eine Schwäche – eine Schwäche von neuer Art, die wie Lust war; sie rieselte aus dem Boden in ihre Füße und höher, ergriff die Knie, Schoß, Hüften, Schultern, den ganzen Leib, und verlangte, zu liegen – ausgestreckt dazuliegen; und sie stieg mit zitternden Knien die Treppe hinab, in der Dunkelheit Stufe um Stufe mit den Füßen ertastend, bis sie auf den weichen Grasboden trat. Sie wäre am liebsten gleich hingesunken; hier war es jetzt heller, der Mond war im Aufgehen hinter den Bäumen, der Boden der Lichtung mit hellen Flecken gesprenkelt, sie lief darüber hin bis zum Waldrand, sank nieder und lag mit ausgebreiteten Armen, spürte die Erde unter ihrem Kopf und Rücken mit Wonne, mit einem Jubel, mit Auflösung. Sie dachte nicht, daß die Überwindung der Angst und Gefahr ihr aus einer andern Gefahr geholfen hatte; sie dachte: »Jetzt! Endlich! Jetzt!« Über ihr war die Nacht ein großes Gewoge, dunkle und silberne Meereswogen von Baumwipfeln und Mond, in denen Tiere liefen; und nun würde die ganze Woge in sie hineinschlagen.
Als sie dann seine Stimme leise fragend ihren Namen rufen hörte und die Augen öffnete, sah sie seine große Gestalt dastehen im Licht der Laterne, die er hochhielt; sein Gesicht glänzte rötlich. Im Augenblick setzte sie sich auf, die Füße unter ihr Kleid ziehend, und antwortete kaum hörbar: »Hier bin ich!« Sie schloß ihre Augen wieder, dann spürte sie sein Herankommen, seine Nähe, sein heftiges Atmen, und wie er sich neben sie warf, seine Hände an ihren Schultern. Ihr Kopf sank in den Nacken, und sie sank selbst, seinen Mund auf ihrem, auf den Boden zurück.
Aber das Jetzt war gewesen; als er seinen Mund für einen Augenblick löste, wandte der ihre sich seitwärts, und es trat eine Stille ein. Danach richtete er sich auf; sie hob eine Hand und legte sie in seinen Nacken, schob sie in das Haar hinein und fing erst leise, dann stärker seinen Kopf zu schütteln an, zärtlich lachend dabei, aber wohl wissend, daß es eine andre Vertraulichkeit war. Und dann richtete sie sich empor und fragte, ob hier Ameisen wären, es liefe etwas an ihren Füßen. »Ameisen«, sagte er, »überall!« und: »Warum bist du nicht oben geblieben?«
Darauf erhielt er keine Antwort; sie zog seinen Kopf zu sich heran, küßte ihn und war mit einer leichten Windung ihres Körpers auf den Füßen. Er blieb sitzen, während sie in die Lichtung hineinging und die Laterne vom Boden aufnahm, stand aber auf, als sie sich umdrehte und fragte, ob er ihr Kopftuch habe. Er hatte es, wollte es aber nicht hergeben und bettelte lange darum, bis sie ihm ein andres versprach; sie gab ihm die Laterne zu halten, während sie es umlegte; es war ein bestimmtes seidenes, das sie sonst niemals getragen hatte.
Dann gingen sie zusammen durch den nächtlichen Wald, ohne zu sprechen. Als sie einmal über einen Ast im Wege gestrauchelt war, hatte er seinen Arm um ihre Schulter gelegt, und sie spürte wieder mit glücklicher Lust seine feste männliche Größe. Der Laternenschein erhellte im Schwanken seltsam Stücke der Nacht, hellgrün schimmerndes Laub der stillen Sträucher und die braunen Säulen der Föhren. Schatten von Tieren huschten dann und wann über ihren Weg, es rauschte zuweilen, in der Höhe flimmerten einzelne weiße Sterne. Endlich traten sie aus dem Wald ins Freie und sahen in der Tiefe unter den Sternen die Umrisse der Stadt und Lichter.
Janna legte eben ihre Lippen auf seinen Arm und wollte etwas Dankbares sagen, als sich eine Stimme aus der Nacht erhob und feierlich sagte:
»Gegrüßt! Gegrüßt, der da kommt im Namen des Herrn!«
Die beiden erschraken, und Tassilo erhob seine Laterne in der Richtung der Stimme. In ihrem Schein zeigte sich unfern am Waldrand eine halb liegende, mit einem Mantel bedeckte Gestalt, die, im Aufrichten begriffen, ihr Haupt mit einem riesigen Hut bedeckte. Da er nun aufstand und, seinen Mantel fallen lassend, herankam, hatte er einen langfließenden rötlichen Bart und flache, helle Augen, die sich bemühten, strenge zu blicken. Auf Tassilos Frage, ob er hier nächtige, kamen im Bart breite blasse Lippen zum Vorschein.
»Die Hasen haben ihre Nester«, sagte er mit erhobener Stimme, »und die Füchse ihre Gruben. Aber des Menschen Sohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlege.«
Janna sagte: »Ihr könnt mit uns kommen.« Darauf versetzte er, strenger blickend: »Wahrlich, ich sage euch – nicht für das Unkraut bin ich gekommen, das an den Wegen schmarotzet, sondern für den Weizen.«
Tassilo fuhr auf: »Mann, wer bist du?«
Da schlug er mit einem anflehenden Blick seine Augen auf und redete kummervoll: »Ja, Kinder – wüßtet ihr, wer ich bin …«
Janna bat, es zu sagen, und seine Stimme erscholl dröhnend:
»Ich bin der Bote Gottes, der auszog, seine Schafe zu suchen. Von mir hat geweissagt Micha im vierten Kapitel: Du Turm Eder! Eine Feste der Tochter Zion! Es wird eine goldene Rose kommen, die vorige Herrschaft, das Königreich der Tochter Jerusalem.«
Eine Weile stand er noch, als ob er dem Nachhall seiner Stimme horche – worauf er sich umdrehte und zu seinem Platz unter dem Baum zurückkehrte.
Eine halbe Stunde später waren sie am Stadttor und hatten Mühe, den schlafenden Wächter wach zu klopfen und zu rufen, bis er Janna an ihrer Stimme erkannte und sie einließ.
Sie schlief wenig in dieser Nacht; aber Wasserwellen ließen sich eher fassen und in Form bringen als das wesenlose Gewoge, das ohne Aufhören und haltlos wechselnd in ihrer Seele keine Ruhe fand, denn da war nirgend Grenze.
Am übernächsten Mittag erschien der Freiherr bei Janna und bat sie in aller Form – angetan mit einem violettsamtenen Staatskleid nach der Mode von vor dreißig Jahren, mit einem Spitzenkragen, goldener Kette und einem Schwert an der Seite – um ihre Hand für seinen Sohn. Er schien in Angst gewesen zu sein, wegen der Unbestimmtheit seiner Vaterschaft, denn er fügte sogleich hinzu, er würde ihn als seinen Sohn legitimieren. Sein Kommen hatte ihr gesagt – noch bevor sie ihn sah –, weshalb er kam, doch hatte sie es nicht erwartet und war erschrocken und bat zuerst um Bedenkzeit, gab sich aber dann einen Ruck, um zu lachen und gleich ja zu sagen. Dies entzückte ihn so, daß er fast die Sprache verlor, ihr nur die Hände küßte und endlich versicherte, es würde nun alles anders werden, er sei ganz aufgeblüht und fühle sich wie mit zwanzig. Als er dann über die Einrichtung des zukünftigen Lebens zu sprechen anfing, sagte er stets nicht »ihr«, sondern »wir«, und so tat er auch späterhin. Er hatte, bevor er zu Janna gekommen war, bei Pea Deuterlein Erkundigung über Tassilo eingezogen, und sie hatte gegen eine Ehe keine Einwendung erhoben, wenn er nur fortfahre, die Nächte oder ihren größten Teil und auch die meisten Stunden des Tages auf dem Baum zu verbringen, und im Winter die Luft geheizter Stuben möglichst vermeide. Janna fragte die Ärztin nicht und erfuhr daher nicht, daß sie sich nicht ganz so zustimmend verhalten hatte, wie der Freiherr es gehört hatte oder nun Janna darstellte. Übrigens sah sie das Leben und das Sterben der Menschen mit eigenen Augen, so auch das Glück und das Leiden, und war nicht der Meinung, daß man sich das eine – das das weit seltenere war – versagen müsse, weil man es vielleicht mit dem andern bezahlen müsse.
Was also die Einrichtung des Lebens anging, so war Tassilos Gedanke, die alte Rotunde abzureißen und statt ihrer ein Haus um den Stamm zu bauen oder dicht daneben, mit einem Turm, der bis zur Höhe des unteren Astes reichte; doch dem hatte die Ärztin wegen des Kaminrauchs widersprochen. Also würde ein Flügel des Schlosses, der noch in leidlichem Zustand war, ausgebaut werden, was Janna auch deshalb mehr zusagte, weil sie wußte, daß Tassilo der Einsamkeit im Walde bedürftig bleiben würde, auch wenn er es jetzt nicht wahrhaben wollte. Geld für alles würde genug da sein; er, der Freiherr, würde nun Wälder verkaufen, alles Leben nahm ja nun wieder einen frischen Schwung, er würde seine Dörfer wieder in Besitz nehmen und wiederherstellen und seine Güter selbst oder durch Administratoren bewirtschaften lassen, Janna würde eine Schloßfrau werden, sie konnte wirtschaften, wenn sie wollte, denn große Geselligkeit konnte es natürlich nicht geben, und Tätigkeit war für Janna notwendig. Nun, und vor allem Kinder – der Freiherr nannte sie Enkel, aber es schien, daß er sie mit Janna zusammen hatte.
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Wenn Reichtum glücklich macht, so war Janna jetzt ein glücklicher Mensch, zumal ihr Reichtum nicht von der materiellen Art war. Die Wochen vergingen leuchtend; sie hatte einen Mann, den sie liebte und von dem sie geliebt wurde, und einen Liebhaber obendrein, so daß sie bald kaum wußte, wem sie den Vorzug gab; jedenfalls ergänzten die beiden sich auf die originellste Weise und überboten einander in Anbetung. Sie hatte Tätigkeit, hatte ihre Kavalierstriumphe, sie baute ein Haus; sie hatte die Fülle der Gegenwart, Jugend und einen goldenen Blick in die Zukunft. Die Hochzeit sollte noch vor Winteranfang stattfinden, wenn der Neubau bis dahin vollendet sein würde, und falls wider Erwarten nicht, auch.
Jener verschwiegenen Begegnung Jannas mit James Hick war keine zweite gefolgt. Der Freiherr ließ einmal eine Klage hören, daß er nicht mehr, wie er früher öfters getan hatte, an Sonntagen zu ihm heraufkomme, um Schach zu spielen; dafür bekam er Ersatz in Janna, sogar einen besseren, denn sie spielte schlechter als Hick, und der Freiherr konnte Verlieren nicht ertragen.
Einige Wochen nach jener Begegnung hatte Janna folgenden Brief bekommen:
»I want to tell you that I have had a sister. Her name was Carlotta. She had all my love and died at sixteen, myself being ten. I had no remembrance of how she looked, but when I saw you in Westminster I believed it was she.«
(Ich möchte Euch sagen, daß ich eine Schwester gehabt habe. Ihr Name war Karlotta. Sie war meine ganze Liebe und starb mit sechzehn Jahren, als ich zehn war. Ich hatte keine Erinnerung, wie sie aussah, aber als ich Euch sah, glaubte ich, es wäre sie.)