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Drittes Kapitel.
Der Berghof

1

Von Ebenezer Rudorff ist zu berichten, daß er am ersten Mobilmachungstage im Hof des Bezirkskommandos unter der ersten kleinen Schar derer war, die sich freiwillig zum Waffendienst meldeten. Seine große und ebenmäßig kräftige Gestalt mit der überlegenen Haltung gefiel sehr; untersucht und tauglich befunden, erhielt er schon nach kurzer Frist seinen Gestellungsbefehl nach München, da er zur Ersatzformation des Leibregiments angemustert wurde.

Er hatte in den Wochen bis dahin unter Anspannung seiner eigenen Kräfte und mit einer Hilfskraft das Honigschleudern der Ackersdorfer Bienenstöcke und mit Hülfe der Sagmeisterin das gleiche auf dem Berghof durchgeführt; zuletzt auch noch, von seinen Schulkindern unterstützt, seine und Caras Bücher in Kisten verpackt und mit dem gesamten Hausrat auf den Speicher über dem Schulsaal geschafft. Seine Mutter nämlich hatte unter der Einwirkung des Kriegsausbruches und Ebeners aktiver Teilnahme daran einen Schwächerückfall erlitten, der ihren Aufenthalt in der Klinik verlängerte. Cara verband mit der Nachricht an ihren Mann die Mitteilung, sie beabsichtige, seine Mutter nur heimzubringen, im Hause alles zu ordnen und als Pflegerin beim Roten Kreuz einzutreten. An die spärlichen Zeilen waren die Sätze gefügt:

»Du bist aus mir fort, und ich bin in der Fremde.

»Gott segne dich und behüte dich! In deiner Sterbestunde werde ich bei dir sein.«

Ihr Mann erwiderte mit den nötigen sachlichen Mitteilungen und den beiden Sätzen: »Sei bei mir, wenn ich wiederkomme!« und: »Ich dachte nicht, daß du den Berghof verlassen würdest.«

Seitdem hörten sie voneinander nur mehr auf dem Wege über Ebeners Mutter oder Nikolai Robin. Diese hatte, als Ebener nach München kam, die Stadt gerade verlassen; aber er sah sie noch, bevor er zur Front im Westen befördert wurde. Sie war sehr still und sagte, dies würde wohl ihre letzte Umarmung sein; doch habe sie, die ihn so spät im Leben bekam, ihn doch mehr gehabt als die meisten Mütter.

Mittwinters schon wurde die Siebzigjährige im Schlaf, ohne es zu wissen, aus dem Leben fortgenommen.

Da Ebenezer alle Eigenschaften zum Mannschaftsführer besaß und vor dem Feinde die angeborene Ruhe bewies, wurde er rasch befördert und führte zu Anfang des Jahres 1915 einen Zug in den Schlachten des polnischen Ostens.

Ebeners letztes Briefwort genügte für Cara, um sie den eigenen Entschluß aufgeben zu lassen und statt zum Roten Kreuz zum Berghof zu gehen. Sie hatte auch bald zu erkennen, daß ohne ihre Lenkung und zugreifende Hand die beiden Alten den Hof geschwinder hätten verfallen lassen, als Cara und Ebener ihn emporgebracht hatten; ganz zu schweigen von den enormen Lasten der Apfelbäume, deren Ernte und Versand alljährlich Hilfskräfte erforderte und die ohne Cara wohl am Boden verfault wären. Und als vom Oktoberende bis Anfang Dezember ununterbrochen schwere Regengüsse nur mit leichterem Nebelregen abwechselten, das Vieh im Stall bleiben mußte und täglich Frischfutter gemäht werden, hatte Cara selbst mit der Sense zu helfen, wenn auch unwillig, denn sie konnte es schlecht. »Wer nücht mit der Sense aufwächst«, sagte der alte Sagmeister, »dem wächst sie nücht in dü Hand.« Die Alten waren mit ihr aufgewachsen, aber kaum daß Ebeners männliches Auge fehlte, waren sie nichts mehr nütze.

Ende November ereignete sich das Unglück, daß der alte Sagmeister sich einen rostigen Nagel in den Fuß trat und der Blutvergiftung drei Wochen später erlag. Nikolai Robin war außer sich, daß Cara trotzdem den Berghof halten und auf ihm bleiben wollte, doch dies nützte ihm wenig; es förderte eher ihren Entschluß. Als Cara mit der Witwe vom Begräbnis im Schneeregen zurückkehrte, war es für viele Wochen ihr letzter Gang in die Welt gewesen. Schnee begann zu fallen, sanft segelnde große Flocken erst, bald aber feiner und dichter, und der Berghof wurde für eine so lange Frist unzugänglich in Schnee eingeschlossen, wie es die Sagmeisterin nie erlebt haben wollte – bis tief in den Februar hinein. An den Apfelbäumen offenbarte sich nun ihr hohes Alter; die Lasten der Früchte hatten unzählige Stützen tragen geholfen, aber die Lasten des Schnees hielten die ungestützten Äste nicht aus, und viele zerbrachen. Cara verstand jetzt zum erstenmal den Namen ›Einöde‹, den die einzeln gelegenen Höfe im Bergland tragen. Die lange Gefangenschaft wurde freilich seltsam, als nach den Schneefällen klare Frostzeit kam; denn im Norden, Osten und Süden lag die Welt offen zu ihren Füßen, doch unzugänglich, in der blauen und weißen, der funkelnden und blitzenden Herrlichkeit des Schnees und des Himmels.

An Vieh zählte der Berghof damals drei Milchkühe, ein Jungrind und ein heranwachsendes Stierkalb, das des Schnees wegen nicht rechtzeitig verkauft werden konnte; dazu fünf Schafe, von denen drei Mütter waren und eins der Bock, zwei Ferkel, die im Frühjahr riesige Sauen geworden waren, neun Hennen mit ihrem Hahn und fünf Enten mit dem ihren; schließlich die vierzig Bienenvölker, zu deren Haus nicht einmal ein Weg durch den Schnee gebahnt werden konnte, so daß es in seiner Mulde, darüber der Nußbaum stand, unerkennbar im Schnee versank; doch tat dies seinen Bewohnern keinen Schaden. Obgleich von den Kühen eine hochträchtig war und Ende Februar kalbte, daher immer spärlicher Milch gab, war die Menge beträchtlich und mußte, weil kein Abtransport möglich war, in Butterschmalz verwandelt überwintern. Die Magermilch ging zu den Schweinen oder kehrte zu den Kühen zurück. Die Schafe waren im Herbst gedeckt und standen bis zum Frühjahr trocken.

Arbeit gab es also mehr als genug, zumal die Sagmeisterin nicht nur an Geist – der allezeit nur gering gewesen –, sondern auch leiblich von Woche zu Woche lebloser und schwächer wurde, so daß sie mit gichtischen Fingern nicht mehr melken und zuletzt auch das Heu nicht mehr mit der Gabel aus den festgepreßten Bergen losreißen konnte, um es durch die Luke im Boden in den Stall hinunterzuwerfen. So fiel auch das an Cara, der es aber nur recht war, ihren Willen anzuspannen und eingemummt in der Eiseskälte und Finsternis des Heuschobers mit der Gabel zu arbeiten und von oben zu sehn, wie die Sagmeisterin drunten, eine krumme Schattengestalt im winzigen Licht der Lampe, sich zu dem heruntergeregneten Heuhaufen bückte. Das Kuhbrüllen rollte dumpf und ruhevoll, der Bock riß an seiner Kette und schlug die hornlose Eisenstirn an die Holzwand; der Duft von Heu und der warme Brodem der vielen Tierleiber stieg kräftig und süß empor. Aber so köstlich es für die Zerfrorene war, nachher die dicke neblige Wärme des Stalles beim Hinabsteigen über sich zusammenschlagen zu lassen, schadete der beständige Wechsel doch ihren Atemorganen, und sie tauschte den Winter lang immer nur eine Erkältung der Nase für eine des Rachens ein. Dennoch war der Aufenthalt und die Arbeit im Stall ihr lieber als die Einsamkeit der schneehellen Wohnstube, wo auch Spinnrad und Webstuhl Seele und Geist sich selbst überließen; und das war keine Gegend für Cara, wo Trost zu finden war, sondern nur Verhärtung und Bitterkeit. Das viele Tun und Verrichten in Stall und Stadel und Küche mit seiner körperlichen Anstrengung, mannigfach wechselnden Hantierungen und Störungen, und vor allem die seelenlose, aber lebendig verwandte, gütevolle und tief beruhigte Leibesnähe der stillen Geschöpfe zog sie in eine wohltuende Art von halber Bewußtlosigkeit hinunter und erhielt so lebendig, was an weiblicher Süße und Weichheit in ihr war: wenn sie an einem der mächtigen gelbgrauen Leiber lehnte, dessen reines Fell seidenhaft glänzte, die Wärme darin wie eines Ofens, die in tausend Adern gewaltig entfachte Wärme des Blutes strömte und der im Innern still sich vollendende neue Leib der Frucht im Schlaf sich bewegte und mit zarter Dehnung knospender Glieder die Wandung erzittern ließ. Das breitgehörnte alte Mutterhaupt wandte sich her, und unter gelbweißen Wimpern erschien der dunkle große Kristall mit dem Blick des vollkommenen Friedens. Aber den ertrug Cara nicht, und ihr Auge war, wenn sie fortging, gläsern, und der Mund hatte die böse Schiefe.

Mitunter konnte es sein: wenn die tiefen Rinderstimmen lauter dröhnten – wenn Cara sich zur Futterstunde verspätet hatte – und Unruhe im Stall ausbrach, die Stimmen wie Donner rollten, ein Durcheinander von Posaunenstößen und hellem Gemecker und tieferem Geblök, lärmende Gier mit Getrampel und Kettengeklirr: dann mußte dieses Getöse trotz seiner Friedfertigkeit an ein anderes, unvorstellbar ungeheures erinnern, das den Luftraum zerschmetterte, während Ströme von Eisen die Fruchtbarkeit der Erde und die Zeugungskraft ihrer Sterblichen unheilbar in Fetzen rissen; und Einer erschien darunter, der wie sie alle war, den lebendigen Tod in den Fäusten, in den Augen und Kains Mal vor der Stirn. Und wenn dann das Bild der großen ›Schwester‹ vor ihren Augen erschien, dann schütterte es wohl durch ihren immer noch unmütterlichen Leib, und die arme Seele wand sich darin in ihrer Unfruchtbarkeit, vertrocknend, unmütterlich, unschwesterlich, unweiblich, in sich selber verknotet und sich selber unlösbar.

Eine schlimme, eine verzweifelte, eine höllische Zeit. Die tägliche Arbeit war so schwer, daß ihre nicht dafür geschaffene Physis fast daran zerbrach, und doch war dies wieder gut, denn es lähmte das Denken. Nur an den Nachmittagen blieben einige Stunden leer; und ob sie dann vor der Weborgel saß und mit Fuß und Händen die eintönigen Fugen spielte, oder – wenn sie die Einförmigkeit nicht mehr ertrug – die Finger im Rücken verkrampft die wenigen Schritte in ihrer Zelle hin und zurück tat, unzählige Male hin und zurück, als ob das Siedende in Hirn und Brust sich abkühlen ließe durch die Bewegung; und wenn doch nur wütender das Chaos des Schmerzes kochte, die unterste Hölle der tausend im Todesgebrüll verschlungenen Leiber, und gesichtslose Häupter sich aus dem Blutsee reckten und unter ihnen das eine, das wie alle war – vielleicht schon fleischlos, ein Knochengehäus in lehmiger Erde, vielleicht noch einen Atemzug aus Gottes Lüften schöpfend, vielleicht in der nächsten Sekunde das erstarrende Auge hebend mit dem letzten Blick, der ihr Auge suchte:

Dann war die Liebe doch für einen Herzschlag wie am ersten Tag, und die Verhärtung schmolz. Auf einmal standen doch wieder die vier lichten Stubenwände grün und fest um sie her, und die Welt wurde sicher. Der kleine Raum lag mit seinen vier Fenstern helle vom Sonnenschein, der draußen auf der Schneedecke von blendendem Weiß in Millionen goldener Funken glitzerte. Am südöstlichen Fenster stehend, sah sie unter sich das reine weiße Oval, unberührt und schön wie die reine Form der Ellipse liegen, und tief unten, jenseits der weißen Hänge und Fluren, das Wintergrau des gefrorenen Sees und nun zur Rechten die ganze mächtige Welt des Gebirges mit grauen Falten und weißen Flächen, die sich kreuzten und überstiegen zu den weißen Zelten und Zacken der Gipfel hinauf. Unendlich ferne, ganz klein jetzt im dunstigen Rot der versinkenden Sonne, stiegen sie näher und höher, festlicher und königlicher auf, und die dunstige Röte des Himmels darüber klärte sich mit und verging in ganz reines weißes Gold. Dann wurde dennoch wieder nur das Unvergängliche wahr; und aus dem Jenseits der Gottheit, bei der kein Ding unmöglich war, leuchtete eine ferne, ferne Begnadigung auf – fast der Hauch eines überirdischen Lächelns, fast der Wink eines göttlichen Fingers, fast das Zerfallen einer Unauflöslichkeit, lautlos, wie von großen, schneeig verwehenden Blättern. Aus der tiefen Bläue des inneren Kelches bebte ein Wimpernschlag und das Geheimnis: das aus vier Augen geborene Licht, die sich wiederfanden.

Cara kam am Ende aus ihrem Wintergefängnis körperlich und seelisch kräftiger als vordem hervor; und kräftiger heißt nicht härter, sondern eher war sie wieder erweicht und nachgiebig, wo nicht hingiebig. Fast wäre sie doch zusammengebrochen, als die wieder gangbar gewordene Welt den ersten Weg in das Dorf hinunter erlaubte und Briefe Nikolai Robins ihr das Leben ihres Mannes und den Tod seiner Mutter meldeten. Den alten Mann bekam sie zu ihrem Leidwesen noch viele Wochen lang nicht zu sehn; sie selbst konnte die geistesschwache Sagmeisterin keine Stunde allein lassen, und die Schneeschmelze und Regenschauer machten seinen betagten Knochen bis in den März hinein den Gang zum Berghof unmöglich. Danach tat es eine Lungenentzündung, der er, wie er schrieb, nur mit Opferung seines letzten Fleisches, das immer spärlich gewesen, sein Leben abkaufen konnte, um als klapperndes Skelett noch einmal zurückzuwanken über die Gräberreihen der Jugend in diese Welt. Doch erholte er sich dem Sommer zu vollkommen.

 

2

Es war an einem der ersten warmen und zart durchsonnten Apriltage, als Cara aus der Tür des Bienenhauses hervortrat. Sie sah die zum Nußbaum emporgewölbte Mulde locker übersternt mit Himmelsschlüsseln, die auf ihren hohen dünnen Stielen die hellgelben Kelche im leisesten Lufthauch zittern ließen. Sie wollte von ihnen pflücken und tat zwei Schritte zur nächsten Blume; allein beim dritten zuckte sie mit dem ganzen Leib zusammen, die Brust vorwerfend, als habe ein starker Schlag sie in den Rücken getroffen. Ihre Arme hoben und breiteten sich etwas; die Augen traten hervor, und sie sank langsam in die Knie vornüber und lag mit dem Gesicht im Gras und mit weit offen starrenden Augen.

Nach einer langen Zeit bewegten sich ihre Lippen und flüsterten: »Nun ist er tot.«

Viele Minuten lang lag sie noch so, ohne sich zu bewegen, nur daß ihre Augen sich geschlossen hatten. Aber nun kehrte der Atem in ihre Brust und das rosige Blut in das totbleiche Gesicht zurück. Ihre Augen gingen auf und mit ihnen ein langsamer Glanz und eine zart quellende Freude, bis ihr emporgehobenes Gesicht eine Blüte aus Licht geworden war. Mit der erhob sie sich und trug sie mit schwebenden Füßen, als ob sie auf ebenem Boden ginge, die beblümte Wiese empor zu dem schrägen Stamm und stand dort, eine Hand auf ihn stützend. Unter ihr öffnete sich das Tal, lichtgrün im blaßgoldenen Schimmer des Frühlings, Primelwiesen und Primelhänge und die ersten mattweißen Wolken blühender Bäume; die Wälder jenseits erhoben sich, als ob sie aufatmeten, noch braun mit hellgrünen Tupfen; die weiße Fülle von Wolken schwamm in mächtigem Gedränge darüber empor durch blaues Geäder, und ihr mitgezogenes Auge glänzte in das offene Blau des Lebens.

»Nein«, sagte ihre Stimme, mit klarem Laut. »Nun ist es überstanden.«

Danach setzte sie sich rasch hin, warf das Gesicht auf die Knie und brach in Tränen aus.

Dies war in der Stunde, in der Ebenezer unter einem Granattreffer – aber davon berichtet der Brief, den Cara anderthalb Wochen später erhielt.

 

Irgendwo in Rußland, im April

Meine Cara:

Ich nenne Dich so, obgleich ein zeitgenössischer Dichter das besitzanzeigende Fürwort in bezug auf Frauen und ähnliche lebhafte Gegenstände für unerlaubt erklärt hat; aber ich stimme darin nicht mit ihm überein, heute weniger als je, da ich mit einem tieferen Recht als früher auch sage: mein Himmel, meine Erde, mein Gott, mein Leben – die alle nur mir gehören, weil ich das Leben habe. Und dies ebenso gut, wie ich sage: mein fast zerrissener Rücken, der mich für eine Zeitlang auf dem Bauche zu liegen nötigt. Höre nun von den Umständen.

Mit meiner Kompanie im Vorgehen über eine baumlose und braunschlammige Fläche begriffen, hatten wir uns niederwerfen müssen, von plötzlich heftigem Geschützfeuer in unserer rechten Flanke aufgehalten. Wir gruben mit dem Spaten den Schlammboden unter uns aus, ihn vor uns aufhäufend zur Deckung und Auflage für das Gewehr. Ich hatte wie alle übrigen meinen schweren Tornister abgenommen und neben mich gelegt. Eine Stunde mochte vergangen sein, als sich mir der Gedanke aufdrängte, meinen Tornister wieder umzuhängen, ein ganz sinnloser Gedanke, dem ich indes dadurch Sinn zu geben versuchte, daß ich sagte: Vielleicht wird diese Batterie zum Schweigen gebracht, und wir gehn wieder vor. – Nun, es wäre auch dann noch Zeit für den Tornister gewesen. Aber das Drängen ließ nicht nach; so ließ ich diesem Tornister zuletzt seinen Willen, den er zu haben schien, und das war in der letzten Sekunde. In der nächsten platzte über mir die Granate, und das zackige Stück Eisen, das der Tornister auffing und ablenkte, erreichte mein Rückgrat nicht und riß nur ein unerhebliches Loch in das Fleisch, wo es eben anfängt, dicker zu werden und auch unvornehmer. Als einige Zeit später wirklich ein Signal kam, war es zum Zurückgehen, aber in hundert Schritt Frontbreite war ich der Einzige, der zurückkriechen konnte, bis ich bemerkt und aufgehoben wurde. Die Wunde ist so ungefährlich, daß ich im Feldlazarett bleiben kann.

Aber das ist natürlich nicht der Grund, weshalb ich Dir schreibe. Den Hauptanteil an meiner Lebensrettung trägt Dein Geburtstagsgeschenk, die Lebensbeschreibung mit ihrer festen Schicht von Papier und mit einer Wunde, die leider unheilbar ist. Trotzdem bedauern wir es wohl nicht, daß ich das Heft nicht Dir zurückgelassen habe, wie ich zuerst vorhatte. Ich fürchtete aber, es könnte aussehen, als wollte ich es Dir zurückgeben.

 

Unser beider Leben ist arg verletzt. Ich habe mich an Dir vergangen; und wenn ich auch sagen darf, daß die Schuld daran nicht bei mir war, so hebt das mein Verschulden nicht auf. Ich, Cara, kann daher nur ein Geschenk des Himmels in der Trennung sehn, die er uns auferlegt hat. Ehe wir nicht ein jeder zu sich selbst zurückfinden, findet keiner den andern wieder.

Wenn aber die Dinge in Dir wahr und wirklich sein sollten, die Du in der letzten Nacht zu mir gesagt hast, so muß ich in großer Furcht sein. Nun bin ich in der Furcht, daß sie wahr seien. Denn dann wärest Du herausgefahren aus der Parabelbahn und in die Hyperbel hinüber.

Muß ich Dich erinnern? Die Zweige der Parabelbahn streben nach der Endlichkeit – ohne sie je zu erreichen. Das ist im Menschen das Göttliche. Die Zweige der Hyperbelbahn streben nach der Unendlichkeit – ohne sie je zu erreichen. Das ist der Mensch – solange ers nicht übertreibt.

Es ist weiterhin schwer, und ich weiß nicht, ob es mir gelingt, die Worte zu finden, die ich Dir sagen möchte. Denn Worte verbinden nur, was insgeheim schon verbunden ist; Getrenntes verbinden sie nicht, im Gegenteil, sie erweitern die Spaltung, wie wir es schmerzlich erfahren haben. Ich hoffe aber, daß der Berghof mit seiner Einsamkeit und mit seiner Stille Dir geholfen hat, die Ruhe in Dir zu finden, die auch der nötige Grund für die Liebe ist.

Denn das weißt Du wohl selbst, daß das Gesicht, das Du mir in der letzten Nacht gezeigt hast, nicht das Gesicht der Liebe war.

Weißt Du es – weißt Du es nicht? Ich habe mit Staunen sehen müssen, daß Du gewisse Dinge nicht mehr weißt, die aus Deinem Gedächtnis anscheinend verschwunden sind. Ganze Stücke sind herausgefallen, und ich will versuchen, sie aufzusammeln, denn diese Lücken machen mir große Unruhe.

Dies ist nur eine kleinere, daß Du in Deiner Lebensbeschreibung von Deiner ›Eingebung‹ sprichst, Deine Brille abzunehmen, bevor Du zum Tanz mit mir antratest. Aber wie Du mir früher erzähltest, war es Deine arme Mutter, die sie Dir im letzten Augenblick noch von der Nase riß. Denn Du hattest, seit in Deiner Kindheit der erste Schatten der Kurzsichtigkeit bei Dir festgestellt wurde, mit eiserner Kraft auf der Brille bestanden, zur Qual Deiner Mutter, die ihr hübsches Töchterlein dadurch abscheulich verunstaltet sah, also daß es immerfort Widerstand, Wut und Tränen gab, sobald Fremde die Wohnung betraten; und daß es, wie Du selber gestandest, Deine arme Mama also war, die das Schicksal ihrer Tochter gerade dahin wandte, wohin sie es nicht wollte. War es das, Cara, was Du ihr zu verzeihen hattest? Aber über diese Stelle kann auch meine Liebe nur mit einem beflügelten Sprunge hinwegkommen; sie kann es!

Soll ich aber wirklich glauben, daß Du uns von jener Bank am Ufer der Elbe in Dresden gleichsam aufstehen siehst und die Nacht durchfahren, um am Chiemsee wieder aufzutauchen? Hast Du wirklich, mußtest Du vergessen, daß wir in das Riesengebirge gefahren sind, nach einer Woche uns in Dresden wieder getrennt haben, um jeder an seine Pflicht und Arbeit zurückzukehren und unsere Zukunft auf den Knieen der Götter zu lassen? Daß ich dann ein paar Wochen später ein Telegramm von Dir empfing und am nächsten Tage Dich selber mit den mir unvergeßlichen Worten: »Ich kann ohne Dich nicht leben.« Du warst so hart, fast abstoßend, böse, daß ich nicht wußte, wie das Schicksal in der Gestalt der Madonna uns vereinigt hatte. Und daß Du Deinen Stolz nach Deinem Willen in diese Tiefe gebogen hattest – ja, das konnte ich freilich erst nach Jahren, konnte ich freilich erst aus einer tief gereiften Liebe heraus begreifen. Damals war ich viel zu jung und erfahrungslos, um etwas andres zu sein als ungehalten über diesen Einbruch in mein Leben, diesen Gewaltstreich eines weiblichen Wesens. Du hast, wie Du Dir Dein Leben vorher erzwungen hast, mich Dir erzwingen wollen, meine Liebe erzwingen wollen. Und es ist ein Wunder geschehen: es ist wirklich Liebe geworden.

Denn so nenne ich es, auch wenn Art und Grad Dir nicht genügen mag.

Du hast recht behalten, daß nicht Dein Wille, sondern höhere Macht uns vereinigte. Freilich, nicht ohne Deinen Willen, und so bleibt alles wahr, was ich Dir in der Nacht gesagt habe: Du hast alles gewollt – und es ist Dir bestätigt worden. Warum habe ich mich Dir gefügt, als Du zu mir kamst? Ich kann es nicht sehn und kann also nur Gott danken, daß ich es getan habe.

Denn was auch das Leben an Glückesglanz mir gebracht hat: daß ich Dich lieben kann, ist das Beste daran, Cara.

Höre jetzt auf zu wollen! Ich flehe Dich an. Höre endlich auf, mehr zu wollen, als Du darfst, das Unerreichbare! Ich, der Mann, der sich in dieses klaffende Chaos gestürzt hat und nun auf seinem Bauche am Rande hängt –

 

Der Brief brach hier ab; es war mit Bleistift darunter gekritzelt: »Die Russen. Hoffentlich gelingt es mir, Dir dies zu senden.«

Der Überfall der Russen, der mit dem Feldlazarett auch Ebener Rudorff in ihre Hände brachte, verhinderte die Absendung des Briefes durch andere Hand nicht, und so gelangte dieser Brief mit dem Licht seiner männlichen Liebe und dem dicken Schatten seiner männlichen Unwissenheit, die es für erlaubt hielt, Vergessenes in eine Seele zurückzuzwingen, dessen sie sich mit Gewalt entledigt hat, wirklich in Caras Hände.

 

3

Einige Wochen später, als es auf Abend ging, der Berghof bereits im Schatten lag, aber Land und See und Gebirg noch leuchteten, stand Cara am Trog des immer fließenden Brunnens neben dem Krautgarten, Geschirr spülend. Ihr leichtes Kleid von ländlicher Machart war grauschwarz und weiß kariert, mit kurzem Faltenrock und anliegendem Leibchen, kleinem Halsausschnitt und fast keinen Ärmeln. Ihre schönen Arme und das kleine Gesicht waren schon angebräunt, und die Wange lebte in hoher Rosenfarbe; doch war es gehagert, die Augen lagen tiefer, der Bogen der Nase war schärfer und das Kinn wieder härter geworden; auch trug sie eine große Brille mit runden Gläsern, die in graue Hornringe gefaßt waren, mit ebensolchen Stäbchen.

Das Rauschen des Brunnenstrahls und ihr eigenes Plätschern und Klappern ließen sie den Schritt Nikolai Robins überhören, der aus dem Apfelgarten auf sie zukam; sie fuhr daher bei seiner Stimme zusammen und starrte in sein altgewordenes Gesicht, das sich hinter der Nase zusammengezogen hatte mit zwei tiefen Furchen zu den Mundwinkeln hinunter. Es war vom Gehen erhitzt unter der schwarzen Wollmütze; ein dicker grauer Schal hing offen vorne herunter. Jetzt gewahrte sie den Ungutes kündenden Ernst seines Auges und rief: »Er ist verwundet!«

»So?« sagte er stehenbleibend betroffen. Sein schmaler Mund zitterte, er rückte die Mütze aus der schweißnassen Stirn, griff dann in eine Tasche seiner Windjacke und holte eine Postkarte hervor, auf der Cara seine eigene Schrift und Ebeners Adresse erkannte und den queren roten Stempel ›Vermißt‹.

»Dann ist er gefangen«, sagte sie, ihre Hände wieder ins Wasser tauchend.

Er fragte, woher sie das alles wisse, und sie versetzte mit einem wissenden Lächeln in sich hinein: »Wir haben so unsre Geheimpost.« Sie erklärte dann weiter, sie habe gewußt, daß er verwundet wäre, so müsse er, nach dieser Postkarte, nun gefangen sein.

Sie gingen, nachdem sie das abgespülte Geschirr auf dem Brunnenrand aufgestellt hatte, langsam zur Bank neben der Haustür und ließen sich nieder, der alte Auferstandene klein zusammensinkend, seinen Stockgriff in den Händen vor der Brust; Cara saß vorgebeugt, die Hände neben sich aufgestützt und blickte mit überklaren Augen durch den Glanz der verschwimmenden Ferne in die ferne Unmöglichkeit.

»So bleibt er doch leben«, sagte sie nach einer Weile, »und er ist heraus aus diesem Kriege.«

»Wenn dus net schwerer nimmst«, sagte er beinah ungehalten; Cara erwiderte indigniert: »Ich hab es schon hinter mir, weißt du.«

»Die Geheimpost? Ich erinnere mich, Ebener sagte mir so etwas.«

Danach waren sie beide still. Als er sich nach einer Weile räusperte, fragte sie, ob er dürste, und ging ins Haus, da er bejahte, und kam bald mit einem Glase Milch wieder. »Von meiner letzten Kuh«, sagte sie, indem sie es ihm reichte, denn er betrachtete es voll Mißtrauen.

»Wieso?« fragte er, nachdem er tiefe Züge getan, »von der letzten?«

Sie erwiderte neben ihm stehend, es sei mit der Sagmeisterin allein nicht mehr weitergegangen, die ganze Winterarbeit außerhalb des Hauses bereits unterblieben, kein Dünger auf die Wiesen gefahren und so weiter. Da habe sie die guten Kühe lieber verkauft, als sie mit schlechterem Heu zu ernähren – wenn sie auch jetzt weiden könnten.

Sie sagte, in ihrem Stolz getroffen: »Ich bin doch nur eine Frau. Aber so wird es allmählich im ganzen Land«, schloß sie verhärtet.

Er war erschrocken, als er erfuhr, daß sie seit Dezember mit dem alten Weib allein war, worauf Cara lachte und erwiderte: seit dem Herbst wäre er der erste Mann, den sie hier oben gesehn hätte, außer dem Postboten und dem Gemeindediener. Doch er hörte nicht auf, bedenklich den Kopf zu schütteln, und war auch ärgerlich, daß sie die schönen Kühe verkauft hatte.

»Schafmilch, Onkel Bien, schmeckt ebenso gut«, sagte sie nun mit einem echt weiblichen Lächeln, »oder nicht?«

Er warf einen Blick des Abscheus auf das neben ihm stehende Glas und rief: »Doch Schafmilch! O du Betrügerin!«

»Nun, warum gleich so!« sagte Cara.

»Warum gleich wie?« wiederholte er betroffen. »Darf man net scherzen?«

Im nächsten Augenblick war sie in Tränen ausgebrochen, lief, ihr Taschentuch vor dem Gesicht zum Brunnengehäuse und warf sich dagegen mit wildem Schluchzen, so daß der alte Mann fast verging an der Verzweiflung über sich selbst. Als der Anfall vorüber war, tauchte sie ihr Tüchlein in das Wasser, wusch ihre Augen und kam ziellos gehend langsam zurück.

»Setz dich neben mich«, bat er, »laß dich anschaun.«

Sie gehorchte, indem sie mit den Unterarmen im Schoß ihre Brille zu putzen begann, und bot ihm etwas blindäugig ihr vom Weinen erweichtes Antlitz. Er fragte, ob sie die Brille jetzt immer trage, und sie erwiderte, ihre Augen hätten sich verschlechtert; in den Wochen der Eingeschneitheit sei das Petroleum ausgegangen, und sie habe, um zu sparen, bei nur einem Licht viel gelesen.

Nun fand er, sie wäre älter geworden. »Ich meine«, verbesserte er sich, »du siehst nun erst so alt aus, wie du bist – Ende zwanzig?«

»Onkel Bien«, sagte sie bitter, »sag jetzt, der Krieg dauert noch sieben Jahre, dann kannst du dich nicht mehr übertreffen.«

Er sank in sich. Nach einer Weile fing er an sich zu schelten: er sei ein alter Mann, der nur noch sagen könne, was er dächte; und unter all dem Grausigen in der Welt könnte kein guter Gedanke aufkommen. Ob es ihr wohl recht sein würde, fragte er dann, die Bienenzucht würde ihm bald zu schwer, und er sei nun drüben vereinsamt; also ob er zu ihr ziehen dürfe.

Cara erwiderte, es sei sehr lieb von ihm. Dann brachte sie hervor, sie habe gehofft, daß auf dem Berghof nichts sich verändern solle; nun habe sie freilich die Kühe verkauft. »Und«, schloß sie erbittert, »wenn es noch Jahre dauert, wie es heißt –«

Darauf entgegnete er wiederum nichts und murmelte erst nach einiger Zeit: »Es geht ja auch net – ich mach dir nur mehr zu schaffen. Oder du nähmst eine Magd. Warum hast du keine genommen und die Küh behalten?«

Sie fragte mit müder Stimme dagegen: »Was soll denn eine Magd? Nun fängts mit den Bienen an – die geb ich keinesfalls auf; die sind uns das Liebste gewesen. Gemüse muß ich nun bauen – da könnte eine Magd helfen. Sagmeisters aßen nur ihre Knödel, ganz krank bin ich geworden von den ewigen Mehlspeisen. Aber Holzmachen, Mistfahren, Jauchefahren und Kleie aus dem Dorf, Mehl, und die Obstbäume abkratzen und spritzen – da hat schon Sagmeister nicht zugereicht, und Ebener hat das gemacht. Die Schafe sind mühelos, die sind bei jedem Wetter im Freien, sie düngen die Wiesen, und ich habe die Wolle im Winter.

»Dauert es wirklich noch lange?« fragte sie und faßte nach seiner Schulter.

Er sträubte sich einige Zeit und brachte dann hervor: Ebener habe recht gehabt – nun trete bald auch Italien in den Krieg ein.

Sie saßen wieder still. Schon war es Nacht geworden, mehr als die Hälfte des Firmaments funkelte sternübersäet oben und unten. Der Brunnen rauschte lauter: im Sternenlicht schimmerten von der großen Wiese herauf die Leiber der weidenden Schafe.

Cara sagte: »Ich will Abendbrot richten.«

Aber sie stand nicht auf.

»Weißt du eigentlich«, fragte sie plötzlich, »was der Name Ebenezer bedeutet?« Und da er nur erwiderte: »Bedeutet er etwas?« erwiderte sie:

»Es ist gar kein Mannesname, mußt du wissen. Früher schon einmal fiel mir ein, in der Bibel nach ihm zu suchen, und da hab ich entdeckt: im Zweiten Buch Samuelis – da wird erzählt, wie die Kinder Israels den Philistern in einer Schlacht ihre Bundeslade wieder abgewinnen, die sie in einer andern Schlacht verloren hatten. Da richtete Samuel einen Stein zum Gedenken auf und nannte ihn: Eben ezer, das heißt: Stein der Hülfe.«

»Nun?« fragte nach einer Weile der alte Mann, »bedeutet es dir etwas?«

»Schlachten«, sagte sie langsam, »und ein Sieg, und – Ebener würde sagen –«

»Was würde er sagen?« fragte er, da sie verstummte.

»Das wiedereroberte Heiligtum des Volkes.«

»Warum auch net?«

»Und ein Stein«, sagte Cara.

Auf seinen schwachstimmig geäußerten Einwand »Stein der Hülfe« gab sie keine Antwort und fragte bald darauf, ob ihm kalt würde. Sie erhoben sich beide und gingen die Stufen empor hintereinander in das Haus.

 

4

Es war tief in der Nacht. Eine Petroleumlampe stand, mit weißer Kuppel milde leuchtend, in der Wohnstube auf der naturweißen Ahornplatte des quadratischen Tisches, den auf zwei Seiten über Eck die braundunkle Wandbank umlief, mit je einem der vier kleinen Fenster darüber. Die Vorhänge waren geschlossen vor allen vieren. In dem kleinen Raum hellgrüner Wände mit der niedrigen braundunklen Balkendecke gab es sonst nur ein paar braune Holzstühle und auf der einen Seite der Tür eine schöne Truhe von Ebenezers Hand und an der Wand gegenüber eine niedrige Bettstatt ohne Kopf- und Fußbrett, auf der einige bunte Kissen lagen. Sie reichte vom Fenster bis zu dem grünen Kachelofen, den eine braundunkle Holzbank umfaßte. Zwischen ihm und dem Wandstück neben der Tür war nur ein schmaler Raum; und dort stand Cara vor dem Büchergestell, das über ihr bis zur Decke reichte; den Rücken daran gelehnt, hielt sie die beiden Eckpfosten hinter sich in den Händen, vor sich hinblickend mit einem selbstvergessen hängenden Mund wie eine Blinde.

Zwischen den Fenstern ihr gegenüber schwang unter der buntbemalten Uhr das kleine Messingpendel aufblinkend hurtig hin und her, und unten gingen die beiden Messingzylinder der Gewichte an ihren Ketten Ruck um Ruck unmerklich tiefer. Draußen in der Nachtstille rauschte es leise in den alten Wipfeln vom erwachenden Föhn; Mitternacht war lange vorüber.

Nun wurde das Geräusch einer Tür im Haus hörbar; Schritte kamen über den Flur, und der alte Robin erschien kahlhäuptig in der dunklen Öffnung. Er konnte Cara nicht sehn, da der Türflügel gegen sie aufschlug, zauderte und spähte noch vergeblich umher, bis er, die Tür hinter sich schließend, sie gewahrte.

»Da stehst du«, sagte er erschreckt. »Ich hab schon geschlafen – da sah ich draußen den Lichtschein aus deinen Fenstern.« Er verstummte, denn sie sah ihn aus tränennassen Augen an, ohne Blick, und sagte:

»Ich kann nicht mehr. Ich kann das jetzt nicht mehr.«

Darauf lag sie mit der Stirn an seiner Schulter, schluchzte und jammerte: »Ich kann das nicht mehr, daß ich hier geh und steh und alles wie immer ist, und du und ich, wir sprechen und lachen, und – irgendwo ist er auch, in der leeren Nacht – und das noch Jahre, Jahre!«

Sie brach wieder heißer in Tränen aus und warf sich auf die Bank an dem Ofen, weinend, bis sie erschöpft war, alle Tränen, die sie mit sich allein nicht vergossen hatte. Die männliche Berührung durch die Gegenwart Nikolai Robins – ob er so alt wie Moses war – hatte wie sein Zauberschlag auf den Felsen gewirkt. Der alte Mann saß in sich gezogen daneben, in den Händen ihre krampfhaft pressenden Finger beruhigend, und so wurde sie langsam stiller. Sie hob ein kleines dunkelrotes Buch vom Boden auf, das von der Bank gefallen war, und streckte es ihm blind hin, indem sie sagte: »Da – lies etwas – schlag es nur irgendwo auf.« Und sie ging zur Bettstatt hin, um sich darauf zu werfen und ihre Augen zu trocknen.

Er stand auf und trat zur Lampe, unter die er das Buch hielt; seine Brauen gingen hoch, als er die goldene Aufschrift ›Novum Testamentum Latine‹ las, aber er sagte nichts, klopfte auf seine Taschen und murmelte, er habe seine Brille nicht bei sich. Dann setzte er sich und versuchte zu lesen, indem er das Buch so weit von sich streckte, wie sein Arm reichte, mußte es aber trotzdem aufgeben. Cara hatte aufgesehen und lächelte süß, stand dann auf, strich mit der Hand über seinen Kopf und nahm ihm das Buch aus der Hand, mit dem sie sich unter einem der Fenster setzte. Da der alte Robin suchend umhersah, meinte sie, es gehe auch ohne Brille, die liege wohl in der Küche.

»Ach«, sagte sie leise, »die Hochzeit!« Und sie fing an zu lesen.

 

»Et die tertia nuptiae factae sunt – oder möchtest dus lieber deutsch?

»Und am dritten Tage geschah eine Hochzeit in Kana in Galiläa, und Jesu Mutter war dort. Aber auch Jesus und seine Jünger waren eingeladen.

»Et deficiente vino – Und da Wein fehlte, spricht Jesu Mutter zu ihm: Sie haben nicht Wein. Und spricht zu ihr Jesus: Quid mihi et tibi est, mulier? Das heißt –«

»Weib, was habe ich mit dir zu schaffen«, murmelte der alte Mann am Tisch gegenüber; zwischen ihnen stand die Lampe.

»Ja, das sagt euer grober Luther. Aber das heißt es gar nicht.«

»Also was wirds dann heißen?«

»Was ist mir und dir, Frau? Was heißt das? Was ist mir und dir gemeinsam? Das fragt Jesus. Und danach sagt er: Nondum venit hora mea – Meine Stunde ist noch nicht gekommen.«

»Was soll ich mir dabei denken?« fragte der alte Mann.

»Ich würde denken, daß – was ihnen gemeinsam ist, das Blut ist; und daß er, Jesus, Geist ist, weshalb er nämlich sagt: Meine Stunde ist noch nicht gekommen.«

»Schau, schau, was du net alles weißt!« sagte er voll Bewunderung, worauf ihr Gesicht sogleich steif wurde und sie fortfuhr:

»Erant autem ibi – Es waren aber da sechs steinerne Henkelkrüge aufgestellt gemäß der Reinigung der Juden, jeder fassend zwei oder drei Maße. Spricht zu ihnen Jesus: Füllet die Krüge mit Wasser. Und sie füllten sie bis an den Rand. Und spricht zu ihnen Jesus: Schöpfet jetzt und bringt es dem – architriclino –«

»Dem Speisemeister«, half der alte Mann ein.

»Und sie brachten. Ut autem gustavit aquam vinum factam – Wie er aber das Wasser kostete, das Wein geworden war, und nicht wußte, woher es war, ruft er den Bräutigam und spricht zu ihm:

»Jeder Mensch gibt zuerst den guten Wein, und wenn sie trunken geworden sind, dann den, der geringer ist. Du aber hast den guten Wein bis jetzt aufbewahrt.«

 

Cara schwieg; ihre Augen in den erhitzten Lidern hatten wieder Glanz empfangen, und sie saß im Hauch eines Lächelns, das Gesicht geneigt, als ob sie lauschte. Das Rauschen der Wipfel hüllte das Haus ein; der alte Robin räusperte sich und sagte: »Es klingt wunderschön. Ist es für dich tröstlich?«

Cara wiederholte halblaut: »Du hast den guten Wein bis jetzt aufbewahrt.« Dann fragte sie: »Kann etwas tröstlicher sein, als daß Wasser zu Wein wird?«

Der alte Mann schwieg eine Weile, räusperte sich wieder und sagte: »Aquam vinum factam – das heißt aber nicht, der geworden war, sondern der gemacht war.«

Sie stutzte, warf einen Blick in die Schrift und lächelte.

»Nein«, sagte sie, »verzeih: factus ist Partizip zu fieri ebenso wie zu facere – also heißts, der geworden war, und so auch bei Luther. Den hast du ja besser im Kopf, als ich dachte.«

»Und du«, versetzte er, mit den Augen zwinkernd, »siehst noch hübscher aus, wenn du lateinisch redest.« Dann entschloß er sich, die Zigarre anzuzünden, die er längst in den Fingern hielt, ging dann zum Ofen, um den Streichholzrest hineinzuwerfen, und setzte sich dort auf die Bank. Cara, die bei dem Kompliment keine Miene verzogen hatte, schob die Hände mit dem Buch über den Tisch hin und fragte, ob er sich bei alledem gar nichts denken könne. »Eine Stelle wie diese«, sagte sie, »die so geheimnisvoll ist –«

Er rückte und kreuzte die Beine, sagte schließlich: »Oder voll Unverständlichkeit. Ich meine nicht nur das Wunder.

»Das Wunder«, wiederholte sie, »ja, worin besteht eigentlich das Wunder? Sonst – bei seinen Heilungen oder Geistervertreibungen heißt es immer, daß Jesus etwas tut oder spricht. Hier aber wird nur gesagt, daß er die Krüge anfüllen läßt. Und dann heißt es: das zu Wein gewordene Wasser.

»Es ist also nur etwas geschehn. Durch seine Gegenwart ist Wasser zu Wein geworden. Er erscheint – und die Welt ist verwandelt; jetzt ist, was Wasser war, Wein.«

»Ja, sprich weiter, mein Kind.«

Sie sagte: »Nun schau an, wo wir sind: erst im zweiten Kapitel Johannes. Sieh, Onkel Bien, wie du bist: du hörst ein Kapitel der Bibel, sagst: ein Wunder, und: ich verstehe das nicht. Nun habe ich dir nur ein Kapitel mehr erzählt, und schon leuchtet dir etwas ein.«

»Ja, du hast wohl recht – man müßte das Ganze lesen.«

Cara seufzte: »Man müßte – und das Müssen kommt nie.

»Nein, Lieber, warum das Ganze?« sprach sie dann eifervoll weiter. »Hier ist Johannes – ist er nicht genug? Er ist ja so anders als die andern Evangelisten. Die sind Chronisten, sie berichten der Reihe nach das ganze heilige Geschehn vom Anfang bis zum Ende. Aber Johannes ist geistig. Er spricht wie aus tiefem Traum, wie ein Hundertjähriger, der sich erinnert, so redet er aus der Tiefe des Geistes und der Liebe, und die Lebensereignisse sind ihm nur Bilder, die er hineinflicht. Aber warum fängt sein Evangelium mit Wasser und Wein an? Wenn du es lesen würdest, so würdest du im ganzen Evangelium Wasser sehen, wohin du blickst.

»Denn da ist das Wasser des Jordan zu Anfang, mit dem der andre Johannes tauft, und da das Wasser der Hochzeit. Wieder das Jordanwasser, mit dem Jesu Jünger taufen, und das Wasser des Brunnens zu Samaria, wo er sagt: Wer von diesem Wasser trinken wird, den wird wiederum dürsten, wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich gebe, der wird nicht dürsten in Ewigkeit. Und immer weiter: das Wasser des Teiches Bethesda und das Wasser des Meeres Genezareth, über dem er wandelt, er, der Geist, über dem Wasser der Liebe: Wer an mich glaubt, aus dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Da ist auch das Wasser seiner Lippen, mit dem er den Blinden heilt, und endlich das Wasser, in dem er die Füße der Jünger wäscht. Und erinnerst du dich nun an die Wasserkrüge der Hochzeit, die da standen ›gemäß der Reinigung der Juden‹? So kehrt das Ende zum Anfang zurück, aber dann endet alles mit den ärmsten Worten: ›Mich dürstet‹, und dem Brunnen des lebendigen Wassers wird ein Schwamm voll Essig gereicht.«

Cara schwieg. Der alte Mann erhob sich leise und trat an das nächste Fenster, lüftete seinen Vorhang und sah in die Nacht. Als er sich wieder zurückwandte, sah er das Zimmer voll von Rauchschwaden; er öffnete eine Scheibe und warf den Rest seiner Zigarre hinaus. Die Nacht rauschte lauter und unausgesetzt wie eine große Flut; auch der Brunnen und der Bach waren zu hören.

»Ja«, sagte er halb nach draußen, »von Liebe weiß ich vielleicht zu wenig.«

»Bist du nicht auch jung gewesen?«

Nach einer Weile das Fenster schließend, durch das es hereinblies, so daß der leichte Vorhang wehte, kehrte er an seinen Platz zurück, kreuzte die Beine und stützte die Stirn in die Hand.

»In meiner Jugend«, fing er an, »das war eben der Fehler: ich war niemals richtig ergriffen. Später habe ich mich immer zu lange besonnen, ob es die Rechte wäre – na, und dann war sie es eben nicht. Nur ein einziges Mal – aber da war ich schon an die Sechzig.«

»Sechzig?« fiel Cara ein. »Da kamen wir grade nach Ackersdorf.«

Sie verstummte. Er konnte nicht sehn, wie in ihren Augen ein Lächeln aufging, und er sagte:

»Richtig – es war keine da, aber es kam eine hin.«

Cara sagte: »Ich weiß.«

Er ließ seine Hand fallen und sagte erschrocken: »Du weißt? Hab ich mein Licht nicht sorgsam unter den Scheffel gestellt?«

»Es gehört ja nicht unter den Scheffel, und ich fand, es stand obenauf.«

»Das ist ja schrecklich.«

»Glaubst du, ich bin keine Frau? Auch wenn ich lateinisch rede –«

»Nun«, sagte er, ernst geworden, »dann kann ich dir wohl einmal sagen, wie das gewesen ist. Denn wenn es nun auch lange vorüber ist – vorüber, meine ich, wie es damals war: es beglückt mich, und es graust mich noch heute.«

»Aber, Lieber, warum Grausen?«

»Wenn einer sieht, wie es sein könnte?! Wenn einer schon sechzig ist – und auf einmal wird alles klar? Und er sieht auf ein Leben herunter, wie meins war – kein leeres Leben, kein volles Leben – aber wozu war es nütze? Und er sieht die Unmöglichkeit – nicht weil die Frau schon gewählt hat, sondern die Unmöglichkeit: daß ein Wesen wie du – nicht sein kann für einen wie mich! Dann bleibt nur die Genugtuung übrig, das Leben ausblasen zu können.

»Ich sage nur: zu können. Man braucht es deshalb nicht zu tun.

»Heute«, sprach er weiter, »heute wünschte ich nur, ich hätte bessere Worte. Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten – aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben ... Solcher seligen Höhe – fühl ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe.«

Cara war erblaßt; ihre Lippen bewegten sich, aber die Worte »Das hat er nie zu mir gesagt« wurden für niemand hörbar als sie selbst.

»Die Marienbader Elegie – ich hab sie damals auswendig gewußt; hab selber Verse geschrieben, in den Wäldern gelegen und mich in Stücke gerissen. Ja, mein Gott, es war spät, sechzig, und ich hatte nicht gewußt, daß eine Frau sein kann wie du. Wenn ich dich gehen sah, bin ich dir zu Füßen geflossen. Ich habe nicht geatmet vorher, nicht gesehen – nun verstand ich Wolken und Sterne. Wenn du mich ansahst – ein Licht, ich konnte es nicht begreifen. Wasser – Feuer – Element – solch ein Schmerz – solch ein Glück.

»Lieber Gott, wenn du das meinst: Hättest du mir Wasser gebracht – und mich angesehn, so wie niemals – da war es mir Wein geworden.«

 

Cara hatte dem halblauten Stammeln der alten Stimme standgehalten, die Augen fast geschlossen, die Hände auf der Tischplatte verkrampft und den Mund so kraus nach innen gezogen, als ob sie Essig schmeckte. Sie schob sich dann vom Tisch fort aus der Bank und machte zwei Schritte neben der Bettstatt hin, die sie ihm nahe brachten. Ihre Hand unsicher ausstreckend, ließ sie sie von seinen Händen ergreifen, zog sie aber dann heftig an sich und ging zur Tür und hinaus.

Wenig später erhob sich auch Nikolai Robin, nahm die Lampe auf und leuchtete sich in sein Zimmer im Oberstock.

 

5

Wieder sind Wochen dahingegangen.

Die Sonne eines überwarmen Maimittags flutete schräg durch die beiden südöstlichen Fenster in die Eckstube, die offen standen ebenso wie die der anstoßenden Wand; trotzdem hingen die dunkelrotkarierten kleinen Vorhänge zu ihren Seiten ohne Bewegung. Fünf von den kleinen Stubenfliegen – jener Art, die nur zu schweben und nie sich zu setzen scheinen – kreisten unablässig zwischen dem Deckenbalken und einem großen losen Strauß hellgelber und blaßlila Akelei, der in einem Zinnkrug auf der weißen Tischplatte stand. Sie schwebten lautlos in der glühenden Mittags-Stille, während draußen noch Vogelgezwitscher klang, wenn auch selten und mittagsmüde, und der immerfließende Brunnen rauschte.

Im Schatten an der anderen Wand auf der niederen Bettstatt lag Cara. In einem ländlichen Kleid von derber grauweißer Bauernleinwand, aber mit bloßen braunen Füßen, lag sie, die Augen geschlossen, die nackten Arme schlaff neben sich; und die kleinen Goldknöpfe des geöffneten Leibchens bebten von gleichmäßigen Atemzügen unmerklich über dem rosigen Hautschimmer ihrer Brust. Die Züge ihres gebräunten und hochroten Gesichts zeigten mit den ruhenden langen Wimpern die strenge Insichgekehrtheit des Schlafs.

Nur noch einsamer Vogelruf draußen, und das Plätschern des Brunnens, und das dunkle Brausen der Bienen, die zu Tausenden die blühenden Wölbungen der Obstwipfel füllten.

Auf einmal kam etwas zum Fenster hereingeschossen, in heftig schlagenden Flügeln, und hing in der Luft unter der Decke, eine Schwalbe, mit lautem Zetergeschrei – ohne die geringste Angst, mit weißer Unterseite und gespreizten Schwanzspitzen; so hing sie flatternd und funkeläugig, und in glattem, schlankem Bogen stürmte sie schreiend hinaus.

Cara schlief – doch bewegten sich jetzt ihre Züge; die Brauen zogen sich zusammen, eine der flachliegenden Hände zuckte, und nun auch ein Fuß; ihr Kopf drückte sich in den Kissen empor, die Lippen öffneten sich unmutig, und die Lider gingen so weit empor, daß Weißes vom Auge blinkte. Aber diese Zeichen von Abwehr und Angst vergingen, und während ihr Kopf sanft zur Schulter glitt, öffneten die Lippen sich mehr, so daß es von den oberen Zähnen weiß darinnen glänzte, bis es ein Schlaflächeln war, in sich gekehrt, von süßer, wissender Reife. Auch fing der leichte Busen ein stärkeres Heben an, und langsam zog das eine Knie sich empor; die Arme glitten auseinander, immer atmender blühte das Lächeln, endlich sank ihr Kopf in Ergebenheit der Beglückung zur Schulter.

Da erwachte sie aus dem Schlaf, aber noch nicht aus dem Traum. Der Nachhall des Glücks füllte sie noch überall, und in ihm dehnte sie sich, trunken zwischen Schlaf und Wachsein, in allen Gliedern – bis ein langsamer Schritt draußen zur Tür geschlürft kam, diese sich ebenso langsam und knarrend öffnete und die gebückte Gestalt eines alten Weibes sehen ließ. Cara schlug kaum die Augen auf und sagte schläfrig: »Sagmeistern – sind Sie noch da? Sie wollten um ein Uhr gehn.« Bei dem klagenden Wortschwall der Alten warf sie die Füße vom Bett, tastete noch schlaftrunken nach ihrem Haarknoten und stand endlich auf, um die unverständlich brabbelnde Alte sanft aus der Tür zu drängen.

Ihren Faltenrock schüttelnd und leicht mit der Hand schlagend, gewahrte sie, daß ihr Kleid offenstand; sie schloß einen Knopf – und hielt inne. Die Traum-Erinnerung überlief sie so, daß sie zitterte, die Arme hob und in sich hineinlächelnd sich dehnte, bis ihr Kopf zurücksank und der aufbrechende Mund zwischen Lust und Schmerz seufzte: »Trink, es ist Wein!«

Sie senkte danach den Kopf und ging aus der Tür in den Flur und die Stufen hinab in die Glut der Sonne und weiter rechtshin am Brunnen vorüber, immer wieder lächelnd, in ihren Gliedern gefangen. Berge von weißem Schnee, so schwebten die blühenden Baumwipfel zur Rechten, in denen es brauste; sie stand und erhob das Gesicht. Die unendliche Tiefe der Landschaft unter ihr war überall mit kleinen weißen und rosigen Wolken getupft, und der Himmel schwamm blau im See, dunstig, und das Gebirge im Süden funkelte noch mit Gipfeln in Schnee. Im Gras standen die Himmelsschlüssel schon welkend scharenweis überall, den leichten Hang hinan, den Cara nun emporging, auf die dunkle Wand des Hochwalds zu. Ein niederer Wall von grünem Gesträuch zog sich da bergunter, das Bachbett begleitend; die höheren Wipfel der Saalweiden erhoben sich darüber und die schlanken Stämme kaum übergrünter Erlen und Eschen. Cara kam dorthin; die nur mit grünen Spitzen besetzten Zweige der Bäume, eben erst aus feuchter Haft entfaltete Blättchen, standen still in der Glut, doch im Zittern der inneren Werdelust, die sich streckte. Sie schaute mit geblendeten, halb geschlossenen Augen empor. Plötzlich war in den grünen, golddurchsickerten Höhlen einen Wimpernschlag lang überall ein Geheimnis; blickende Augen waren da – Faunblick oder Götterblick, weltalt und niemals gealtert. Cara, das Erdegeschöpf, ging auf seinen bloßen Füßen bis zu einer Lücke im Gebüsch und bog sich unter einem jungen Eichbaum hindurch, der eben größer geworden war als sie und über ihren Nacken hinstrich mit den braungrünlichen Blättchen, die winzigen, eingekrüllten Händchen glichen. Hier rauschte der Bach über ein breites, fußhohes Stauwerk hinab; darüber lag ein flaches stilles Wasserbecken, goldglänzend in der einfallenden Sonne und glasklar über dem hellbraunen Grunde. Jenseits hing Strauchwerk darüber, schattenwerfend und grün im Dämmer der Flut gespiegelt; und wo die sanft angedrängte Flut in kleinen Wirbeln kreiste, bebte und verwirrte die Spiegelung sich leise.

Cara sah eine Weile selbstvergessen hinein; dann öffnete sie ihr Kleid und streifte es mitsamt der Wäsche nach unten; und einen Augenblick stand sie, die Arme über dem Kopf erhoben und sie aneinanderdrückend und die eine Wange daran geschmiegt, in sich hineinlächelnd im Genuß der Sonne und der Luft an den nackten Gliedern. Dann warf sie sich über das Wehr in das Becken hinein. Das flache Wasser konnte ihren hellen bräunlichen Leib nicht einmal bedecken; sie bewarf ihn, auf dem Rücken liegend und nur den Kopf erhoben, aus beiden Händen mit Wassergarben, die zerspritzend Brüste und Bauch besprengten. Sie schlug mit den Füßen, daß die Flut hochspritzte; sie lag endlich, auf die Hände hinter sich gestützt, und prüfte mit verengerten Lidern die im blanken Wasser liegende schmale und feste Leibesform. Plötzlich, den Kopf im Genick, fing sie zu lachen an, fast rauh, stoßend und bitter – ein zu Lachen gehärtetes Schluchzen. Später zog sie die Nadeln aus ihrem kleinen Haarknoten, die sie in einer Hand behielt; das niederfallende braunrötliche Haar war nicht lang, aber kaum daß sie es schüttelte, brauste es zu einer Wolke gekräuselter Spinnfäden auseinander, die rund um ihr kleines Gesicht stand und es fast verhüllte. Mit ihr warf sie sich vornüber, daß die braune Mähne wie trunken vorn herabhing, und wartete knieend, bis das zersplitterte Gewässer ihr Spiegelbild aus dem verworrenen Dämmer klarer heraufhob: rosenhelle Schultern und Arme, und als ihre Hand den Vorhang des Haarsturzes erhob, die eigenen Augen, entfremdet im Bild der Tiefe mit einem dunklen und scheuen Spähen.

Jenseits des Baches stieg hinter dem Ufergesträuch der Hang zu einem kleinen Bühel, der von Tausendschönchen fast weiß war und sich weiterhin zu einer Halde verflachte; die ernste Wand hoher und dunkler Fichten, die breitzweigig vom Grasboden aufstiegen, schloß sie rundumher ein. Auf dem Hügel saß Cara, die Knie an sich gezogen, in der Sonne, vor sich starrend mit einem leeren Blick, bis es wieder in ihrem Innern zu atmen und zu seufzen begann, Schmerz und Verlangen, Bitterkeit und Sehnsucht miteinander rangen, bis sie stöhnte und auf ihre Lippen biß, die Arme um sich schlang und ihr Gesicht hineinpreßte; bis sie endlich den inneren Wirbel aus sich heraus, vielmehr sich selber emporwarf und auf die Füße – Kopf und Haar und Arme hinter sich und den Busen empor; um danach hinzusinken, zerschmelzend in einem zitternden langen Dehnen.

Allein mitten darin, während der Bogen ihres Leibes sich von den Füßen bis zu den Händen über den Hügel spannte, schlug etwas dahinein. Aufhalten ließen die Glieder sich nicht mehr, aber nun wurden sie starr. Im nächsten Augenblick flogen sie hoch und zusammen, und Cara hockte, die Knie an die Brüste gedrückt, das Gesicht darauf, die Arme um sich geworfen, als wollte sie sich unsichtbar machen mit sich selbst. So vergingen viele Sekunden, dann hob sie ihre Stirn, und ihre Augen starrten unter dem Haar zu den Ufergebüschen hinunter in offener Angst.

Alles Laub hing dort still; ein Zweig allein bebte, schwankte – und etwas Dunkles flog ab, der winzige Zaunkönig, der mit surrenden Flügeln wie eine große Hummel zum Tannenwalde davonstob.

Nun fielen ihre Glieder auseinander; ihr Gesicht war, vom Entsetzen befreit, ganz leer. Sie heftete ihre Augen auf den Boden und sprach, nicht laut, aber beschwörend: »Hier kommt nie jemand her.«

Bald darauf erhob sie sich und ging ruhig und grade hinunter, drängte sich durch die Zweige und watete durch das Becken. Als sie ihre Kleidung liegen sah, wurde sie von einem Zittern überlaufen, raffte sie dann empor und drückte sie an den Leib, sich angstvoll umblickend; dann hinsitzend kleidete sie sich an, erhob sich und griff nach ihrem Haar, aber da waren die Nadeln fort. Sie verwandte noch eine Minute darauf, die sich sträubenden Bäusche nach hinten zu streifen, und gab es endlich auf. Wie zuvor sich unter der kleinen Eiche durchbiegend, trat sie ins Freie und ging die Halde hinunter auf das Haus zu, das hell in der Sonne lag mit der rebenumflochtenen Altane. Zehn Schritte tat sie vielleicht; dann reichte ihr Auge hin, und sie blieb stehn.

An der Ecke des Hauses lehnte eine männliche Gestalt. Cara tat noch einen Schritt; ihre Lippen bewegten sich, und sie sagten: »Ebener –« Aber der Mensch war fremd, und Cara sank und schlug ohne Laut vornüber.

 

6

Als Cara zu sich kam, lag sie auf der Bettstatt der Wohnstube wie vor einer Stunde; nur daß ihr Kopf jetzt das Feuer der Sonne innen hatte, so daß sie schmerzlich die Lider verzog, als sie sich hoben. Dennoch nahm sie wahr, daß sie nicht allein in der Stube war.

Sie blieb ohne Bewegung, aber sie ließ ihren Blick durch die Wimpern zu der Gestalt hingleiten, die auf einem Stuhl am Tische saß, die Arme verschränkt und die Augen niedergeschlagen. Da war nichts Abschreckendes. Ein schmales Antlitz; es schien, unten eingefaßt in die lockeren Wellen eines kleinen braunen Bartes, aus Elfenbein zu bestehen. Die Stirn stieg schmal und hoch in lockeres braunes Haar, und die Nase war grade wie sie, ein wenig gekrümmt unten, mit zarten Nüstern, der Mund schmal und blaß. Und aus diesem ebenmäßig schönen und jungen Gesicht, das aus einer tiefen klösterlichen Vergangenheit aufgehoben schien, blickten graue Augen mit einem Ernst der Natur, aus der Abgeschiedenheit eines Tannenwaldes.

Indes kam der Blick jetzt langsam zu ihr und ruhte auf ihrem Gesicht. Da gingen ihre Augen auf, und wie sie einander ansahen, wurde der Blick der seinen ein ungläubiges und verlangendes Staunen – sekundenlang, bis Caras Lider sich wieder schlossen. Gleich danach konnte sie hören, daß der Fremde vom Stuhl aufstand, und sie sah ihn durch ihren Wimpernschleier dastehen, schräge zu Boden blickend, in einer würdigen Haltung. Er trug eine der landesüblichen grauen Joppen mit Grün daran und ebensolche Beinkleider; nahm nun einen grünen Tirolerhut vom Tisch, neigte den Kopf ein wenig zu Cara und ging leise hinaus.

Im nächsten Augenblick war sie zur Tür hingeflogen und schlug ihren Riegel vor. Dann näherte sie ihr Gesicht dem ersten Fenster; draußen war niemand zu sehn außer zwei weißen Hühnern, die langsam einen Fuß hoben und umherblickten. Cara ging auf ihren nackten Füßen zum Bett zurück, wo dann die Erinnerung mit solcher Gewalt über sie stürzte, daß es sie auf das Bett hinwarf, das Gesicht in die Kissen hinein, und die Finger einkrallend. Die lösten sich nach einiger Zeit, aber Cara blieb liegen und rührte sich nicht, während die Minuten sich zu Stunden ansammelten und die Uhr an der Wand vier Male schlug und auch fünf Male. Im Hause war bis dahin Stille gewesen, jetzt aber drang aus dem Stall her gedämpftes Brüllen.

Cara stand alsbald auf und ging zum Tisch; in seiner Schublade fand sie ein Stück Band und knüpfte es im Nacken um ihr zusammengerafftes Haar. Sie riegelte die Tür wieder auf und ging in das Dämmer des Flurs hinein, den nur die Haustür erleuchtete, an der Treppe vorüber zur Stalltür, während das Brüllen schon ungeduldiger dröhnte. Die einzige gelbweiße Kuh in dem leeren Stall trat ihr hinter dem langen Futtertrog entgegen, ihre Kette spannend und dumpf murrend. Durch die offene Außentür leuchtete ein grünes Stück Wiese mit gelben Primeln in der starken Nachmittagssonne und die zierliche Gestalt eines kleinen Pflaumenbaumes aus lauter weißer Blüte. Cara ließ aus der Wasserleitung im Stallwinkel einen Eimer halb voll laufen, spülte ihre Hände und ging mit dem Handtuch, dem halbvollen und einem leeren Eimer durch den Stall, als jetzt der Fremde von draußen eintrat, barhaupt. Cara blieb stehn, und sogleich nahm er mit einer ruhigen Bewegung alles aus ihren Händen, stellte die Eimer neben die Kuh, holte den Melkschemel von der Wand und hockte sich hin; und nachdem er seine Hände abgespült und das mächtige Euter sorgfältig gewaschen hatte, begann er zu melken, die Stirn an die Bauchwand des Rindes gesenkt, mit langsamen und gleichmäßigen Strichen. Cara trat in die Tannenstreu neben die ruhig stehende Kuh, legte einen Arm auf ihren Rücken und blickte darüber hinweg auf den Fremden, der alsbald das Gesicht zu ihr aufhob.

Cara lachte plötzlich leise und sagte: »Sie kommen da herein wie ein Geist im Märchen, um die Arbeit zu tun.«

Da in seinen Zügen kein Lächeln erschien, sah es aus, als ob sie es nicht könnten. Er senkte die Stirn wieder, und nach einer Weile wurde seine Stimme zum erstenmal hörbar, leise, doch voll, erinnernd an ein weiches Metall, in reinem Hochdeutsch die Frage:

»Wieviel Milch gibt wohl diese schöne Kuh?«

Auf Caras Antwort: siebzehn Liter zur Zeit, ließ er einen Laut der Anerkennung hören und sagte:

»So wird dieser Eimer wohl grade reichen.«

Am Abend, erwiderte Cara, seien es meist acht Liter, und wiederum nach einer Weile tat er die Frage, warum wohl die Kuh nicht im Freien sei, worauf Cara antwortete, sie müsse etwas Ungutes gefressen haben, nehme aber das Heu gern und reichlich.

Indem hob er den Kopf und sah zu ihr auf, und ihre Augenpaare begegneten sich in dem Halbdunkel für einen Blickschlag und länger. Cara löste sich danach von dem Rücken der Kuh und trug aus dem aufgeschütteten Heu im fernsten Winkel zweimal ihre Arme voll in den Futtertrog vor die Kuh, die sogleich ihr Maul hineinstreckte, suchend schnoberte und zu fressen anfing. Cara blieb an die Wand gelehnt vor ihr stehen und sah zu, bis der Fremde sich erhob und den randvollen, schaumbedeckten Eimer durch den Stall auf den Flur hinaustrug. Er kehrte zurück und nahm die vierzinkige Gabel und beförderte den Mist hinter der Kuh durch die nahe Luke unten in der Außenwand nach draußen. Nun kam Cara mit einem kleineren Eimer, und er nahm ihr auch den aus der Hand, fragend, sie gehe nun wohl zu den Schafen. Sie nickte und ging ihm voran, der mit Eimern und Handtuch folgte.

 

Schon strömte die Sonne schräge unter den Blütengewölben des Apfelgartens hindurch, die Reihen der breiten Stämme auf einer Seite mit Gold färbend. Auf dem dunkelgrünen Rasen darunter lagen einzelne weiße Blättchen. Als Cara und der dienende Fremde zum Bienenhaus kamen, das langhin in seinem eigenen Schatten lag, blieben sie beide stehn. Vor allen Eingängen brausten die dunklen Scharen im Ein- und Ausfliegen; doch oben, wo sie aus dem Schatten des Vordaches in die Sonne emporstoben, blitzte es immerfort auf, als würden Goldfunken in die Luft geworfen. Der Fremde sagte mit seinen weichen, jetzt mehr nach Österreich klingenden Lauten:

»Mariandjosef – das ist wohl schön. Bienen habe ich auch gepflegt, soviel ich erst lernen konnte.«

Cara sah von der Seite, wie sein prüfender Blick die Reihen entlangzog. Er stand wie sie in der vollen Sonne, die das matte Elfenbein seines Kopfes wärmer tönte und unter dem Bart verjüngte. Sie fragte auf einmal nach seinem Alter und erhielt den Bescheid: »Einundzwanzig Jahr sind es wohl.«

Darauf lächelte sie vor sich hin und fühlte seinen schrägen Blick von der Seite her kommen. Ihre Hände lösten sich von dem Stützpfahl eines jungen Kirschbaumes, den sie hinter sich festgehalten hatte, und sie ging voran über die Primelwiese empor und hinter dem schrägen Nußbaum vorüber zu dem eingefriedigten Pferch, wo die Schafe weideten, von jungem Niederwald umgeben, der an den Hochwald grenzte. Die großen, in dicker Wolle gerundeten Tiere hoben sogleich ihre schmalen Köpfe; auch der Bock trabte her, und Cara warnte den Fremden, er sei stößig. Durch die Gittertür eintretend, hielt sie ihm die senkrechte Handfläche entgegen, und er stieß nur leicht mit der hornlosen Stirn daran und ließ sich am Halsriemen fassen, nur zärtlich mit dem Kopf die Kleidfalten an ihrem Knie emporschlagend. Der Fremde hatte bereits eins von den Mutterschafen erfaßt und führte es zu dem Zaunpfosten, den Cara ihm zeigte. Er hängte es an die Kette und fragte, wie wohl solche Schafe gemolken würden, er sei darin nicht erfahren. Cara erwiderte, sie würden meist zwischen den Hinterbeinen gemolken, sie selber tue es von der Seite her. Und den Bock loslassend, machte sie es ihm vor, flach am Boden sitzend neben dem Tier und mit der Rechten das nur kleine Euter von oben herab knetend in die eine der starken Zitzen und nach einer Weile in die andre. Da sie das Euter gewaschen hatte und den Eimer unterhielt, molk sie nun weiter die weißen Strahlen heraus, die zischend auf den Metallboden schrallten, und der weiße Schaum quoll empor. Danach besorgte der Fremde das Geschäft an den anderen Müttern, was bei der geringen Menge der Milch in einer halben Stunde getan war; und Cara schaute ihm lange zu, den Bock am Halfter, der zufrieden war, bei ihr zu stehn, bis sie mit einem Entschluß sich löste, den Pferch verließ und zum Nußbaum emporging. Dort saß sie dann auf dem Boden, die Hände um ihr eines Knie geschlungen, und schaute in das Tal hinunter, wo vor ihren geschwächten Augen nur Flächen und Wände verschiedenen Grüns unter dem abendlich starken Glanz verschwammen, und höher das ferne Blau.

Cara erhob nur wenig ihren mit bewußter Würde geneigten Kopf, als der Fremde von der Seite zu ihr herankam und sein Schatten sich über sie hinschob, und fragte: »Wer sind Sie?«

»Ja«, kam über ihr Antwort aus dem Unsichtbaren, denn er war hinter ihr an den Stamm getreten, »ich war im Kloster wohl – ein Novize.«

Cara fragte: »Und danach?«

»Da war ich wohl in dem Krieg.«

»Und vorher?«

»Da war ich auf Vaters Hof; das heißt, er war wohl Verwalter.«

Cara fragte: »Wo war das?«

»Nahe wohl bei Schönwies – über dem Engadin.«

Cara schwieg und sagte nach einer Stille:

»Wissen Sie, daß Sie immerfort ›wohl‹ sagen?«

»Nein, das weiß ich wohl nicht.« Cara lächelte.

Nach einer Weile fragte sie wieder:

»Wie konnten Sie in den Krieg gehen – aus dem Kloster?«

»Ich war nicht eingekleidet – da konnte ich mich melden.«

Sie schwieg nun lange; dann sagte seine Stimme:

»Auch das Töten hat Gott dem Menschen in die Hände gelegt. Er wäre sonst ein Engel.«

»Warum«, sagte Cara, »sollte er kein Engel sein? Wenn Gott wollte?«

»Wenn aber«, fuhr er nach einer Weile fort, »ein einziger ein Gewehr erhebt wie eine Sense und mäht hundert wie einen hin – kann einer das vergessen?«

Cara sah hinter sich auf; er stand gerade und still, aber der Blick seiner Augen hatte eine solche Starre, daß sie sich rasch wieder wandte. Dann fragte sie: »Wurden Sie verwundet?«

»Ja, am Kopf – aber leicht; davon bin ich genesen.«

Es lag ein Ton auf dem ›da‹, der Cara zögern ließ, ehe sie weiter fragte: »Warum kamen sie nicht wieder in den Krieg?«

»Weil –« Er stockte. »Weil die Gesichte dann kamen – und das Schreien. Weil das niemand ertrug. Und dann mußte ich gehen.«

Auf einmal blickte Cara auf seine Füße herunter, und sie sah erst jetzt, daß die Stiefel zerrissen waren und daß es blutrünstig darin schien. Sie stand sogleich auf und rief: »Armer Mensch! Kommen Sie gleich ins Haus!« Aber er erwiderte, den Blick schräge zu Boden richtend, er fühle das längst nicht mehr. Dann kamen seine Augen empor – mit einer Angst und fast einem Flehen; sie hielt es eine Weile aus, dann sanken ihre Lider – sie atmete und sprach nicht, wandte sich endlich ab und fragte kaum hörbar: »Wie lange gehen Sie schon?«

Er erwiderte: »Seit dem März.« Und sie fragte: »Warum? Warum denn?«

»Niemand will mich behalten.« Er setzte hinzu: »Das Schreien ist ihnen unangenehm. Nun gehe ich«, sagte er noch, »nur in der Nacht.«

»Wird es dann besser?«

»Nein, aber da hört es niemand.«

Sie machte eine Bewegung und ging ein paar Schritte fort; als sie sich zurückwandte, sah sie ihn auf ein Knie gebeugt, in einer Weise, die ihm wohl natürlich war, und er sagte, den Kopf gesenkt:

»Könnte ich einmal ruhen – ruhen bei einem Menschen.«

Er verstummte; Cara machte einen Schritt auf ihn zu; er streckte eine Hand nach ihrem Kleid aus. Sie legte blind und schwankend eine Hand auf sein Haar, ließ ihn auch ihre Knie umfassen, und wie er sich dann an ihrem Leib emporhob, blieb sie von seinen Armen umschlungen still. Ihr Kopf sank zurück, und durch den Schleier der Wimpern sah sie über sich seine Augen so wie die ihren geschlossen; und sie legte eine Schläfe an seine Schulter, und ihre Hände glitten empor.

 

Wenig später kniete Cara in ihrer Küche vor einer Bütte mit warmem Wasser und wusch die Füße des Fremden darin, der auf einem Stuhl saß und es nicht zulassen wollte, strich Salbe darauf und verband sie. Er hatte einen Rucksack bei sich und Wäsche darin und auch ein Paar Schuhe, die leichter und weniger schlecht waren als seine Stiefel. Die alte Sagmeisterin kam dann zurück und richtete auf Caras Anweisung ein Bett in der Kammer her, die hinter der Treppe lag, während Cara ihm auf dem Küchentisch Milch und Brot, Butter und Käse vorsetzte. Es fing zu dämmern an, als sie die Wohnstube wieder betrat und sich auf die Bank unter einem Fenster setzte. Die Sagmeisterin kam mit Caras Abendbrot, setzte es auf den Tisch und erzählte unverständlich von ihren Erlebnissen im Dorf, bis Cara dem ein Ende machen und sie sanft aus der Tür schieben mußte. Sie kehrte aber nur an ihren Platz zurück und saß dort, während es drinnen und draußen dunkler wurde, aus der Küche leise Geräusche ertönten und eine Stunde lang bis in die Nacht hinein der Gesang des betenden alten Weibes; endlich ihre Schritte, die über den Flur schlürften bis zur Haustür, die sie verschloß und verriegelte, worauf sie drüben in ihre Kammer schlich und es vollkommen still war in dem einsamen Haus.

Noch verging einige Zeit. Cara erhob sich; ihre weiße Gestalt stand in dem dunklen Raum ohne Bewegung. Die Nacht war draußen mondhell; der Brunnen rauschte; die Stille sang. Aber nun ein erstickter röchelnder Schrei, und auf dem Flur näherten sich der Tür überstürzte Schritte.

 

7

Der Maimonat ging seinem Ende zu, als Nikolai Robin wieder zum Berghof kam, nachmittags, wie seine Gewohnheit war, denn er fühlte sich dann rüstiger und legte auch den Weg, der für ihn fast zweistündig war, lieber nur einmal am Tage zurück.

Er fand Cara auf der Bank neben der Haustür sitzend, wie sie den Schafbock am Halsband hielt, den der Fremde schor, seine Hinterschenkel zwischen die Knie klemmend. So lenkte er behutsam das Schermaschinchen an seinen langen Hebeln, die er zugleich auf und zu bewegte, glatt über die Rückenhaut, die fast haarlos rosig hervorkam, während der dicke graue Wollpelz, am Hautgrunde schneeweiß, auf die Seite fiel. Cara half mit niederziehender Hand nach, und allmählich stieg der Rückenberg mit knochigem, scharfem Grat in rosiger Kahlheit hervor, indes vorne die schweren dichten Pelzfalten auseinanderhingen. Nahebei lag schon ein mächtiger Haufen grauweißer und gelbschimmernder Wolle, in die der alte Robin hineingriff und ihre zarte Weichheit bewunderte.

Cara bat um Entschuldigung, daß sie in ihrer Beschäftigung fortfahren müsse, der Bock verhalte sich nur im Anfang so ruhig. Der Alte setzte sich neben sie und betrachtete das niedergebeugte Gesicht des Fremden, das er zum stillen Gruß kaum erhoben hatte. In aufgekrempten Hemdärmeln sah er bäurischer aus, war auch jetzt bartlos und um viele Jahre verjüngt trotz des aufmerksamen Ernstes, mit dem die grauen Augen den Gang der Schere verfolgten. Es war wohl das Edle in der Fremdartigkeit seiner Züge, das den Alten veranlaßte, die Worte »Nun, da hast du einen Knecht« auf lateinisch zu sagen. Und er setzte in der gleichen Sprache hinzu: »Aus einem Kloster oder aus dem Evangelium selbst?«

Cara, deren Gesicht rosiger und weicher als je in der letzten Zeit war, lächelte wie ein Mädchen, indem sie versetzte: »Aus jenem«; dabei errötete sie tief, und der kindliche alte Mann fragte: »Ist das beschämend für dich?« Sie lachten und schwiegen dann, bis die Arbeit fertig getan war, was geraume Zeit in Anspruch nahm, weil das Tier in Unruhe geriet, als die Schere zu den empfindlichen Stellen am Bauch und den Beinen kam, und zuletzt sich so gebärdete, daß der kräftigere Knecht es halten, auch der alte Robin zugreifen und Cara die Schere führen mußte. Als der Bock endlich entkleidet, in nackter Hagerkeit, aber dickwanstig dastand, sah er so blöde und schafsmäßig aus, daß die drei Menschen, die ihn so zugerichtet hatten, laut lachten. Und Cara sagte, als er fortgeführt wurde: »Du solltest hingehn und sehn, wie seine Frauen ihn aufnehmen. Keins weiß ja selbst, wie es ausschaut, und wenn eins geschoren ist, erkennen sie es nicht wieder und stehn einzeln herum und mißbilligen sich gegenseitig.«

Sie fing an, die vom Bock geerntete Wolle auf die andre zu häufen und die vom Wind umhergestreuten Fetzen und Flocken aufzulesen. Auf die Frage des Alten, ob sie über Ebener inzwischen etwas erfahren habe, antwortete sie: vom Bataillon sei eine Nachricht gekommen, doch keine genaue; es würde angenommen, daß er in russische Gefangenschaft fiel.

Das konnte Nikolai Robin ergänzen; er hatte an einen befreundeten Arzt in Ebeners Division geschrieben, und die vertraulich gegebene Auskunft lautete, Ebeners Kompanie habe bei einer Rückbewegung der Division die Nachhut gebildet und sei wohl abgeschnitten worden und jedenfalls verschollen.

Cara erwiderte nichts; auch kehrte der Fremde zurück, und sie war ihm behülflich, die ganze Ernte der Wolle in Säcke zu füllen. Als er diese ins Haus zu tragen begann, gab sie ihm noch Anweisung, wie sie in kaltem Wasser zu waschen sei, und setzte sich wieder, nahm die Brille von den Augen und fing zur Seite geneigt an, sie mit ihrem aufgehobenen Kleidsaum zu putzen – es war das grauschwarze. Da sie niemals aufhören wollte, immer wieder durch die Gläser blickend und sie anhauchend und reibend, legte der Alte seine Faust mit der Pfeife auf ihre Knie und sagte: »Kindchen, sie sind ja schon rein.«

Cara legte sofort die Brille und ihre Hände in den Schoß und tat eine Frage nach seinen Bienen, worauf er lang und breit zu erzählen begann, daß er für seinen ganzen Stand einen Abnehmer gefunden habe, einen Bauernsohn, der einen Arm verloren habe. Er beschrieb jedes Mitglied von dessen großer Familie und lobte seine Bienenstöcke, daß sie nicht zum Umherschleppen wären wie Caras und daher für einen Einarmigen leicht zu behandeln. Er bekomme natürlich eine Prothese und würde vorerst den Sommer über sich einlernen; wäre verständig genug und sehr anstellig.

»Wenn aber der Winter kommt, dränge ich mich dir auf. Der Teifi hol das Alleinsein – für dich wie für mich – und nun hast du auch einen Knecht. Woher hast du den?«

Cara erklärte ihm, daß er aus Österreich stamme, im Kriege und vorher Klosternovize gewesen sei.

»Aus Österreich, soso? Ja, in Tirol hab ich schon mehr solche Gestalten in Kutten gesehn. Reine, schöne Gesichter – mich hats gewundert, daß sie grad die schönsten Männer aus dem Leben fortnehmen, als ob sie zu schön dafür wären.«

Er plinkte Cara zu und sagte: »Jedenfalls mit Gefahr verbunden. Schad nun, daß sich nur die Häßlichen fortpflanzen.«

Nachdem er anerkannt hatte, daß er seine Nase für sich allein behielte, fragte er: »Wenn der aber ein Mönch ist, wie kommt er dann in den Krieg?«

»Er war erst Novize.«

»Alsdann – warum wird er es jetzt net wieder?«

Cara erhob sich und sagte: »Es ist kühl heut, findest du nicht? Gehen wir lieber ins Haus, oder ich hol mir ein Jäckchen.«

»Geh nur«, sagte er liebevoll, »ich find es noch recht warm. Du hast wohl auch zu tun – ich schau mir dann noch dein' Bienenflug an.«

Eine Stunde später war das Abendbrot in der Wohnstube eingenommen, an dem auch der Knecht teilnahm – schweigsam von allen dreien; doch stand er dem alten Robin auf ein paar Fragen bescheidene Rede, ruhig und voll auf den sitzend Kleineren niederblickend. Als er den Tisch abzuräumen begann, ging der Alte zur Ofenbank und stopfte aus dem Lederbeutel seine halblange Pfeife; auch Cara erhob sich, legte ihre Brille fort und stand neben ihm, ein Knie auf der Bank, Streichholz und Schachtel zum Entzünden bereit in den Händen. So ließ sie die Blicke still und prüfend auf ihm ruhen, bis er die letzten Tabakkrumen auf der Bank zusammengescharrt und den Beutel zugeschnürt hatte und aufblickend erst jetzt ihr stilles Warten bemerkte. Erschreckt hielt er rasch den Pfeifenkopf hin und ließ sie das brennende Streichholz darüberhalten, so daß mit seinem aufzuckenden Flämmchen die süßlich duftenden Wolken stiegen. Nun zum Dank zu ihr aufblickend mit den kleinen bekümmerten Augen, sagte er: der neue Knecht gefalle ihm gut, sei freilich beinah ein Herr, ob er würde arbeiten können?

Sie legte für einen Augenblick eine Hand auf seine Schulter, ging aber dann fort und setzte sich ihm gegenüber auf die Bank hinter dem Tisch. In den Fenstern war noch die Helle des abendsonnigen Himmels, aber in der Zimmertiefe fing es zu dämmern, an. Cara hielt ihre Hände unter einen Zweig des blühenden Jasmin, der im Zinnkruge auf dem Tisch stand, übersüß duftend, und spielte mit den Fingern an seinen lockeren weißen Blüten, daß kleine weiße Blättchen herabflogen. Diese einzeln auflesend und auf den Boden streuend, fing sie langsam an:

»Ich muß dir etwas sagen.«

Dann schwieg sie wieder, lehnte sich zurück und fragte:

»In Mutters Haus ist alles noch unverändert?«

Nikolai Robin in seiner eingesunkenen Kleinheit, aus der die übergeschlagenen Beine um so länger hervorwuchsen, nahm das Mundstück aus den Lippen, um zu bejahen: irgend etwas zu ändern wäre Ebeners Sache.

»Aber der Garten, sagtest du, ist in diesem Jahr nicht bestellt?«

»Natürlich net, wo die alte Theres zu ihre Leut gezogen ist.«

Wieder blieb Cara still; dann legte sie ihre Arme auf die Tischplatte und sagte:

»Es hilft nun nichts – da ich allein nicht fertig werde, muß ich dir etwas beichten.«

Er krächzte vor Schreck. »Um Himmels willen – du mir?«

Nun lachte sie und sagte: »Bist du nicht ein alter Mann und verstehst die Menschen?«

»Ich versteh die Menschen?« Er schüttelte sich vor Lachen und krähte: »Das red dir pfeilgrad ein! Mit vierundsiebzig versteh ich net amal was von Bienen.«

So sprach er noch vieles ironisch abwehrend weiter, bis ihn ihre Stimme fast weinerlich unterbrach: »Aber du mußt mich verstehen, Lieber, du kannst mir sonst nicht helfen.«

Er verstummte und sagte dann: »Dir helfen? Das ist was andres. Brauch ich dazu verstehn?«

Cara fand mit einem streifenden Blick seine Miene gekränkt, und er fuhr fort: »Tout comprendre c'est tout pardonner – ich habe das immer für ein anmaßliches Wort gehalten. Wenn ich versteh – brauch ich da noch verzeihn? Und verzeihen – ohne verstehn – darauf scheint es mir anzukommen, das andre ist ka Kunst net.

»Was aber dich betrifft«, schloß er mit Feierlichkeit, »da käme wohl weder das eine noch das andre in Frage.«

Cara dankte ihm mit einem etwas gezwungenen Lächeln und fing an zu sprechen.

 

»Ich möchte dir von Sigill erzählen. Er heißt Benedikt Eckersperger und würde Bruder Sigillus geheißen haben, darum nenne ich ihn Sigill.

»Er kam vor neun – oder schon zehn Tagen hier an. Er war im Krieg bis Ende Dezember; da ist er am Kopf von einem Granatsplitter verwundet worden. Die Granate schlug neben ihm ein und hat ihn haushoch geschleudert und in einen Granattrichter hinein, der voll Toter und Sterbender lag. Darin hat er mit einem gebrochenen Bein und der Kopfwunde den Tag und die Nacht gelegen, bis er morgens herausgeholt wurde.

»Seine Verletzungen waren nicht arg; er ist bald genesen. Aber in seinem Innern brach etwas auf. Das war das letzte, was er gesehn hatte. Es war ein russisches Regiment oder Bataillon, das gegen seine Linien heranstürmte und in das nun ein neben ihm liegendes Maschinengewehr hineinfeuerte. Er hat es mir beschrieben, mit unzähligen Einzelheiten, die sich in sein Gedächtnis gegraben haben, diese lange heranstürmende Reihe braungelber Uniformen und Tellermützen – schon zum Erkennen nah die roten schreienden Bauerngesichter, die geschwungenen Gewehre.

»Dann fingen sie an zu fallen. Von links her fegte es sie nieder, in einer Minute zwanzig, vierzig, hundert, die im Laufen vornüberstürzten. Andre sprangen hoch auf und fielen, andre schlugen nach hinten, und er hörte ihr Aufbrüllen durch das Geknatter.«

»Furchtbar!« seufzte der alte Robin, »furchtbar!«

»Findest du?« sagte Cara. »Soviel ich weiß, war es eine gewöhnliche Handlung des Krieges.

»Furchtbar«, setzte sie hinzu, »scheint es nur für solche zu sein, die es beschrieben hören – oder die keine richtigen Männer sind.«

Sie fuhr fort: »In ihm kam das nun wieder – er mußte es immer sehn. In einer Wiederholung, die niemals abriß, sah er dies Heranstürmen, Fallen, Sichüberschlagen, und wie sie sich wälzten, noch einmal hochkamen und starben. Immer neue stürmten ihm heran, immer neue, aus der Unerschöpflichkeit seines Leidens. Bei Tage war das erträglich, denn da blieb es hinter dem Schleier der wirklichen Dinge, ein schattenhaftes Geschehen. Nur durfte er niemals etwas fester ins Auge fassen – keinen Menschen oder Gegenstand, denn dann zerfiel der, und die grausigen Bilder quollen heraus wie Eingeweide. Besonders die Menschen – jeder, den er ansah, verwandelte sich in einen sterbenden Russen, der seine brechenden Augen verdrehte.

»Wenn aber die Nacht anfing – im Dunkel nichts mehr zu sehen war, wurde es ihm taghell. Und wenn die Nacht tiefer und das Grausige immer leibhaftiger und wütender wurde, dann kam es so, daß – daß er selber offen wurde. Verstehst du? Ganz weit offen, wie es in Fieberdelirien sein kann, daß man ungeheuer groß wird: so tat seine Brust, sein ganzes Inneres tat sich auf, riesengroß. Und aus ihm heraus knatterte das Gewehr, und sie kamen in ihn hereingestürzt und schrien und starben und häuften sich auf und wälzten sich im Todeskampfe in seiner Brust.

»Er hat«, fuhr Cara nach einer Weile fort, »selber so geschrien, daß niemand es aushalten konnte. Er war lange in einer Heilanstalt; helfen konnte nichts – dann schickten sie ihn nach Hause. Im Kloster nahmen sie ihn nicht, seine eigenen Eltern wußten es nicht zu ertragen. Er ist dann eines Tages davongegangen; und beim Gehen, sagt er, ist es besser geworden, weil da immer Neues sich vor das Auge stellt, so daß es sich ablenken ließ. Und so ist er das Inntal heraufgewandert und über die Grenze gekommen, er weiß selber nicht wie, und so immer weiter. Er hat bei den Bauern gearbeitet, aber länger als eine Nacht hat ihn niemand behalten. Als dann das Jahr sich erwärmte, hat er im Freien genächtigt oder in Stadeln, wie sie ja oft einsam im Wiesenland stehen.«

 

Cara schwieg. Der alte Zuhörer hatte sich nicht bewegt, solange sie sprach; er richtete sich nun auf, klopfte auf seine Taschen, nahm aber die drinnen klappernden Zündhölzer nicht heraus, sondern saß, die erkaltete Pfeife in der Hand, kummervoll blinzelnd.

Cara sagte: »Das ist nun vorbei. Es ist – schon in der ersten Nacht hier – nicht gekommen und später nur schattenhaft, und dann nicht mehr.«

Nach einer Weile räusperte sich der alte Mann; er holte nun seine Zündhölzer hervor, strich eines an und sagte:

»Schön. Wenn du es sagst – will es dir gerne glauben.«

Er schüttelte den Kopf, ließ den Flammenrest auf den Boden fallen und setzte den Fuß darauf; und er fragte:

»Und wie erklärst du es dir selber?«

Cara erwiderte nichts; sie blickte in ihren Schoß, und einmal bewegten sich ihre Lippen, und dann wurden die Worte vernehmbar: »Wenn ich von deinem Anschaun tief gestillt –«

Der alte Mann fragte darauf bescheiden: »Wie sagtest du bitte zuletzt?«

»Nichts«, erwiderte sie, »nur eine Zeile von Mörike.

»Und nun«, sprach sie hastig weiter, »kommt meine Bitte um deinen Beistand. Nämlich – er will nun nicht wieder fort. Er sagt – im Kloster würde er nicht mehr aufgenommen.«

Langsam nahm der alte Robin seine Pfeife aus dem Mund und beugte sich vor, mit runden Augen zu Cara blickend.

»Er will net fort?« fragte er unsicher. »Wie soll ich das verstehn? Wenn er gesund ist – gut, deine Sache. Aber wenn er etwas leistet – bist du net froh, daß du ihn bekommen hast?«

»Onkel Bien«, begann Cara, fand aber dann nicht weiter. Endlich sagte sie, mit einem Lachen sich heraushelfend: »Ich möcht aber, daß er fortgeht. Ich kann es nicht mehr. Bitte, du mußt mich jetzt verstehn.«

Der Alte erhob sich, kam – zu seiner Höhe sich aufrichtend – an den Tisch und sagte:

»Geht in Ordnung. Bin vollkommen im Bilde. Der Mann kommt sofort aus dem Haus – gar ka Red wert net – also, mein Kind, du möchtest einerseits von – sagen wir halt – seiner zu männlichen Dankbarkeit befreit werden, andrerseits ihn gut untergebracht wissen. Schön – schaut intelligent aus, kann genug von mir lernen, ein Schüler oder zwei, das ist gleich. Aber«, fragte er, schon an der Tür sich zurückwendend, »wie machen wir ihn gefügig?«

Mit Verwunderung mußte er da erkennen, daß Cara die Hände vor dem Gesicht hatte und mit glutrotem Gesicht lachte.

»Du Guter«, sagte sie, »du Guter! Du hast wirklich nichts verstanden! Um so besser für mich. Und weißt du, was mir jetzt einfällt? Wie Ebener mir von dir erzählt hat – eh ich dich kennengelernt hab – da hab ich deinen Namen mit u verstanden: Rubin. Das hat mir ordentlich zugeleuchtet, nachher bin ich ganz enttäuscht gewesen, wie es ein o war.« Sie stand auf, und er sagte:

»Dank dir schön, mein Kind. Dann bin ich jetzt wohl der ›Stein der Hülfe‹? Na, mehr Stein als Hülfe, du hast immer recht, und ich versteh eigentlich gar nix. Schon gut, und nun wär dirs lieb, daß ich gleich mit ihm abzieh?«

Cara bejahte, indem sie ihn sehr bedauerte, was er jedoch ungeduldig abschnitt mit Fragen nach Sigills Unterkunft und dergleichen. Cara sagte, die Magdkammer im Haus ihrer Schwiegermutter würde genügen; er würde von sich aus nicht mehr verlangen. Sie schloß: »Ich denke, er wird sich auch bald besinnen, dort in der Einsamkeit, und in sein Kloster zurückfinden.«

Mit der Bitte, auf sie zu warten, verließ sie das Zimmer, in dem es schon dunkel geworden war.

 

Auf der Suche nach Sigill fand ihn Cara im Stall; er hatte den langen Futtertrog mit Wasser gefüllt, um die frische Wolle darin zu waschen. Es war dunkel, und nur in dem westlichen kleinen Fenster, der Eintretenden gegenüber, leuchtete noch die Helle des feurig gelb ausglühenden Himmels.

»Hier bist du?« sagte Cara, die seine gebückte Gestalt erst spät zu ihrer Rechten unter dem Nordfenster erkannte. Sie blieb an der Tür, während er sich aufrichtete, und sagte zu ihm:

»Mein Lieber, du mußt mich nun verlassen. Der Herr, den du gesehn hast, ist ein alter und guter Freund und wohnt anderthalb Stunden von hier in einem Dorf. Es ist einsam dort, du kannst ihm in seinem Garten helfen, auch hat er viele Bienen und wird dich alles lehren. Wohnen kannst du in einem abgelegenen Hause am Wald allein wie in einer Zelle. Und wenn dieser Sommer zu Ende geht, mein Lieber, dann wirst du alles überwunden haben und wirst deinen Heimweg finden.«

Sie machte, da er stumm blieb, einen Schritt zu seiner Schattengestalt hin und sagte: »Mir zuliebe wirst du es tun. Denn wenn du dich von mir nicht loslösen kannst, so muß ich bereuen, daß ich dich von dir losgelöst habe.«

Er schwieg noch und atmete hörbar. »Ich will nur«, sagte er dann, sich abwendend, »diese Wolle zu Ende waschen, sie ist gleich fertig.«

Cara versetzte darauf: »So hole ich dir Licht«, und ging hinaus, um bald mit der brennenden Stallaterne zurückzukehren, die sie in seiner Nähe aufhängte. Er beugte das eine Knie, blieb aber auf seine Hände gebückt, während sie kam und ging.

Eine Stunde später verließen die beiden Männer im Sternlicht das Haus, von dessen Türstufen Cara ihnen nachsah, bis sie zurückwinkend hinter seiner Ecke verschwanden.

 

8

Nun ist es Juni geworden, der Juli bereits nahe.

Ein zarter und warmer Regen senkte sich, aus der Nacht hervorgerieselt, in die üppig ergrünte Natur, die lange schon durstig war. Am Mittag holte Cara die Kuh von der Weide, hinter ihr hergehend, die ihren Weg zur offenen Stalltür allein fand. Cara hängte sie drinnen an die Kette und strich ihr liebkosend über das Horn, als sie plötzlich zusammenzuckte, wie in einem Krampf schwankte und sich – da die Kuh ihr Horn unwillig fortriß – an den Standpfosten klammerte. Nach einer Anzahl Sekunden richtete sie sich auf, griff an ihren Leib und sagte laut: »Ist das wahr?«

Dann wichen die Knie unter ihr; sie raffte sich indes mit einem trunkenen Lächeln auf und kam bis zur offenen Tür, an deren Pfosten sie ihre Schulter legte, auch die Schläfe andrückte. Der Glücksausdruck, der zuerst sanft in ihre Züge getreten war, wurde nach einiger Zeit härter, und als sie die Augen öffnete, waren sie mit einem Triumphblick gefüllt, der noch zunahm. Sie reckte und streckte sich, strich mit den Händen an sich herunter und drehte sich in den Hüften, als stünde sie vor einem Spiegel, bis wieder ganz laut die Worte aus ihrem Munde kamen: »Siehst du! Siehst du – ich kanns!«

Dann, mit immer triumphierenden Augen nach oben blickend, sah sie den Schleier des Regens, der sich in die Apfelkronen senkte. Ein leichter Schauder lief über sie hin; sie senkte das Gesicht und sprach mit frommem Ausdruck die Worte:

»Ave Maria, gratia plena, benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus ventris tui Jesus, Amen.«

 

9

Im Spätherbst dieses Jahres kehrte der Knecht Benedikt Eckersperger in seine Heimat zurück, um dort Bruder Sigillus zu werden; Nikolai Robin übersiedelte mit seiner Bibliothek und seinen Möbeln auf den Berghof, wo er die beiden Stuben bezog, die bis dahin unbenutzt über der Wohnstube und der Küche lagen; bald darauf starb die alte Sagmeister.

Seit dem Oktober gab es wieder einen Knecht auf dem Berghof. Cara sah ihn eines Tages, als sie mit dem Handwagen in das Dorf hinabstieg, um Einkäufe zu machen, an ihrem Weg sitzen auf einem Baumstumpf, hinter sich eine sonnige Lichtung voll ähnlicher Stümpfe vom Abholzen. Hemdärmelig und in grauen Militärhosen saß er in der Sonne, zwei ungeschlachte Fäuste auf seinen Knieen. Er hatte nur mehr ein Auge, trug das blonde Haar in die Stirn gekämmt und verschob seine schwere Kinnlade, Cara mit dem Zeigefinger grüßend, zu einem herzlichen Grinsen. Auf ihre Frage, was er da mache, erhielt sie zur Antwort die zwei Silben: »I wart«, und auf die nächste Frage: worauf? den Satz: »Daß i wieder ansehnlich werd.« Er meinte sein Glasauge, das noch nicht fertig war; und er saß noch an seinem Platz, als sie zurückkehrte, und rief ihr nach – erst nachdem sie den schwerbepackten Wagen eine Wegsteile emporgeschleppt hatte: »Sie, Frau! Brauchens an Knecht?«

Das neue Leben in Cara war damals bereits so gekräftigt, daß sie nur diesen Anstoß zu dem Entschluß brauchte, den Berghof wieder in seinen früheren Stand zu versetzen. Es schimmerte auch wieder die Hoffnung, daß der Krieg im Frühjahr ein Ende nähme. Der Knecht Toni erwies sich als überaus brauchbar, so einfältig, daß er zu jedem geringsten Tun eine Anweisung brauchte, willig, auch Caras oft vom Üblichen abweichende Maßnahmen auszuführen, und von einer Arbeitskraft, daß ihm der Berghof nicht genügte und er sich im Winter als Holzfäller verdingte. Für das Vieh hatte er die Hand, die glücklich genannt wird, weil sie die Kräfte herbeizieht und wirksam macht, die keiner Mühe und keinem Fleiß erreichbar sind. Der riesige Düngerberg, der noch vom Winter her dalag, war in wenigen Tagen verschwunden – zwar nicht spurlos, denn das Grün der Wiesen, über die er ausgeteilt war, verschwand ebenso unter seiner schwarzbraunen Schicht. Vieh war damals bereits schwer zu bekommen; aber nach wochenlangem Umherfahren zu Rad mit dem kundigen Toni zu den besten und verläßlichsten Ställen sah Cara drei neue Milchkühe in ihrem Stall, die den alten an Gestalt und Güte so ähnlich waren wie möglich. Sie war nun selber ihre eigene Magd; aber da sie nur das Milchgeschäft und die Hühner zu besorgen hatte, leistete sie es leicht. Selbst das Säubern der Zimmer erledigte der Toni, und sie hatte nur Staub zu wischen und ihr und Nikolai Robins Bett zu machen. Denn das mochte der nicht; er half dafür sonst überall und besonders in der Küche – aus Selbstsucht, denn er war Vielesser und Feinschmecker.

Von seiner Erkrankung hatte er sich im Laufe des Sommers so erholt, daß er sich selbst jetzt mit vierundsiebzig Jahren für jünger und kräftiger erklärte als mit vierundsechzig. Was in ihm vorging, als ihm im Herbst Caras Zustand offenbar wurde, erfuhr sie nie, und auch daß er es überhaupt wahrgenommen hatte, nur dadurch, daß er es niemals erwähnte – und später durch seine Besorgnis, mit der er sie vor dem oder jenem Tun warnte, das er für schädlich hielt. Ihr ging es bis zur letzten Stunde sehr gut.

Als diese im Februar nahte, war der Berghof glücklicherweise nicht von der Welt abgeschnitten, und die Hülfskräfte waren zur Stelle, die Cara allerdings brauchte. Denn die Geburt, wie bei ihrem Alter und ihrer schmalen Gestalt zu erwarten, vollzog sich mühselig in anderthalb Tagen; aber eines großen und graden Knaben genesen, erholte sie sich bald und erschien im Frühjahr an Gestalt und Kräften unverändert. Nur ihre Augen, die für drei Tage fast erblindet gewesen waren, blieben geschwächt, so daß sie ohne Gläser durch eine verschwommene Welt ging. Später wirkte das Ereignis sich doch so aus, daß von ihren Sommerkleidern keines mehr brauchbar war, weil sie Hüften und Brust nicht mehr faßten.

Damals – an einem Maiabend war es, daß Nikolai Robin ein Wort zu ihr sagte. Sie hatte auf dem Tisch unter der Lampe die zertrennten Teile eines Kleides ausgebreitet, die sie mit kritischer Brille betrachtete und hin und her drehte, überlegend, ob mit Hülfe aufbewahrter Reste vom gleichen Stoff das Ganze vielleicht zu retten sei. Der alte Mann, der in seinem Eckwinkel auf der Bank kaum Platz für eine der vielen Zeitungen hatte, mit denen er sein Leben fristete, wie er sagte, erkundigte sich mit bebrillter Nase über den entfalteten Bogen hinweg, was sie mache, und sie versetzte kläglich: »Dies Kleid ... die Leinwand ist unverwüstlich – – aber wenn ich hier einen Keil einsetze – und da – schön kann es nicht werden.« Auf seine unwirschen Äußerungen: warum sie sparen müßte, sie bekäme doch Ebeners Gehalt und außerdem könnte er selbst ihr wohl einmal ein Kleid schenken, erwiderte sie nach einiger Zeit, dies habe sie von Ebener bekommen. Darauf blieb er still, während er den zusammengelegten Zeitungsbogen mit seinen Händen kleiner und kleiner faltete und kniffte. Endlich tat er die Frage:

»Was glaubst du, wird Ebener sagen, wenn er dich wiedersieht in dem Kleide?«

Auf Caras gesenktem Gesicht – während sie fortfuhr, Stücke Stoffs über andre zu legen, zu prüfen und wieder abzuheben, bildete sich ein still überlegenes Lächeln, aus dem sie dann antwortete:

»Den Sack schlägt man, und den Esel meint man.«

»Wieso?« fragte er nach einer Weile blinzelnd, aber Cara gab keine Antwort.

Endlich sagte sie:

»An den Augenblick kannst du denken, aber nicht ich.«

Und weiter nach einer Pause:

»Versteh mich bitte recht: ist er fortgegangen von mir oder nicht?«

»Er war net der einzige, meinst du net?«

»Für mich war ers. Was gehn mich die andern an? Ihn hat niemand genötigt. Er ging, weil er wollte. Er hat getrennt.

»Vordem«, fuhr sie immer leichter und sicherer fort, »vordem war unser Leben Gemeinsamkeit; nun ist er dort, ich bin hier; nun sind es zwei Hälften, und keine hat Gültigkeit.

»Wie kann ich«, sagte sie plötzlich entrüstet, »wie kann ich an den Augenblick denken?«

Sie stand auf, zog ihre Gläser vom Gesicht, legte sie auf den Tisch und ging zur Ofenbank, wo sie sich setzte. Da sie stumm blieb, sagte nach einer Weile Nikolai Robin:

»Dann kann ich dich net verstehn. Warum hebst du dann das Kleid auf, das von ihm ist?«

Eine Weile, nachdem sie stumm geblieben war, sah er, daß sie dasaß mit still rinnenden Tränen, und er rief mit Entsetzen: »O Gott, was hab ich nun wieder angestellt?«

»Nichts«, sagte sie leise, ihre Tränen trocknend, »wirklich nichts. Ihr Männer seid ja zu dumm. Soll ich ihn denn nun hassen und seine Kleider zerreißen, weil –« Sie hielt inne und schwieg.

 

Der Mann sagte, Nikolai Robin:

»Ebener – wenn er kommt – er ist doch unverändert.«

»Weißt du das?« fuhr sie auf. Ihre Augen waren jetzt kalt, mit denen sie zu ihm hinübersah, während sie weitersprach:

»Das kannst du sagen, das kannst du! Ja, du meinst das Kind. Und er? Nein, ihm ist es nicht anzusehn wie mir – was er in der Welt getan hat! Er ist unverändert!«

»Was er in der Welt getan hat?« wiederholte er, verständnislos fragend.

»Natürlich, du weißt das nicht«, versetzte sie höhnisch, »daß er gemordet hat.«

Ihm blieb das Wort im geöffneten Munde, während sie aufstand und sagte:

»Und was habe ich getan?«

Ihr Gesicht schimmerte über und über von Stolz und Triumph, indem sie über ihn hinfuhr:

»Ich habe Leben gegeben.

»Er hat getötet – ich habe belebt. Jeder das Seine. Aber als Hälften paßt es wohl nicht zusammen. Warum«, sagte sie mit fast schriller Stimme, »warum ist das Kind nicht von ihm? Weil er nicht da war.«

Der alte Mann hatte seine Brille abgenommen, faßte mit Fingerspitzen in die Augenwinkel und schüttelte wieder und wieder den Kopf.

»Da kann ich net mitkommen«, sagte er endlich.

»Natürlich nicht. Da du ein Mann bist.«

»Leider«, sagte er nach einiger Zeit, »ist die Welt von Männern gemacht.«

»Leider – ja!«

»Es schaut nur so aus, mein Kind, daß, wenn sie es net getan hätten, niemand es getan hätte.«

»Und deswegen seid ihr die Herren und dekretiert, das Töten und das Gebären und die Vaterschaft auch.«

»Die vielleicht net so sehr«, sagte der alte Mann, sich erregend, »aber –« er zögerte, ehe er schloß, »aber die Treue.«

Bei dem Wort fuhr sie auf wie gestochen; ihr Gesicht flammte, und ohne einen Laut zu erwidern, verließ sie mit harten Schritten den Raum, die Tür ebenso hart hinter sich schließend, auf die seine Augen dann blickten, ohne etwas zu verstehn.

Cara kam indes wieder herein und bat um Verzeihung wegen ihrer Unbeherrschtheit. Zu ihm an den Tisch tretend, stützte sie die Hände auf die Platte und sagte, mit klarem Stolz des reinsten Gewissens auf seinen gesenkten Kopf herabblickend:

»Das letzte Wort, das du eben sagtest, möchte ich nicht in den Mund nehmen. Vielleicht siehst du einmal ein, daß – wie du mich derart verletzen konntest. Denn ich kann nur wiederholen: ich bin nicht fortgegangen. Ich habe das Band nicht zerrissen.«

Nun erhob er sich, ins Zimmer tretend, und stand dort hinter ihr, sich langsam aufrichtend, eine Weile. Dann ging er zum Ofen hin, legte eine Hand darauf, fühlte die Wärme und sagte in versöhnlichem Ton:

»Müssen nicht auch die Völker einmal Frieden schließen?«

»O du lieber Gott«, sagte Cara verächtlich, »der Friede wird fürchterlich aussehn.«

»Aber du glaubst doch«, sagte er stockend, »an den Frieden; wenigstens den Frieden Gottes.«

»Gottesfriede«, murmelte Cara, indem sie ihre Stoffteile aufnahm und zusammenlegte. »Im Mittelalter nannten sie es Treuga dei. Da ruhten die Fehden grad vom Gründonnerstag bis Ostern.«

»Bist du so sicher, mein Kind«, er stockte wieder, ehe er sagte: »daß du net ungerecht bist?«

»Ja, Lieber, was ist Gerechtigkeit – in diesem Fall?«

»Was Gerechtigkeit ist? Ja, ich weiß sicher net viel, aber das hab ich mittlerweile gelernt, und das weiß ich.

»Das ist nämlich – wenn keiner mehr recht hat.«

Cara kniff die Lippen zusammen, erwiderte aber nichts.


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