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Drei Jahre waren für Frieder in der Fremde verstrichen. Die zwei ersten waren Lernjahre gewesen und das dritte ein Reisejahr. Er hatte Glück gehabt, denn ganz ohne sein Zutun war er in das eigentliche Künstlerleben hineingekommen. Von einem rühmlich bekannten Streichquartett war er, nachdem der erste Geiger sich von seinen Genossen getrennt hatte, als Ersatz aufgefordert worden und hatte auf Zureden des Direktors angenommen. Mit seinen Kunstgenossen war er durch Deutschland, Schweden und England gekommen, die Konzerte waren von Kunstverständigen gut besucht und die Namen der Künstler berühmt geworden. Manches Zeitungsblatt hatte der Mutter und den Geschwistern daheim berichtet von den Erfolgen, die dieser jüngste Pfäffling draußen in der Welt errang. Und dann war die Nachricht gekommen, daß sie alle erholungsbedürftig seien und entschlossen, nach Abschluß dieser ersten Reise sich ein paar Monate Ruhe zu gönnen vor Antritt der 314 zweiten, die sie nach Frankreich führen sollte. Seitdem waren Frieders Briefe immer kürzer geworden, bald hoffte er um so ausführlicher mündlich zu berichten, und die Freude, die Seinigen wieder zu sehen, sprach aus jeder noch so kurzen Mitteilung.
So war der Vorabend von Frieders Heimkehr gekommen, ein Sonntag. Frau Pfäffling verlangte nichts von diesem Sonntag, als daß er rasch vergehen möchte. Bewegten Herzens dachte sie, daß Frieder nun schon in Deutschland sein mußte und von Stunde zu Stunde näher kam. Deutlich fühlte sie, daß ihr Frieder in ganz besonders inniger Beziehung zu ihr stand, und immer war es ihr, als sei er noch ein Kind, das die Mutter brauchte. Und doch – wie männlich stand er mit den drei andern Künstlern auf dem Bild, das er von London aus geschickt hatte! Nur der sichere, fertige und selbstbewußte Ausdruck, der mehr oder minder in den Zügen und der Haltung seiner Genossen lag, der fehlte ihm. Von diesen vier Männern hatte vielleicht nur dieser eine sich noch nicht ganz in der Welt zurechtgefunden, und sie wollte ihm so gerne wieder einmal helfen, wenn er Hilfe brauchte.
Auch Otto und Else freuten sich ungeduldig auf den Bruder. Sie waren gespannt, ihn als gefeierten Künstler wieder zu sehen und von seinen Reisen erzählen zu hören. Schon hatten die Lehrer und der Direktor der Musikschule sich mehrfach nach der Zeit seiner Rückkehr erkundigt, es war nicht nur eine Privatperson, es war zugleich ein Künstler von bekanntem Namen, der erwartet wurde. Deshalb sollte ihm auch ein feierlicher Empfang in der Familie bereitet 315 werden. Wurde er unter Fremden mit lautem Beifall begrüßt, so sollte er daheim nicht den festlichen Empfang vermissen. Dies war hauptsächlich Elses Meinung und sie sprach darüber, während sie nach dem Abendessen mit Mutter und Bruder im Garten einen der ersten milden Sommerabende zubrachte.
Sie saßen in derselben Laube, in der vor vielen Jahren Frieder erklärt hatte, daß er aus der Schule austreten wolle. Sie erinnerten sich daran, und während sie davon sprachen, hörte man Schritte auf dem Gartenweg, und unverhofft stand unter dem Eingang der Laube Frieder; Frieder, mit einem Blick von Liebe, der alle umfaßte, mit einem jubelnden »Grüß Gott!« und einer leidenschaftlichen Freude des Wiedersehens, die ihn in der Mutter Arme trieb.
Ein solcher Überschwang von Glück und Liebe war mit ihm hereingekommen und bewegte diese vier Menschen, daß die Worte sich nicht fanden, die diesen hohen Gefühlen Ausdruck geben konnten und, wie wenn ihnen dies das Wichtigste wäre, so kam nun zuvörderst die Frage, warum er früher als erwartet angekommen sei? »Die Reise ist schneller gegangen, als ich gedacht hatte,« sagte Frieder, »die Züge haben immer so guten Anschluß gehabt.«
Otto lachte: »Das hast du wohl erst unterwegs gemerkt? Ich glaube, du kennst dich noch immer nicht aus in dem Kursbuch, du Weitgereister?«
»Nein, nicht recht, das besorgen die andern, und diesmal waren sie nicht dabei.«
Frau Pfäffling sah den Sohn, der ein gut Stück größer war als sie, mit der ganzen mütterlichen Liebe 316 an, zog ihn neben sich auf die Gartenbank und sagte: »Setze dich wieder einmal neben mich wie in früheren Zeiten.«
»Wir wollten dir doch einen schönen Willkomm bereiten,« sagte Else, »und nun wirst du so ohne Sang und Klang empfangen!«
»Macht nichts, Else, ihr seid ja alle daheim, das war mein einziger Wunsch, schöner könnte es gar nicht sein, als so in unserer Laube.«
»Aber ich will dir wenigstens etwas zum Abendessen holen,« rief sie und wollte fort.
Er hielt sie zurück: »Bleibe doch, ich war schon oben, Walburg hat mich empfangen, so herzlich, sie bringt sicher etwas, bleibe da, Else, ich will nichts als euch, gar nichts. Wie du gut aussiehst! Bist nun wirklich Turnlehrerin?«
»Jawohl, angestellt mit festem Gehalt!«
»Erzähle mir doch davon, wie ist das, gefällt es dir?« Aber er bekam keine Antwort, zuerst sollte er von sich erzählen, war die einstimmige Meinung. Er fing wohl an zu berichten, aber lange setzte er es nicht fort, er war zu glücklich über die Gegenwart, sah von einem zum andern, sah im Geiste auch die Geschwister, die sonst mit an dem Tisch gesessen, fragte nach ihnen und rühmte der Mutter gutes Aussehen. Obwohl sie gerne von seinen Erlebnissen gehört hätten, so wurde es ihnen doch ganz warm ums Herz, als sie so seine große Treue und Anhänglichkeit empfanden und die Tiefe seines Gemütes. Die Mutter hatte dieses längst gekannt und empfunden, aber die Geschwister entdeckten es ganz neu, Otto, weil ihm erst in den 317 vergangenen Jahren der Sinn für die gemütliche Seite des Menschen aufgegangen war, und Else, weil ihr nach dem jahrelangen Verkehr mit Otto der Unterschied auffiel. Sie mußte immer in Frieders seelenvolle Augen sehen und sich im stillen ihre Gedanken darüber machen, bis sie unvermittelt sagte: »Uns hat immer etwas gefehlt, so lange du fort warst. Ich kann nicht recht sagen, was, Otto, du fühlst es ja auch, was ist es denn?« Der besann sich einen Augenblick. »Es ist eben das, was wir früher ›das kleine Dummerle‹ nannten.« Dies Wort kam Frieder wie aus weiter Ferne, war ein Klang aus halbvergessenen Kindertagen, und es wurde ihm dabei noch heimischer zumute. Er brachte aber die Rede bald wieder von sich auf andere. »Daß Fräulein Scheffel gestorben ist und ihr Haus jetzt Ulrich und Ulrike gehört, habt ihr mir geschrieben, bewohnt es nun Ulrike ganz allein?«
»Nein, sie hat es vermietet an den jung verheirateten Klavierlehrer, nur unten hat sie sich ein Zimmer eingerichtet; gegenwärtig ist sie unter Tags in der Krippe und lernt die Kinderpflege.«
»Und abends ist sie ganz allein?«
»Ja, daraus macht sie sich nichts. Aber sie kommt auch oft zu uns, Sonntag abend immer, ich wundere mich, daß sie noch nicht da ist.«
»Ihr habt euch lange nicht mehr gesehen,« bemerkte Else, »sagt ihr euch noch ›Du‹? Otto sagt ›Sie‹.« Statt der Antwort horchte Frieder, man hörte das Gartentürchen gehen. »Das knarrt noch wie damals,« sagte er, »ich will sehen, wer kommt.« Er stand auf, Else wollte ihm folgen. Da berührte Frau Pfäffling leise 318 ihre Hand und hielt sie zurück. Else sah die Mutter mit einem langen, staunenden und fragenden Blick an, der allmählich in Verständnis überging. Sie sah nach Otto und bemerkte, daß auch er der Mutter leisen Wink verstanden hatte. »Ich weiß ja von gar nichts,« flüsterte Else halb neugierig, halb gekränkt.
»Ich weiß auch gar nichts, Else,« entgegnete Frau Pfäffling, »nur eine leise Ahnung habe ich von früher her.«
»Ja, und das ist lang her,« sagte Otto, »inzwischen hat Frieder ganz andere Damen kennen gelernt, und Ulrike ist nicht hübscher geworden.«
»Aber auch nicht weniger nett, nicht, Mutter?« entgegnete Else, »wie fein das wäre; sonderbar, ich habe nie daran gedacht, Ulrike war immer wie ein Kind vom Haus.«
»Wir wollen gar nicht davon reden,« bat Frau Pfäffling, »solche Dinge sind so zart, es ist besser, man berührt sie nicht. Keines von beiden hat je davon gesprochen. Es ist vielleicht nur ein Traum von mir.«
Während Ulrike den kurzen Weg von ihrem Haus herüber zur Musikschule gemacht hatte, waren ihre Gedanken davon erfüllt gewesen, daß morgen Frieder kommen würde. Frieder, der treue Kamerad aus der Kinderzeit, der Freund ihres Bruders und sein einziger Vertrauter; Frieder, in ihren Augen der beste Mensch, und doch einer, der sich immer schwer tat unter den Menschen, der von Gott begnadete Musiker, dem doch die Musik viel Not bereitet hatte. So 319 war sie im Geist mit ihm beschäftigt und trug auch in den Händen, was ihm galt, große blühende Akazienzweige aus ihrem Garten, die sie Else versprochen hatte zum Schmuck seines Zimmers. »Morgen um diese Zeit wird er schon hier sein,« sagte sie sich, als sie in den Garten trat und im selben Augenblick stand er vor ihr. »Grüß dich Gott, Ulrike!« Tief empfunden klang der schlichte Gruß, von einem warmen Blick begleitet. In freudiger Überraschung reichte Ulrike ihm die Hand. »Frieder, du bist schon hier? Seit wann?«
»Gerade erst angekommen, heim gekommen, ich kann es selbst noch kaum glauben, so wonnig kommt es mir vor! Komm mit in die Laube, wir sitzen beisammen wie früher. Aber laß mich deinen großen Blütenstrauß tragen, du kannst ihn kaum umfassen!«
»Ja, nimm ihn nur, er war zu deinem Empfang bestimmt.«
»Von eurem Akazienbaum, den habe ich nicht vergessen, Ulrike. Wie geht es Ulrich?«
»Gut, Frieder, der Vater ist ganz zufrieden mit ihm, ich bin so glücklich!«
Nun traten sie zusammen unter den Eingang der Laube, die beiden jungen Gestalten mit den Blütenzweigen, sie selbst blühend in ihrer jugendlichen Erscheinung, beide mit glücklichem Ausdruck, und mit klaren Augen, aus denen die Freude des Wiedersehens strahlte.
Einen Augenblick zauderte Ulrike, ihren Platz einzunehmen: »Störe ich auch gewiß nicht?« fragte sie Frau Pfäffling, »wenn Frieder doch eben erst 320 angekommen ist?« Ein warmes Wort wollte Frau Pfäffling auf die Lippen kommen: »Sieh Frieder an, ob du uns störst?«, aber sie drängte es zurück und sagte heiter: »Du bist in deinem Recht am Sonntagabend, er ist der Eindringling.«
Nein, sie störte nicht. War vorhin schon der kleine Kreis in der Laube traulich gewesen, so lag jetzt noch ein besonderer Zauber auf ihm, Blütenduft und Liebesfrühling.
Sie mußten Frieder nicht mehr zureden, daß er erzähle, er war angeregt und lebhaft und sprach von seiner Reise. Außer seiner eigenen Geige hatte er noch eine mit heimgebracht, ein zerbrochenes Instrument. Wegen dieses unbequemen Handgepäcks, über dem er Schirm und Stock vergessen hatte, wurde er ausgelacht von den Geschwistern. Das Auslachen bekümmerte ihn nicht, er tat selbst mit: »Ich mochte die Geige nicht aus der Hand geben,« sagte er, »morgen sollt ihr sie sehen. Die zerbrochene ist ein ganz kostbares, altes Instrument. Bei einem Brand, der in einem Konzert ausbrach, wurde sie mit Füßen getreten. In London war das. Der Besitzer war ganz außer sich, von allen Seiten wurde ihm versichert, daß sie nicht mehr herzustellen sei. Ich bin aber fest überzeugt, daß Neureuther die Geige wieder machen kann, so erbot ich mich, sie mitzunehmen. Gleich morgen will ich zu ihm gehen. Er freut sich, wenn ich ihm solch eine echte alte Cremoneser bringe und er sie wieder zum Leben erwecken kann. Es fehlt kein Splitter.«
»Glaubst du wirklich, daß er mehr versteht, als all die Londoner?« fragte Otto.
321 »Vielleicht versteht er nicht mehr, aber er hat eine solche Liebe zu seiner Arbeit, eine Hingebung und Geduld wie kein anderer.«
»Das paßt wieder zu deiner Behauptung, Mutter,« bemerkte Otto, »daß es bei den Menschen noch mehr auf den Charakter ankommt, als auf die Gaben und ihr Wissen.«
»Ja, Neureuther ist mit dem ganzen Herzen dabei,« sagte Frieder, »ich habe oft an ihn gedacht. In England besonders, da haben wir eine Sammlung gesehen von lauter alten, berühmten Geigen. Einem Sonderling gehört sie, der fast in Armut lebt, weil er sein ganzes großes Vermögen in dieser Sammlung stecken hat. Er hat sie uns selbst gezeigt, aber mir war das ganz traurig.«
»Warum traurig?« fragte Ulrike.
»Stelle dir vor, wie sie da liegen in einem fest verschlossenen Gewölbe, in großen Glaskasten eingesperrt, lauter Instrumente der besten alten Meister. Herrliche Geigen, die mit ihren Tönen die Menschen jetzt noch beglücken könnten und dazu geschaffen sind. Die liegen hier wie lebendig eingesargt. Es ist schlimmer als ein Kirchhof, auf diesem ist nur der Leib begraben, aber hier sind es Seelen!« Einen Augenblick waren alle still und sahen im Geist das Gewölbe.
»Es kommt einem grausam vor,« sagte Ulrike mit warmer Empfindung.
Otto lächelte. »Schließlich ist's doch nur Holz, so eine Geige.«
»Holz?« sagte Frieder, »ja, aber beseeltes 322 Holz, so wie unser Körper beseelt ist.« Otto widersprach nicht mehr, ein Streit über Seelen lag ihm nicht, und überdies, es war eben Frieder, wie er immer schon gewesen, mit seinen wunderlichen Anschauungen. Mochte er sie behalten! Man konnte doch nicht anders als ihn lieb haben, sie fühlten es alle an diesem Abend in der Laube.
Ein kühler Wind strich durch den Garten, Frau Pfäffling mahnte zum Aufbruch. Sie gingen alle zusammen noch durch den stillen Sommerabend und begleiteten Ulrike an ihr Haus. »Ich möchte gerne mehr von Ulrich hören,« sagte Frieder, als man sich an der Haustüre trennte, und in Gedanken an die früheren Zeiten fügte er hinzu: »Ich komme morgen, dann mußt du mir erzählen.«
Ulrike sah fragend zu Frau Pfäffling auf; die kam ihr zu Hilfe: »Oder Ulrike kommt zu uns, das wird besser sein, gleich abends, wenn du aus der Krippe kommst, Ulrike, willst du?«
»Gerne, gute Nacht!«
»Gute Nacht.« Sie schloß ihr Häuschen auf und verschwand.
Frieder war es so wohl im heimischen Nest, daß ihn am frühen Morgen die Freude nicht mehr schlafen ließ. Die Sonne leuchtete durch die bunten Vorhänge in sein Schlafzimmer und die Vögel 323 zwitscherten. Dazu fiel sein Blick auf lauter ihm wohlbekannte Bilder und Möbel, und das Gefühl des Daheimseins erfüllte ihn mit Wonne. Eine Melodie summte ihm durch den Kopf und trieb ihn aufzustehen, er mußte sie suchen auf seiner Geige, die Melodie, die sein Herz bewegte, und die keinen andern Text brauchte als das Wort: »Daheim«. Er wußte aus alter Erfahrung, wohin er sich flüchten mußte, um die andern nicht aus dem Schlaf zu wecken, hinunter in das Instrumentenzimmer. So schlich er leise durch die Glastüre in den unteren Stock, fand aber dort alles verschlossen. Natürlich, er hätte es sich ja denken können! Er hatte im Augenblick vergessen, daß dieses nicht mehr das Reich seines Vaters war. Einerlei, das Treppenhaus tat ihm dieselben Dienste. Er öffnete das Fenster, die Morgensonne beschien die wohlbekannten Büsche und Beete des Gartens und beleuchtete die Akazienbäume des Nachbargartens, unter denen er als Kind mit Ulrich und Ulrike gespielt hatte. Die weiße Mauer des Häuschens schimmerte zwischen den Blättern hindurch. Lauter Heimatluft! Den Blick dorthin gerichtet suchte er auf der Geige die Töne, die in ihm klangen; leicht ließen sie sich finden, und duftig wie der Sommermorgen, warm wie sein Heimatgefühl wurde sein Lied. Er nahm ein Notenblatt. »Festhalten, festhalten,« sagte er sich, »denen soll das Lied gehören, die es mir eingegeben haben.« Er schrieb und verbesserte, spielte wieder und vergaß die Zeit.
Von ihrer Kammer herunter kam Walburg, fand die Glastüre angelehnt, sah hinunter und erblickte den 324 Geiger. Er im selben Augenblick auch sie. Er grüßte hinauf zu ihr, war sie nicht auch ein Stück Heimat? Ja gewiß, die treue Seele. Wie sie ihm freundlich zunickte! Sie wunderte sich gar nicht, daß er hier spielte, von jeher hatte sie ihn zu den wunderlichsten Zeiten an absonderlichen Plätzen spielen sehen. Deutlich stand auf ihrem Gesicht zu lesen: Es ist noch ganz mein alter Frieder! Hatte er nicht als Kind sich oft zu ihr in die Küche geflüchtet, wenn allen andern im Hause sein Spiel zu viel geworden war? Und hatte es sie nicht oft getröstet, daß ihre tauben Ohren die durchdringenden Saitenklänge vernahmen? Daran dachte sie, während sie in die Küche ging, ihrer Arbeit nach, und daran dachte auch Frieder. Er ging hinauf, jetzt mochten die Seinigen wohl aufwachen. In die Küche kam er, wo Walburg am Herd wirtschaftete, stellte sich daneben und spielte. Und sie strahlte mit dem ganzen Gesicht über dies Zeichen von Anhänglichkeit und über die ihr vernehmbaren Töne, wirtschaftete dabei mit den Pfannen und Töpfen, hatte keine Ahnung, daß diese klirrten, und bekam den großen Geigenkünstler zu hören, vor dem sonst atemlos lauschend die Herren und Damen in achtungsvoller Stille auf teuer bezahlten Plätzen saßen.
Allmählich tauchten aus den verschiedenen Schlafzimmern auch die anderen Familienglieder auf, lachend huschte Else an der offenen Küchentüre vorbei, kopfschüttelnd sah Otto hinein, und dann kam Frau Pfäffling, kam das gemeinsame Frühstück mit gemütlichem Plaudern, bis Otto und Else ihrem Beruf 325 nachgehen mußten und Frieder allein bei der Mutter saß. Die traulichste Stunde, da diese beiden zum erstenmal wieder unter vier Augen beisammen saßen, und dennoch die Stunde, die den ersten Schatten in Frieders sonnige Stimmung warf. Durch eine Frage der Mutter kam der Schatten. »Und wann werdet ihr die Konzertreise nach Italien und Frankreich antreten?«
»Im Herbst. Aber ich weiß ja noch nicht, ob ich mittue. Ich habe mir Bedenkzeit ausgebeten.« Frau Pfäffling war überrascht. »Hast du denn irgend einen andern Plan?«
»Nein, gar keinen. Eine Stelle als Kapellmeister wurde mir angetragen, aber mein Direktor meinte, dazu eigne ich mich am allerwenigsten. Er hat wohl recht.« Frau Pfäffling sah Frieder an. Der glückliche Ausdruck seines Gesichtes war verflogen. Am ersten Morgen daheim, das wollte sie nicht, es tat ihr leid. Da er nichts sagte, sondern in Gedanken versunken dasaß, begann sie liebevoll: »Wir brauchen die zukünftigen Dinge nicht gleich zu besprechen, jetzt wollen wir uns der Gegenwart freuen, es ist so schön, daß wir wieder beisammen sind.«
Das war ihm ein willkommenes Wort. »Ja, ich habe ja eine lange Zeit vor mir. Jetzt möchte ich mich an der Heimat freuen. Mutter, heute früh ist mir ein schönes Lied gelungen. Sonderbar, in diesem ganzen Jahr trieb's mich fast nie zum Schaffen und hier gleich am ersten Morgen. Doch ein Stück habe ich komponiert, davon habe ich dir geschrieben, es wurde ja gedruckt. Aber weißt du, wann das entstanden ist? In 326 der Woche, wo ich wegen des übertretenen Fußes unterwegs in der kleinen belgischen Eisenbahnstation zurückbleiben mußte und die andern voraus reisten. Damals schriebst du mir voll Bedauern über mein Mißgeschick, und ich war doch so glücklich, weil mir die Arbeit nie so gut gelungen wäre ohne diese unfreiwillige Ruhe.«
»Ja, ja,« sagte Frau Pfäffling nachdenklich, »mir ist auch die Stille im Gebirg segensreich gewesen, und wenn ich's überdenke, so muß ich sagen, daß mein ganzes Leben hindurch mir immer die stillen Stunden die Kraft gegeben haben für die lauten bewegten, für das eigentliche Leben und Wirken; ich könnte sie nie missen.«
»Und ich ebenso wenig, siehst du, Mutter, das ist ja mein Jammer! Von dir habe ich das geerbt und vom Vater das Musikalische; was sich bei euch so prächtig ergänzt hat, das Stille und das Lebhafte, das lebt in mir als ein unseliger Zwiespalt. Ich habe Hunger nach Musik und Verlangen nach Stille, dem Hunger nach Musik bin ich gefolgt und habe sie als Beruf erwählt, aber wie finde ich nun die Stille? Es ist mir nicht wohl in solch einem Treiben, wie ich es im letzten Jahre gehabt habe. Das Reisen, das Hasten, die furchtbar Vielen, mit denen man verkehren muß, die glänzenden Säle, die geputzte Menge, die langen Abende in bunter Gesellschaft im Rausch des Ruhmes oder in der Niedergeschlagenheit des geringeren Erfolges, das Trachten und Streben nach Beifall, das alles ist mir im Grund der Seele zuwider! Wie flüchtig ist auch der Erfolg! Der Genuß ist vorbei, wenn die Töne 327 verklingen. Ich habe am glänzendsten Konzert nicht die Befriedigung, wie wenn ich etwas komponiere, und wär's nur ein Marsch, den die Soldaten spielen, oder ein Wiegenlied, das die Mutter ihrem Kinde vorsingt. So etwas lebt weiter, das Spiel verrauscht.« Er hatte es in zunehmender Leidenschaft gesagt, und nun faßte er sich und sagte in fast bittendem Tone: »Du, Mutter, mußt das doch verstehen und mich entschuldigen, wenn es auch sonst niemand versteht!«
»Wohl versteh ich es und mache dir keinen Vorwurf, es ist mir nur um dich leid, wenn du nicht ergreifen kannst, was sich dir bietet. Aber wir wollen uns keine Sorge machen, nur fleißig suchen, schauen und fragen, bis du den rechten Weg findest.«
»Gottlob, Mutter, daß du Geduld mit mir hast. Ich war oft kleinmütig und fast neidisch auf andere Künstler. Da ist z. B. unser Cellist. Er spielt mit um so größerer Begeisterung, je voller der Saal ist, er sagte mir, er spüre ordentlich die Anregung, die von den musikalischen Zuhörern auf ihn ausströme. Ich spüre davon nichts, ich sehe nur die verwirrende Masse. Wenn ich Gutes leisten wollte, dann sah ich auf ihn, der so hingerissen war, und spielte ihm zuliebe. Er ist ein prächtiger Mensch, Mutter, oft hat er mich getröstet, wenn ich an mir selbst irre wurde, ich sei trotz allem der beste Künstler von uns Vieren.«
»Daran wollen wir uns halten, Frieder, und guter Zuversicht sein. Zunächst kannst du dich daheim ausruhen und dich in der Stille zurechtfinden. Allerdings hoffte der Direktor, du würdest hier in der Musikschule ein Konzert geben, aber das muß ja nicht sein.«
328 »Wenn sich's irgend umgehen läßt, wäre es mir freilich viel lieber.«
»Das kann ich ihm wohl begreiflich machen. Es sollte zugunsten der Krippe sein, für die Ulrike so ein warmes Herz hat.«
»Ah so, dann ist es wieder anders.«
»Es geht auch ohne dich.«
»Nein, nein, das möchte ich doch nicht abweisen.« Er schwieg. Nach einer Weile frug er: »Mutter, ist Ulrike nicht furchtbar vereinsamt jetzt?«
»Sie empfindet es kaum, hat so viel Arbeit, so viel Lebenspläne. Wenn sie zu uns kommt, bespricht sie das alles mit solchem Eifer mit mir, ich glaube, sie fühlt sich ganz glücklich, und das kleine Häuschen, das sie nun im Besitze hat, gibt ihren Plänen eine feste Grundlage.«
»Was für Plänen?«
»Missionarskinder oder Waisen aufzunehmen. Vorher möchte sie aber ein Jahr nach Indien, um ihre Heimat kennen zu lernen und Vater und Bruder wiederzusehen, die sehr nach ihr verlangen. Wahrscheinlich bringt sie dann gleich ein paar Kinder aus Indien mit herüber; sie meint, sie werde ihnen leichter die Mutter ersetzen können, wenn sie diese kennen gelernt hat. Es ist prächtig, mit welcher Klarheit sie sich das alles zurechtlegt und wie sie die Erfahrungen ihrer eigenen liebeleeren Kindheit nachträglich für andere zum Besten kehren will!«
Frieder hörte der Mutter nachdenklich zu. Es freute ihn das Lob, das diesem Mädchen gespendet wurde, und doch hätte er noch lieber gehört: sie fühlt sich 329 vereinsamt und ihrem Leben fehlt der Inhalt. Und in ähnlichen Zwiespalt geriet er in den nächsten Wochen noch öfter. Immer wieder, wenn Ulrike kam, brachte er selbst das Gespräch auf ihre Arbeit, und bewunderte im stillen die Kraft und Klarheit, mit der sie ihr Leben führte, empfand auch das Wohltuende ihres ausgeglichenen Wesens. Aber daneben berührte ihn schmerzlich der Gegensatz zu seiner eigenen Unklarheit, und es kam über ihn wie eine Scham. Ulrike hatte bald herausgefühlt, daß er von seiner eigenen Zukunft nicht gerne sprach; so kam das Gespräch öfter auf die Fragen, die sie selbst betrafen, war doch Frau Pfäffling in all diesen Sachen ihre einzige Beraterin.
So eines Nachmittags, als Mutter und Sohn allein beisammen saßen. Ulrike kam, erfüllt von neuen Gedanken. Sie wandte sich an Frau Pfäffling: »In dieser Woche haben mir meine künftigen Missionskinder viel Sorgen gemacht!«
»Warum wohl?« fragte Frau Pfäffling heiter, »gedeihen sie nicht?«
»Doch, aber ich denke, die kleinen Schlingel merken es heraus, wenn ich ganz allein für sie lebe, werden vielleicht dadurch recht verwöhnt und halten sich für die Hauptpersonen. Das ist doch anders in Familien, wo dazwischenhinein der Vater mit seiner strengen Art kommt und seine Ansprüche geltend macht. Aber ich weiß jetzt ein Aushilfsmittel,« sagte sie und sah mit fröhlich glänzenden Augen auf Frau Pfäffling, die neugierig schien, was da wieder für ein Plan zum Vorschein käme.
330 »Die Väter meiner Kinder kann ich nicht bekommen, aber ich nehme einen alten, recht verdrießlichen Herrn in Kost, einen, der allerlei Grillen und Launen hat, in die die Kinder sich fügen müssen; kann das nicht ein Ausgleich gegen all die Liebe und Pflege sein, die sie bei mir haben sollen?« Frau Pfäffling lächelte. »Solch einen alten Brummbären wirst du leicht bekommen können, nach diesen ist sonst keine große Nachfrage.«
»Das ist doch nicht dein Ernst, Ulrike,« sagte Frieder in ehrlichem Entsetzen, »einen solchen Hausgenossen nimmst du doch nicht auf, er wäre nicht nur für die Kinder unangenehm!«
»Du meinst, für mich auch? Aber vielleicht ist mir's ebenso gesund wie ihnen; wenn ich so die höchste und einzige Macht im Hause bin, würde ich vielleicht eine herrische Frau, und die kann ich gar nicht leiden.«
»Ulrike,« sagte Frieder nach einer Weile, und es klang ganz traurig, »hätte ich nur halb so viel Pläne wie du!« Da tat ihr leid, was sie gesprochen hatte, und sie kam von da an nicht mehr darauf zurück.
Frieder hatte im Konzert gespielt und viel Beifall geerntet. Sein öffentliches Auftreten hatte aber noch eine weitere Folge. Der Direktor der Musikschule kam herauf, um ihm eine Anstellung anzubieten. Frieder war nicht zu Hause, er hielt sich viel bei Neureuther auf, der an der zerbrochenen Violine arbeitete. So empfing Frau Pfäffling den Direktor, und je mehr ihr dieser entwickelte, welch freie Stellung er ihrem Sohn einräumen würde, um so beglückter fühlte sich die Mutter. Frieder sollte die Wahl haben zwischen 331 verschiedenen theoretischen und praktischen Lehrfächern, auch bei der Festsetzung der Lehrzeit sollte ihm möglichste Freiheit gegeben werden. Sie fühlte wohl, daß nicht nur die Kunst des Sohnes, sondern auch das Andenken seines Vaters hier geehrt wurde durch dies Anerbieten, und dankte mit bewegtem Herzen, als der Direktor sie mit der Bitte verließ, Frieder von der Aufforderung Mitteilung zu machen.
Dieses war die ruhige Stellung, nach der ihr Frieder sich sehnte, auch mußte er nicht verzichten auf die alte Heimat, an der sein Herz hing, und so bald er wollte, konnte er den Hausstand gründen mit dem Mädchen, das er – sie glaubte es sicher zu wissen – liebte mit der ganzen Tiefe seiner Seele. Sie sonnte sich in diesem Gedanken und wartete ungeduldig auf den Sohn. Als er endlich kam, ging sie ihm entgegen. »Komme zu mir herein, Frieder, ich habe dir so etwas Erfreuliches zu sagen, schreibe nur gleich den Herren von deinem Quartett ab und sage ihnen, du habest eine feste Anstellung gefunden.« Wie glücklich sah die Mutter aus! Frieder horchte gespannt, und Frau Pfäffling berichtete in dem zuversichtlichen, fröhlichen Ton, wie ihn die Freude über die glückliche Lösung einer lange schwebenden Frage eingibt. Frieder hörte nicht nur die Worte, er hörte auch diesen Ton heraus. Die Mutter hielt es also für ganz ausgemacht, daß dieser Antrag ihn beglücken müsse, daß er mit beiden Händen danach greifen würde. Ach, wußte sie denn nicht, daß das Lehren ihn nicht im allergeringsten lockte und er ein schlechter Lehrer war? Je weniger er sagte, um so mehr pries sie die Vorzüge, und er merkte 332 aus ihren Worten, daß seine bisherige Unsicherheit ihr schwer aufgelegen war, und sie nun dachte, damit hätte alle Not ein Ende. Da bezwang er sich, verbarg sein eigenes Gefühl und sagte: »Eine feste Anstellung hat freilich große Vorzüge.«
»Nicht wahr,« sagte Frau Pfäffling befriedigt. »und so freundlich hat der Direktor dir jederzeit Urlaub versprochen, wenn du dazwischen einmal auswärts ein Konzert geben willst. Man merkt ihm immer noch die Anhänglichkeit an den Vater an. Frieder, wie mich das freut, daß du nun so ganz in des Vaters Fußstapfen treten wirst! Du bist doch voll und ganz befriedigt von dem Vorschlag?« Darauf konnte er nun doch nicht »ja« sagen.
»Ich habe eben keine Gabe zum Lehren, insofern kann ich mich nicht so freuen, wie du meinst, aber es wird sich schon machen.«
»Gewiß macht sich das, du warst bei deinen ersten Versuchen nur gar zu jung.« In diesem Augenblick kam Otto herein, es kam auch Else und beide hörten von der Mutter die Neuigkeit. Sie beglückwünschten Frieder. »Nun bist du ein gemachter Mann, kannst morgen deinen Hausstand gründen, wenn du willst,« sagte Otto.
Else lachte: »Er hat doch keine Braut!«
»Ich habe noch gar nicht selbst mit dem Direktor gesprochen,« entgegnete Frieder, »wir sind noch nicht soweit.«
»Wann gehst du zu ihm?«
»Er verreist über den Sonntag,« bemerkte Frau Pfäffling, »Montag nachmittag erwartet er dich. Oder 333 willst du jetzt sofort hinuntergehen? Er wäre wohl für dich noch zu sprechen.«
»Lieber am Montag,« entgegnete Frieder. Verstellen konnte er sich nicht, sie merkten ihm wohl an, daß er wenig Freude empfand. »Du sagst so wenig darüber,« meinte Else, »es ist doch herrlich, wenn man solch ein Angebot bekommt? Mutter, bin ich da nicht anders herumgehüpft vor Freude, wie ich die Stelle als Turnlehrerin bekam?«
Frieder rechtfertigte sich. »Dich freut eben das Lehren und mich nicht, das ist der Unterschied.«
»Ei was,« entgegnete Otto ungeduldig, »daß einen die Arbeit freut, kann man nicht erwarten. Frage einmal herum bei unseren Juristen aus ihren Kanzleien, wie viele von ihnen die Arbeit freut. Es ist eben der Verdienst, die Einnahme, um derentwillen plagt man sich, der eine mit Akten, der andere mit Schülern, und du mußt eben auch deine Plage auf dich nehmen.«
»Das werde ich auch tun,« sagte Frieder gequält, »aber daß ich springe vor Vergnügen, könnt ihr nicht verlangen.«
Der Sonntag kam, noch hatte Frieder eine kurze Frist, morgen sollte er dem Direktor Antwort geben. Er ging am frühen Morgen fort über Feld und Wiesen, mit sich selbst zu beratschlagen. »Ja« mochte er nicht sagen, »nein« mochte er nicht sagen, und doch mußte er den Entscheid treffen, er ganz allein. Er kam sich so verächtlich vor, weil er so gar nicht wußte, was er sollte. Hatte denn Otto recht, mußte man den Lebensberuf wählen, ohne Freudigkeit dazu zu haben, ja mit dem deutlichen Gefühl, daß man sich nicht gut 334 dazu eigne? Vielleicht war es so eingerichtet in der Welt; der Beruf gab das Brot, die Freude mußte von anderer Seite kommen. Sie hatten es ihm ja gesagt: Du kannst deinen Hausstand gründen. Ja, mit Ulrike würde Freude kommen in sein Leben, wenn sie mochte! Aber sie schien gar nicht an so etwas zu denken, hatte ganz andere Lebenspläne, sie war ihm mit warmer Freundschaft zugetan, nicht mit verlangender Liebe. Sie brauchte ihn nicht, sie die starke, klare, ihn den unsicheren, schwankenden; er mußte ihr fast verächtlich erscheinen, er erschien sich ja selbst so. Er biß die Zähne auf die Lippen. Die doppelte Qual der Unsicherheit im Beruf und in der Liebe peinigte ihn. Während er auf einsamen Wegen ziellos weiter ging, sprach er laut vor sich hin: Vater, du hast das kommen sehen, du hast schon früher zu mir gesagt: ich kann mir nicht denken, was du als Musiker ergreifen willst, und du wolltest mir durch das Gymnasium weitere Türen offen halten. O, du hast so recht gehabt! Aber ich kann eben doch die Musik nicht lassen, und Brot muß her, – also nehmen, was kommt! Nicht immer meinen, man müsse glücklich sein. Warum denn? Man kann doch auch unglücklich sein! Wie viele sind es, auf mich kommt es nicht an! Nun wurde er ruhiger und überlegte, was zunächst geschehen mußte, welchen von den beiden Wegen, die vor ihm lagen, er gehen wollte, und kam zu einem Entschluß. Er wollte Ulrike von den beiden Möglichkeiten sprechen, von dem Lehrerberuf und den Konzertreisen. Liebte sie ihn so wie er sie, dann konnte sie nicht wünschen, daß er wieder fortziehe, sie mußte dann für die Stelle sein, die ihm 335 erlaubte, den Hausstand zu gründen, und dann wollte er sich in den Lehrberuf schicken; blieb sie gleichgültig dagegen, nun dann zog er wieder fort, ohne sie gab es ja doch keine Freude für ihn.
Wie jeden Sonntag kam Ulrike auch an diesem Abend in den Garten, aber nicht nur sie, es kamen auch noch einige Musikschülerinnen, die, fremd in der Stadt und an die Familie Pfäffling empfohlen, froh waren, manchmal in diesem Kreis verkehren zu dürfen. Es wollte sich nicht schicken, daß Frieder mit Ulrike allein sprechen konnte bis zu dem Augenblick, wo er sich erbot, sie heimzubegleiten. Ein kurzer Weg, um Lebensfragen zu besprechen! Er mußte unvermittelt die Sprache darauf bringen. »Weißt du, daß ich bis morgen einen Entschluß zu fassen habe, Ulrike? Hast du gehört von dem Anerbieten des Direktors?« Nein,. sie hatte nichts gehört. In eiligen Worten sprach Frieder darüber und fing mit dem an, was sie vor allem hören sollte, daß es eine Stelle wäre, auf die er einen Hausstand gründen könnte, die auch der Mutter und seinen Geschwistern günstig scheine. Dann erst schilderte er die Stellung, die er bekleiden sollte. Da blieb Ulrike plötzlich stehen, und fast erschrocken rief sie. »Frieder, da wärest du ja Lehrer! Glaubst du, daß du ein guter Lehrer sein würdest? Ich glaube es nicht. Oder doch? Nimm es mir nicht übel, ich würde ja solchen Zweifel niemanden aussprechen als dir.«
»Da ist nichts übel zu nehmen, ich weiß selbst am besten, daß ich keine Lehrgabe habe.«
»Aber dann kann es doch nicht für dich in Betracht kommen? Du willst doch Gutes leisten!« Er senkte den 336 Kopf, denn er schämte sich, doppelt schämte er sich. Er war im Begriff gewesen, etwas zu wählen, was er nie gut würde leisten können, das war die eine Scham, und daß es ihr ganz gleichgültig schien, ob er heiraten könne oder nicht, das war die andere. Und neben all dem war ihm doch ihre Klarheit wieder bewundernswert, und die Liebe zu der, die ihm im Augenblick wehe getan hatte, wallte mächtig in ihm auf. Sie waren langsam gegangen, ganz langsam, aber trotzdem standen sie nun schon vor Ulrikens Haus, und es ging wieder wie immer: sie schob den Schlüssel in das Schloß, sagte »Gute Nacht« und war verschwunden.
Er wußte aber jetzt, was er zu tun hatte: Gutes wollte er leisten, das hatte Ulrike gesagt, und darin hatte sie recht. Sie glaubte doch an das Gute in ihm, das tat wohl.
Er suchte die Mutter auf und traf sie allein. Wie schwer er sich doch entschließen konnte, sie zu enttäuschen! Eine ganze Weile brauchte er, bis er sich dazu zwang. »Mutter,« sagte er, »ich habe heute den ganzen Tag nachgedacht und muß dir's sagen, daß ich morgen dem Direktor absagen will. Ich mag kein schlechter Lehrer sein und ein guter bin ich nicht. Ich müßte mich immer schämen. Ich hätte dir's gerne zuliebe getan, aber es geht nicht.«
»Mir zuliebe sollst du es freilich nicht tun, was hätte ich davon, wenn du unglücklich würdest!«
Da sagte er mit bitterem Lächeln: »Daß ich glücklich werde, kann ich dir freilich nicht versprechen.« Frau Pfäffling wurde es wehe ums Herz. Er hatte 337 eben mit Ulrike gesprochen, warum war sein Ton so traurig? Er sah ihren bekümmerten Blick, und er, der selbst Trost bedurfte, suchte sie zu trösten: »Als Violinspieler leiste ich wenigstens Gutes, und das ist doch die Hauptsache, ist auch ein Glück. Gräme dich nicht um mich, Mutter, es wird schon recht. Gute Nacht!«
Ja, gute Nacht! Das ist leicht gesagt! Die Mutter fand keinen Schlaf. So traurig war ihr der Gedanke, daß in wenigen Wochen dieser Sohn wieder hinausziehen sollte ohne Lust und Liebe. War er nicht der anspruchloseste Mensch und sollte kein Plätzlein finden, auf dem es ihm wohl sein könnte? War er nicht die treueste Seele, hatte nur ein Mädchen geliebt von Kind an und sollte dieses nicht gewinnen können? Wie sollte sie ihm helfen? Sie quälte sich mit diesen Gedanken, bis sie sich plötzlich bewußt wurde, wie lange sie schon wach im Bett lag, und daß sie, ganz und gar ihrem Vorsatz ungetreu, wieder mitten im nächtlichen Sorgen war. Aber mußte sie nicht sorgen für den Sohn, vielleicht kam ein Ausweg? Nein, sie wollte im hellen Tageslicht die Sache ansehen, nicht bei Nacht. Was hatte denn damals, als sie die ganze Nachtruhe hingab, den Kindern ihr Sorgen geholfen? War nicht Karls Söhnlein trotzdem gestorben? Und ihren schlaflosen Nächten war es nicht zu verdanken, daß die unglückselige Verbindung mit dem Löckchen sich so friedlich gelöst hatte. Nein, es gab keine andere Pflicht, als mit mutigem Gottvertrauen allem entgegen zu gehen, und bei Nacht hieß die Pflicht: schlafen. So drängte sie tapfer zurück, was sie quälte, und 338 suchte nach stillen, beruhigenden Gedanken. Und wie sie darnach suchte, kam ihr Maries letzter Brief in Erinnerung, der so glücklich gelautet hatte. »Bei uns wird es alle Tage schöner,« schrieb die junge Frau. Das war ein Wort für diese Stunde. Sie wiederholte es leise, stellte sich das friedliche Bild des jungen Paares vor, bis dieser Friede ihr den Schlaf brachte. 339