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Das Haus sah aus wie der Besitz eines in engen Grenzen lebenden Landedelmannes. Es lag nicht weit vom Oberlaufe der Alster und wäre von Hamburg her durch eine dreiviertelstündige Autofahrt zu erreichen gewesen; aber der Besitzer, der sich den Platz sorgfältig ausgesucht hatte, schien keinen Wert auf Besuche zu legen. Außer wenigen Fußwegen gab es nur eine Landstraße, die in einiger Entfernung vorbeilief. Unter der Sonne war sie ruhender Staub; unter Regen und böigen Winden eine glitzernde Linie von Pfützen. Auch dieser dürftige Verkehrsweg ließ nicht ahnen, daß ein Gehöft in der Nähe war. Man mußte noch mehrere Minuten einen Fußweg durchwandern, der durch ein nicht übermäßig hohes, aber sehr dichtes Gehölz führte.

Dort, wo dieser Fußweg von der Landstraße abzweigte, standen ein Mann und ein Mädchen.

»Drei Jahre sind eine lange Zeit« sagte der Mann. Er zwängte seine beiden Daumen unter die Schulterriemen seines Rucksackes, wie um sich die Last leichter zu machen. »Soweit man einen Menschen überhaupt kennenlernen kann, soweit, denke ich, habe ich Sie kennengelernt. Und so ist mein Entschluß eigentlich nicht von heute oder gestern; nicht von Wochen oder Monaten. Vor Jahren schlug er Wurzel; gestern ist er gereift.«

Aus ihren Augen glitt ein ernster Blick zu ihm. »Mein Wille ist nicht weniger alt.«

Er nickte und wies mit den Augen in die Richtung, in der das Landhaus lag. »Wenn ich Sie nun dorthin bringe – Sie wissen doch, ich habe immer nur gesagt »Er« und immer nur gesprochen von »Ihm« – dann werden Sie von Anfang an viel von dem beweisen müssen, was ich von Ihnen behauptet habe. So weit mein Einfluß überhaupt gehen konnte, habe ich Ihnen den Weg geebnet. Zuletzt hat er sich meinen Gründen nicht verschlossen. Das will viel für die Gründe sagen. – – – Er wollte keine Frau in dem Getriebe haben. Durchaus nicht. Mir aber ist es unumstößlich, daß – außer in der Politik! – keine große Sache ohne die Frauen zu einem guten Ende geführt werden kann. Und die richtigen zu finden, das ist bei Männern ebenso schwer wie bei Frauen. – Nicht, daß er die Frauen haßt oder gar verachtet. Er stellt sie sogar sehr hoch. Aber was die großen Ideen betrifft, so hat er die Überzeugung, daß die Frau ein unterwegs stehengebliebener Mann ist. Und er sagt, zu dem, was wir wollen, können wir nur ganze Männer gebrauchen. Vollendete Männer.«

Sie hatte seiner ganzen Rede mit niedergeschlagenen Lidern zugehört. Bei den letzten Worten glitt wieder ein Blick in sein Gesicht. Und wenn sich ihr Mund auch nicht zum Sprechen öffnete, so zuckte doch eine leise Ironie um ihn, und ihre Augenbrauen schoben sich ein wenig aneinander.

Er machte eine kurze Bewegung mit der Hand, als wenn er jede Gegenrede abwehren wollte. »Die Frauen hätten dort aufgehört, wo der schwere Weg der Einschränkungen beginnt, der rücksichtslosen Selbstlosigkeit, des eisigen Schweigens. Selbstlose Frauen, die gäbe es schon. Sonst würden sie sich ja nicht von den Kindern unterscheiden, die immer egoistisch sind. Aber sie könnten nur in einem kleinen Horizont selbstlos sein. Bei uns aber geht es um den weitesten Horizont: Die Allgemeinheit, das ganze Volk, vielleicht die Menschheit. Und ums höchste Schweigen geht es hier auch. Daß Frauen um ihre Not schweigen können, daß sie Märtyrerinnen der Entsagung sein können, das weiß er. Das sind die, vor denen er den Kopf beugt. Aber daß Frauen auch um ihren Reichtum schweigen, das glaubt er nicht. Reichtum ist ihm nicht etwa nur Besitz, sondern auch geistiges Wissen und – vor allem –: Einfluß! Eine Frau, die von ihrer Macht und von ihrem Einfluß schweigen kann, ist ihm eine gänzliche Unwahrscheinlichkeit.«

Jetzt nickte sie. »Das weiß ich alles. Weshalb halten wir uns damit auf?«

Er wies mit dem Finger auf die Erde. »Hier ist die letzte Stelle, wo es noch einmal – zum letzten Male! – gesagt wird. Noch können Sie›Nein‹ sagen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Daß ich hier stehe, heißt ›Ja‹ – –.«

Sein Gesicht wurde hart. »Immerhin, ich werde mich immer für Sie verantwortlich fühlen. Sie können hier noch ›Nein‹ sagen. Und dürfen dann unangefochten Ihres Weges ziehen.«

Ohne eine Spur von Ungeduld zu zeigen, erwiderte sie: »Ich mag es nicht, wenn ein Mann dasselbe zweimal sagt.«

»Dieses Selbe hat aber jetzt einen Schluß, den Sie noch nicht gehört haben. Wenn das Tor hinter uns liegt, haben Sie ›Ja‹ gesagt.« Seine Stimme wurde leise, aber um so eindringlicher. »Wer da drin steht – – hören Sie! – – wie wir keine Zeit zum Erbarmen haben, so hat er, wenn er brüchig wird, keine Zeit zur Reue. Er verschwindet lautlos und spurlos. ›Lautlos‹ und ›spurlos‹, das sind ein paar fürchterliche Wörter. Es ist, als wäre er nie gewesen. Man muß das durchdenken, um das Grauen kennenzulernen. Und wenn Ihnen jetzt ein Schauer hochsteigt – – –«

Sie ließ ihn nicht ausreden. »Heißt er so, wie er im Adreßbuch und im Funkverzeichnis steht?«

Er nickte. »Ferdinand Rainer Ringfeld.«

»Wie sieht er aus? Gesprochen haben Sie genug von ihm. Beschrieben haben Sie ihn nie. Wie alt ist er?«

»Das ist doch alles gleichgültig.«

»Gleichgültig ist es ganz und gar nicht. Aber ich werde das ja sehr bald sehen.« Sie wandte sich dem engen Fußweg zu. »Ich bin kein stehengebliebener Mann. – – Gehen wir!«

— — — — — — — —

Es gab da, wie wohl bei jedem Landhause, ein paar Stufen vor der Haustür. Es gab eine Diele und einen Ablegerraum für die Oberkleidung. Es gab künstlerischen Wandschmuck, und es gab eine mit Holzschnitzerei versehene Treppe in das Obergeschoß.

Die beiden Besucher legten ihre Oberkleidung ab. Als sie durch eine der in die Diele mündenden Türen in ein großes Zimmer getreten waren, stand Rainer Ringfeld auf und ging ihnen entgegen. Dr. rer. nat. Franz Kastner wies auf seine Begleiterin. »Da ist sie!«

Rainer Ringfeld begnügte sich mit einer Verbeugung. So hielt sie auch ihre zum Gruß bereite Hand still. Gewohnt, schnell zu sehen, wurde sie sich sofort darüber klar, daß er ganz anders aussah, als die vielen Bilder, die sie sich von ihm gemacht hatte. Die Augen beherrschten das Gesicht. Sie zeigten ein stärkeres Blau, als sie es je in einem Menschenantlitz erlebt hatte. Nur Unkundige hätten an Vergißmeinnicht oder Himmel gedacht. Es war das ganz tiefe Blau harten Damaszenerstahls; ohne Flimmern. Und darüber eine hohe, fast vierkantige Stirn. Das Gesicht war glattrasiert. Der etwas verkniffene Mund wurde von einem breiten Kinn getragen.

Er hatte sich wieder aufgerichtet und überragte seine beiden Besucher fast um einen halben Kopf. »Hast du die Streichhölzer mitgebracht?« wandte er sich an Dr. Kastner.

Kastner hatte seinen Rucksack mit ins Zimmer genommen. Er bückte sich, holte vier kleine Pakete heraus und legte sie auf den Tisch. »Martha Berndsen hat sie heute auf dem Herwege aus verschiedenen Läden geholt. Sie stammen aus vier verschiedenen Fabriken.«

Rainer Ringfeld warf einen Blick auf die Päckchen und drehte sein Gesicht dann wieder Martha Berndsen zu. »Wir sind ein geknechtetes Volk. Einige sagen: Verraten von andern oder von der ganzen verruchten Welt, einige sagen: Verraten von uns selbst. Uns geht das nichts an. Was ist, ist! – Unsere Augen sind nicht zum Weinen da. Unsere Hände nicht, daß wir sie in Zerknirschung falten. Wir kümmern uns auch nicht um die Leute, die von unabwendbarem Geschick sprechen; und daß nichts fällt, was nicht reif zum Fallen ist. – – Bei uns ist eine bestimmte Gesinnung unerläßlich. Wer nicht fühlt, daß er notwendig ist und überhaupt nur da ist für die andern, der lebt sein Leben umsonst. Und es ist nichts vertan, wenn er es verliert. Kein Mensch gewinnt an dem, was er nimmt, sondern nur an dem, was er gibt. Das ist der geistige Sinn alles Gewinnes. Auf dem Standpunkte steht hier alles. Und wenn Dr. Kastner sich sicher fühlte, Sie für uns gewinnen zu müssen, muß dieser Standpunkt der Ihre sein. Ganz Hingabe! Bis zum letzten Einsatz: dem Selbstopfer. Draußen tobt alles, wie es immer getobt hat. Es wird gekauft und verkauft; da freit man und läßt sich freien. Da tanzen die einen und heulen die andern.« Er trat ihr einen Schritt näher, und seine Stimme, die leiser wurde, klang wie vibrierender Stahl. »Sie sind bis hierher gelangt. Das Ziel kennen Sie. Unser Volk liegt in Ketten. Wenn man Ketten zerbricht, gibt das ein Klirren. Aber dieses Klirren ist nichts als das Präludium zum Schmieden von neuen Ketten; für andere. Zerbrechen soll unser Volk die Ketten nicht – – – wegschmelzen sollen sie von ihm. Wegschmelzen wie Eis vor der Sonne. Und eine tiefe Scham soll über die andern kommen. – – Sie können beim Anhören dieser kurzen Sätze leicht sagen: Ja – Sie wollen dabei sein. – Wir wollen aber niemand für uns begeistern. Keiner weiß, wann Begeisterung verfliegt. Der kalte Wille ist bei uns die Hauptsache. Und auf den Willen muß einer ebensowenig verzichten können, wie er auf seinen Leib verzichten kann, solange er noch leben darf. – – Es geht aber für jeden für uns – – hören Sie! – für jeden – um den ganzen Einsatz. Keiner von uns weiß, ob er mitläuft bis zum frohen Ende. Das sind Narren, die immer predigen, die Menschheit kämpfe gegen die Finsternis. Die Menschheit will Licht haben, aber sie bekämpft alles, was ihr Licht bringt. Licht ist der Menschheit immer nur unter schweren Opfern aufgedrungen worden. Und wer mit uns geht, muß damit rechnen, daß er auf dem Wege zur Sonne im Dunklen erlischt. Wenn seine Stunde kommt, muß er dazu unerschütterlich bereit sein. – – Dr. Kastner durfte Ihnen von unserm Ziel sprechen; von dem Weg durfte er nichts sagen; von den Mitteln wenig. – – Ich sage Ihnen, wenn in irgendeinem Winkel Ihres Innern der Trieb steckt, zu uns zu kommen, weil sie ›erleben‹ wollen, der heiße Durst nach ›Abenteuern‹ – – noch ist es Zeit, umzukehren. Dort ist die Tür! – Noch wissen Sie nichts!« Er schwieg und sah sie ernst an.

Sie antwortete nicht. Dr. Kastner war in den Hintergrund getreten. Die Arme über der Brust verschränkt, lehnte er sich an einen Bücherschrank. Sein Blick suchte ihre Augen. Die waren aber von den Lidern verdeckt. Mit unbewegten Mienen stand sie wie eine Statue. Es sah aus, als forsche sie in ihrem Innern. Die Arme hingen lose herab. Der Kopf war ein wenig zur Seite geneigt.

Als das Schweigen mehrere Minuten gedauert hatte, ging Rainer Ringfeld bei ihr vorbei nach der Tür, durch die sie hereingetreten waren, öffnete sie weit und blieb einen Augenblick dort stehen. Dann schritt er wieder an seinen Platz.

Martha Berndsen wandte sich um, ging zur Tür und schloß sie wieder.

»Also sind Sie bereit?« klang Ringfelds Frage durch die Stille.

Ihr Kopf hob sich. »Nicht, wenn ein Feind im eignen Lager steht.« Die Worte kamen klar und laut über ihre Lippen.

Bei beiden Männern furchten sich die Stirnen.

»Was heißt das!?« fragte Rainer Ringfeld. »Wie heißt der Feind?«

»Rainer Ringfeld.«

»Ich bin nicht Ihr Feind.«

Sie sah ihn ernst und ruhig an. »Ich gehöre zum andern Geschlecht.«

Er nickte. »Ich habe den längsten Widerstand geleistet, die Last auf Ihre Schultern zu legen. Deshalb – – wenn Sie bei unsrer Aufgabe stranden, wird niemand ein tieferes Bedauern haben als ich – –.«

»Und niemand eine größere Genugtuung« sagte sie mit einem leisem Lächeln. Da trat er zu ihr und reichte ihr die Hand. Auch durch sein Gesicht zog ein Lächeln. »Es war ehrlich gesprochen. Und tapfer war es auch. Aber – – es war falsch!«

Sie schlug in seine Hand ein.

— — — — — — — —

Zehn Minuten später standen sie in einem andern Raum. Martha Berndsen holte tief Atem. Es war wie eine Berückung über sie gekommen. Als Zimmer in einem Landhaus war der Raum sehr groß. Er verblüffte durch seine Ausstattung. Er besaß keine Fenster. Die Wände schimmerten in einem matten Glanze. Man konnte meinen, sie wären mit Perlmutter bedeckt. Der ganze Raum schwamm in einem blassen, grünen Licht; als sei er unter Wasser gesetzt und die Sonne schiene von oben in ihn hinein. Auf den Tischen lagen und standen Instrumente und Glasröhren; und es gab viel aufrechtstehende Platten, die nach den Knöpfen und Hebeln zu schließen, Schaltwerke sein mochten.

Rainer Ringfeld griff nach den Zündholzpaketen, entnahm jedem eine Schachtel und prüfte Beschaffenheit und Firma. Franz Kastner half ihm dabei. Martha Berndsen sah zu.

Ringfeld bestimmte zwei Schachteln dazu, abgebrannt und zwei dazu, unbrauchbar gemacht zu werden. Martha Berndsen sah, wie Kastner an einen Tisch trat, auf dem ein blaugrauer, viereckiger, deckelloser Kasten stand. Die Vorderwand des Kastens ließ er herunterklappen, und dann wurde eine der Schachteln auf den Boden des Kastens gelegt. Ringfeld ergriff einen Apparat, der wie eine kleine photographische Kamera aussah. An der Stelle der Linse ragte ein kurzes Rohr aus ihm hervor, das Ähnlichkeit mit dem Laufe eines Revolvers hatte. Er gab ihn Martha Berndsen in die Hand, zeigte ihr die Visiereinrichtung und den Hebel zum Abzug.

»Entzünden Sie die Schachtel!«

Sie zielte und drückte ab. Im gleichen Augenblick flammten die Zündhölzer auf und schlugen, mit der Schachtel tanzend, hin und her.

»Das zweite ebenso!« befahl er.

Wieder ein Druck. Wieder das gleiche Ergebnis.

»Die beiden andern wollen wir unentzündbar machen.« Er zeigte ihr einen zweiten Hebel, der den ersten festlegte. Nachdem sie abgedrückt hatte, mußte sie den größten Teil der Streichhölzer versuchen. Wie verschieden sie sie auch an den Zündflächen der Schachteln rieb, keins der Hölzchen kam zum Brennen.

»Verstehen Sie das?« fragte Ringfeld. »Es gehört zum Vorspiel.«

Sie nickte. Zwei Jahre Studiums in Physik und Chemie und ein Semester energischen Unterrichtes bei Dr. Kastner in der Strahlenlehre gaben ihr sofort den Einblick in die Wichtigkeit des Experiments. Es kam aber keine Frage nach der Art der Strahlen und nach der Reichweite über ihre Lippen.

Ringfeld drückte auf einen Knopf. Wenige Sekunden später fühlte sie, daß jemand in das Zimmer getreten war. Sie wandte sich um. An einer Wand stand ein Mann; an einer Stelle, an der keine Tür zu erkennen war. Er war untersetzt und hatte, was das Mienenspiel anbelangt, ein gänzlich ausdrucksloses Gesicht. Er trug ein großes Kaninchen auf dem Arm. Seine Augen waren wasserblau und steckten hinter geschlitzten Lidern. Nach einem kurzen Blicke war sie überzeugt, daß diese Augen nicht von Natur durch die Lider verhängt waren. Wie kam der Mann hierher?! – Und diese Augen?! – – Es kam sie ein Frieren an.

»Das ist unser allergetreustes Faktotum, Richard Lembke«, sagte Ringfeld zu Martha Berndsen. »Nehmen Sie ihm das Kaninchen ab und bringen Sie es in den Kasten!«

Bei dem Befehl fühlte sie ein schwaches Flimmern in den Augen. Er sah, wie sie die Zähne zusammenbiß und, zu Lembke tretend, diesem das Tier abnahm. Sie trug es an den Tisch und setzte es in den Kasten. Das Kaninchen äugte mit den großen Lichtern an den schwer herabhängenden Löffeln vorbei und fing an, im Kasten herumzuschnuppern, blieb aber ruhig auf seinem Platz sitzen. Martha Berndsen trat wieder zurück.

»Franz, darf ich bitten?«

Dr. Kastner griff nach einem Apparat, der, kleiner als der vorige, auch erheblich handlicher war. Er zeigte wieder ein Mündungsrohr, ließ sich aber leicht in der Hand verbergen.

Rainer Ringfeld ging auf und nieder. Zuletzt stellte er sich in einiger Entfernung so auf, daß er diese neue Kameradin ganz genau beobachten konnte, ohne sich in ihrem Gesichtskreise zu befinden.

Ihr Gesicht schien einen Augenblick wie überschattet. Die Augen glitten zwischen Dr. Kastner und dem in dem Kasten hockenden Kaninchen hin und her. Nicht im Zweifel über das, was kommen würde, hatte sie doch ein bestimmtes leises Grauen vor einer »Hinrichtung« zu überwinden.

Als sie sah, wie Kastner den Apparat hob und auf das Tier zielte, starrten ihre Augen nach dem Kasten. Heimlich krampfte sie die Hände auf dem Rücken. Ringfeld, der sie unausgesetzt mit den Blicken prüfte, erkannte das daran, wie sich ihre Schultern bogen.

Kastner drückte ab. Man hörte nicht das Geräusch des Abdrückens; man erlebte keinen Blitzstrahl; nicht einmal einen hellen Schein. Es war wirklich, als wenn nichts passiert war.

Kastner hatte den kleinen Apparat sinken lasten. »Lautlos und spurlos!« sagte er leise. Er ließ die Worte in den Raum hinausklingen. Vielleicht waren sie nicht an einen einzelnen gerichtet, aber Martha Berndsen nahm sie auf, als sollten sie ihr allein gelten und als wären sie von allen drei Anwesenden in märchenhaft verkleideter Mahnung zu ihr gesprochen worden.

Sie starrte immer noch nach dem Kasten hin. Er war vollkommen leer.

Endlich riß sie die Augen los von diesem ihre Seele und Rückgrat gleichermaßen durchschauernden Anblick und sah zu dem Manne hinüber, von dem sie schon seit so langer Zeit gehört und den sie heute zum ersten Male gesehen hatte. Ein Blick in sein Gesicht genügte ihr, um zu wissen, daß er sich um das Experiment gar nicht gekümmert, daß er immer nur sie beobachtet hatte.

Er richtete jetzt die ersten Worte an sie. »Fangen Sie die Asche auf und wiegen Sie sie! Dort steht eine Schale.«

Mechanisch holte sie die Wage und kippte den Kasten, um ihn über eine Eckspitze zu schütteln. Es war vergeblich. Nicht einmal eine feine Staubschicht war die Ernte. Sie sah sich fragend um.

Rainer Ringfeld trat dicht an sie heran. »Wissen Sie, was das war?« fragte er mit halblauter Stimme.

Ohne von dem Blick in seine Augen abzulassen, sann sie ein Weilchen nach. Zu bekennen, daß es hätte eine Warnung sein sollen, dünkte ihr zu schwächlich. Nach einer Weile, deren Schweigen von keinem unterbrochen wurde, sagte sie leise: »Es war ein Symbol.«

Wie zur Bejahung ließ er die Lider sinken. »Ich freue mich, daß Sie dieses eine, einzig richtige Wort gefunden haben. Hätten Sie gesagt: ›Es war eine Drohung!‹ dann hätte ich Dr. Kastner bedauern müssen. Denn dann wären Sie kleiner gewesen, als er Sie mir geschildert hat.« Er machte eine Pause. »Ich weiß, Sie haben zwei Brüder verloren.«

»Beide Brüder. – – – Und den Verlobten.«

»Und den Verlobten – –« wiederholte er langsam. Dann richtete er sich ein wenig auf. »Für mich ist die Frau die revolutionäre Erscheinung schlechthin. Weil sie von ihren Gefühlen abhängig ist. – – Greifen Sie nach uns, weil wir Ihnen der Weg zur Rache sein könnten?«

Sie bog sich zurück und lächelte. In ihrer Haltung lag eine Abwehr von ausnahmsweiser Kraft. Er empfand ihr Lächeln als etwas sehr Starkes. Ihre ruhigen Worte waren von einer leuchtenden Erhabenheit. »– – ›Ja‹ oder ›Nein‹ – – um das geht es hier nicht. Schicksale, wie meins, wird es anderswo auch geben. Bei uns und draußen bei den andern. Vielleicht bei vielen andern. Deshalb weiß ich von keiner Rache. Aber ich schleppe die Erinnerung mit mir. Ich weiß von dem Elend. Von dem Elend in aller Welt.«

— — — — — — — —

Rainer Ringfeld war siebenundvierzig Jahre alt. Er war verheiratet gewesen. Das war aber schon lange her. Nach drei Jahren glücklicher Ehe war seine Frau gestorben, ohne ihm Kinder geschenkt zu haben. Als Rittmeister in den Weltkrieg gezogen, war er als Major heimgekehrt. Und hatte sich dann auf das Studium geworfen. Frauen von allerlei Art hatten seinen Lebensweg gekreuzt, und viele hatten versucht, diesen Mann, der ganz und gar Mann war, in manchmal keuschen, verhaltenen, manchmal heißen Trieben zu gewinnen. So nahe er auch der einen oder der andern gekommen war, keiner war es gelungen, seine Straße umzubiegen.

Seines Freundes Kastner unermüdliche Vorstellungen, daß für das neue große Unternehmen, von dessen Pulsschlägen die Außenwelt noch nicht die leiseste Ahnung hatte, auch die Hilfe der Frauenwelt durchaus gewonnen werden müsse, hatten ihn schließlich bewogen, in den engen Kreis diese eine aufzunehmen, von der Kastner mit immer wachsender Begeisterung gesprochen hatte. Ringfeld war nicht umsonst bis ins fünfte Jahrzehnt seines Lebens gestiegen. Er fand sich nur schwer mit einer solchen Begeisterung eines Mannes für eine Frau ab, ohne sich von dem Gefühl freimachen zu können, daß das Fundament der Begeisterung Liebe sein müßte. Deshalb hatte er schon manchesmal den Freund mitten in seiner Rede unterbrochen. »Nun also – – du bist eben entflammt für dieses Mädchen – –.«

Kastner aber hatte den Kopf hin und hergewiegt. »Ich habe dir doch schon gesagt, ich war manchmal drauf und dran. Es hat sogar Stunden gegeben, wo ich in dem Mädel nichts sah, als das Weib. Aber zuletzt – – wenn man so etwas sagen will, muß man sie doch auch dabei ansehen! Und dann erfrieren dir die Worte in der Kehle.«

»Kalt, – – also vollkommen kalt?«

»Sicher nicht. Sie hat ja einen Verlobten gehabt.«

»Das sagt nichts. Namentlich bei Frauen. Das kann Sache schöner Zweckmäßigkeit sein. Das Leben ist ja auch nicht immer gefühlvoll.«

»Zweckmäßigkeit, wie du es meinst – – bei ihr nicht. Ich weiß es von ihr. Er ist im Kriege geblieben.«

»Wo?«

»Westgrenze. Er flog eines Tages zerfetzt in die Luft. Nichts, gar nichts ist von ihm übriggeblieben. Sie hat mit mir darüber gesprochen. Ich erinnere mich noch der Worte, mit denen sie schloß: ›Und so ruht er in dem Mausoleum, das kein Portal und keine Fenster braucht‹ Es ist ja schon gut ein halbes Dutzend Jahre her. Sie ist jetzt sechsundzwanzig. Sie erschlägt jeden Anlauf zu einem Näherkommen. Dann klingt immer leise das Lied von dem Mausoleum an. Und sie weiß merkwürdig schnell und merkwürdig leise immer eine neue Melodie mit dem alten Text zu finden. – – Das gibt denn doch so eine eisige ungünstige Atmosphäre – – – –«

– – – Auch einer anderen Unterredung entsann er sich. Kastner hatte gesagt: »Das ist ein ganz seltsames Mädel. Mit dem, was sie kann, und mit ihrem ganzen Charakter gehört sie hierher. Aber das andere! – das andere! – –.«

»Was für anderes?« hatte er gefragt.

»Freilich bei einer der blödsinnigen modernen Schönheitskonkurrenzen würde sie unterliegen. Sie hat weder das lackierte Gesicht, noch das alberne Einheitslächeln. Reklame für Pebeco, weißt du, und Halsmassage. Aber sie ist ein Gesicht! Mir war manchmal, wenn ich ihr gegenübersaß, als wenn ich eine Erscheinung vor mir hätte –.«

»Erscheinung? – – Franz, du redest Unsinn. – Erscheinungen sind wir alle.«

»Nein, mein Junge! Manche von uns sind nur Fleischklöße. Sieh mal, du hast Bedenken gegen sie, weil sie unsere Sache gefährden könnte. Mich hat anderes gequält. – Ab und zu – – meine ich. –«

»Nun also – – was denn?«

»Ob sie nicht Personen bei uns gefährden könnte –.«

Da hatte er denn doch lachen müssen. »Richard Lembke?«

»Verschandle sie nicht!«

»Oder Admiral Ohlep?«

»Unsinn!«

»Oder Professor Grantow?«

»Weshalb nimmst du dich aus?« Der Freund hatte ihn erstaunt angeschaut. Ja, aber konnte das denn anders als mit einem überlegenen Lächeln abgemacht werden? – »Also – Franz – – siebenundvierzig Jahre – – die machen es natürlich nicht – – aber meine ganze Willensrichtung, die macht es. Und – – ach, laß uns doch von so etwas überhaupt nicht sprechen. Wir haben ja keine Zeit, uns damit aufzuhalten. Für meinen Lebensweg gehört das Gebiet der Vergangenheit an.«

»Rainer – – sie hat sehr viel Sieghaftes in ihrer Erscheinung. Und sehr viel Sieghaftes in ihrem Wesen.«

»Das kann ich natürlich vorher nicht beurteilen. Aber du bist verliebt.« Das war dann häufig der Schluß gewesen, trotzdem Kastner es in tiefem Ernst abgestritten hatte.

Heute nun war sie ihm zugeführt worden. In einer Beziehung hatte Kastner recht: Sie war wirklich ein Gesicht. Sie schien ein geschlossenes Ganzes. Und vor allem: Keine Puppe – – und keins von den abscheulichen Mannweibern. – – Und was das andere Gebiet anbelangte, die »Sieghaftigkeit« – so begrüßte er das. Er mußte lächeln. Es würde für den Weg der großen Sache wohl auch mal nötig sein, einen Mann aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wenn das das Ziel näher rücken konnte, dann würde er ihr zur rechten Zeit die Aufgabe stellen. So viele Möglichkeiten ihrer Verwendung Kastner mit ihm auch besprochen hatte, diese eine war niemals erwähnt worden. Und gerade sie konnte sehr wichtig sein. Freilich mußte sie selber kalt dabei bleiben. Aber da war ja das Mausoleum und der Verlobte. Es mußte nur dafür gesorgt werden, daß die Lebenden nicht das Recht behielten. Zuletzt: Was waren Menschen und Mittel im Dienst der großen Idee, oder des »Großen Spiels«, wie man es unter den Eingeweihten nannte. Nach seinem Urteil über die Frauen war es ihm sicher, daß man bei gründlichem Suchen bald auf solche stoßen würde, die alle Künste des Entflammens spielen lassen würden, einem Ziele zuliebe, das ihnen höher stand, als ein betörter Mann. Die größte Lehrmeisterin der Menschheit, die Geschichte, wußte im Leben der Völker, der Staaten, der Regierungen genug von Frauen zu erzählen, die, ohne je die Bühne zu betreten, mit stiller Kraft und mit bewußt spielenden Händen in den Kulissen umhergegeistert hatten. Er verhehlte sich nicht, daß der Marsch der großen Idee nach ihrem erdumspannenden Ziele sicherlich auch auf Männer stoßen würde, die nur durch eine Frau aufzuschließen waren. Und Kastner hatte Recht: Sie war wirklich ein Weib, an dem man nicht vorbeisehen konnte. Das war nicht, wie wenn man irgendein »Etwas« ansah, wenn es auch ein Mensch war, – nur weil man die Augen nicht geschlossen hielt. Ihr war bei einer schönen Ungezwungenheit der Haltung etwas zu eigen, was den Ichmenschen, die Persönlichkeit ins Leuchten brachte. Ihm dämmerten die Möglichkeiten auf, bei denen sie ein nützliches Instrument für seine große Sache sein könnte. Und Instrumente wären sie ja zuletzt alle. Er selbst auch.

— — — — — — — —

»Lembke!«

Lembke stand sofort stramm. Er war wirklich keine Schönheit. Das gaben nicht nur alle, die ihn kannten, das gab er selber zu. Aber die andern sagten doch noch etwas mehr von ihm. »Was er an Schönheit und sonstigen bestechenden Äußerlichkeiten vermissen ließ, ersetzt er durch Charakter.« Er war unverbrüchlich verschwiegen und bis in die letzte Faser treu.

»Gehen Sie hinüber zum Herrn Admiral Ohlep. Wir würden in zehn Minuten bei ihm sein.«

Lembke verschwand. Dieses Mal aber sah Martha Berndsen, wie er sich bückte, einen Teil der Fußbodenleiste erfaßte und mit ihr einen mannsbreiten Streifen der schimmernden Wand hochschob, um ihn, nachdem er selber in nachtschwarze Finsternis getreten war, lautlos wieder sinken zu lassen.

So ruhig sie äußerlich erschien, sie hielt sich doch nur mit aller Mühe in der Gewalt. Gewiß war sie von Kastner vorbereitet. Aber was sie bis zu diesem Augenblicke hier erlebt hatte, ging über jede Erwartung hinaus. Es war aber nicht das Experiment mit den Streichhölzern; es war nicht das spurlose Verdampfen eines Lebewesens – – diesmal war es ja nur ein Tier – –; es war auch nicht das Geheimnisvolle in Licht und Raum, das sie in mühsam zurückgedrängte Erregung versetzte, – es war dieser Mann. Dieser Rainer Ringfeld. Er ging hin und her. Er sprach; er stand still; er schwieg. Was er auch tat, immer kam er ihr vor wie eine Statue, die ein Leuchten ausstrahlte. Er strahlte Willen und griffbereite Kraft aus. Die Sache dieses Mannes war eine gute. Das hatte sie gewußt, ehe sie hierher kam. Aber jetzt wußte sie auch, daß die Sache dieses Mannes immer siegen mußte. Und wenn schon einer auf der Strecke bleiben mußte, – – und wenn schon sie es sein müßte, – – wie hatte er gesagt? – Auf dem Wege zur Sonne im Dunkeln sterben – – dann möge das Schicksal ihr gnädig sein: Er sollte dann wenigstens dabeistehen und ihr einen letzten Gruß aus diesen Augen schenken. Mochte er dann weiterziehen, der Sonne entgegen! – – – – Wie ein gewaltiges Wogen war es in sie hineingestürmt; urplötzlich, unwiderstehlich.

In blitzartiger Erkenntnis war sie sich aber auch sofort bewußt, daß sie das alles tief in sich verschließen mußte. Denn wenn er ihr auch in schöner mannhafter Freundlichkeit und mit einer gewinnenden Miene die Hände gereicht hatte, er war doch ein Feind; er war voll sorgenden Mißtrauens. Ihren Mund hatte sie zum Schweigen verurteilt; aber auf ihre vielen stillen Fragen hatten ihr ihre Augen Antwort gegeben.

Über diesem allem hatte ihr der heutige Tag schon jetzt ein Höchstes gebracht: Einer Sache unter diesem Manne dienen, das würde lohnendes Leben sein.

 

Admiral Ohlep saß in dem Gartenhause vor einem breiten Tisch, auf dem eine Anzahl von Land- und Seekarten lagen. Er hatte bis jetzt in ihnen studiert. Als er nun die Augen erhob, sah er drüben aus der Hinteren Tür des Hauses Ringfeld und Kastner heraustreten. Zwischen ihnen schritt das »Mädelchen«, wie er Martha Berndsen in den Verhandlungen über ihre Aufnahmefähigkeit immer genannt hatte, ohne sie je gesehen zu haben. Es lag eine Art Leutseligkeit in der Bezeichnung. Das Für und Wider war in den kritischen Unterhaltungen mit großer Gründlichkeit, manchmal auch mit nur mühsam unterdrücktem Starrsinn gegeneinander abgewogen worden. Grundsätzlich hatte er auf Kastners Seite gestanden. Er hätte sich vielleicht selbst am Suchen beteiligt, aber so ziemlich jede seiner Stunden war durch Arbeit belastet gewesen. Und was ihm in gesellschaftlichen Kreisen über den Weg lief, hatte zum Nähertreten nicht verlockt. Überwiegend waren diese Frauen und Mädels alle eingegittert in verlogene oder echte Zimperlichkeit. Von der verlogenen war überhaupt nicht zu reden; und die echte war bei dem Wege, der hier gegangen werden mußte, ganz und gar zu verwerfen. Es gab nichts Lebendiges und nichts Totes, vor dem man eine Gänsehaut bekommen durfte. Wenn er aber das eine oder das andere Mal in einem Frauengesicht einen glühenden Durst hatte aufflammen sehen – – und das war immer nur am Schlusse einer vorsichtig andeutenden Unterhaltung gewesen – – dann hatte er doch nur den fiebernden Griff nach »Leben! – Buntem Leben!« und nach ganz ungebändigter Freiheit! erkennen können. – Niemals den Trieb, die tiefe Sehnsucht nach dem Dienen.

Nun war ja ein Exemplar aus dem wundervollen Schmetterlingskasten gefunden worden.

Er musterte Martha Berndsen von weitem. Während andere nach dem Gesicht, der Haltung, den Polizeipapieren und den wissenschaftlichen Zeugnissen sahen, war ihm das Wichtigste an einem Menschen der Gang. Auf nichts gab er so sehr acht als darauf. Er behauptete, sich noch nie in einem Menschen getäuscht zu haben. Wer einen Fuß einwärts, den andern auswärts setzte, war treu. Aber die Treue, obwohl sehr brauchbar, war verächtlich, weil sie hündisch war. Manchmal hatte er Lembke dabei abgefaßt, wie er so ging. Wer die Hüften nach vorn schob, ehe das Bein ins Pendeln kam, das war eine aussichtslose Kreatur. Er machte im Leben immer den zweiten Schritt, ehe er den ersten getan hatte. Ein solches Wurm war Leopold von Österreich gewesen. Das hatte der alte Fritz ja auch sofort herausgehabt. Der hatte sich auf diese Geheimwissenschaft verstanden; auch mal einen braven ausgedienten Unteroffizier zum Schultempel hinausgejagt, noch ehe die königliche Schulvisitation begonnen hatte. »Er geht verquer! Scher er sich!« Dem Manne, der schon bei Leuthen und Kunersdorf mitgewesen war, war er dankbar; aber die lieben Rangen, die Zukunft seines Volkes, wollte er ihm doch nicht anvertrauen. – – Wer beim Gehen die Schultern schwenkte – mehr oder weniger – der war mehr oder weniger unzuverlässig. Der konnte morgen ein andrer sein, als er heute war; und heute dem, was er gestern war, ins Gesicht schlagen. – Es war ihm auch ein Gesetz, daß ein Mensch seinen Gang nicht ändern könne; es sei denn, er habe seinen Charakter geändert.

Was also war mit diesem Mädelchen los!? Sie stand da drüben gerade still. Erstmal die Figur! – Die war ausgezeichnet. Und Proportionen? Richtiges Verhältnis zwischen Ober- und Untergestell. Nicht, wie die letzten Zeiten es gebracht hatten, lange Beine und darüber – – das war ja der Ausdruck dekadenter Kritiker – – einen »knabenhaften« Körper. Erstaunlich genug, daß die Weiber diesen Burschen nicht deswegen an den Hals fuhren. Als wenn ein Weib ein Junge wäre oder auch nur sein wollte. – – Aha! Jetzt setzten die drüben sich in Bewegung! Die Gangart? – Füße tadellos im Aufsetzen und Vorrücken. Hüften? – mitschwingend. Ellbogen? – Lose. Schultern; – – Donnerblix, sie schwenkte die Schultern. Unten ging sie. Oben schraubte sie sich durch die Luft. Nur ganz wenig! Mochten nur ein paar Umdrehungen in der Minute sein, aber es war doch da! – Und zwar gegenständig. Wenn der rechte Fuß vortrat, ging die linke Schulter vor. Also kein Paßgang, – wie beim Kamel. – Sehr elastisch übrigens und gewissermaßen elegant. Es sah bestechend aus; aber nicht für Kenner. Es gehörte was dazu, das Schulterschwenken zu entdecken. Gut, daß man Augen hatte. Aber man hatte ja auch Erfahrung. – – Da war nun so lange ein Kampf um die Auslese, um die garantierte Fehlerlosigkeit gefochten worden und nun, da die Entscheidung gefallen war, hatte das Bild doch einen Klecks. Wenn es nur ein Schönheitsfehler gewesen wäre, aber – – – nun, man würde ja sehen; und aufpassen würde man auch.

 

Martha Berndsen hatte eine gewisse, aber immerhin natürliche Fremdheit überwunden. Da sie ahnungslos davon war, daß der stramme, untersetzte Offizier, der sich bei ihrem Eintritte von seinem Stuhle erhob, sie behandelt hatte, wie man ein Pferd behandelt, ehe man es kauft oder zum heißen Kampf auf dem grünen Rasen losläßt, reichte sie ihm bei der Vorstellung mit anmutiger Freiheit die Hand. Es war ein zu großer Frohsinn über sie gekommen, als daß sie nicht jedem, der zum »Kreise« gehörte, mit wirklicher Herzlichkeit entgegengetreten wäre. Admiral Ohlep sah sehr mannhaft aus; und sogar ernst. Aber in seinen klugen, braunen Augen lag ein freundlicher Schein.

»Nun, da haben wir Sie ja endlich.«

Sie nickte. »Ganz und gar, Herr Admiral.«

»Also: Herr – gibt es hier nicht. Und Admiral auch nicht. Ist sowieso gewesen. Ich heiße Ohlep. Die andern Faxen lassen wir weg. Der Mann dort heißt Kastner, wie Sie längst wissen. Unser Großer macht eine Ausnahme. Er heißt Rainer Ringfeld. Er hat zwei Namen. – – – – Französisch?«

»Ja« sagte sie, sich sofort umstellend.

»Englisch?«

»Auch.«

»Spanisch?«

»Das lerne ich gerade. Aber ein bißchen unterhalten kann ich mich darin auch schon.«

»Haben Sie eine Armbanduhr?«

Sie hielt ihm das linke Handgelenk hin. Ringfeld war an einen Wandschrank getreten. Der Schrank sah leicht und gefällig aus; wie es sich in einem freundlichen Gartenhause schickte. Aber sie erstaunte, als sie die geöffneten Türen sah. Sie waren faustdick und von Stahl; wie die Wände, die der Schrank von innen sehen ließ.

Ohlep nestelte an ihrem Unterarm und löste die Uhr ab. »Stecken Sie sie dahin, wo Sie Ihr Testament bewahren wollen. Sie bekommen eine andere.«

Rainer Ringfeld kam heran und übergab ihr diese neue Uhr. »Sehen Sie her«, sagte er, »eine Uhr ist es auch. Aber nur von oben. Hier ist die Feder.« Er ließ sie schnappen und legte damit ein kleines Gestänge bloß, das er aufrichtete. »Das ist der Fernsprecher und der Fernseher.« Er wies ihr das feingezimmerte Gefüge. »Die Reichweite geht um die halbe Erde; oder, was hier dasselbe ist, um die ganze. Denn wenn der Weg länger wäre, als der halbe Erdkreis, dann ist die andere Hälfte ja kleiner. Und die Verbindung, die den ausgestrahlten Wellen begegnet, andersherum kürzer. Hier, diese Scheibe wird hochgeklappt. Man kann es nicht erkennen, daß sie mikroskopisch fein schraffiert ist. Auf dieser kleinen Scheibe erscheint jedesmal das Bild dessen, mit dem Sie sprechen. Sie müssen dazu vorher auf diesen roten Stift drücken. Und hier, der kleine Hebel, ist die Gegenwehr. Wenn Sie den mit dem weißen Strich querstellen, bekommt der andere Ihr Gesicht nicht zu sehen. Hier diese kleine Elfenbeinplatte mit der Stahlnadel ist die Hauptsache. Sehen Sie durch die Lupe. Was sehen Sie da?«

Sie beugte sich nieder und brachte ihr Auge dicht an das Glas. »Kreuze und Striche und Nullen.«

»Das sind die bisherigen Teilnehmer. Die Zeichen und die dazugehörenden Namen müssen Sie auswendig lernen; – – wie Vokabeln.«

»Im Schlafe müssen Sie sie hersagen können. Aber auch dann noch nur, wenn Ihnen keiner Ihren Traum ablauschen kann« warf Ohlep ein.

Rainer Ringfeld fragte sie: »Haben Sie alles begriffen?«

Sie antwortete nicht sogleich, sondern besah sich den Apparat von allen Seiten und bastelte an ihm herum. Sie klappte ihn ganz zu, so daß er wieder das Aussehen einer harmlosen Armbanduhr hatte und legte ihn dann wieder auseinander. »Ja!« sagte sie, aufschauend und mit sachlichem Ernst im Gesicht.

»Dann machen wir die Probe« erwiderte Rainer Ringfeld. »Nicht mit Ihnen, sondern für Sie. Jeder Apparat hat oben sein Zeichen. Ihrer hier, sehen Sie, ist auf Strich – Punkt – Strich eingestellt. Das ist von jetzt ab Ihre Marke.«

Er nahm aus Kastners Händen das Verzeichnis, das dieser aus dem Schranke geholt hatte. »Wir werden jetzt mit Joseph Simmern sprechen. Er ist Chefredakteur in Wien. Er arbeitet auf Null – Punkt – Strich. Ich werde ihn heranholen und ihn Ihnen vorstellen. Prägen Sie sich das Gesicht ein, wie er es mit Ihnen auch tun wird. Die Bilder sind ja nicht sehr groß, werden aber sehr deutlich.« Er schob an ihrem Apparat. »So, nun können Sie mithören. Sein Bild können Sie sehen, aber bei ihm erscheint jetzt nur meins. Für zwei Bilder hat die kleine Platte nicht genügend Platz. Der Sprechende ist zu nah. Deswegen steht der Hemmstrich bei Ihnen noch quer.« Er setzte dann seine eigene Uhr mit wenigen Griffen in Bereitstellung.

Nach kurzer Zeit erschien ein Männerkopf auf den beiden Scheiben. Martha Berndsen sah dem verblüffend schnellen Auftauchen zu. Ihr war, als ob sich ihre Augen an dem Gesicht festsaugen sollten. Es war voller Leben. Es bewegte sich. Die Mienen spielten. Die Augenbrauen zogen sich hoch; die Lider klappten auf und nieder.

»Was soll ich, Rainer Ringfeld?« hörte sie den andern fragen. Sie sah seine Lippen sich bewegen und das Gespannte in seinem Gesicht. Es war viel mehr als auf der Leinewand im Kino. Es war hier viel, viel unmittelbarer am Lebendigen.

»Mein lieber Simmern, ich möchte dir einen neuen Kameraden verstellen.«

»Aber doch her damit!« lachte der andere. »Du hast dir einen schönen Moment ausgesucht. Es ist gerade Pause. Ich hocke bei Frau Generalkonsul Charisius. Nachmittagstee mit Brötchen und flachgestrichener Ästhetik. Aber es liegt über allem dem Quatsch viel zitternde Erwartung in der Luft. Jeder meint, es muß bald anders werden. Es muß doch was kommen. So kann's doch nicht bleiben. Natürlich ist alles dumpf. Keiner weiß, was kommen wird. – – Inge Norda sang. Ob ich das Land kenne, in dem das Maultier nach dem Kompaß schreit. – – Da bekam ich deine Stiche. Sofort hinaus. Und bin jetzt im Park. Also – los! Wer ist der Neue? Ist er da bei Euch in der Schmiede?«

»Kein ›Er‹, Simmern; – – kein Mann!«

Martha Berndsen sah, wie über das Gesicht ein großes Staunen flog. Es wurde aber fast unvermittelt durch eine große Freude abgelöst. »Hat das Weibliche doch gesiegt? – Also eine Frau oder ein Mädel! – Ist das die, um die es schon so lange geht? Also – endlich! – Her damit!«

»Sie heißt Mar – – tha Bernd – – sen. Und arbeitet auf Strich – Punkt – Strich. Hast du?«

Simmern wiederholte. »Ist bei mir eingemauert. Schalte nun mal endlich um! Du kannst ja am Mithörer bleiben. Damit ich dieses Wunder nun wirklich zu sehen bekomme!«

Ein kurzer Blick Ringfelds glitt zu Martha Berndsen hinüber. Er war von einem Lächeln begleitet. Sie konnte nicht verhindern, daß ihr bei dem Worte »Wunder« eine Röte ins Gesicht schoß; zum ersten Male in dieser Gemeinschaft. Für Rainer Ringfeld waren Frauen, die überhaupt nicht rot werden konnten, außerordentlich unsympathisch. Für ihn war mit diesem Erröten das Weibliche an ihr kundgetan. Er war zufriedener damit als sie.

Und nun schaltete er schnell seinen und ihren Hebel um. Simmerns Gesicht glitt in eine gesellschaftliche Form; dann aber nahm es den großäugigen Ausdruck des Staunens an. Er nickte ihr zu. Seine Sprache war ein wenig schwingend. »Ich begrüße Sie bei uns, Mar – – tha Bernd – – sen. Stimmt doch? Schauen wir uns unsre Gesichter an. Genau. Wir müssen uns aber erst recht unsre Sprache merken. Das Gesicht kann man unkenntlich machen. Manchmal mag es sogar notwendig sein. Aber die Sprache ist jedem erb- und eigentümlich. Nicht nur Klangfarbe; auch, in welcher Oktave man spricht. Da gibt's nichts zu verstellen. Selbst in einem Dutzend Sprachen nicht. Also – – Martha Berndsen, reden Sie mal ein paar Töne!«

Das war doch wirklich schwer. Die banalen Phrasen lagen ihr nicht. »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.« – – »Hoffentlich ist Ihr Befinden – – usw. –«

Sie erwiderte sein freundliches Lächeln. Nach einigem Besinnen sagte sie: »Ich bin erst seit Stunden hier. Ich war Jahre heimatlos. Ich fühle, daß mir jetzt eine Heimat entgegenkommt. Was alles ich noch wissen werde, weiß ich nach den paar Stunden nicht. Aber so viel weiß ich, wir haben den Raum überbrückt, ganz anders, als es bisher die Menschheit wußte. Was ich hier gesehen habe, macht mich glauben, daß wir auch die Zeit überbrücken können. Mir scheint, wir haben ein Jahrhundert der Entwicklung übersprungen. Wenn einer immerhin betäubt ist von dem, was auf ihn einstürmte, hat er nicht viel Worte. Also erlassen Sie mir das andere. Ich finde keinen Telegrammstil für Dinge, die die Menschheit umfassen. Alles, was ich sagen kann, ist: ›Und Friede auf Erden!‹ – –«

Ihre Sätze, die aus einer leidenschaftlichen Tiefe stiegen, waren langsam gesprochen worden und klangen wie Sprüche. Wenn er nicht in ihr Gesicht gesehen hätte, hätte es ihm scheinen können, als wenn einer in versunkener Haltung Verse aus den Psalmen vorläse. So aber leuchtete aus ihren Augen ein starkes Licht in ihre Worte hinein.

Je weiter sie sprach, eine um so tiefere Andacht war in sein Gesicht getreten. Das Lächeln der Konvention kam auch nicht wieder. Und der letzte Schein von Freundlichkeit war dem Ernst gewichen. Sie meinte an seiner Kopfhaltung und an dem Schwunge seiner Lippen zu spüren, daß er, als sie schloß, tief Atem holte.

Nach einer kleinen Pause sagte er: »So habe ich doch das Wunder gesehen!«

Das Gesicht verschwand. Sie fühlte drei Stiche an ihrem Handgelenk; wie kurze, elektrische Schläge. Ohne daß man es ihr zu sagen brauchte, wußte sie, daß diese Stiche Anruf und Abschluß waren. Sie entnahm daraus auch, daß man das Armband Tag und Nacht tragen mußte.

»Die andern fünf benachrichtige ich nachher selbst,« sagte Rainer Ringfeld. »Sie können morgen von sich aus mit ihnen sprechen. Nur empfiehlt es sich, die Zeitunterschiede zu beachten. Rolf Lindow zum Beispiel –, er sitzt dicht bei Singapore, in der Niederlassung eines Bremischen Kaufmannshauses – hat seine Zeit ungefähr zehn Stunden früher als bei uns. Hier haben Sie das Verzeichnis. Lernen Sie es auswendig. Wollen Sie dazu lieber allein sein? – Abschreiben darf es niemand.«

Sie lehnte ab. »Die Umgebung ist mir gleichgültig. Geben Sie her.«

Sie setzte sich in eine Ecke. Neun Namen und neun Zeichen. Die hatte sie sich nach einer Viertelstunde sicher eingeprägt. Gegen chemische Formeln war das nur Spiel. – – – – Also auch dieser Lembke hatte seinen Apparat. Null – Null – Strich. Sie ertappte sich bei der Frage, wie es wohl kam, daß auch er mit seinem Gesicht, das in dieser Gemeinschaft eigentlich ein Versager war, so wie die andern ausgestattet war. Freilich! Vielleicht als Faktotum! Seine Augen waren ihr sehr unsympathisch geworden. Als er sie zuerst verschleiert hielt, hatte sie an spürende Polizei gedacht, als er aber nachher die Lider aufgeschlagen und Rainer Ringfeld und Kastner und sie angesehen hatte, war sie doch einen Moment zurückgezuckt. Diese wasserblauen Augen waren eiskalt und sprachen von einer außerordentlichen, skrupellosen Grausamkeit. Ob man hier nichts davon wußte? Oder ob man hier nicht in Gesichtern lesen konnte? – Nun, sie wollte versuchen, sich zu ihm in demselben Sinne zu stellen, in dem sie bereit war, sich zu allen übrigen zu stellen.

Während sie lernte, hatte sich Ohlep wieder bei seinen Karten niedergelassen und machte eifrig Notizen. Rainer Ringfeld und Kastner waren hinausgegangen und spazierten auf dem umfriedigten Platze auf und nieder.

»Gib sie mir. In meinen Bezirk,« sagte Kastner. »Zuletzt kenne ich sie doch am besten. Wenigstens vorläufig.«

»In die Spionageabteilung?« Ringfeld drehte ihm sein Gesicht zu und schüttelte den Kopf. »Ohlep soll sie haben. Für draußen ist sie seine Nichte oder Sekretärin, Wenn es mal nötig sein sollte. Unter Umständen muß sie auch als seine Frau gelten. Kein Mann nimmt seine Frau in eine richtige Gefahr mit. In der schlimmsten Situation werden sie also immer einige Aussicht haben, harmlos zu erscheinen. Und so gerade am besten arbeiten können.«

Es entstand eine lange Pause. Rainer Ringfeld hielt die Augen ein wenig zusammengekniffen und blinzelte an Kastner vorbei ins Weite. »Noch zwei Tage wird sie technisch instruiert,« sagte er langsam. »Ohlep und du, Ihr übernehmt das. Laßt sie auch gründlich darüber nachdenken, wie sie die Apparate in ihrer Kleidung verbirgt. Nicht zu sehen; und in jedem Augenblick greifbar. Dann stelle ich sie in den Betrieb. Und von Technik und Strahlen und Visier darf dann nicht mehr gesprochen werden. So wenig der Ingenieur von seinem Zirkel, der Schuster von seinem Knieriem spricht. Es ist überall derselbe Weg: Durchs Handwerk in die Kultur. So schändlich weit hat uns die Zivilisation gebracht. – – Fast fünf Stunden habe ich heute Nacht mit Zeitunglesen zugebracht. Was machten die Menschen für ein Wesen vom Turm zu Babylon! Es ist erschütternd zu sehen, was der für eine Kleinigkeit war gegen das, was sie heute errichtet haben. Damals sprachen die Menschen immerhin noch. Heute schreien sie. Und jeder schreit am andern vorbei. Wunderlich; ganz wunderlich – – – Aber wir kommen ja! – Heute morgen gab ich Simmern das Signal für den ersten Artikel.«

Er unterbrach sich. Am Gartenhaus ging die Tür. Er drehte sich um. Martha Berndsen stand in der Öffnung. Sie grüßte mit der Hand, in der sie das Verzeichnis hielt. Er winkte sie heran.

»Der Gang ist wirklich ausgezeichnet. Körperlich ist sie doch auf der Höhe?«

Kastner bestätigte das ebenso leise. »Für alles durchtrainiert.«

Sie kam heran und gab Ringfeld das Verzeichnis zurück. »Wann kommt eine Aufgabe?« meinte sie lächelnd »das war keine.«

Sein Gesicht durfte ihr als Beruhigung gelten. »Hören Sie das Surren da oben?« fragte er.

»Das ist ein Flieger. Wahrscheinlich vom Flughafen Fuhlsbüttel her.«

»Stimmt. Wir könnten ihm mit einem Fingerdruck einen Gleitflug befehlen. Wir tun es nicht. Weil wir weder Spaß noch Spiel treiben. Und auch nicht stören wollen. Die Leute würden dem Motor oder der Fabrik schuld geben. Morgen früh zwischen sieben und neun steigt einer der Unsrigen hoch. Er heißt Walter Grund. Wie heißt sein Zeichen?«

»Strich – Strich – Kreuz.«

»Wohnt?«

»Hamburg, Mozartstraße 57; bei Frau Mathiesen.«

Er nickte über Kastners Lächeln hinweg. »Keiner von uns darf je die Besinnung verlieren. Dazu gehört das Fassen nach dem richtigen Hebel. Der eine Hebel bringt den Motor zum Stillstand; der andere läßt ihn explodieren und zerfetzt damit Flieger und Flugzeug. – – – Ohlep wird Sie darin unterrichten; wie auch im Gebrauche der anderen Strahlenserien, die wir uns bis jetzt dienstbar gemacht haben.«

Sie hatte jedes Wort gehört und verstanden, aber sie antwortete nicht. Es liefen ihr Fragen durch den Sinn, die mehr dem Gemüt als dem Verstände entsprossen waren. Er redete immer von Technik. Alles, was er sagte, bezog sich auf Wissenschaft, Hebel und Apparate. Waren die Menschen nicht die Hauptsache? – –? Und war sie als Mensch, als die, die er nun auch zur Trägerin seiner Sache gemacht hatte, für ihn nicht wichtig genug, um sich mit ihr zu beschäftigen? – – – Freilich hatte er vorher von Abenteurersucht und von Rache gesprochen und hatte wissen wollen, ob sie nicht etwa von denen getrieben wurde; aber das war doch eigentlich nichts anderes als Eintragungen in Polizeipapiere. Solche Angaben und Antworten konnten doch erlogen sein; die man nur machte, um sich in eine Stellung hineinzuschleichen. Sie vermochte es sich nicht anders vorzustellen, als daß auch er einen starken Trieb empfinden müßte, sie menschlich näher und ganz genau kennenzulernen; wie sie auch darauf brannte, ihn vor allen und dann auch alle die andern zu ergründen, die sich hier zu einer heimlichen Gemeinschaft zusammengefunden hatten.

Er hatte sie während ihres Schweigens angeschaut und ihr das Sinnen angesehen. Sie nahm es wie ein halbes Entgegenkommen hin, als er sagte: »In spätestens zwei Tagen werden Sie Herrin über unsere gesamte Technik sein. Soviel Überraschungen Sie in der kurzen Zeit auch noch erleben werden – – –, das ist alles nur Vorland. – – Außendeich! wissen Sie. – Von da steigen wir hinauf auf den Deich, um in das neue Land hineinzuwandern. Sie haben vorhin zu Simmern gesagt, Sie fühlten, daß Ihnen hier eine Heimat entgegenkommt, – – das ist mein herzlichster Wunsch. Ihr letztes Wort war: Und Friede auf Erden! – das ist unser aller Ziel. – – – Was wir aber immer tun – – und wo wir uns immer befinden: Die Schmiede hat ein oberstes Gesetz: Es gilt einen Wahn zu zerstören, der auf der Menschheit lastet! Wir schmieden nicht Waffen gegen Menschen. Wir schmieden Waffen gegen Waffen!«

Sie senkte den Kopf. Die Worte klangen noch, als er längst ausgesprochen hatte. Jeder Satz, den sie hätte sagen können, wäre blaß gewesen. Er hatte keinen großen Ton in seine Sprache gelegt, aber der tiefe männliche Ernst, der seine halblauten Sätze zu einer Beschwörung umschmolz, vertrug keinen anderen Nachklang als seinen eignen.

Sie hob das Gesicht und streckte ihm die Hand hin. Und wieder war es ihr wie ein Lohn, als sie in diese Augen sehen durfte.

»Und nun, Kamerad, gehen Sie zu Ohlep. Lassen Sie sich in den großen Rest einweihen. – – – Von heute ab haben Sie für des Lebens Nahrung und Notdurft usw. nicht mehr einzustehen. Der hier alles, wenigstens zum größten Teile finanziert, ist Engelbert von Rancke. Wie heißt sein Zeichen?« schloß er scherzhaft.

Sie nahm eine schülerhafte Haltung an. »Strich – Strich – Strich.«

»Und wohnt?«

»Engelbert, Baron von Rancke. Auf Groß Bestritz; Uckermark. – – Hamburg, Hotel zu den ›Vier Jahreszeiten‹. – – Berlin, Palasthotel, Potsdamer Platz.«

»Brav! Sehr brav! Den werden Sie auch bald kennenlernen. Lassen Sie sich durch seinen mokanten oder ironischen Ton nicht beirren. Kastner und ich, wir müssen jetzt ins Haus. Und arbeiten.«

Als sie sich abgewandt hatten, rief Kastner noch zurück: »Wir essen nachher zusammen. Der brave Lembke ist ein bewährter Koch. Er wird drüben zur Zeit Bescheid geben.«

Als sie bei Ohlep eintrat, fand sie ihn gerade in einem Gespräch. Er lachte und bot ihr, mit der Hand winkend, einen Sitz an.

»Ja – – mein Junge! Heute endlich aufgenommen.«

»– – – – – – –«

»Doch! Du kannst sie gleich mal sprechen und dich vorstellen – – –.«

»– – – – – – –«

»Gerne. – Lange genug hat er ja nicht gewollt. Aber weil ja eben alles klappt. Also willst du? – Ich vermittle!«

Er gab Martha Berndsen ein Zeichen. Sie begriff und stellte schnell und mit einer Sicherheit, die ihn freute, ihren Apparat ein. Dann drückte er seinen eignen Bildhebel herunter.

Sie sah in ein schmales aristokratisches Gesicht. Der Mann war anscheinend blond und langschädelig. Die Augen waren grau und scharf, aber etwas nachlässig verkniffen. Das rechte Auge war ein wenig weiter geöffnet als das linke. Die Nase war lang und schwach gebogen. Der Mund schmal. Alles in allem: Vornehm und alte Zucht; aber doch auch jenes Bild, das sie sich immer gemacht hatte von Junkertum und reserviertem Hochmut.

»Ich bejrüße Sie, mein jnädiges Fräulein. Da sind Sie also aufjenommen unter die Heiligen der letzten Tage.«

Sie prallte zurück.

Ohlep mischte sich ein. »Aber Rancke, sei doch mal vernünftig!«

»Is mir leider jänzlich unmöglich. Feierliche Momente vertragen sich nich mit meinem jesunden Naturell.«

»Also, das ist Martha Berndsen, mein lieber Rancke.« Ohleps Stimme klang ein wenig ermahnend. »Vielleicht bemühst du dich um einen Eindruck!«

»Danke dir für diesen Tip, Unsichtbarer.« – »Also, Kindchen« er sprach wieder zu Martha Berndsen »je länger ich Sie angucke, um so sicherer is es mir, ich habe Sie schon jesehen – – –.«

»Das kann natürlich sein« erwiderte sie zögernd und mit einer kleinen Dämpfung im Ton. »Ich habe ja nicht im Verborgenen gelebt.«

»Nich doch! Was so auf dem lobesamen Bürjersteige bei einem vorübertrottet, das meine ich nich. Aber – –, warten Sie mal, – – haben Sie nich mal Pflanzensamen jezüchtigt in dem botanisch-diätetischen Museum draußen in der Jungiusstraße bei Voigt? – – Kolonial-Institut oder so was?«

»Ja,« bestätigte sie »dort habe ich einen Kursus mitgenommen.«

»Sehnse!! – Ich reiste dort auch mal durch. Mit den Kolonialbrüdern. Da habe ich Sie g'esehn. Sie hockten mit einer wütenden Energie über Ihrem Mikroskop. Ab und zu guckten Sie hoch. Und da sind Sie mir aufgefallen. Bin ich Ihnen nich auch aufjefallen?«

»Nein!« stieß sie vergnügt heraus. Sie war durch das wundervoll Unbekümmerte an ihm überwunden.

»Merkwürdig! – Sehr merkwürdig! – Aber das kommt vor. Wenn einer zu sachlich ist. Davor muß man sich hüten. Dann entgeht einem manches Schöne. Schade d'rum. – – Haben Sie schon einen Posten in unsrer sehr jeehrten Firma?«

Ohlep fuhr wieder dazwischen. »Rancke, wo steckst du eigentlich?«

»Ich bin hier in der Rissener Heide. Und gucke auf den gesegneten Elbstrom runter. Jestern früh bin ich von meiner Klitsche ausjerissen und jestern Abend heftiges Abendbrot mitjemacht bei Tante Kommerzienrat; auf der Uhlenhorst. Frage mich immer, wie Kommerzienrat ›Wahnheim‹ heißen kann! – Vorbeijetauft. – Aber, wenn ich in dies Jesicht von Kindchen sehe, zwickts mich. Ich breche hier meine Sandjrube ab und komme gleich raus zu Euch. Is der Meister' zu Hause?«

»Ja!«

»Schön. Sage dem biederen Lembke, soll zwei Teller mehr auflegen.«

»Zwei? – Wieso?«

»Hunger! – Hunger!«

Die drei Stiche kamen und das Bild verschwand.

— — — — — — — —

»Schade,« sagte Ohlep, »daß Sie ihn so kennenlernen mußten! – Aber er kommt ja her. Da renkt sich's wieder ein.«

»Aber nicht doch!« lachte sie fröhlich. »Er gefällt mir außerordentlich. Im ersten Augenblick freilich – –, es war eine ganz ungewohnte Tonart. Nachher habe ich mich schnell in ihn gefunden. Er ist ganz reizend.«

»Das sagen Sie ihm nur nicht!«

»Und daß er ›Kindchen‹ zu mir sagt! – Wie lange hat das niemand zu mir gesagt! – – Wie alt ist er eigentlich?«

»Schätzen Sie!«

»Dreißig, sicher.«

Er nickte. »Sechsunddreißig.«

»Weshalb soll ich ihm nicht sagen, daß ich ihn reizend finde?«

»Weil er dann lachen würde. Mit seinem Lachen, wissen Sie.«

»Wieso?« fragte sie leichthin und harmlos.

»Sie werden ihn ja nachher sehen.«

Er wandte sich zur Arbeit. Und dann saßen sie sich gegenüber. Er nahm ein paar Karten hervor, breitete sie zwischen ihnen aus, und sie begannen den Plan zu studieren, auf dem alle die Stellen verzeichnet waren, an denen die heimlichen Mitglieder saßen. Während sie aufmerksam seinen Worten zuhörte und die Gründe vernahm, aus denen Rolf Lindow gerade in der Nähe von Singapore sitzen mußte; und wie unerläßlich es war, stets darüber auf dem laufenden zu sein, wie andere Staaten – – in diesem Falle England – – die breite Straße zwischen den Meeren in ihre Botmäßigkeit brachten und in ihrer Botmäßigkeit hielten; und daß da drüben zwischen der Indischen See und dem Stillen Ozean eine Hohlgasse von allerschwersten Batterien entstanden sei, gegen die Gibraltar und die Dardanellen das reine Kinderspiel wären, sah sie sich ihn ganz genau an. Gründlich und mit jener Muße, die ein intelligenter Mensch neben der Arbeit noch freimachen kann.

Seine Stirn war verhältnismäßig niedrig; die kurzgehaltenen Haare wuchsen nach unten in sie hinein, weil er weder Frisur noch Scheitel trug. Starke, dunkle Augenbrauen erhöhten den ein wenig finsteren Eindruck. Ein kräftiger Schnurrbart und spitzgehaltener Kinnbart gaben dem Gesicht, das sonst zu breit erschienen wäre, ein sympathisches Oval. Die Kopfhaare schimmerten schon reichlich ins Graue. Die Bewegungen waren jugendfrisch; die Sprache kurz und bestimmt. Man wußte sofort, daß man einem gegenübersaß, der das Befehlen gewohnt war. In dem Ernst, der über seinem Gesicht lag, gab es keine Helligkeit; und wenn nicht ab und zu die Augen einen freundlicheren Schein gehabt hätten, wäre der Eindruck tiefwurzelnder Düsterheit vollkommen gewesen.

Sie verglich die Männer miteinander, die sie bis hierher hier kennengelernt hatte. Unter diesen dreien – – von dem rätselhaften Lembke mit den Eisaugen abgesehen – – war dieser derjenige, auf dessen Gesicht Geist am wenigsten zum Ausdruck kam. Er war ganz Wille. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß im Hintergrunde seiner kurzen, befehlshaberisch hingehackten Sätze Bitterkeit und haßvolle Erinnerung wohnten. Und je mehr sie ihn beobachtete, um so mehr drängte sich ihr eine Frage auf, auf die sie an diesem Orte am wenigsten vorbereitet war: Sollte in diesem Manne die Vergangenheit noch so tief und so schmerzlich wurzeln, daß er ohne sie in keine Zukunft ziehen konnte? – – Gab es denn das überhaupt hier? – – Durfte es das geben? – – Rainer Ringfeld hatte sie doch gefragt, ob sie nicht etwa nur deshalb mitgehen wolle, um für ihre Schmerzen und ihr großes Leid eine Genugtuung zu erhalten, die im Schmerz und Leid der anderen bestand! Dann sollte sie draußen bleiben! – – – Und das mußte doch für alle gelten! Für alle, die sich hier zusammengeschlossen hatten. – – Was aber war mit diesem hier?

Sie hörte ihn sagen: »Stellen Sie sich vor, was einer fühlt, wenn er einem andern in der Waldlichtung gegenübersteht und hebt die Pistole hoch und zieht ab und zieht ab und zieht nochmal ab, und das verteufelte Ding geht nicht los! Denken Sie sich mal dahinein! – Wenn Sie das können.« Und dann kam etwas, was einer leicht hätte für ein Lachen halten können. Sie war aber ganz hellhörig. Sie hörte das Knirschen. Nach einer Pause sagte er, zwar ruhig, aber mit einem fahlen Schein in den Augen: »Und wenn man solchen freundlichen Mann genau kennt und für gefährlich, mehr noch, für schädlich, äußerst schädlich erkannt hat, und man kann sein braves Pistol nicht nur mundtot machen, sondern auch in Atome zerfetzen, wobei er nicht ganz unbeschädigt davonkommt, – – – doch auch eine denkbare Situation – – –.«

Da lehnte sie sich mit einem schnellen Rucke in den Sessel zurück und sah ihn mit großen Augen an. Sie witterte, daß hier einer seinen eigenen Weg gehen wollte. Zugleich wurde ihr aber der Gedanke so unsinnig, daß sie ihn ebenso schnell wieder verwarf, wie er sich ihr aufgedrängt hatte.

»Es ist gegen das Gesetz,« antwortete sie. »Gegen das oberste Gesetz der Schmiede: Waffen gegen Waffen! – – Nicht: Waffen gegen Menschen!«

Er nickte. »Hat auch immer oberstes Gesetz zu bleiben. Es ist nur, daß man sich einen Fall vorstellt.«

Nun aber kam ihr der unangenehme, fast ärgerliche Argwohn, daß Ohlep entweder aus eigenen Stücken oder auf Anweisung von Rainer Ringfeld darauf ausging, sie auszuforschen. Sie sah ihm in die Augen, und zu gleicher Zeit sah sie Rainer Ringfelds Gesicht vor sich. Nein! – Mochte dieser Mann sie auf die Probe stellen oder nicht – – Rainer Ringfeld hatte mit dem Vorgehen nichts zu tun! Bei dem war Helligkeit und Offenheit und lichter Schein. Diese Sicherheit machte sie Ohlep gegenüber stark. Und als sie ihn nun sagen hörte: »Bleibt überhaupt die große Frage, ob man genug getan hat, – – mehr: ob man seine sittliche Pflicht erfüllt hat, wenn man einem Menschen mit schlechten und sehr gefährlichen Trieben nur die Waffen weggenommen hat – –!« antwortete sie in schöner Ruhe: »Wenn man ihn tötet, kann man ihn nicht bessern!«

»Waren Sie mal in den Tropen?«

»Nein.«

»Wenn wir ein Nest mit Skorpionen fanden, haben meine famosen blauen Jungen nicht nur die Alten totgeschlagen und zertreten, sondern auch die jungen; die kleinen. Die sahen sogar ganz niedlich aus.«

»Ein Mensch ist doch von Natur nicht schlecht; er wird es doch erst durch Not und Elend.«

»Darüber sind sich die besten Menschenkenner noch nicht klar.«

»In den Kreisen, denen es gut geht, da, wo man von Wohlleben sprechen kann, hören Sie doch selten von Verbrechen. Wie viele von allen Verbrechen sind nichts als unbeholfene Wehr gegen Not. Der Skorpion freilich kommt mit einem Stachel zur Welt. – – Der Mensch ist nackt und hilflos.«

»Stimmt.« Er gab es für jetzt auf. Es hatte noch etwas Zeit. Sie würde sich schon noch wandeln lassen, für die Auffassung, daß es sich mit dem höchsten Idealismus sehr wohl verträgt, wenn man das Böse und den bösen Gegner nicht nur bekämpft, sondern auch ausrottet. Wenn man das nicht täte, würde man nie neue Geschichte schreiben. Höchstens ein neues Kapitel der alten Geschichte. – – – Überdies, er verbarg ein leises Lächeln unter dem Schnurrbart, – – sie schwenkte die Schultern! – Die Stunde würde kommen! – Und wahrscheinlich bald!

Sie versenkten sich wieder in das Studium. Martha Berndsen geriet in immer stärkere Bewunderung, je offner sich vor ihr der Plan ausbreitete, nach dem gearbeitet worden war. Sie hatte sich ohnehin vorgenommen, das Fragen möglich zu vermeiden. Aber hier war ja auch nichts zu fragen. Einer kurzen Behauptung folgte eine fast ebenso knappe Begründung. Es lag ihm wohl auch im Blute, daß er alles strategisch behandelte. Was er vor ihr aufrollte, war der Aufmarsch einer Armee, bei der von Soldaten keine Rede war, sondern nur von dem Hauptquartier und den Nebenquartieren. Freilich überschritt die Ausdehnung des Kampfgebietes alles bisher Erlebte. Die Nebenquartiere, über den ganzen Erdball verstreut, wären in einer verhängnisvollen Entfernung voneinander und dem Hauptquartier gewesen. Aber die Ätherwellen brachten sie zu jeder Zeit auf Armeslänge aneinander. Ohlep beschrieb mit seinem Zirkel Kreise von mehreren tausend Kilometern und bezeichnete so das Wirkungsfeld jedes einzelnen Quartiers. Er zeichnete mit bunten Stiften Linien von einem Quartier zum andern und gab ihr einen Einblick in den Zusammenhang zwischen ihnen allen. Je länger er sprach, um so brennender stieg in ihr doch die Frage hoch: »Und ich? – –? Wo soll ich wirken? Wie wollt Ihr mich verwenden?« Aber sie zwang auch diese Frage hinunter. Schweigen war ja etwas, was Rainer Ringfeld den Frauen am wenigsten zutraute. Er sollte eine Meisterin im Schweigen kennenlernen – – in einem Kreise, in dem die Auserwählten sicher alle große Schweiger waren.

Als Ohlep seinen mehr als anderthalbstündigen Vortrag, der mehr einer militärischen Instruktion als einer Unterhaltung geähnelt hatte, beendete, meldete sich Lembke. Er stellte sich stramm neben die Tür, durch die er eingetreten war. »Es wird zum Essen gebeten.«

* * *

Die vier saßen schon eine Viertelstunde an der gemütlichen Tafel, an der Lembke mit großem Geschick und lautlos bediente, als sich draußen Ranckes Stimme vernehmen ließ. Da war niemand – – außer dem unveränderlichen Lembke – – über dessen Gesicht nicht ein Schein von Freude lief. Ein besonderes Vergnügen empfand Martha Berndsen. Sie brachte ihm auch Neugier entgegen; wie er wohl sein mochte, wenn er den herzerfrischenden, leichten Ton ablegte. Denn es stand bei ihr fest, daß einer, der zum Bunde gehörte, im Grundzuge einen ganz tiefen Ernst in sich tragen mußte. Auf ihren Wunsch, der für Lembke Befehl war, war für ihn ihr gegenüber gedeckt worden.

Die Tür ging auf, und Rancke grüßte von dort aus, mit beiden Händen winkend. Dann trat er zuerst zu Martha Berndsen und reichte ihr die Hand; nach ihr den andern, und dann nahm er Platz.

Auf dem Tische, den Lembke zu jeder Mahlzeit mit Blumen schmückte, stand vor jedem nur ein Glas. Alkohol, in irgendeiner auch noch so entfernten Verwandtschaft, gab es in der Schmiede nicht. Auf einem Anrichtetisch sah man neben anderm notwendigen Geschirr, einen Riesenhumpen mit Zitronenwasser, aus dem auf den leisesten Wink mit den Augen Lembke bediente.

»So befinde ich mich wieder mal in diesem keuschen Tempel« lächelte Rancke. »Da drüben das Jesichtchen hat mich herbefohlen. Wenn Sie wüßten, Kindchen, wie lange Sie schon Kampfobjekt zwischen dreiviertel Dutzend starker und schöner Männer jewesen sind, dann würden Sie Lembke befohlen haben, Ihrem Stuhl janz lange Beine zu machen, damit Sie wie auf einem Thron über uns hocken.« Er machte sich an die Mahlzeit. »Nun sagen Sie 'mal – – –: Reden Sie mich, als Ihren Untertanen, mal an!«

Wie er doch gleich zufaßte! »Reden Sie mich 'mal an!« Es war lächerlich, daß Sie gerade diesen Punkt bisher nicht hatte überwinden können. Wieder natürlich von Lembke abgesehen, war es ihr nicht möglich gewesen, einen der Männer in dem hier üblichen Stile anzureden. Sie hatte mit ihnen gesprochen und, wenn ihre Worte einem einzelnen galten, diesen angesehen, so daß keine Zweifel entstehen konnten, wen sie meinte. Zu Kastner hatte sie früher »Herr Doktor« gesagt. Das war so lange gewesen, als er noch die Anrede »Fräulein Berndsen« gebraucht hatte. Als er später »Martha Berndsen« sagte, war sie unmerklich dazu übergeglitten, ihn einfach mit »Doktor« anzureden; manchmal auch mit »Lieber Doktor«, ohne daß darin eine besondere Wärme gelegen hätte. Aber – – nun mit dem einfachen Namen!? – Zum Admiral Ohlep »Ohlep« zu sagen. – – Sie empfand einen leisen Mißmut darüber, daß da etwas war, was sie zurückhielt. Es war wie eine feine Grenze zwischen Mann und Frau, die durch die Überlieferung aufgerichtet war. – – Aber hier in diesem Kreise war jede Überlieferung, die keinen anderen Grund hatte als den, Wesen zu scheiden; und keinen andern Ruhm als ihr Alter, lächerlich. Diese Empfindung schenkte ihr den Trieb, mit einem kühnen Griffe die Überlieferung zu zerbrechen. Aber ihr Gefühl wurzelte tiefer als ihr Trieb. Und sie ärgerte sich und wurde unwillig über sich selbst, als sie sich trotz aller Anstrengung doch nicht überwinden konnte. Sie sagte nicht »Rancke« oder »mein lieber Rancke« – und hätte es doch so gern gesagt. Es war ihr ja gar nicht peinlich, daß die andern immer »Martha Berndsen« sagten. Gerade das hatte ihr von Anbeginn wie ein Willkommen und ein Gruß gewirkt. Das hatte ihr sogar etwas von Heimatgefühl geschenkt. – – – Sie sah sich in dem Kreise um und heftete zuletzt ihre Blicke auf Baron Ranckes Gesicht. Und als sie in dieses halb verschmitzte, halb freundliche und doch vornehme Mienenspiel sah, fing sie an zu lächeln und wurde etwas freier im Herzen. Auch das Gesicht war eine Heimat.

»Ich kenne den Inhaber von Strich – Strich – Strich aus der Entfernung. Und jetzt sitzt der Inhaber von Strich – Strich – Strich auf Tischbreite vor mir. Ich weiß, daß das jedesmal derselbe ist. Und ich hoffe, daß der eine mir so gut gefällt wie der andre, daß die Heiligen der Letzten Tage im Grunde unter einer andern Firma eingetragen sind – – und daß ich dem einen als neues Mitglied der sehr geehrten Firma ebenso sympathisch bin wie dem andern.«

Er kniff das eine Auge zu. »Ausjezeichnet, Domina!« und sah sich im Kreise um. »Da könnt Ihr Euch ein Beispiel dran nehmen, Männer! – Also direkt Reichstag oder Flüstersalon bei Tante Kommerzienrat. – – Aber«, er wandte sich wieder an Martha Berndsen, »Kindchen, anjeredet ha'm Sie mich nich. Buchstabiern Sie mal: » – – – R! –«

»R.«

»a!«

»a.«

»n!«

»n.«

»ce-ka!«

»ce-ka.«

»e!«

»e«

»Und nu sagen Sie mal Rancke! – – «

»Rancke.«

»Noch mal! – und mich steif ansehen!«

Sie stimmte in das Lachen der andern ein, sah ihm froh und dankbar ins Gesicht und sagte: »Rancke!«

»Sehen Sie, nu is der janze Kitt erledigt. Ein für allemal. – – Wenn'ck Lehrer wäre, würde ich jetzt doch eine Eins kriegen, in Pädagogik. Das war nämlich ein erzieherisches Experiment.«

»Nein, mein lieber Rancke« sie reichte ihm über den Tisch hinweg die Hand »es war eine wundervolle Hilfe.«

Rancke erwiderte herzhaft den starken Druck ihrer Hand. – – Aber sie sah nun mit einem Male in ein anderes Gesicht. Alles Ironische und alle Spottmäuligkeit war von ihm abgefallen.

»Draußen in der Heide habe ich mit Joseph Simmern gesprochen« sagte er zu Rainer Ringfeld. »Er hat mir den Artikel vorgelesen. Es ist eine vorzügliche Überschrift. Titel sind eine wichtige Sache. Und er müßte ihn an hervorragender Stelle bringen. Aber er will ja nicht. Es soll nur die erste Rakete sein. Das wäre ein Unterschied zum Kanonenschuß. – – Ich bin hier für faustdicke Buchstaben. › Das Geheimnis der Zahl!‹ Wer hat den Artikel verfaßt?«

»Wir haben gemeinsam beraten und die Linien gegeben. Geschrieben hat ihn natürlich er.«

»Ich hätte auch Beispiele dazu geben können.«

»Wieso du?« fragte Ohlep.

Rancke wandte sich an Martha Berndsen. Er hatte schon wieder sein Junkerlächeln. »Daran müssen Sie sich auch noch jewöhnen, Kindchen. Ohlep und ich, wir kabbeln uns überwiegend. Das hören Sie schon aus seinem Ton. Eifersucht bei ihm. Nichts als Eifersucht.«

Martha Berndsen zog bei diesem Worte die Augenbrauen in nachdenklichem Suchen zusammen.

»Nicht zu verwundern,« fuhr er fort »meine Familie is älter als seine. Die Ohleps sind mal mit irjendeiner Jondel, mindestens so jroß wie 'ne Badewanne, in Danzig einmarschiert, als es noch jar nich existierte. Und dann hat mal einer durch 'ne höchst egoistische Heirat seine Stiefel ins Pommersche verpflanzt. Bei unserm Ohlep hier, da is der Urschlamm wieder durchjebrochen und er is wieder auf'n Kahn jestiegen. 1483. – da spricht die Jeschichte von dem ersten Ohlep. Na, sie werden älter jewesen sein. Jerne zujestanden. Aus 'n Wolken sind wir ja alle nich jefallen. Aber: nachweisbar! – – da liegt die Koloquinten-Essenz! Und meine Familie kann ich nachweisen bis 1466. Jeschlagene siebzehn Jahre früher. – – Was will der Mann also?! – – Übrigens is es alles Unsinn. – – Lembke!«

Lembke klappte die Hacken zusammen. »Befehl, Herr Baron!«

»Sie jehören doch auch zu 'ner alten Familie. Wie lange existieren die Lembkes schon?«

»Befehl, Herr Baron! – – Mein Vater ist 87 Jahre, meine Mutter 89. Was meinem Vater sein Vater, mein Großvater war, der ist 93 geworden und meine Großmutter 86. Was meiner Mutter ihr Vater war, der ist auch 93 geworden und hat zwei Tage vor seinem Tode noch nachts Aale gefangen; mit der Holzgabel hat er sie eigenmächtig eingeklemmt. Und meine Großmutter, von meiner Mutter her, die hat vier Männer gehabt. Die ist aus der Art geschlagen. Weil sie auf ihre alten Tage in die Stadt gezogen ist. Nach Breslau. Da war sie denn mit 76 Jahren hin.«

»Danke, mein lieber Lembke. – – Also, Ohlep, zuletzt sind das die wirklich alten Familien. Siehst du, davor müssen wir uns ins Mauseloch verkriechen. Jeder in ein besonderes. Damit die Kabbelei endlich mal aufhört. Prosit, Lembke!«

Ohne zu trinken stand Lembke stramm: »Zum Wohle, Herr Baron!«

Ohlep lachte. »Könnten wir nicht mal ernst sein? Die schweren Tage kommen. Simmern würde sagen: Wir stehen im Zeichen des Frühlichts. – – Was geht uns gestern und versunkene Jahrhunderte an! – Also lassen wir die alten Familien. Erledigen wir sie damit: – – Lembke, Sie sind von jetzt ab auch von altem Adel!«

»Zu Befehl, Herr Admiral!«

»Sie brauchen sich aber nichts draus zu machen.«

»Zu Befehl, Herr Admiral!«

»Schön. Und jetzt zu dem Artikel – –.«

Rancke protestierte. »Ich bin längst mitten im Thema. Geheimnis der Zahl! Paßt sehr jefälligst mal auf! Is das etwa kein Beispiel??: Vetter von mir, von altem, uraltem Adel, trifft Bauernburschen, wie er im Walde Reisig sammelt. Na, is wohl auch mal besserer Zweig auf die Schubkarre jefallen. Zieht ihm Jacke und Hemd herunter, bindet ihn an einen Baum, zieht die Schnüre an, daß der fast lebenslängliche Rillen in die Haut kriegt; und peitscht ihn so lange, daß das Blut in den Stiefeln steht und die Fetzen von den Rippen hängen. Alles im jesegneten zwanzigsten Jahrhundert. – – Was kriegt er? – Neun Monate Kittchen. Nach drei Monaten bejnadigt. – – – Pfui Teufel! sagen wir dazu. Nicht bloß zu der Schinderei. Nein auch zur Bejnadigung.« – – Ranke sah sich um und machte eine kleine Pause. »Imerhin: Anjefaßt is er wenigstens worden.« Seine Stimme klang mit einem Male gedämpfter. »Und der Herr Pharao? – –? Wenn ich nich erheblich danebenjreife, sind nach dem Buch der Bücher nach und nach vierzigtausend Menschen mit der Ehre betraut worden, Pyramiden zu bauen. Und davon sind mehr als dreitausend totgepeitscht worden. Nicht vom Herrn Pharao selber. Allerhöchst winkte nur. Zuviel gesagt. Er blinzelte nur. Wenn einer vor Keuchen nicht mehr konnte. Die Steine zum ewigen Jedächtnis waren schwer. Und fast ein halbes Tausend wurden nackt auf kalte Eisenroste jebunden. Und die dann glühend jemacht. Das waren die Bevorzugten. Die Baumeister und Aufseher. Wenn morgens von der schönen Sänfte aus die Arbeit nicht jenug vorgeschritten schien, dann wurden die Herren Aufseher langsam jebraten, weil sie nicht jenug jepeitscht hatten. Wir können ja umrechnen, von den neun Monaten meines jeliebten Vetters, dann meine ich, wäre der Herr Pharao heute noch nicht aus dem Zuchthause heraus. – – – – Wie ich das letztemal da unten war, war da wieder eine ganze Horde von Menschen, die an dem Kasten raufkletterten oder sich sanft raufschieben ließen. Nichts war, was da nicht vertreten war rund um unsre teure Erde herum. Na ja – – Samojeden und Feuerland, das war nicht da. Und nicht zu verjessen: Inder! – Die tun das nicht. Aber sonst alles. – – – Mir wurde schlecht, als ich das Gefasel und Gequatsch hörte. Aber sie wußten es ja nicht besser. Ich langte mir einen Mann her. Er hatte ein Frauchen bei sich. Wird wohl sein eignes jewesen sein. Die Hochzeitsreise hatten sie lange hinter sich. Wird wohl der Wissenschaft wegen jewesen sein. – – Und ich tunkte sie in die Vergangenheit. Ich habe sie jefragt, was für 'ne Farbe denn die Steine hätten und die janze Pyramide. Nun, weiß und gelb, sagten sie, und manchmal auch jrau. – – Das stimmt nicht! sagte ich. Die janze Pyramide ist von unten bis oben rot! Blutigrot! Das wäre vielleicht nicht mehr ganz deutlich. Wenigstens nich für jeden. Denn selbst die echteste Farbe – – das Blut – – verbleicht. Und viertausend Jahre!! – – – Aber der Mann war ein Gelehrter und zog sein Register. Und es stellte sich heraus: Ich war vielleicht ein Dummkopf und aufs falsche Geleise geraten.« Er lachte ein wenig. »Also in Wirklichkeit war der Herr Pharao ein gewaltiger Herrscher gewesen. Und sein Ruhm so groß, daß die Welt – – – er sagte wirklich die Welt! – – noch von ihm sprechen würde, wenn seine Pyramide längst in die Wicken gegangen wäre. – – Na also! – – –: Ein Bauernbursche – – einer! – da bekommts meinem Herrn Vetter schlecht. Aber tausend – tausend – – und noch mal tausend! das bekommt dem Herrn Pharao ausgezeichnet. – – – Ich sage: Das hat mit Gewalt und Thron nichts zu tun. Hier steckt ein Geheimnis. – – Das Geheimnis der Zahl!«

Kastner schob ihm eine Schale mit Obst hin. »Hier, mein Junge, nimm! – Das sind zu jeder Zeit Milderungsgründe fürs Gemüt.«

Rancke griff zu. »Im übrigen hat mir der gebildete Zeitgenosse am Fuße der Pyramiden einen wunderbaren Schluß geschenkt. ›Ihre Betrachtungsweise, mein Herr, muß natürlich zu solchen Ideen führen.‹ Und nun genierte er sich nicht, zu sagen: ›– aber mit Weichheit verrichtet man keine Wunderwerke. Der alte König hat doch nur ›Masse‹ verbraucht‹ – – –!«

Ohleps Gesicht richtete sich etwas auf. Die Schwere, die im Ausdruck lag, wurde noch durch Härte überschattet. »Gut, daß niemand hört, was du hier zwischen uns sagst. Du bist imstande, der ganzen Menschheit die Pyramiden mies zu machen. Das wäre sehr faul für die ägyptischen Finanzen. Was wäre das Nilland ohne Fremdenverkehr! Baumwolle allein schafft's nicht. Und was sie daran verdienen, geht in andre Beutel und Hosentaschen, als in die der armen Kerle. – – Kein Mensch würde mehr hinreisen. Baedeker könnte eine anständige Portion Sterne ausradieren.«

Martha Berndsen sah von einem zum andern. Es fiel ihr auf, daß plötzlich alle nach einer Stelle sahen. Rainer Ringfelds Hände lagen flach auf dem Tischtuche. Er hatte sie ganz nach vorn geschoben. Er sprach aber kein Wort. Sie konnte noch nicht wissen, daß diese Bewegung hier so viel galt, als wenn anderswo jemand an sein Glas geschlagen hatte. Sie sah aber wieder, daß er alle, die hier waren, beherrschte. In den Gesichtern stand Erwartung, und sie erkannte, daß alle bereit waren für das, was er sagen würde.

Als er nach einer kleinen Pause sprach, war seine Stimme auch anders als die der anderen. Sie erschien ihr wie ruhiger Glockenklang, unbeirrt durch alle Außenschwingungen. Es gab kein Auf und Nieder; kein Laut und Leise. Es war etwas Gesetzmäßiges in der Linie, auf der sie sich hielt, aber jeder Ton trug seinen ganzen Akkord in sich. Und als er geendet hatte, hatte sie doch eine Melodie gehört.

»Wenn Ranckes Sätze hinauszögen, wenn sie in allen Schulen gelehrt, auf schreienden Plakaten gedruckt würden, dann würde sich die ägyptische Einnahme verzehnfachen. Jetzt ist die Besteigung der Pyramiden ein Ereignis äußeren und inneren Erlebens. Dann aber würde sie die Sensation des Grauens sein. Man muß immer den genau kennen, dem man helfen will. Und nur, wer die Menschheit liebt, trotzdem er sie kennt, wird ein sittlicher Überwinder. – – Jenes Grauen, mehr oder minder eingestanden, wird immer wirkungsvoller sein, als alles, was bisher die Menschheit zu den Pyramiden gezogen hat. Auf diesen gigantischen Steinhaufen zu stehen, deren Mörtel mit Menschenblut gemischt ist, läßt Gefühle hochsteigen, die von der Masse in der Menschheit mit zitterndem Schauder genossen werden. Die Bilder, die diese Menschheit heute nicht mehr sehen kann, würde sie sich mit geschlossenen Augen und zusammengepreßten Lippen wieder vormalen. – – Im Arbeiten und in der Hoffnung dürfen wir Optimisten sein. Aber nur dort. Im übrigen geziemt es uns, kalte Leute zu sein. Kalt und furchtlos. Und ohne jedes Phantastentum. Das muß hier in der Schmiede mit den Wurzeln ausgerottet werden. Sonst sind wir, zwar auf eine andere Art, aber auch nur Pyramidenkitt. – – Zwischen eins und dreitausend steckt auch schon das Geheimnis der Zahl. Rancke hat darin Recht. Aber sein Reich ist größer. Seine Wurzeln liegen viel weiter zurück. Seine Heimat liegt in der ungeheuren Spanne zwischen eins und anderthalb Milliarden. Das ist die Menge der heutigen Menschen. Die Eins haben wir aus dem Gesicht verloren. Das wäre nicht so schlimm. Aber wir haben sie auch aus der Erinnerung, und damit aus dem Herzen verloren. – Das ist das Geheimnis der Zahl. Das fürchterliche Vergessen! Und das ist auch Verhängnis. – Wir sind, weil wir die Eins vergessen haben, aus der Familie, aus dem Brudertum herausgelaufen. Wir wissen einfach nichts mehr vom ersten Blut! Daß die Menschen im allgemeinen vor Blut schaudern, wer weiß, das kann die Rache des vergessenen ersten Blutes sein. – – Es mag der Gedanke gut für ein klagendes Gedicht sein – – gut für eine effektvolle Ballade! – – In der Schmiede wird nicht gedichtet. Das Programm der Schmiede heißt: Das erste Blut soll wieder klingen!«.

Nach einer kurzen Pause neigte er sich zu Martha Berndsen: »Haben Sie die Güte, uns aufstehen zu lassen.«

Alle erhoben sich, reichten einander in der Kette die Hände, und dann verbeugte sich jeder vor der einen anwesenden Frau.

»Da knipst einer!« sagte Rancke und klappte seinen Apparat hoch.

Während man in das Beratungszimmer hinüberging und Richard Lembke die Sorge für die Ordnung überließ, horchte Rancke die Nachricht ab. Er setzte sich bald darauf zu den andern. Den Apparat hatte er schon wieder eingeklappt. »Die Nachteule ist auch fertig!« sagte er. »Ist das Kindchen schon instruiert?«

Martha Berndsen schüttelte den Kopf. »Die Nachteule? – Eine ›die?‹ – – Auf der Liste steht keine – – –.«

»Doch! steht auf der Liste. Die Nachteule heißt Kurt Stein.«

»Null – Strich – Strich,« nickte sie »Diplom-Ingenieur Kurt Stein. Büro für Vermessung und Geologie, Soltau, Lüneburger Heide«.

»Richtig. Da sitzt er bei Tage. Aber nachts fliegt er zwischen Dorfmark und Wardböhmen. Das ist dicht beim Großen Moor.«

»Kenn' ich. Westlich von Fallingbostel.«

»Stimmt wieder. Und eben hat er mich nun wissen lassen, daß er fertig ist. Er kann nun wirklich fliegen. Ganz ohne Motor. Von jeder Wiese aus. Diese Sache ist eigentlich mehr Angelegenheit von Onkel Kommerzienrat. Der finanziert das. Für uns ist Kurt Stein wichtig, weil wir durch die Strahlenwelt Augen bekommen haben, in die Erde zu sehen, ohne sie aufzugraben. – – Übermorgen ist Empfangsabend bei Tante Wahnheim, geb. Freiin von Rancke auf Ruhrig, auch Uckermark. Da werden Sie ihn kennenlernen. Ich habe ihn eben hinbestellt. – – Es gibt da auch eine Kusine. Ich meine – – von mir. Rose Wahnheim. Die Rose will er gern haben. Ernstlich. Aber sie will nicht. Sie will mich haben.«

»Das hat sie sich nicht genau überlegt« lachte Ohlep.

»Nein, hat sie nicht. Sie denkt, ich bin so'n Junker, der im Lande herumtrödelt. Mal hier, mal da.« Er zog die Schultern hoch und klemmte das eine Auge zu. »Baronin von Rancke auf Jroß-Bestritz – – – na, und Vermessungsbüro in dem jesegneten Soltau. Ich weiß nich – was heißt da: nich überlegt?! – Sie hat so'n Zug nach – – – nach – – –. Das ist wohl auch vom Blut her. Tante Kommerzienrat besitzt Rührig; eine höchst bedeutende Klitsche mit einem Pferdchen, einer Kuh und anderthalb Ziegen – – –.«

»Übertreibe doch nicht!« bat Kastner.

»Ich meine damit, die eine Ziege is man janz klein. Aber immerhin: bis zur Erde reicht sie auch. Und es kommt im Leben auf die Zufriedenheit an. – – Rosa, oder wie sie sich lieber nennen hört, Rose, is aber nich zufrieden. Sie will Jroß-Bestritz haben.« – – Er machte eine Pause. Seine ganze Aufmerksamkeit schien seinen Stiefelspitzen zugewandt. Als er wieder aufsah, lag etwas Stahlhartes in seinen klugen grauen Augen, das Martha Berndsen als eine innere Verwandtschaft mit Rainer Ringfeld empfand. »Ich bitte euch alle miteinander –: wer von uns hat Zeit zu so was! – Wir stehen doch dicht vor dem Losschlagen! – – Eine Weile lang habe ich ja auch sie für uns auf dem Visier gehabt. Es ist ein starker Wille in ihr. Und was man so ›rassig‹ nennt, ist sie auch. Aber sie hat ja doch noch nichts erlebt, was sie innerlich aufgerissen hätte. Eigentlich wird man doch dadurch erst Mensch. – – Ich mag sie gern, recht gern sogar. – – Aber sie hat so schlechte Manieren – –.«

»Rancke!!« stieß Martha Berndsen heraus.

»Na ja – – also bitte: keine vier Wochen her, da hat sie mir 'ne Tafel Schokolade von einem halben Pfund anjeboten, wenn ich Jroßmama – – das ist Onkel Wahnheims Mutter, die wohnt da im Hause – – – bewegen könnte, sich auf'n Rodelschlitten zu setzen. Ich muß zujeben, die alte Dame is 'n ziemliches Jebäude. Sie wirkt direkt monumental. Aber diese Jroßmutter Wahnheim is 'ne feine, sehr feine alte Frau. Mit der darf man nicht Allotria treiben. Daß sie das wünschen konnte und das auch noch mir sagte, – – nein, danke! – Da habe ich dann mein Jewehr wieder jesichert und mich in der Entfernung aufjestellt. Es is ja nich so, daß man nich mal irgendeine verrückte Idee haben könnte oder einen ausjefallenen Jedanken – – ich habe für so was jlänzendes Verständnis – – aber das muß man ihr noch abjewöhnen, denn das is mehr! Mangel an Achtung vor so alten Leuten kann ich durchaus nich vertragen. – – Es is übrigens Roses einziger Fehler. Ich meine, soweit die Dinger überhaupt sichtbar sind. Und sonst? – Sie hat ja noch nichts erlebt. Es jeht ihr ja auch zu gut. Alles was sie haben will bekommt sie. – Versteht sich, mit Ausnahme von Jroß-Bestritz. – Haben Sie eine Ahnung, weshalb ich von der kleinen Katze so viel spreche?«

»Das werde ich noch erfahren« antwortete sie freundlich.

»Ja. Werden Sie. Weil sie zu dem engeren Verkehr von uns allen gehört. Nicht als meine Kusine. Das ist für uns alle hier gleichgültig. Aber sie ist die Tochter von Wahnheim. Der Mann ist eine wichtige Note in unsrer Arbeit. Trotzdem er von unserm Bunde keine Ahnung hat. Aber bei ihm verkehrt die ganze Welt. Er hat nur ein kleines Bankhaus. Is vor Jahren mal mit dem schönen Titel Kommerzienrat aus dem Mecklenburgischen zu den Hanseaten hinübergewechselt. Das kleine Haus ist aber gut fundiert und mit einem instinktiven Haß gegen das Spekulieren ausjestattet. Außerdem besitzt er noch vier Fabriken und beschäftigt fast dreitausend Arbeiter. Im erfreulichen Nebenamt ist er dann noch, und zwar nicht zu knapp, Mitinhaber von zwei Werften. In dem Dreh: Presse, Diplomatie, Kaufmannschaft und Industrie – – kreiseln wir hier mit. Und so wird Rose auch zu Ihrem Verkehr jehören. Sie hat übrigens Herz. Ich kenne zwei noch janz kleine Mädelchen – – Vater tot, Mutter jeden Tag auf Arbeit, Kontorscheuern und so – – die kleidet sie seit Jahren und bezahlt Schulgeld. Das sind natürlich keine Schwierigkeiten. Denn Papa Wahnheim füllt lautlos Kasse immer wieder auf. Aber ›Herz‹ muß man doch dabei haben. Sie ist auch flott. Freilich, so'n wunderbares Jesichtchen wie Sie hat sie nicht –.«

Martha Berndsen stand auf. Sie legte die Hände auf den Rücken und stellte sich aufrecht vor ihn hin. Sein Kavaliergewissen gestattete ihm nicht, sitzen zu bleiben, und so standen sie beide dicht voreinander.

»Rancke, ich habe es gern, sehr gern – –« der Ton, in dem sie sprach, war ruhig, der Blick ihrer Augen ernst, »wenn Sie zu mir Kindchen sagen. Trotzdem ich sechsundzwanzig Jahre alt bin. Ich möchte sagen, ich bin Ihnen jedesmal dankbar dafür. Aber als Kindchen oder als Backfisch, mit dem man von seinem Gesicht sprechen kann, sollten Sie mich nicht behandeln«. Sie streckte ihm ihre beiden Hände hin. Durch ihren Ton schimmerte die herzliche Bitte.

Um das Gesicht der andern zog ein Lächeln. Kastner lehnte sich vor. Er wollte vermitteln. Aber beide winkten freundlich ab.

»Sehen Sie, so jeht es mir zuerst immer. Niemand jlaubt an den fürchterlichen Ernst, der in mir tobt.«

Sie lächelte nun auch. »Doch, mein lieber Rancke, ich glaube an den Ernst. Deshalb – – – wird es das letztemal gewesen sein?«

»Mit Ihrem Jesichtchen?«

Sie nickte.

»Nein. – – Man soll sich auf diesem Jebiete zu nichts verpflichten. Jroßes oder kleines Ehrenwort bringen nachher oft Schaden. Aber vielleicht genügt es Ihnen, wenn ich Ihnen verspreche, daß ich mir Mühe jeben will?«

»Und ob! Ich denke, bei uns ist der Wille der Weg.« Über ihr Gesicht flog ein verschmitzter Zug. »Rose Wahnheim kenne ich übrigens. Sie nimmt im selben Institut wie ich spanischen Unterricht. Sie hat mich auch schon zu sich eingeladen, und ich war zweimal im Wahnheimschen Hause. Sie gefällt mir sehr gut. Für eine Freundschaft hatte ich ja leider keine Zeit. Denn sie ist, glaube ich, darin sehr anspruchsvoll.«

»Und dann lassen Sie mich vorhin den ganzen Roman veröffentlichen? – –«

»Unter die Schweiger gehen, heißt doch nicht taub sein wollen. Jedenfalls habe ich, da ich Rose einigermaßen kenne, die Überzeugung, daß Sie, mein lieber Rancke, ungerecht gegen sie sind. Sie sollten ihr nicht die Jagd nach Groß-Bestritz zuschieben. Ich habe ja nun den Besitzer kennengelernt. Vielleicht ist ihr der doch mehr wert als das Gut.«

»Jetzt sind wir quitt!« Er wandte sich fröhlich um und schnickte mit den Fingern.

»Wieso?«

»Sie haben auch von meinem Jesicht gesprochen.«

»Vielleicht nicht nur von Ihrem Gesicht.« Es lag ein kleiner Scherz in ihrem Blinzeln.

– – – – – – Rainer Ringfeld hatte einige Notizen gemacht. Von diesen Notizen war er zu einem Schriftsätze übergegangen. Jedesmal, wenn er eins der kleinen Blätter gefüllt hatte, schob er es Ohlep hin, der es las und weitergab. Es war das Gerippe zu dem zweiten Artikel und trug die Überschrift »Die neue Welt«. Im Hauptsatz sollte darauf hingewiesen werden, daß die bisherige Einteilung auf unserm Planeten in »alte« und »neue« Welt hinfällig sei, wie sie sich auch nach zehntausend Jahren von selbst sicher längst verwischt haben würde. In wie graue und verschwommene Tage aber auch der Ursprung des Menschengeschlechtes zurückgeführt werden möchte, von den heutigen Tagen ab würde es eine wahrhaftige »neue Welt« für die Erdenbürger geben. Alles, was sichtbar auf dem Erdenrunde sei, dazu habe die bisherige Menschheit nicht nur Stellung, nein, sie habe es auch in Besitz genommen und sich untertan gemacht. Aber, wenn man sich nur bewußt bleibt, daß auch das Unsichtbare zu dieser, unsrer Welt gehöre, dann müßte sich auch jeder einzelne, nicht nur die Erleuchteten sagen, daß alles, was wir bisher errungen hätten, noch nicht weiter reiche, als der Steinwurf eines Knaben in die unendlich scheinenden Weiten des Ozeans. – – Jetzt komme das Unsichtbare an uns heran. Und auch diese unsichtbare Welt sei hundert- und tausendspältig. Bei den Millionen Pflanzenformen habe der Mensch gelernt, die nützlichen von den ihm unnützlichen, die giftigen von den ungiftigen zu unterscheiden. Bei dem ungeheuren Reiche des Tierischen habe er gewußt, die gefährlichen von den ungefährlichen zu trennen. Und er sei auch in das Reich der Erden und Steine und Metalle hinuntergestiegen. Alles immer noch die sichtbare Welt. Nun käme die neue Welt des Unsichtbaren. Und nun müsse die Menschheit wieder daran gehen, das Tödliche von dem Lebenerhaltenden, vielleicht gar von dem Lebenspendenden, zu unterscheiden.

Lembke unterbrach das eifrige Lesen sind Schreiben. Er hatte die Tür geöffnet, wieder hinter sich geschlossen und stand nun im Türrahmen.

»Der Herr Professor Grantow haben bei mir angerufen und lassen den Herrn Major bitten, nach der Uhr festzustellen, wann die Lähmung bei den beiden Tieren aufhört. Der Herr Professor rechnen damit, daß sich Minka gegen halb neun, Mungo gegen neun wieder bewegen wird. Ich sagte, der Herr Major haben eine Sitzung.«

Außer Martha Berndsen hatte niemand von seinen Papieren hochgesehen. Nur Rainer Ringfeld gab durch ein kurzes Nicken zu verstehen, daß er die Meldung gehört und abgenommen habe. Lembke verschwand.

Sie aber hatte ihn angesehen. Bei ihr war es innerer Drang. Nach der Rolle, die er hier spielte, stand er freilich nicht auf ihrer Straße. Aber er hatte ein Gesicht, wie sie es noch nie gesehen, und wie ihr in ihrer wirklich nicht lahmen Phantasie noch niemals eins erschienen war. Kastner hatte ihr nicht nur einmal und dann immer eindringlich den Satz gepredigt: »Wer sich zum Edelmenschen erziehen will, muß zwei Sachen zuerst ablegen: Angst und Hochmut.« Sie hatte sich auch in dieser Beziehung für den erlesenen Kreis reif gefühlt. Was war das nun für eine Empfindung, deren sie sich beim Anblicke Lembkes nicht erwehren konnte?! – Sie wußte nur, daß es sie jedesmal fror. So war es doch eine Art Angst. Während der seltsame, ja fast unheimliche Mensch seine Meldung abstattete, waren seine Augen keine Sekunde von Rainer Ringfelds gesenktem Kopfe abgewichen. Sie hatte ihn also ruhig beobachten können. Trotzdem: sie war sich sicher, daß er seine Aufmerksamkeit mehr auf die übrigen richtete, als auf Rainer Ringfeld? Sein Gesicht war weder freundlich noch unfreundlich. Es war aus Gips. Ein für alle Male in starre Form gegossen. Blond und rund und kalt. Die Augen eingerahmt von fast weißen Wimpern. Er war wie ein Stück aus einem Wachsfigurenkabinett, mit einem kunstvollen Mechanismus für jede Bewegung ausgerüstet. Und so wenig, wie es je bei einer solchen Figur gelungen war, Leben in die Augen zu bringen, ebensowenig war in seinen Augen Wärme und Schein. Aber – – – er war doch ein Mensch! Und dieses widerwärtige »Zu Befehl«, auch in Sachen, die sich nicht befehlen ließen. In der Schmiede gab es niedere Dienste zu verrichten, wie überall anderswo auch. Sie konnte verstehen, wie man hier keine Dienstmädchen und Aufwartefrauen haben wollte. Solche Dienste konnte ja auch ebensogut ein Mann verrichten. Aber dieser? – Nein! Der war sicher ein anderer als er schien! Er hatte etwas Lähmendes in seinen Augen, das sie empörte. Wer mochte ihn in die Gemeinschaft gebracht haben und was mochten seine Verdienste sein? Nur seltsam, daß die andern immer über ihn hinwegglitten! Sie beschloß das alles vorsichtig und auf eigne Faust zu ergründen. Wenn es wirklich Angst vor diesem Menschen war, was sie empfand, so wollte sie diese Angst loswerden. Und wenn es Grauen war, so wollte sie ihm so nahe kommen, daß sie alles erkennen konnte. Sie verhehlte sich nicht, daß an ihren Empfindungen der Zorn einen nicht geringen Anteil hatte.

Als Lembke verschwunden war, sah Rancke mit Ohlep nach der Uhr: »Es ist soweit! Laßt uns mal gleich hinüberpendeln!«

Martha Berndsen lernte eine neue Abteilung kennen. Sie gingen durch das Haus hindurch und traten in eine neue Halle, die mit einem Glasdach überdeckt war. Sie glaubte, in irgendeine Ecke eines zoologischen Gartens zu kommen. Eine Reihe von Käfigen beherbergte die Tiere. Die beiden Affen waren augenscheinlich die, von denen Lembke gesprochen hatte. Denn die Herren wandten sich sofort ihnen zu. Dann waren da noch mehrere Meerschweinchen, ein Fuchs, eine Anzahl von Kaninchen, eine Schlange von gut anderthalb Metern und ein Storch, der frei umherspazierte. Auf einem Tisch standen drei sehr große, oben offne Glasgefäße, in denen sichtlich Algenzucht betrieben wurde. Neben ihnen befand sich ein wertvolles Mikroskop.

Sie standen vor dem Käfig der beiden kleinen Affen. Lembke trat von der weitgeöffneten Gittertür zurück. Nach Ablauf etwa einer Viertelstunde halten sie festgestellt, daß die Grantowsche Berechnung der Strahlendosis richtig gewesen war. Die Nerven des größeren Tieres waren von den Hüften ab nach unten gelähmt gewesen, so daß es seit zwanzig Stunden weder gehen noch stehen, noch sitzen konnte. Der kleine Affe war so behandelt worden, daß ihm der Gebrauch des linken Armes fünfzig Stunden lang unmöglich geworden war. Die Beobachtungen durch Professor Grantow hatten in der Zwischenzeit ergeben, daß Rainer Ringfelds zweite wesentliche Forderung sich hatte erfüllen lassen: abgesehen von einem begreiflichen Sinken der Gesamtstimmung hatten die Tiere keinerlei Schmerzen aushalten müssen.

Julius Grantow hatte vor vier Jahren seinen geliebten Lehrstuhl für Chirurgie und Physiologie, der ihm auch die Mitgliedschaft als Korrespondent außerdeutscher wissenschaftlicher Körperschaften eingetragen, freudig aufgegeben, als sich ihm, der ein Jugendfreund Kastners war, bei Rainer Ringfeld das neue, auch mit dem stärksten Fassungsvermögen nicht zu überschauende Forschungsfeld bot. Der besonderen Bedingung, daß er völlig im Geheimen arbeiten und dem unerläßlichen Gebot, das tiefe, nur vom Bunde zu lösende Schweigen auf sich zu nehmen, hatte er sich um so lieber gefügt, als er eine bis zum Hasse gehende Abneigung in sich trug, wissenschaftlich unausgereifte Sachen vor die Öffentlichkeit zu bringen. Das war ihm Tamtam, Reklame, Plakate mit papiernen Schreien, alles andere, nur nicht die vornehme Zurückhaltung, die ein Wissenschaftler haben muß. Man hetzte damit nur eine Horde von Nichtwissern und Dilettanten auf das keusche und empfindsame Gebiet des Forschens. Und wenn es schon Narren gäbe, die im Uhrmacherladen herumspazierten, ohne an den Uhrmacher zu glauben, so sollte man doch wenigstens die Uhren nicht eher aus solchem wunderschönen Laden herausgeben, ehe sie nicht gründlich durchforscht und gebrauchsfähig waren.

Er hatte damals, als die Aussicht auf die neue Aufgabe an ihn herangetragen wurde, vor stürmischem Glück nichts anderes zu tun gewußt, als fern von aller Welt in seiner geliebten Heide umherzuwandern, mutterseelenallein. Nachts hatte er auf dem Rücken im Heidekraut gelegen. Ob der sternenklare Himmel mit den schimmernden und glitzernden Welten über ihm hing oder ob die Wolken als tiefschwebender, undurchdringlicher Schleier über das schweigende Land zogen – – er hatte mit den Armen im Jubel um sich geschlagen; ja, er hatte manchmal mit den Füßen nach oben gestoßen: »Jede meiner Bewegungen schwingt um tausend Fenster, jede klirrt gegen tausend Türen! Das ist die neue, die größere Welt. Mit jedem Griffe stoße ich in ein Bündel von Strahlen, auch in der tiefsten Finsternis!«

Von Politik verstand er gar nichts. Ihm fehlte das Organ dafür. Es war ihm sehr angenehm gewesen, als ihm Rainer Ringfeld in dem seinem Einzug in den Geheimen Bund vorausgehenden Unterredungen eröffnete, daß von Politik in den Aufgaben des Bundes nirgends die Rede sein werde, überhaupt nicht sein dürfe. Politik sei um so sicherer ausgeschlossen, als sie, von der immer erzählt würde, sie verbände die Völker, sie vermittelte zwischen ihnen, gerade die Völker trennte und nicht zur Ruhe kommen ließe. Wenigstens was bisher unter einem bewunderten Gespenst angebetet worden war. Es sei über jeden Zweifel erhaben, daß, wenn dem »Volke«, der großen belasteten Menge, die Abstimmung überlassen bliebe, es immer für die Ruhe, die friedvolle Ruhe stimmen würde, hüben wie drüben. – – – Nun ja, das hatte ja sehr schön geklungen, und es hatte ihm auch eingeleuchtet. Aber zuletzt, das ging ihn ja gar nichts an. Man sollte ihn nur in seinem Forschertum nicht stören. Laßt sie sich doch balgen! Sie hören schon wieder auf; wie die Kinder.

Das ginge ihn doch etwas an! – hatte ihm damals Rainer Ringfeld erwidert. Denn ein Riß zwischen den Völkern habe doch auch schon einen Stillstand und eine verhängnisvolle Vereinsamung der wissenschaftlichen Forschung im Gefolge gehabt.

Das hatte er denn für eine Ungeheuerlichkeit erklärt. Und wie konnte er zaudern, einer Gemeinschaft beizutreten, die solche Ungeheuerlichkeit ein für alle Male unmöglich machen wollte! und – – wie ihm, je länger je mehr klar wurde – auch unmöglich machen konnte.

Welchen Sturm hatte es in ihm erregt, als er sich durch seine wunderbaren Entdeckungen in der Strahlenwelt bewußt wurde, daß gerade er ein wichtiges Instrument auf diesem fast ans Heilige grenzenden Gebiete sein würde.

Er war von einer rührenden Bedürfnislosigkeit gegen sich selbst, aber Rancke kam oft ins Lachen, wenn er seine unbekümmerten Forderungen für die Wissenschaft vorgelegt bekam.

»Julius Grantow muß glauben, ich sei heimlicher Besitzer einer strömenden Goldmine. Wenn ich nicht außer meiner Klitsche die Farm da unten bei Johannisburg hätte, hätte ich für ihn schon die letzte Kuh verkaufen müssen.«

Wie ein Hörer vor seinem berühmten Lehrer, demütig und durstig, so hatte er manchmal auf einem niedrigen Schemel gehockt und den von ihm bewunderten Julius, der außerhalb seiner Wissenschaft ein großer Schweiger war, reden hören. »Meine Aufgabe – – so klar sie ist – – so umfangreich, ja so uferlos ist sie. Das Sonnenlicht ist der Erhalter alles Lebens. Das Sonnenlicht läßt sich spalten. Es gibt kein zahlenmäßig feststellbares Strahlenbündel. Was früher die Wissenschaft im Sinne des Spektrums und der Regenbogenfarben so nannte, stand unter den Gesetzen des menschlichen Auges, war also ein trügerisch begrenzter Begriff. Es gibt, mein lieber Rancke, ein Strahlenmeer! Die Wellen laufen nebeneinander und kreuzen sich. Die Wellen sind kurz, und die Wellen sind lang. Die Wellen bilden Harmonien und Disharmonien. Von jetzt ab können wir die Strahlen aus dem Strahlenmeer herauszwingen und isolieren. Es gibt Strahlen, die isoliert, das Leben gefährden, und solche, die alles völlig vernichten. Da nun die Gesamtheit der Strahlen das Leben erhält und es einzelne unter dieser Gesamtheit gibt, die es vernichten, müssen in der Gesamtheit auch die Gegengifte gegen diese fürchterlichen und mörderischen Strahlen enthalten sein. Es gilt daher Gifte und Gegengifte zu erforschen.«

Jahrelange geheime und von wirtschaftlichen Sorgen befreite Arbeit hatte in der Strahlenspaltung jene Ergebnisse erzielt, durch die der verschwiegene Bund in die Lage versetzt wurde, Front gegen die Lasten zu machen, unter denen der Einzelmensch ebenso stöhnte, wie die gesamte Menschheit. Das waren Lasten, die aus der Sichtbarkeit der Welt stammten und die nun von der unsichtbaren Welt behoben werden konnten.

Grantow hatte die jüngste Vergangenheit, den Großen Krieg, miterlebt. Man hätte sich niemals über seine Weltfremdheit wundern können, mit der er in dieses schreckhafte Maß von Ungeheuerlichkeiten sah, denn für ihn war seine Wissenschaft nicht zum Stillstand gekommen. Im Gegenteil, er, der einzig dem Erforschen lebte, hatte in den grausigen Jahren nur die Bereicherung seiner Wissenschaft erlebt. Vom ersten Tage im Lazarett bis zu der Stunde, als er in den Geheimen Bund eintrat, hatte er ein so überreiches Material zum Behandeln und Studieren erhalten, daß er auf der ganzen Linie nur einen außerordentlich wertvollen Fortschritt seiner Arbeit sah. Das ging vom einfachen groben Schuß und Knochenbruch bis zum Zittern eines einzelnen Nervs. Da war auch nicht eine einzige Stunde gewesen, die ihr Samenkorn vergebens ausgestreut hätte. Als das schwere Tosen vorüber war und er in die freie Forschung eintrat, war ihm gewesen, als wenn sich vor ihm ein Tempel aufbaute, dessen weitgeöffnetes Tor ihn zum Dienen und Herrschen zugleich einlud.

Und nun, da die »heimlichen Jahre« vergangen waren, nun, da der Segen über die Menschheit strömen sollte, fühlte er sich in seiner geliebten Wissenschaft als ein wahrer Fürst.

Nicht nur, wie der Bund es verlangte, sondern wie es auch ganz und gar seine Art war, stieg er ohne jeden Lärm von Stufe zu Stufe, von einer Kenntnis zur andern, von einer Entdeckung in die andere. Daß er heute imstande war, bei jeglichem Lebewesen eine zwanzig- oder fünfzigstündige ganze oder teilweise Lähmung hervorzurufen, die in Beginn und Ende genau berechenbar und in ihrem Verlaufe bei vollem Bewußtsein völlig schmerzlos war, galt ihm schon nicht mehr als etwas Besonderes. Er war ja den mühevollen heiligen Weg Schritt um Schritt gegangen.

So hatte er auch keine Veranlassung gehabt, sich nach der Schmiede zu begeben, um einem Ereignisse beizuwohnen, das für die andern über die Wichtigkeit hinaus etwas Erstaunliches, fast Märchenhaftes an sich hatte. Über einen Glückwunsch hätte er nur gelächelt.

»Wir wollen es ihm sagen!« meinte Ohlep.

»Natürlich!« pflichtete Kastner bei. Er hatte seinen Apparat schon hochgeklappt.

»Da können wir ihm auch jleich Kindchen vorstellen.« Rancke wandte sich an Martha Berndsen. »Unser Julius ist Klasse für sich. Jeben Sie sich nich der schönen Hoffnung hin, ein freundliches Jesicht zu sehen, etwa so wie meins. Haben Sie schon einmal einen Jungen erlebt, dem man mitten in seinem Spiel seinen Kreisel maust? – – Also – wer soll mit ihm sprechen?«

»Tu du das!« entschied Rainer Ringfeld, ihm zulächelnd.

Alle klappten ihre Apparate hoch, stellten die Scheiben auf und drehten bis auf Rancke die Stifte herum. So erschien auf Grantows Scheibe nur Ranckes Gesicht, während Grantow von jedem zu sehen war.

»Jrüße dich, mein lieber Grantow! Ich wollte dir sagen, daß die beiden kleinen Kerle auf die Minute in Ordnung gekommen sind.«

»Das weiß ich auch so!« knurrte Grantow.

»Unzweifelhaft. Dann wollte ich dir sagen, daß ein neuer Kamerad bei uns eingezogen ist.«

»Sonst noch was?«

Martha Berndsen mußte lachen, als sie in das verblüffte Gesicht Ranckes sah.

»Habt Ihr da 'ne Frau? – Da lacht ja eine,« sagte Grantow.

»Grantow, sei doch etwas höflicher. Das ist ja der neue Kamerad!«

»Was kann sie denn?«

»Erst mal, dich überraschen.«

»Ist das die – – –?« die Augenbrauen zogen sich hoch über der großen runden Brille, und der Kopf legte sich schief. – »Wie hieß sie doch – – Martha – –.«

»Das ist sie. Martha Berndsen. Willst du sie mal sehen und sprechen? Ich kann dir ja ihr Zeichen geben.«

»Danke. Von den ganzen Zeichen kann ich mir nur Lembkes und deins behalten. Aufschreiben sollen wir sie nicht. Also – –.«

»Aber doch wenigstens mal ansehen!«

»Nein, verzichte. Du weißt doch, bei so etwas bin ich denkbar ungeschickt. Man guckt sich neugierig an. Was soll man denn sagen. Man kennt sich ja nicht. Sag' ihr nur, ich ließe sie grüßen. Oder: ich freute mich. Ihr werdet euch doch wohl gründlich vorgesehen haben! – Hast du sonst noch was?«

»Du bist ein prachtvoller Knurrpeter.« Rancke lachte. »Nur noch, daß übermorgen äußerst schöner Abend bei Wahnheims ist. Könntest du dich nicht wieder entschließen?«

»Durchaus nicht. Ich bin das eine Mal doch mit dir dagewesen. Es ist keine Logik in solcher Gesellschaft. In zehn Minuten wechseln sie zehnmal das Thema. Immer außen an allem herumschliddern. Ich bin bei so was ganz unglücklich. Von unsern Sachen spreche ich nicht. Von ihren Sachen verstehe ich nichts. – – Wahnheim ist mir sehr interessant. Aber der erzählt ja alles seiner Tochter. Leider. Er hat wirklich Grips für allerlei. An solchem Abend kommt man ja doch nicht an ihn heran. Damals war er eine Reihe von Verbeugungen. Wenn sie dasitzen, essen sie. Außer wenn Musik ist. Da reden und essen sie nicht. Aber ich bin ja unmusikalisch. – – Sonst noch was?«

»Aber hab's doch nich so eilig – –.«

»Ach, Rancke, ich meine ja nur, ob ich wieder an meine Arbeit gehen kann?«

»Sicher.«

»Und komm bald mal her. Es ist immer so nett mit dir.«

Das Bild verschwand. Rancke legte sein Gesicht in seine mokanten Fallen. Sie legten ihre Apparate zusammen. »Sie wissen jetzt jedenfalls, was mit ihm los ist. Sie sehen, in unsrer Gemeinschaft gibt es Charakterköpfe. Meinen eingeschlossen. Es hätte wirklich keinen Zweck gehabt, Sie und Julius gegenüberzustellen. Aber – – wie denken Sie über ihn?«

»Erklären Sie das!«

Sie haben sein Bild, sein Mienenspiel gesehen. Sie haben ihn reden hören. Da hat man doch irgendeinen Eindruck.«

Ihr Blick glitt flüchtig über die anderen hin. Sie hatte dabei auch den aufmerksamen Strahl aus Rainer Ringfelds Augen aufgefangen. »Ich habe ein Bild von ihm. Er hat wenig genug gesprochen und viel gesagt. Ich werde kein Wort darüber sprechen.«

Als sie aufblickte, sah sie in Kastners Gesicht helle Freude aufflammen. Rainer Ringfeld hatte sich umgedreht.

»Also,« sagte Rancke »gehen wir ohne ihn zu Onkel Wahnheim. Wir werden doch alle dort sein?«

Rainer Ringfeld wandte sich wieder ins Zimmer. Martha Berndsen versuchte verstohlen, einen Blick von ihm aufzufangen, aber er kümmerte sich nicht um sie. »Der Auftakt beginnt übermorgen. Wir werden alle dort sein. Wahnheim ist ein Mann mit tiefen sozialen Trieben. – «

»Trotzdem er sehr reich ist – –« warf Rancke ein.

»– – leider kann er in unsre Gemeinschaft trotz aller wertvollen Eigenschaften nicht ausgenommen werden. Er vergöttert seine einzige Tochter. Und hat durchaus kein Geheimnis vor ihr. Man sagt, auch geschäftlich nicht. Es ist vielleicht ein sympathischer Zug an ihm – – – und an ihr. Aber das macht den Mann leider für uns unbrauchbar. Desto brauchbarer ist aber diese Tochter. Sie erfährt mühelos alles, was sie wissen will. Martha Berndsen, Sie werden also Freundschaft mit ihr schließen. Enge Freundschaft! Wann ist die nächste Gelegenheit?«

»In der spanischen Stunde.«

»Wann?«

»Morgen abend. Von acht bis neun Uhr.«

»Bahnen Sie die Sache an. Wird sie dort sein?«

»Sie hat bis jetzt keine Stunde versäumt.«

»In den Zusammenhang zu kommen, bietet keine Schwierigkeiten. Ich kenne Rose Wahnheim. Sie ist eine interessante Erscheinung. Nicht nur, weil sie eine sehr leidenschaftliche Natur hat, und nicht nur, weil sie sich über vieles hinwegsetzt, was dem sogenannten Biedertum Gesetz ist. Sie ist ein guter Mensch, aber auch ein ganz toller Kerl. Die Freundschaft mit ihr zu halten, wird viel schwerer sein, als sie zu gewinnen. Sie werden Ihr Schiff sehr geschickt steuern müssen. Es gibt bei Freundschaften zwischen Frauen und Mädchen eine besonders verhängnisvolle Klippe. Das liegt an der weiblichen Natur. Das Weib besitzt nun einmal in der Freundschaft keine Zurückhaltung; darüber hinaus auch nicht die keusche Scheu vor dem innersten Eigentum des andern. Im Gegensatz zum Manne. Der macht halt vor dem Innersten seines Freundes. Das Weib sieht gerade darin einen Beweis von Freundschaft, daß die Freundin ihr ganzes Fühlen und Leben bis in die letzte Falte bloßlegt. Die Frauen verlangen die stärksten Indiskretionen. Wie sie bereit sind, der Freundin schlankweg ›Alles‹ zu beichten, verlangen sie auch schlankweg ›Alles‹von ihr und an ihr zu erfahren. Und wo sie ein Geheimnis oder einen Schleier wittern, die nicht gelüftet werden, halten sie die Freundschaft für verraten.«

Martha Berndsen war bei seiner Rede das Blut ins Gesicht gestiegen. Sie stand mit blitzenden Augen vor ihm und gab sich keine Mühe, ihren Zorn zu verbergen.

Er sah diese flammende Entrüstung in ihren Augen. Mit einem gewinnenden Lächeln schüttelte er den Kopf. »Hier ist keine Gelegenheit, sich zu entrüsten. Um Ihre Meinung – – oder auch die Möglichkeit von Ausnahmen, die ich gern zugebe, geht es nicht. Martha Berndsen, wir stehen alle – – Sie einbegriffen – – bis in den letzten Nerv zueinander, und müssen immer jedes Ding bei seinem Namen nennen. Und daß Sie hier bei uns sind, beweist doch, daß wir Ausnahmen anerkennen. Ich habe nur gesagt, daß wir auch die Gefahren kennen, die mit solcher viel; sie erfährt sehr viel, wenn nicht wirklich alles, was in dem Riesenbetriebe ihres Vaters vorgeht. Sie ist auch sonst durchaus keine Klatschbase. Das ginge schon beim alten Wahnheim nicht. – – An Privatangelegenheiten liegt uns nichts. Aber sie wird von Ihnen nicht nur viel, sie wird ›Alles‹ verlangen. – – – Bin ich verstanden worden?«

Sie nickte. »Es ist nichts weiter zu sagen, als: Ich habe also mit Rose Wahnheim Freundschaft zu schließen?«

»Ja.«

»Im Interesse unsres Geheimbundes?«

»Ja!«

»Das Kürzeste, was ich habe – – und im Stile von Lembke: ›Zu Befehl!‹ – –.«

Es gab eine Pause. Keiner der andern verhehlte sich, daß dieses Mädchen etwas Verblüffendes in seinem Benehmen und in seinen Antworten hatte. Selbst Kastner, der sie jahrelang studiert hatte, stand unter diesem Eindruck. Und er paßte heute doppelt auf, weil ja sein Eintreten für sie durch sie gerechtfertigt werden sollte.

Rancke stand auf. »Famos. Wundervoll. Wirklich wundervoll! – – Und von mir, Kindchen, nehmen Sie jefälligst einen Spezialauftrag entgegen: Halten Sie mir die Krabbe vom Leibe. – Wenigsten vorläufig – –.«

Sie schnellte herum und lachte ihn an. » Noch ein Frauenkenner?«

»Wieso?« fragte er nachdenklich.

»Einen habe ich ja vorhin schon gehört.« Sie sah Rainer Ringfeld mit einem Blicke an, den er als ironisch empfand.

»Na, Kindchen – – ich denke, das sind wir doch – –.«

Sie winkte ab. »Also, Rose Wahnheim gefällt mir. Das habe ich ja schon gesagt. Ich würde jetzt auch Freundschaft mit ihr schließen, wenn sie mir nicht gefiele. Rose ist für Sie begeistert. Wenn ich nun das geringste gegen Sie sage, geht die Freundschaft sofort in die Brüche. Denn Engelbert Rancke wird ihr immer wichtiger sein als Martha Berndsen. Und wenn ich auch das stärkste für Sie sage, dann geht sie erst recht in die Brüche. – – Frauenkenner! – – ? Nein, mein lieber Rancke, halten Sie sich sehr jefälligst diese Krabbe selber vom Halse. Das steht ganz bei Ihnen. Mich jedenfalls müssen Sie wenigstens in Gegenwart von Rose entweder überhaupt nicht sehen oder verhältnismäßig schlecht behandeln. Das tut nicht weh. Kastner hat mir oft genug gesagt, wir sind nur Nummern in dem Großen Spiel. Rainer Ringfeld hat's mich heute wieder wissen lassen. Also haben wir keine persönlichen Schmerzen. – – – Überhaupt keine andern, als die, die das Spiel treffen.«

Ohlep, Kastner, Rancke und Martha Berndsen hatten das Landhaus verlassen und befanden sich auf dem Wege nach Hamburg.

Für sie gab es kein Wetter zu besprechen und keine Landschaft zu bewundern. So wortlos sie dahinwanderten, so lebhaft arbeiteten in jedem von ihnen die Gedanken. Sie waren noch alle in dem Hause, das da weit hinter ihnen verborgen im Gebüsch und abseits vom Wege lag.

Einmal legte Kastner seine Hand auf den Arm der neben ihm schreitenden Martha Berndsen. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. Sie sah es ihm an, daß er sie fragen wollte, und daß er darnach suchte, wie er seine Frage in Worte kleiden könnte. In seinen Augen las sie das eine umfassende Wort: »Nun??« und die Aufforderung: »Wie stehen Sie zu dem allen??« Sie nahm ruhig seine Hand von ihrem Arm fort und ließ sie hinabgleiten. »Heute nicht!« bat sie. »Morgen – – ja – und übermorgen und alle Tage – – aber heute nicht!«

Er gab sich zufrieden. Und die andern, die diesen halben Austausch verstanden hatten, gaben sich auch zufrieden.

Als sie voneinander schieden, meinte Rancke. »Im übrigen, Martha Berndsen, wohnen Sie ja eigentlich schon länger als ein Jahr zwischen uns. Wenn Sie sich auch bis jetzt eines Dolmetschers bedient haben.« Sein Gesicht war sehr ernst, und alles Junkertum war von ihm abgefallen. »Wir gehen alle einen schweren Weg. Ich darf wohl für uns Männer sagen: Wir haben das sichere Gefühl, nun wir Sie auch von Auge zu Auge kennengelernt haben, daß wir einen Kameraden gewonnen haben, der uns unsre Last tragen helfen wird, trotzdem der Kamerad Frauenschultern hat. – – – Schlafen Sie wohl, Kindchen!«

Zu der gleichen Zeit, in der Martha Berndsen in ihrem Zimmer saß und die erstaunlichen Erlebnisse des Tages wieder an sich vorüberfluten ließ, wanderte Rainer Ringfeld trotz der späten Stunde in seiner Arbeitsstube auf und nieder. Vom Fenster bis zur Tür, immer wieder hin und zurück. Er wußte nichts vom Abfluß der Zeit. Es war keine Sorge in ihm. Er sah immer nur Martha Berndsen vor sich. Von ihrem Eintritt heute nachmittag bis zum Abschied am späten Abend spiegelte sich alles in ihm wieder. – – – Hier war wirklich kein Fehlgriff getan. Mochte man sich in aller Vorsicht sagen, es sei ja erst ein Tag gewesen und man müsse mit seinem Urteil noch zurückhalten, aber darüber war kein Zweifel, sie hatte in keiner Minute enttäuscht. Er konnte die Beobachtungen nach allen Ecken und Kanten drehen, in ihr war dem Großen Spiel ein wertvoller Bundesgenosse zugeführt worden. Das hatte er auch den Gesichtern und dem Benehmen der andern angesehen.

– – – – – – Nun aber galt es noch, den Einen zu hören, den sie zwar alle miteinander kannten, von dem sie jedoch nichts wußten und auch nie etwas erfahren sollten.

Er ging aus seinem Zimmer und schritt die Treppe hinunter. Im letzten Flur wandte er sich zu einer geheimen Tür, die unkenntlich in die Tapete geschnitten war. »Richard, bist du noch auf?«

»Ich bin immer auf. Komm herein!«

Lembke hatte sofort Licht angedreht. Er lag im Bett und richtete sich auf. Ohne ein Wort zu sagen, griff er nach seiner kleinen Tabakspfeife, langte sich einen Tabakskasten heran und stopfte sich die Pfeife.

Rainer Ringfeld ging ans Fenster und blieb dort, mit dem Rücken ans Fensterkreuz gelehnt, stehen. »Was sagst du zu ihr?«

Lembke steckte sich die Pfeife an. Er entwickelte dabei eine große Geruhigkeit. »Du hast ja auf mich nicht hören wollen.«

»Hast du Bedenken?«

»Du hast dich zuletzt breitschlagen lassen. – – Oder, wie man das feiner sagt, deine bessere Einsicht hat gesiegt.«

»Noch mal! – –: hast du Bedenken?«

»Sie hat kluge Augen,« meinte Lembke paffend »gesund scheint sie auch zu sein. Jung ist sie auch. Sechsundzwanzig – –.«

»Ja. Und sehr elastisch – –.«

»Na ja. Alles berückend. Es bleibt nun nichts weiter übrig, als aufzupassen wie ein Luchs. Und daß ich da am Platze bin, das weißt du. Draußen wird sie vielleicht richtig einschlagen. Die Bedingungen bringt sie ja mit. Wenn es stimmt, was Kastner sagt, daß sie den Schnabel halten kann. – – Aber –.«

»Was – – aber??«

»Sie wird hier drinnen Unfug anrichten. Dann lasse ich sie sofort verdampfen! – Hörst du das? – Dann ist sie gewesen.«

Rainer Ringfeld hatte schwere Falten auf der Stirn. »Erstmal: was heißt das: hier drinnen Unfug?«

»Das ist grade so ein Schlag von Weib, wie er die Männer verrückt macht.«

Ringfeld setzte sich dicht neben das Bett auf einen Stuhl. »Aber – – Richard – – doch uns nicht!!«

Lembke hatte nur eine wortlose Handbewegung, aber keine Rede hätte bester seinen Zweifel ausdrücken können.

»Unsinn, Richard! Uns nicht, sage ich dir. Und außerdem: sie denkt gar nicht an dergleichen.«

»Was heißt ›uns‹ nicht! – Aus dem Gebiete stehe ich nicht für jeden ein. Bilde dir nur ja nicht ein, daß die ein Eiszapfen ist. Die kann gucken! Ich habe es ein paarmal gesehen.«

»Zu wem denn?«

»Dir ist es nicht aufgefallen?«

»Nein.«

»Nun, mal hierhin, mal dorthin. Mich mag sie nicht.«

»Du weißt, Richard, was wir uns geschworen haben – – – –.«

Lembke strich mit seiner Hand durch die Luft. »Ich weiß, was ich dir und mir geschworen habe. Und das werde ich halten. Daß sie mich nicht mag, das macht natürlich nichts. Aber ich werde von keinem Menschen dulden, daß er dir deine Netze zerreißt; vielleicht nur, weil er selber für sich fischen will – –.«

»Was für sonderbare Reden – – –.«

»Und wenn sie das tut, ist sie hin!« Er beugte sich vor und sah Ringfeld gerade in die Augen. Hätte ihn Martha Berndsen jetzt gesehen, dann hätte sie ihr Wort von den Eisaugen nicht aufrecht erhalten. Richard Lembke war in diesem Augenblicke ein ganz anderer, als der, der in Gegenwart der andern nützliches Faktotum und unbeachteter Diener war. Die Wimpern waren hell wie immer, die Muskeln des Gesichts schienen auch jetzt unbeweglich, aber aus den Augen brach ein Strahl von schrankenloser Freundestreue und Opferbereitschaft. »Du bist der einzige, wegen dessen es sich überhaupt noch lohnt zu leben. Und deine Sache ist die einzige, um die sich mein Sinnen dreht. – – – Was ist sonst noch da? – Du weißt es ja. Den Vater nie gekannt. Ein Adliger soll's gewesen sein. Die Großalten von der Mutter starben. Da war ich noch ein Knirps. Geld wurde ja immer bezahlt. Es gibt eben Leute mit einem halben Gewissen. Ich habe ja diese nützlichen Kröten immer von einem Rechtsanwalt bekommen, dem das Maul zugefroren war. Über den Alten habe ich nie etwas erfahren. Für das Geld habe ich ja auch studiert. Wenn die hier wüßten, daß ich den Doktor phil. eingesargt habe! Dann starb mir die Frau. Und mir blieb nur noch der Junge. – – – Was soll ich das alles hier erzählen! – Wer hat mich zweimal herausgehauen, als es mir an die Gurgel ging? – Wer hat mal nicht geruht, als ich verschüttet war, trotzdem die andern schon weglaufen wollten? – – Wer hat meinem Jungen, der schon elf Tage im Stacheldraht hing und durchlöchert war wie ein Sieb, wer hat dem Jungen ein Grab verschafft? – – Und dann die sieben Monate lang zusammen, von der verfluchten Ecke in Sibirien, bis wir wieder hier drin waren – wer ist bei mir geblieben, als er allein fliehen konnte? – – Und deine Aussichten waren gut, Rainer. Sie waren wirklich gut! Du weißt es so gut wie ich. Und hast es damals auch gewußt.«

Ringfeld strich ihm begütigend über den Kopf. »Du darfst das alles nicht mehr aufrühren. Sonst muß ich ja auch wieder aufzählen. Also lassen wir das! Heute ist heut! Und woran wir zu denken haben, das ist von morgen ab. – – – Mir macht das doch einige Unruhe, daß du so eingenommen bist gegen diese Berndsen. Erinnere dich nur immer, – – das jedenfalls hast du mir zugeschworen: nichts in meiner Sache zu tun, was du mir nicht vorher gesagt hast; nichts, wozu ich nicht mein Einverständnis gegeben habe.«

»Sage lieber: deinen Befehl! – Wir bleiben dann bester im Stil.«

»Woher hast du eigentlich heute abend diese wunderlichen Zahlen von deinen Eltern und Großeltern genommen? Das ist doch alles nicht wahr!«

Lembke stieß ein ärgerliches Lachen aus. »Der Satan halte das aus, wenn die da mit dem fünfzehnten Jahrhundert angesetzt kommen! Solche Familien, wie ich aufgezählt habe, gibt's genug. Ich allerdings gehöre nicht dazu. Aber die Nase hat doch der Ohlep und der Rancke dafür gehabt, daß solche Leute wertvoller sind, als die andern, die sich durch die Jahrhunderte quälen und bei denen die Hauptsache ist, aufzupassen, daß ja nicht einer dazwischen ausfällt. – – Bei mir ist das ja nun anders. Ich bin der erste aus der Familie. Bei mir fängts an. Und bei mir hörts auch auf. Ich bin der letzte. Da hat's der Ohlep billig, mich adlig zu machen – – –.«

»Du bist zu bitter, Richard. Der Adel hat auch seine Verdienste. – – – Er hat sie schon – –.«

»Mag er haben. Bloß keine gelehrten Auseinandersetzungen. Fürs fünfzehnte Jahrhundert danke ich. Du willst mit ganz etwas anderm vorwärts. Und weil du es willst, will ich es auch. Und nie hab ich mich in meiner Haut so wohl gefühlt, wie jetzt, wo sie mich alle für ein Stück Tapete halten, und ich dir besser dienen und helfen kann – – und vor allem besser für dich wachen kann.«

»Genau wie die andern, kennst du doch auch ihre Vergangenheit. Wenn sie auch keine Ahnung hat, daß du eingeweiht bist.«

»Vergangenheit hin, Vergangenheit her! – Ich habe sie gesehen. Und wenn sie verkehrte Gleise marschiert, ist sie geliefert. Mir scheint, sie griff schon am ersten Tage sehr hoch.«

»Was heißt denn das nun wieder?«

»Sie ist doch ein Weib.– – – Weib bleibt Weib!«

»Aber hier ist niemand – –.«

»Das will ich hoffen.«

»Richard, du siehst Gespenster!«

»Und zwar ein sehr schönes! Du gibst doch zu – – nun, das dumme Wort hübsch – paßt nicht hierher, aber eine Sorte für sich ist sie. Und man sieht das doch auf den ersten Anhieb: es steckt etwas dahinter!«

Rainer Ringfeld schüttelte den Kopf. »Deswegen ist sie ja auch hier.« Er stand auf. »Ich bin überrascht. Ich hatte erwartet, etwas ganz anderes zu hören. Du hast doch eigentlich niemals eine Laune!«

»Dienerschaft mit Launen gibt es nicht.«

»Jetzt bist du nicht Dienerschaft.«

»Na eben! Da habe ich vielleicht eine Laune.« Er lachte wieder sein seltenes Lachen. Es kamen stoßweise tiefe Töne aus der Kehle, ohne daß sich die Gesichtsmuskeln im geringsten verzogen. »Du hast deinen Willen. Das Mädel ist ja nun da. – – Und ich habe meinen Schwur. Ich weiß auch schon: sie ist zwar die erste, aber sie wird nicht die letzte sein. – Es werden noch mehr kommen. Und Ihr werdet schöne Löcher in euer Netz bekommen.«

Ringfeld sah einen Augenblick sinnend an die Wand. »Ich glaube nicht, daß so etwas zweimal da ist – –.«

»So ist's richtig! – – So stimmt's!«

»Ich verstehe dich heute nicht, Richard. Das ist doch Unrecht von dir. Jedenfalls – – der Schwur! Ohne mich nichts, gar nichts! Ohne meinen Befehl keinen Schritt. Ohne meinen Wink keine Bewegung! – – Daß sie dich nicht mag, glaube ich nicht. Wenn sie deine Vergangenheit kennen würde, würde sie dich sogar lieben – –.«

»Danke!«

»Ich meine, lieben, wie ich dich liebe. Liebhaben –.«

»Es ist besser, du paukst ihr jeden Tag ein – – oder nicht du – – irgend ein anderer: hier arbeitet keiner auf eigne Rechnung. Jeder ist nur eine Nummer im Großen Spiel. Menschen gibt's hier nicht.«

»Das weiß sie. Seit Jahren. Und heute hat sie es auch von mir gehört.«

»Gut. Sehr gut!« Lembke plierte mit den Augen. »In solchen Sachen – – wie lange dauert das Gedächtnis einer Frau? – –«

Ringfeld stand von seinem Stuhle vor dem Bett auf. »Du wirst noch anders denken. Hoffentlich schon morgen.« Er reichte ihm die Hand: »Gute Nacht, mein Junge!«

»Danke! – – Auf unsern Schwur: Immer auf Wacht für den andern! – «

»Und schlaf wohl!«

»Zu Befehl, Herr Major!«

* * *

Haus Wahnheim war eine gastliche Stätte. Man durfte an den Empfangstagen damit rechnen, dort interessante Menschen und, darüber hinaus, Männer und Frauen zu treffen, die für die Öffentlichkeit Bedeutung hatten. Die Kraft des geistigen und wirtschaftlichen Zirkels hatte allmählich dahingeführt, daß man sich nicht nur für ein viertel oder ein halbes Stündchen einfand, um ein wenig in diese Luft getaucht zu werden, oder um sagen zu können, man sei auch dagewesen, sondern der große Kreis der Interessierten legte je länger, je mehr Wert darauf, einen solchen Abend auch ganz auszukosten.

Anna Wahnheim, geborene Freiin von Rancke auf Ruhrig, versah freilich selten die Rolle der Hausfrau. Sie befand sich während eines großen Teils des Jahres in Sanatorien. Ihr Herz war nicht stark genug, um den schweren Luftdruck des norddeutschen Tieflandes ununterbrochen auszuhalten. Für sie trat Wahnheims Mutter ein.

Von den vielen, die zu dem Hause Wahnheim einen herzlichen Zusammenhang gefunden hatten, sagte keiner zu ihr »Gnädige Frau!« oder »Hochverehrte Gnädige«. Sie nannten sie alle »Großmama!« Bis auf ihren besonderen Liebling, den Herrn Engelbert, Freiherrn von Rancke auf Groß-Bestritz.

Er aß Vielliebchen mit ihr, küßte ihr die Hand und sagte: »Mädelchen, Mädelchen, warum haste bloß einen andern jenommen!! Konntste nich auf mich warten?« Sie lächelte und strich ihm über den Kopf. »Ich war auch mal jung und fein und schlank. Aber du hast dich doch gar nicht beeilt!« »Ja, ja. Es ist richtig, 'n bißchen schuld daran bin ich wohl auch.« Sein gemacht melancholischer Blick traf die danebenstehende, in Jugend funkelnde Rose, die dreiundzwanzigjährige, vielumworbene. »Schade, schade, Rosachen! – Bei dir is es umjekehrt. Bis du mal heiratsfähig jeworden bist, bin ich wohl jenseits von Jut und Böse.« Sie riß aus einem Fruchtkorb eine große, ungeteilte Ananas heraus und warf ihm das stachelige Geschöpf mit fröhlichem Schwunge an den Kopf. »Das macht nichts. Kriegen tu ich dich doch!« – – Großmama fand diese Rede gräßlich, so ganz und gar unweiblich. Hätte das wohl irgendeine zu »ihrer« Zeit gesagt?! Aber Rancke tröstete die alte Dame. »Daran mußt du dich nich stoßen, mein Mädelchen! Die Generationen sind verschieden. Und das reibt sich immer aneinander. Rosachens Göhren werden dann wieder wie ihr damals wart. – Leider muß ich ja sagen, für das Rosachen sind die Aussichten reichlich mies! Sie hat jetzt schon Angst vor der Plastik. Und wenn sie auch nich jrade hungert deswegen, aber – – ich weiß nich – sie wächst sich nochmal zum Skelett aus. Und jrade die Dinger mag ich nu nich besonders jern.«

Rose setzte sich ihm gegenüber, ganz dicht, auf ein niedriges Sesselchen. »Sei mal vernünftig, Bert! – – Versuch es mal! Du tobst im Lande umher. Jeder Mensch muß doch einen Zweck und ein Ziel haben. Sonst ist er doch – – – nun, sonst braucht er doch überhaupt nicht da zu sein. Bei dir geht es so weit, daß du schon einfachen Unsinn redest. Denn du weißt ganz genau, daß ich leider Gott sei dank hundertfünfunddreißig Pfund wiege.– – Ich werde dich von allen Irrtümern heilen. Von allen! – Das kann ich nur, wenn ich dich jeden Tag unter Aufsicht habe. Und deswegen müssen wir uns heiraten!«

»Das is ja denn was anderes! – – Freilich 'n bißchen einseitig.«

Lothar Wahnheim war etwa fünfzig Jahre alt. Dunkel, ernst und ein wenig Schwergewichtler, machte er erst Eindruck, wenn er saß und seine ein bißchen überhängenden Augenlider hob. Dann war das Gesicht ganz Geist und Energie. Er trug einen spitzgehaltenen Vollbart, und weder dieser Spitzbart noch das lockige dichte Haupthaar zeigten den leisesten grauen Schimmer. Wer ihm gegenübersaß, und seinen Worten zuhörte, wußte schon nach fünf Minuten, daß dieser Mann auf die Unterstützung seiner Rede durch irgendwelche Gesten völlig verzichtete. Er hatte ein feines Gefühl für die Dynamik der Kehle und beherrschte diese Dynamik meisterhaft. Aber Worte durch körperliche Bewegung zu unterstreichen, verschmähte er; nicht aus einer Empfindung für die Unkultur der meisten Gesten, sondern aus angeborenem Sparsamkeitssinn. Er sprach nie von »Ehre«, weil er wußte, daß die Ehre verschiedene Kleider und Farben trug; je nach dem Boden, in dem sie wurzelte. Aber er sprach bei jeder gegebenen Gelegenheit in einem klaren Akkorde von »Ehrlichkeit«. Vielleicht wäre es ihm bei den sehr verschiedenen Gebieten, deren Vertreter in seinem Hause verkehrten, schwergefallen, den unerläßlichen vornehmen Boden für manchmal widerstreitende Auffassungen zu bieten, aber er besaß als unerschütterliche Unterstützung seine »Generalidee«. – – Gegenüber seinem Arbeitsplatz im Stadtkontor, wie in seinen Fabriken, hing ein in Plakatform gehaltenes großes Bild. Ein breiter Rahmen, eine weiße Grundfläche und quer darüber in massig schweren Buchstaben nur das eine Wort: »Wirtschaftlichkeit«. Mancher hätte gesagt, so etwas sei überhaupt kein Bild! Es sei ein zur Phrase gesunkener Begriff oder ein zur Phrase erhobener Gemeinplatz, wie die Kommandoworte des fröhlichen, naiven Lächlertums: »Mensch! Ärgere dich nicht!« – – oder »Hab Sonne im Herzen!« – – Man höre zwar Befehle, aber wie solle man es machen, wenn etwas da ist, worüber man sich schwer ärgere; woher solle man Sonne haben, wenn man sie eben nicht habe?!

Wahnheims Wort »Wirtschaftlichkeit« war kein Befehl. Es folgte ihm nicht einmal ein Ausrufungszeichen. Es hing an der Wand wie ein im Relief wiedergegebenes Monument. Es war sein Stecken und sein Stab. Und er, der niemals Romane las, sich aber in jeder freien Stunde mit Geschichte beschäftigte und in sie inbrünstig versenkte, weil er in ihr die wertvollste Zusammenfassung aller dieser »stotternden Geschichten« sah, fand, wohin er auch blickte, immer hinter allen Geschehnissen von der ältesten Zeit bis zu dem Neuesten und »Allerneuesten« das Wort »Wirtschaftlichkeit«. Dieses Wort machte vor nichts halt; dieses Wort verschonte nichts. Es galt für Wahnheim von der Religion bis zu den Nackttänzen. – – – Er hatte einmal einen Satz gehört, der ihm tief ans Innerste gegriffen hatte. Dieser Satz war von der Kanzel heruntergeschwebt, unter der er mit seiner Frau Anna, und nur ihr zu Liebe, gesessen hatte, ohne Widerstand, aber auch ohne Hingabe. »Religiosität« hatte der da oben gesagt »verhält sich zur Religion, wie Heimweh zur Heimat«. – – Der Satz war alles, was er mit sich durch das Kirchenportal in die Außenwelt getragen hatte. »Ich habe eigentlich immer Heimweh. Ich bin erfüllt von der Sehnsucht nach einer Heimat. Aber ich weiß nicht, wo diese Heimat liegt. Ich kenne sie nicht.« Und aus der Tiefe dieses Gefühls lehnte er jede Religionsform ab. Unter dem erhabenen Begriffe »Religion« konnte er sich nur etwas ganz und gar Unwirtschaftliches vorstellen, nur etwas, was außerhalb rechnender Linien lag. Er sah aber nichts, gar nichts Menschliches, was nicht diesen schweren Unterton der Wirtschaftlichkeit trug. Für ihn war einfach die Religion die stärkste, die es verstand, die reichste zu sein. Und auf einem andern Gebiete? – – Montecucculis berühmter Schrei: »Krieg kostet erstens – Geld, zweitens – Geld und drittens – Geld!« war ein Blendlicht von unwiderstehlichem Glanze für das einfache, trockene Bild, das in dem Arbeitszimmer an der Wand hing. Weiteres schloß sich an. Als Napoleon in Rußland niedergebrochen war und sich auf dem Hunderttausende zerwürgenden Rückzuge befand, wollte er zu Marschall Ney einen Trost aufsteigen lassen; und was sagte er? – – – »Ich habe in den Kellern der Tuilerien noch vierhundert Millionen Franken liegen!« Wenn es auch nichts anderes hieß, als: »In meinem großen Konzert habe ich das Finale noch nicht klingen lassen; ich bin imstande, wieder über die Völker herzufallen und sie glücklich zu machen!« so sangen doch vierhundert Millionen Franken dasselbe Lied wie das stumme mit allen Melodien ausgestattete Bild an der Wand. Wenn das seit 1763, der Zeit des Alten Fritz, eingeschachtelte Polen jetzt den Korridor nach der freien See verlangte, um einen Freihafen besitzen zu können, – war das sentimental? – Das war wirtschaftlich. Wenn Rom vor Karthago erschreckt die Augen aufriß und mit allen erdenklichen Mitteln, Hunger, Verrat und Lüge an die Vernichtung der Punier ging, war das verletzte Eitelkeit oder beleidigte Ehre? – Das war »Wirtschaftlichkeit«!

Wirtschaftlichkeit ging für Wahnheim durch alle Zeiten und durch alle Völker. Sie war der, manchmal freilich schamhaft verborgene Beweggrund für Zepter und Krone; sie war die unverhüllte Triebfeder für die letzte Kate im letzten Dorf. Sie hatte angefangen bei dem Linsengericht, das um das Recht der Erstgeburt verkauft wurde. Sie hatte durchgehalten bis zu dem größten aller bisherigen Kriege, bei dem ein ganzer Erdteil in Flammen stand. Sie würde sein bis ans Ende aller Tage.

Sie war einfach der Schlüssel zu dem Problem »Glück«. Er stützte sich bei seinen Sätzen auf die Erkenntnis, daß der »Friede Aller« nur der kürzere Ausdruck für die wirtschaftliche Zufriedenheit Aller sei.

Wahnheim war wie ein Philosoph, der vor einem großen Würfel hockt und ihn von allen Seiten mit eifrigem Bemühen studiert; mit der Gewissenhaftigkeit, der Treue und der Ausdauer eines Menschen, der von sich selbst glaubt, er besitze die seltene Gabe der Logik. Er fand überall dasselbe. Freilich gab es noch eine Seite an dem Würfel. Die war nicht sichtbar. Sie lag unten. Aber sie umzudrehen, lohnte sich nach den klaren Bildern und Spiegelbildern der andern fünf Seiten nicht.

Auf der verdeckten Seite wäre noch einiges andere als »Wirtschaftlichkeit« zu finden gewesen; etwas, was mit Kontobuch und Rechenschieber nicht auszumessen war: Vaterlandsliebe, Überlieferung, Haß, Rache, Treue. Aber er drehte den Würfel nicht um, weil er der Überzeugung war, wie wild auch das durcheinanderschießende Muster der sechsten Seite sein mochte, es würde immer erstickt werden durch den unerschütterlichen Glanz der andern fünf Seiten. Und der hieß – – ohne den geringsten störenden Strahl: Wirtschaftlichkeit!

Jener sehr wichtige Gedanke aus der mechanischen Welt kam ihm niemals, daß immerhin jeder Würfel ruhen müsse, und daß die unterste Seite schon aus diesem Grunde nicht unwesentlich sein dürfe. Denn wenn sie auch unsichtbar war, wenn sie auch nur eine Seite gegen die fünf andern war, – – – sie trug den Würfel.

* * *

Die Gesellschaftsräume lagen im oberen Stockwerk. Ihre Fenster gingen nicht nach der breiten, am Alsterufer entlang führenden Luxusstraße hinaus, sondern schenkten dem Hinausschauenden einen Blick in den wundervollen Wahnheimschen Park. Der Aufgang zu den Räumen führte über eine sehr breite Treppe, deren Marmorstufen mit Teppichen belegt waren. Das Treppenhaus hatte riesige Ausmaße. Es ging vom untersten Eingange bis nach oben unter den Dachboden. Roses »ewig neue Ideen«, wie Großmama das in freundlicher Bewunderung nannte, hatten verlangt, daß die unzähligen Möglichkeiten, diesen kirchenhaft wirkenden Raum bis in den letzten Winkel zu erleuchten, heute nicht benutzt wurden. Kein einziger der vielen elektrischen Beleuchtungskörper wurde zum Glühen gebracht. Dafür standen von unten bis hoch oben auf beiden Seiten auf jeder fünften Stufe eingekleidete Diener. Sie stützten in statuenhafter Unbeweglichkeit eine Standartenstange auf den Marmor. An deren oberem, krummem Ende hing eine große Laterne, die durch farbige Scheiben gedämpftes Licht auf die Besucher warf.

Rose hatte auch mit der bei solchen allgemeinen Empfangsabenden üblichen Einrichtung gebrochen, nach der man »erschien«, sich bei der Frau und dem Herrn des Hauses meldet, und zwar nur auf einen Moment, um dann in einem Zirkel unterzutauchen, wobei es auch durchaus nicht schadete, wenn man sich einmal bei dem Gastgeber nicht gemeldet hatte.

Wahnheim stand auf der drittuntersten Stufe, nahm jeden Gast in Empfang und leitete ihn nach der Begrüßung durch eine liebenswürdige Handbewegung weiter zu seiner Tochter. Rose stand auf der obersten Stufe, bewillkommnete die Gäste und führte sie Großmama zu, die zwei Schritte hinter dem breiten offnen Eingange zum ersten Saale stand.

»Bert hat versprochen,« hatte sie zu ihrem Vater gesagt, »ganz früh zu kommen. Der kann dann oben helfen, die Frostperiode zu überwinden.«

Es war eine freudige Aufregung in ihr. Martha Berndsen würde auch kommen. Ihr war das ein Ereignis. Es war ihr endlich gelungen, näher an diese mit einem wundersam freundlichen Ernst ausgestattete Sphinx heranzukommen. Gleich vom ersten Tage hatte sie eine starke Zuneigung zu ihr gefaßt. Und diese Zuneigung war so umfassend geworden, daß in manchen Stunden alle ihre Gedanken um dieses zurückhaltende Wesen schwangen. Aber alles Bemühen, das verschlossene, mit einer erstaunlichen Sicherheit und Bestimmtheit begabte Menschenkind aufzuschließen, war bisher wie an einer unsichtbaren Mauer zerschellt.

Sie hatte sie nicht »eingeladen«. Das Wort war ihr zu steinern gewesen. Sie hatte sie mit aller Herzlichkeit und Dringlichkeit gebeten. Sie hatte auch ihre Augen noch mehr sprechen lassen als ihren Mund. Martha Berndsen hatte gelächelt, eine Weile geschwiegen und dann gesagt: »Sie wollen meine Sehnsucht stillen!« – – Für dieses herzhafte Bekenntnis hätte sie ihr um den Hals fallen mögen. Was sagte es nicht alles!

Und als sie nun beim Hinunterblicken unter der Zahl der Ankommenden Martha sah, die gerade einige Worte mit Vater wechselte, benutzte sie ihre gesellschaftliche Gewandtheit, um das Schauspielerehepaar, das sie eben begrüßte, in strahlender Herzlichkeit an sich vorüberzubugsieren und stieg in freudiger Eile die Stufen hinunter, Martha entgegen, hier und da einen bewillkommnenden Händedruck austauschend.

»Wie freue ich mich!« Sie nahm Martha bei der Hand. »Kommen Sie – wir stellen uns beide oben hin. Auf meinen Posten. Es dauert nur eine Viertelstunde. Sieben Minuten sind schon rum. Ich such' noch einen bestimmten Menschen.«

»Er – –, sie – –, oder es?«

»Mann! – – Meinen Vetter. Baron von Rancke. Meine Mutter ist eine geborene Rancke. Den möchte ich Ihnen vorstellen.«

Martha Berndsen lächelte. »Also scheint er ein wichtiger Mann zu sein.«

Rose blinzelte etwas mit den Lidern. »Ich mag ihn ein bißchen, ein bißchen sehr! – –« Dann schlug sie die Augen groß auf. »Ich möchte auch mal Ihr Urteil hören – – –.«

»Seinetwegen oder meinetwegen?«

Rose zog es vor, das mit einem Lächeln zu beantworten. – – Sie sahen beide zwischen dem Vorstellen und dem Weiterschieben der Besucher nach unten. Endlich tauchte Ranckes schlanke Gestalt auf. Mit nachlässiger Geschmeidigkeit glitt er zwischen den Ankommenden hindurch. Es mochte nicht leicht sein; denn viele schienen ihn zu kennen. Er half sich mit Augenzwinkern, Handwinken und freundlicher Neigung des Kopfes. Bei Lothar Wahnheim sprang er mit einem kurzen Gruße vorüber. Sie waren zwar Onkel und Neffe, beachteten aber dieses Verhältnis nach gegenseitiger Übereinkunft nicht; denn Rancke war schon sechsunddreißig und Wahnheim war erst fünfzig. Sie nannten sich Lothar und Engelbrecht. Wahnheim hatte eine starke Abneigung gegen jede Abkürzung von Namen.

Ohne Rancke aus den Augen zu verlieren, hatte Rose ihre Aufmerksamkeit scheinbar allen andern mehr zugewandt als dem Wege, den er nahm. So kam es, daß er plötzlich hinter ihr stand. »Na, wie is es? Rosachen? – Keinen Blick aus den Sammetaugen?«

Sie drehte sich langsam um. »Ach, da bist du ja! – Großmama wird sich freuen!«

»Hat auch allen Jrund dazu« bestätigte er unbekümmert.

»Darf ich vorstellen?«

Rancke reichte Martha Berndsen mit einer Verbeugung die Hand. »Sind Sie auch Erziehungsobjekt meiner talentvollen Kusine, jnädiges Fräulein? – – Dann müßten wir uns sogar beide Hände reichen. An mir doktert sie unjefähr seit meiner Jeburt herum.«

»Bert – – – sei doch vernünftig – – –!«

»– – – aber sie hat immer nur Katastrophen erlebt.«

»Wahrhaftig ja! – – Jetzt wieder eine! Geh nur! Geh zu Großmama, unartiger Bert!«

»Aber ich darf doch ›Auf Wiedersehen‹ sagen an diesem janz prachtvoll aufjezogenen Abend? – – Rosachen, zu lange in Unjnade, das zehrt am Menschen. Sieh da! Da kommen ja auch der Herr Major Ringfeld! Und der Herr Admiral Ohlep mit dem Direktor des Schiffvermessungsamtes. – – Und dort: Lauterberg, Tenor von des hohen C's Gnaden. Siehe da – – auch Herr von François, allmächtiger Chefredakteur. – – Wer ist das da? Is das nich Herr Stein? – Kurt Stein? ›Kurt‹, das is sehr klug gewählt. So für Situationen, Rosachen! meinste nich? ›Jeliebter Kurt!‹ das is kurz und schneidig. Wenn 'ch mir denke ›Jeliebter Engelbert!‹ das is zu lang. Direkt daß man's filmen kann. Meinste nich auch? – – Na, deshalb is ja auch bis jetzt nichts draus jeworden. – – Is das nich der mit dem Flugzeug? Papas Protegé? Vielleicht bißchen zu vierkantig. Aber unverkennbar Rasse drin.«

Sie drängte ihn fort. »Also bitte, Bert! Hilf doch Großmama. Wir sind ja hier zu Zweien. Großmama ist allein!«

Martha Berndsen hatte jedes Wort gehört. Sie hatte keine Veranlassung gehabt, sich mit mehr als einem Lächeln an dieser Unterhaltung zu beteiligen.

Als ihre Blicke wie über Unwesentliches auch über die Treppengarde der Dienerschaft strichen, zuckte sie zusammen und trat unwillkürlich einen halben Schritt zurück. Dort stand wahrhaftig Lembke. Einige Stufen unter ihr. Starr im Gesicht, starr in der Haltung, als Standartenträger für eine der großen Lampen. Sie kniff die Augen zusammen und bohrte sich in diese gipsige harte Maske. Hier war jeder Irrtum ausgeschlossen. Das war er! Er, der Lembke, das Faktotum von draußen aus der Schmiede!

Der Strom der Besucher ließ nach. Die Viertelstunde war auch um. Oben flutete bereits alles durcheinander.

Kurt Stein hatte sich ziemlich lange bei Wahnheim aufgehalten. Er luchste zu Rose hinauf, um den geeigneten Augenblick abzuwarten, in dem sie weniger beansprucht sein würde. Neben ihr erkannte er Martha Berndsen, mit der er sich längere Zeit durch den Sehsprecher unterhalten hatte. Als er die beiden so eng beieinander und mit so freundlichen Gesichtern füreinander sah, beschloß er sofort, Martha Berndsen zu benutzen, um auch Rose in das Große Spiel hineinzubekommen. Eine Zukunft ohne Rose war für ihn ganz und gar undenkbar. Er war dreißig Jahre geworden, ohne daß eine Frau ihn so weit eingenommen hatte, daß er sie über seinen Arbeiten nicht wieder vergessen konnte. Nun war diese gekommen. Sie hatte Sonne in sein Leben gebracht. Aber mit der Zeit war er doch auch ein Mensch geworden, der durch den Ernst seiner Arbeit eine sichtbare Schwere bekommen hatte. In der »Gesellschaft« wurde diese Schwere zur Schwerfälligkeit. Das hatte ihn als einen unbeholfenen Menschen erscheinen lassen, ihn oft genug geärgert und auch oft genug gequält. Das Ziel des Geheimen Bundes füllte seinen ganzen Arbeitssinn aus. Ein Triebfeld aber, das durch die ganze Manneskraft schwingt, konnte er sich nicht als immerwährendes Geheimnis vor der einen Frau vorstellen, die er mit allen Fasern seines Herzens liebte. Das würde stets nur ein halbes Reden und eine ganze Zerrissenheit geben. Von zweien, die eine Einheit bilden, mußte jeder von jedem alles, aber auch alles wissen. Und nun, da Rainer Ringfelds Widerstand gegen die Aufnahme einer Frau überhaupt überwunden war, wollte er auch für seine Rose die Bahn freimachen.

Er verbeugte sich vor ihr. Sie stellte ihn Martha Berndsen vor. Die Begrüßung wäre unter einem toten Schweigen verlaufen, wenn nicht Rose zu einigen freundlicheren Worten gegriffen hätte. »Aber ich muß mich doch wohl bei Ihnen entschuldigen« sagte sie mit liebenswürdigem Lächeln »wegen der Wiederholung. – Das alles hat Ihnen mein Vater dort unten zweifellos schon viel besser gesagt.«

Das wußte er: Das war der gegebene Augenblick, zu erklären, daß man so etwas nicht oft genug hören könne, und daß man es sogar von Rose Wahnheim noch erheblich lieber höre als vom Herrn Kommerzienrat. Man sah ihm auch an, daß er nach Worten suchte – – aber woher nimmt man sie? – Sie sind doch gar nicht da – das wird ja alles viel zu schnell verlangt! Und so kam nichts als eine Verbeugung zustande, die zu allem Überfluß noch eine verkehrte Zustimmung war.

Er wurde aber schnell erlöst. Wahnheim kam mit einigen Gästen heran, und der schon aus Großmutters Hausstand übernommene alte Familiendiener Jakob trat das Kommando über den ganzen Zugang an. Er verminderte die Treppenposten, zog sie dann fast ganz ein und verteilte sie auf die Gesellschaftsräume.

Wahnheim schob seinen Arm in den Kurt Steins. »Kommen Sie, mein lieber junger Freund. Sie haben eine verständige Palette gemischt für die Farben des neuen Morgenrotes.« Seine Stimme wurde leiser. »Es sollte heute so eine Art Ehrenabend für Sie werden, aber Major Ringfeld hat mir einen Wink gegeben. Er möchte uns beide erst noch sprechen. Er ist drüben in meinem Zimmer. Er hat auch François hingebeten. – – Rose, mache du da drin mal vergessen – – so auf eine Viertelstunde – – daß wir nicht da sind. Laß dir von Engelbert helfen. Und wenn vielleicht – – er sah Martha Berndsen an, von der ihm seine Rose schon so viel vorgeschwärmt hatte.

Schnell begreifend lächelte sie. »Ich helfe auch, Herr Kommerzienrat. Sehr gern!«

Die Besorgnis und Vorsicht Wahnheims waren überflüssig. Es waren zu viele da, um einzelne zu vermissen. Auch hatten sich schon Kreise mit jener Feinfühligkeit durcheinander geschoben, die jedes Fachsimpeln und jede Spießerei ausschloß. Die Musik sprach mit der Mathematik, der Sportler mit der Vertreterin sozialer Fürsorge. Der schriftstellernde Weltreisende ließ sich von der Verfechterin der Tanzkunst einweihen. Sie sprach vom Tanz wie von einem Geheimnis, und aus ihr glühte die Seligkeit, dieses Geheimnis offenbaren zu können. Es gab nichts, was nicht durch diese Kunst ausgedrückt werden könnte. Alles – – von der Schöpfung bis zum Erstarren der Welten konnte man durch das Zucken und Schwenken durchtrainierter Arme und Beine, durch Hüften und Kinn plastisch machen.

Rose hörte beruhigt das Stimmengewirr. Nirgends war eine frostige Ecke. Sie sah die bedienende Schar unter Jakobs Leitung lautlos hin und her eilen. Er glitt an den Wänden entlang und dirigierte alles wie von altersher mit seinen Augen.

Sie zog Martha mit sich hinweg. »Sollten wir nicht ein paar Minuten für uns übrig haben? – – – Würden Sie die mir schenken?«

Als sie in Roses abgelegenem Zimmer standen, drückte sie die Freundin mit sanfter Gewalt in einen Sessel und blieb vor ihr stehen. In ihr Gesicht war, für Martha unverkennbar, ein Zug tiefer Erregung getreten.

»Haben Sie schon einmal zu einem Menschen ganzes Vertrauen gefaßt, so ganz und gar? – – Ehe Sie mit ihm auch nur ein einziges Wort gesprochen haben?«

»Mann oder Frau?«

Rose lehnte ab. »Zu einem Menschen.«

Martha brauchte gar nicht lange zu zögern. »Ja. Das habe ich.«

»Sie kennen das also. So ist es mir mit Ihnen ergangen. Vom ersten Augenblick, als ich Sie sah, habe ich mich nach Ihnen und Ihrer Freundschaft gesehnt. Können wir nicht die letzte äußere Form fallen lassen? – – – Können Sie mir nicht das ›Du‹ schenken? – – – Ich muß Ihnen auch sagen, ich sage schon lange zu Ihnen ›Du!‹ – –«

Martha stand auf und legte ihr die Arme um den Hals. »Du liebes dummes Mädelchen – –!« und gab ihr einen Kuß.

»Weshalb schiltst du mich dumm?« fragte die glückliche Rose.

Martha lachte. »Das kommt ja nicht aus dem Verstande. Das kommt aus dem Herzen. Natürlich kann der Verstand auch mal schelten. Das Herz kann nur froh sein oder kann auch weinen. Schelten kann es nicht.«

»Ich weiß nicht – – –« sagte Rose sehr gedehnt.

»Was denn, Rose – – du – – –.«

»Ihr beide, du und Bert Rancke, seid mir die wichtigsten Menschen. Du seit ungefähr anderthalb Jahren. Er schon länger. Aber ihn möchte ich manchmal verprügeln. Das kommt bei mir direkt aus dem Herzen.«

»Aber – – weshalb denn?«

»Du kennst ihn eben noch nicht. Er ist ein ganz anderer, als der, den du vorhin gesehen hast. Das weiß ich. – – Aber für mich ist er eben alles, – – ganz und gar alles. Und gerade für mich hat er immer diesen unverschämten überlegenen Spott. In Wirklichkeit ist er ein ganz ernster Mensch. Das muß er auch schon sein. Denn Vater stellt ihn sehr hoch. Und der ist anspruchsvoll. Aber mir gegenüber ist er niemals ernst.« Sie reckte beide Arme aus. »Woher kommt das nun mal, daß ich gerade ihn so unbändig lieb habe!? Ich weiß auch genau, daß er nicht – – anderweitig – – – –. Kann er mir nicht mal den kleinsten Gefallen tun? – Er weiß, ich hasse den Namen ›Rosa‹. Kann einer dafür? – Das ist einmal so. – – Er nennt mich immer ›Rosachen‹. Ich heiße wirklich und richtig Rose – – e!«

»Ja, du liebes Dummchen, dann halte diesem widerspenstigen Gesellen doch mal deinen Taufschein unter die wunderschöne Aristokratennase!«

Rose machte eine Handbewegung, als ob sie etwas hinwegfegte und senkte ein wenig den Kopf. »Ich habe außerdem noch einen Jungsnamen: Justus! – – Rose Maria Justus. Von jetzt würde ich also sicher Justus heißen. – – – – –

Da drüben sitzen sie jetzt durcheinander. Das quirlt und sprudelt. Glaubst du, daß mein Vater das zum Spaß macht? Bloß, um ein ›Haus zu machen‹? Keine fünf Minuten gäbe er dafür her. Du weißt ja auch, an unsern Abenden gibt's wenig Musik und gar keinen Tanz. Sieh dich nachher um; so richtige ›junge Leute‹, was man so nennt, wirst du kaum finden. Das sind alles Männer, wirkliche Männer. Hier werden die Fäden aus Vaters Kontor weitergesponnen. Mein Vater ist Kaufmann, ich darf's sagen: Einer von den ganz ›königlichen‹. Für ihn ist der Kaufmannsstand der erste Stand der Welt. Für mich auch. Ich habe ganz und gar Kaufmannsblut in den Adern. Es handelt sich nicht um Kaufen und Verkaufen. Du mußt mal meinen Vater hören! Es handelt sich darum, in Asien und Amerika, in Afrika und Australien – – überall! – – heimisch zu sein. Indien gegen Rußland abzuwägen, die Kolonien gegen das Mutterland. – – Vater, der so wenig Zeit hat, sitzt manchmal abends stundenlang allein mit mir. Das ist aber nicht wie Vater und Tochter. Das ist wie ein König und ein Prophet, und unten sitzt ein Jünger. Oder eine Jüngerin. Ach, wenn du ihn einmal so reden hörtest! – – Es gibt nur zwei Mächte in der Welt: die Presse und den Kaufmann. Und weil die Presse ›leben‹ muß, ist der echte Kaufmann auch da der erste. – – Und dann kam oft der schöne Satz: Nie war eine schönere Zeit für den echten Kaufmann, als jetzt, wo die draußen einem tüchtigen, erfolgreichen Konkurrenten allesamt an die Gurgel sprangen und ihn zu Boden rissen. Dem wieder aufzuhelfen! – – Rose, dem wieder aufzuhelfen! – – Sie nennen, was sie taten, Politik. Einige nehmen den Mund voll und sagen: ›Hohe‹ Politik. Laß dir nichts vormachen! Es gibt überhaupt keine Politik; oder es gibt sie überall! Der Arbeiter, der vier Pfennige Stundenlohn mehr haben will, macht auch in Politik. Und ob ›ja‹ oder ›nein‹, das sagt immer der Kaufmann. – – Weißt du, wenn mir Vater dann manchmal zum Schluß die Hände um das Gesicht legte, so den stillen Jammer solltest du sehen: Schade, schade, Rose, daß du kein Junge bist! Es ist und bleibt doch ein Unterschied. Bring mir wenigstens den richtigen Schwiegerjungen! – – Denk immer dran: er wird mehr als dein Mann sein, er ist ein Erbe! – – – Und nun sieh: ich muß gerade an einen geraten, der kein Kaufmann ist. Es ist sogar noch schlimmer: er ist ein Junker. Aber ich kann und kann nicht von ihm los. Glaub doch nicht, daß ich's nicht versucht habe. Mit allem Willen, Martha. Als wenn man einen Bleistift nimmt und einen Strich querdurch macht: das soll's nicht mehr geben! Das ist aus! Endgültig aus! – – – Aber wenn ich dann nur seine Stimme höre, dann schlägt mir das Herz wie ein Hammer. Und ich weiß, ich kann nicht von ihm los. – – Martha – – – ich werde das nie können!«

»Und dein Vater?«

»Der hält das für Spaß. Gerade das, was mir der heiligste Ernst ist. Und Bert behandelt mich auch immer wie ein Kind. Oder – – nicht so, so als wenn ich mit ihm Spaß triebe. Als wenn er mir einfach nicht glaubte.« Sie trat ganz dicht an Martha heran. »Sieh ihn dir doch mal an«, bat sie ernst »anders als so ›irgendeinen‹! So recht gründlich! – – Das heißt – – – – –« ihr Atem ging mit einem Male sehr schwer und in ihre Augen war eine Bedenklichkeit gekommen.

»Was denn? – – Weshalb stockst du – – –?«

»Martha – – – –!«

»Ja – – – was denn?«

»Du wärst die einzige, die mich bei ihm ausstechen könnte – –.«

Martha legte ihr mit einem herzlichen Lächeln die Hand auf den Arm. »Für mich kommt Herr Baron von Rancke nicht in Frage.«

Es entstand eine Pause. Endlich sagte Rose: »Du kennst ihn ja erst seit fünf Minuten. Oder – – – gefällt er dir jetzt schon nicht?«

»Wie du vorhin gesagt hast: ›woher kommt es, daß man gerade den einen – – diesen einen – – – – – ‹! Vielleicht wird er mir sogar sehr gefallen. Aber der ›Eine‹ ist er nicht.«

»Gibt es ihn?« fragte Rose schmeichelnd.

Martha nickte.

»Und er?«

»Er weiß nichts davon.«

Rose fiel in einen Stuhl und schlug die Hände zusammen. Sie starrte Martha wie ein Wunder an. »Im zwanzigsten Jahrhundert? – Liebste!! – Das hat uns doch vom Warten erlöst. Das war früher mal! – Jetzt muß das Mädel doch einfach reden!« Sie sprang wieder auf und eilte zu Martha hin. »Kann ich helfen? – Raus damit! Wer ist er? Wo ist er? Kenn ich ihn?«

»Ach, du niedliches Dummchen – –.«

Da beugte sich Rose zurück. In den tiefen Ernst, der über ihr Gesicht zog, mischte sich ein Schatten von Bitterkeit. »Soll es mir mit dir gehen wie mit ihm? – – Mit euch beiden einzigen? – ›Niedlich‹? – und ›Dummchen‹ –? Daß du mich auch wie ein Kind behandelst? – –« Sie hatte nasse Augen. »Soll ich noch länger um dich werben?«

Martha dachte daran, wie Rainer Ringfeld ihr in den letzten beiden Tagen Instruktion erteilt, wie er sie in die letzten Geheimnisse der Schmiede eingeweiht und wie er in nüchternen Plänen und mit eiskalten Worten von dem »Großen Spiel« gesprochen hatte. Und neben ihm hatte ein heißes Herz geschlagen. Aber das lag für ihn ganz außerhalb seiner Welt. Immer mehr hatte durch seine Worte hindurchgeklungen, daß sie, wie alle andern, wie er selbst, nichts als Figuren waren. Und ihr war ihre ganze Kraft zur Verstellung nötig gewesen, um sich nicht zu verraten, wenn sie sich beide in die Augen sahen. Nein – – Rainer Ringfeld mußte auf andere Weise verdient werden, als daß ein Weib nur sagte: Ich liebe dich und will dich haben! So sympathisch ihr Rose Wahnheim war, in dieser Beziehung waren sie grundverschieden. Liebe war kein Recht. – – Aber dieser elementare und ganz echte Gefühlsausbruch bei Rose hatte ihr doch ans Herz gegriffen.

Sie stand auf und ging zu ihr, die in einer rührend-erwartungsvollen Haltung zurückgetreten war. Sie brachte ihr Gesicht ganz nahe an Roses Gesicht und legte ihr beide Arme um den Hals. »Siehst du mich?«

Rose nickte.

»Siehst du mich wirklich? – Und dir so recht nahe?«

Rose lächelte.

»Laß dir das genug sein. Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Wir wollen erst einmal für dich sorgen. Rose!! – Wenn es geht! – Der andere muß zuletzt doch auch wollen – – – – –.«

Rose drehte den Kopf etwas zur Seite. »Mit der Zeit muß sich das erzwingen lassen, wenn man einen so ganz und gar lieb hat. – – Nur – –,« sie lächelte und seufzte zugleich, »es geht so schrecklich langsam.«

* * *

»Schön, daß Sie sich auch mal unserer erbarmen, Herr Baron.« Rancke trat an einen kleinen Kreis heran. »Stoßen Sie mit an!«

»Worauf?«

»Gegenwart und Zukunft.«

»Jejenwart nich« sagte Rancke und hielt dem holländischen Generalkonsul die Hand fest, die ihm weißen Burgunder in ein Glas einschenken wollte. »Und damit überhaupt nich.« Er sah sich um. Schon stand ein Diener vor ihm. »Bringen Sie mir 'n Jlas Wasser. Fruchtsaft darf's auch sein.«

»Nanu? – – Mäßigkeitsverein?« fragte der Generalkonsul mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Auch nich,« erwiderte Rancke, »jänzlich enthaltsam.«

»Natürlich halte ich das in allen Ehren. Aber ich entsinne mich doch – – –.« Er schloß die vielsagenden Worte mit einem Lächeln.

»Machen wir's kurz, mein Lieber. – Haben Sie schon mal so'n wundervolles Frühlicht jesehen, so morgens zwischen drei und vier? – – Wenn die meisten Menschen schlafen und jerechterweise auch schlafen dürfen? – Da habe ich zwischen Tausenden von Menschen jesteckt. Die haben alle nich jeschlafen. Statt daß der schöne Nebel von den Wiesen wich, legte sich Pulverdampf drauf. Und die Wolken, die an den Himmel jehören, krochen in den klebrigen Jräben entlang. Da wurden zwei Bataillone einjesetzt. Die stapften vorbei, unterm kommenden Morgenrot. Der eine sang 'n Heimatlied, der andere jaulte, und andere, die lachten. War aber kein richtiges Lachen. Es klang, daß man einen Krampf kriegen konnte. Aber ins Feuer jingen sie alle. Alle miteinander. Unsere lieben, lieben Jungs. – – Und hinten lagen die leeren Rumfässer. – – – Einmal jesehen – – – und nie wieder einen Tropfen! – – Ich weiß, es war nich überall so. Und ich weiß, – – ganz genau, bei denen auf der andern Seite wurde es auch jemacht. – – – Tränen, mein lieber Generalkonsul, damit is 'n Mann sparsam. Aber mir schoß das Wasser aus den Augen. Ich trug damals 'n Vollbart. Den hätte ich auswringen können. – – Es jing doch nich zur Kirmes. Es jing von einem blutigen Tanz in den andern. Immer Blut und immer Blut. Das roch nach Pulver, nach Gas, nach Blut, nach Toten. – – Man muß doch atmen. Der Morgenwind war schwer. Er hatte ja zuviel zu schleppen. Und der wuchtete uns durch all das Stickige den verdammten Fuselgestank in die Lungen. – – ›Und wenn mich eine Kugel trifft!! – –‹ Das sangen sie mit klammriger Kehle ›Nimm dir 'nen Jungen, hübsch und fein – Annemarie, es muß ja nich jrad einer sein – – von meiner Kompanie!‹ – – Ich habe jeweint. So'n janzes Jlas voll. Wie Sie's da in der Hand haben. Und jedesmal, wenn mir so was anjeboten wird, is es mir, als wenn ich 'n Jlas voll von meinen eignen Tränen trinken soll. – Das is bei mir kein Jrundsatz und kein Ekel. Das is mir was Heiliges. Trink einer mal die Tränen, die er im tiefsten Jammer versoffen hat. – – – 'n Jlas voll Tränen, das is 'ne unverjeßliche Melodie.«

Nicht nur der Generalkonsul, auch die wenigen anderen sahen Rancke an. Bis auf den kleinen Japaner, der ein Glas Sauerbrunnen vor sich stehen hatte, war ihnen allen aus dem Gesicht jenes verbindliche Lächeln verschwunden, das zwischen weißem Tafeltuch und Kristallgläsern zur Ausstattung gehört.

Wortlos stellte der Generalkonsul die Flasche auf den Tisch und schob sein Glas mit einer energischen Handbewegung von sich. Aus seinen kühlen Augen glimmte ein Schein von Sympathie zu Rancke hinüber.

»Nee – – bitte –,« sagte Rancke »ich will keine Jewohnheiten stören. Und die zweite Hälfte Ihres Trinkspruches auch nich. ›Auf die Zukunft!‹ – – Das mache ich gerne mit.« Er erhob sein Glas gegen alle.

Der Generalkonsul hatte auf einen Wink auch Zitronenwasser erhalten und stieß mit ihm an.

»Wann gibt's den nächsten Krieg, Herr Baron? – Es brennt ja alles!« fragte Bankier Meersdorf.

»Weiß nich. Die Welt sollte nach der jüngsten Verjangenheit den Jeschmack dran verloren haben.«

»Will ich Ihnen sagen. Er steht so halbwegs vor der Tür. Es knistert schon an allen Ecken und Kanten.«

»Mag sein. Uns jeht das Knistern nichts an. Wir machen jedenfalls nich mit. Fragen Sie drüben Exzellenz Kohito!«

Der kleine Japaner lächelte unentwegt. Er war sich bewußt, daß er der einzige in diesem Kreise war, der sicheren Einblick in das hatte, was sich für die Zukunft zusammenballte. Es gab ein Land, daß er aus tiefster Seele liebte. In dem standen seine Wurzeln, über dem blaute sein Himmel: Japan. Und es gab ein Land, das er aus vollem Herzen bewunderte: Deutschland. Wie er es jetzt sah, das war für ihn nicht viel anders, wie wenn einer sich zwischen Mittag- und Abendbrot umzog. Das heißt, nicht mit der Sicherheit eines unbewußt Greifenden, sondern unter nachdenklichem Suchen und unter der Überlegung, ob man nicht am besten täte, den Arbeitsanzug anzubehalten. Aber er hatte auch diesen Akt in allen Einzelheiten studiert. Immer mit dem gleichen Lächeln, das wenig sagte, nichts verriet, manchmal reizte und manchmal abstieß. Und das, wenn man genauer zusah, doch nichts weiter war, als ein gefronter Muskel. Mit tiefem Bemühen hatte er sich immer in jede Erscheinung an diesem Volke versenkt. Denn für ihn waren das Narren, die glaubten, sie hätten das wirklich Deutsche zu Boden gezwungen. Das würde niemals einer können. Ihm war es unzweifelhaft, daß die Kraft der Deutschen im Geistigen lag. Die letzte und höchste Kraft, die gerade dann frei wurde, wenn man ihnen alles genommen hatte, was über sie hingeflutet war. – – – Sein Vater war mit einer militärischen Studienkommission nach Europa geschickt worden und einige Jahre darauf mit einer industriellen Kommission. Man hatte ihnen das Heer gezeigt, man hatte ihnen später Einblick gegeben in die großen Gemeinwesen, von Krupp und Zeiß angefangen bis zu den riesenhaften Rotationsschnellpressen, von den chemischen Fabriken bis zu den Kattundruckereien. Er hörte jetzt noch, wie sein Vater damals gesagt hatte: »Diese Deutschen sind entweder von einer ganz gigantischen Sicherheit in ihrem Besitz – – – oder sie sind erstaunliche Einfaltspinsel!«

Ihn als vierzehnjährigen Jungen hatte dieses Wort seines Vaters schon gereizt. Unfähig, den Gegenstand in seiner ganzen Tiefe zu begreifen, war er doch von dem Rätselhaften gepackt worden. Konnte er sich schon nicht einen einzelnen Menschen vorstellen, bei dem man zweifelte, ob er ein Weiser war oder ein Narr, ein Starker oder ein Schwächling, so war ihm damals gänzlich unfaßbar, wie ein ganzes Volk solches Rätsel aufgeben konnte. Später hatte er dann gelernt, daß ein Volk im Völkergetriebe auch nichts anderes war, als ein Mensch im Einzelgetriebe. So war ja der »Michel« entstanden, die »Bulldogge« – der »Gallische, gallige Hahn«. Was mußte dieser Michel für ein Kerl sein, daß sich fast die ganze Welt gegen ihn hatte verbünden lassen! – Man kann einen Menschen töten. Man kann sogar ein Volk töten. Aber unter den wachsam Herumstehenden waren doch einige, die den Michel in allen seinen Eigenschaften kannten und denen er gerade deswegen eine Hoffnung war. Nicht so sehr eine Hoffnung für sie selbst oder überhaupt einen einzelnen, sondern eine Hoffnung für die große Allgemeinheit.

Von diesem Standpunkt hatte er die jüngste und allerjüngste Vergangenheit dieses in seinen Augen hervorragenden Volkes gesehen. Er rang nach Klarheit darüber, ob es spaßig oder tragisch war, daß ausgerechnet ins Angesicht des zur Erde Gerungenen die Umstehenden mit ihm in den Schrei nach Frieden einstimmten, während sie, die über ihn gekommen waren, alles taten, um sich für den Krieg stark zu machen.

Als den Sieg aller Siege betrachtete auch er den Völkerfrieden; und nur, wenn dieses Wort durch seine Überlegungen glitt, wurde sein steinernes Lächeln lebendig und echt und froh.

Zu Hause setzte man große Hoffnungen auf ihn. Er hatte sie bis jetzt gerechtfertigt. Seine Berichte gaben immer ein Bild, das man glauben durfte, weil es gegenständlich begründet war. Sein Augenmerk war vornehmlich darauf gerichtet, festzustellen, ob der Deutsche sich amerikanisieren lassen würde. Das heißt, ob er sich aus seiner Welt der fruchtbaren Besinnlichkeit in die Welt des rasenden Tempos reißen lassen würde. Er war sich bewußt, daß das gar nichts mit Politik zu tun hatte. Es war das Ringen der Seele eines Volkes gegen die Seele eines anderen Volkes, hier vielleicht sogar gegen die Seelenlosigkeit. Diese schwere Welle des rasenden Tempos kam weit von Westen. Es war erklärlich. Die drüben hatten vier Jahrhunderte durchrast, um die Kultur von vier Jahrtausenden einzuholen. Das war aber ein Tempo, bei dem nur Zivilisation herauskommen konnte. Natürlich waren Oberflächenmenschen da, die diese Zivilisation wegen ihrer hohen Geschliffenheit mit Kultur verwechselten.

Was er sah, erregte ihm zuerst Bedenken. Er mußte eine starke Tempobeschleunigung feststellen. Soweit die Öffentlichkeit in Betracht kam, schien man nur noch »Geschäft« zu kennen und in jeder Pause wildes »Auskosten des Lebens«. Das tanzte, lachte und spielte. Und wer ohne Kenntnis der letzten großen Ereignisse durch die Straßen ging, hätte dieses Volk niemals für ein besiegtes halten können. Die Frauen gingen mittags durch die dichtbelebten Straßen in einem Aufzuge, den sie sich früher nur an sehr festlichen Abenden und in geschlossenen Räumen gestatten konnten und auch gestattet hatten. Die Kaufläden aller Art waren voll von Waren und von Käufern. Die Vergnügungsstätten vollends waren überfüllt. Ein erstaunlich großer Teil der Literatur hatte den Charakter und die Behandlung einer Fabrikware erhalten.

Aber das war nur die Oberfläche. Wer tiefer stieg, sah anderes. Und er tauchte ja tiefer, und das ausgedehnte Netz seiner Spionage auch. Für hundert, die kauften, sah man dann die Tausende, die nicht kaufen konnten. Statt der vielen Frauen, die sich als Ziel für Möglichkeiten boten, nicht immer zu erwerben, sondern um zu »erleben«, sah man dann die, die arbeiteten, die sich mühten, und die dabei in der Stille blieben. Statt einer taumelnden Jugend, die jahrelang nichts über sich gehabt hatte und nun Gleichheit und Gleichwertigkeit nicht auseinanderhalten konnte, traf man auf eine Schicht von Männern, die, unbeirrt durch diese Öffentlichkeit, denselben Weg weitergingen, auf dem sie den Michel groß und stark gemacht hatten.

Er hatte völlig Kenntnis von dem Betriebe im Wahnheimschen Hause. Er wußte, daß Kurt Stein den neuen Flugapparat gebaut hatte, und daß dieses Flugzeug etwas war, was alles bisherige übertraf und mit allem bisherigen brach. Er wußte, daß Major Ringfeld in seinem stillen und abgelegenen Landhause Zusammenkünfte abhielt. Er hätte diesen Zusammenkünften keine besondere Beachtung geschenkt, wenn nicht Ohlep ihr ständiger Teilnehmer gewesen wäre. Der Admiral war ihm immer sympathisch gewesen, weil er in ihm einen Mann von besonderer Tönung sah. Er galt ihm als starker, kluger Mensch, aber er kannte ihn auch als einen verbissenen Hasser, der seine Schiffe nicht vergessen konnte, und von dem er mit voller Sicherheit annahm, daß er sich keiner Verbindung anschließen würde, die ihm nicht zu seinem Ziele, dem Kühlen siedender Rache, verhelfen würde.

Sein gewiegtester Spion hatte schaudernd den Gedanken abgewiesen, heimlich in jenes Landhaus einzudringen. Schon bei der leisesten Andeutung hatte der Mann, dem Gefahr ein Lebensbedürfnis und eine Lust war, mit verhaltener Stimme erklärt: »Überall hin, Exzellenz, – – – – aber dorthin nicht!«

»Der Grund?« hatte er ihn gefragt.

»Ich lasse mir alles gefallen: Menschen als Wache. Die bissigsten Bluthunde. Selbstschüsse. Fußangeln. Schornsteine, in denen vor einem und hinter einem plötzlich die Gitter zuschnappen. – Wir werden mit allem fertig. Da lachen wir drüber. – – – Spiel ist mir das! – – Aber dort draußen arbeiten sie mit Strahlen. Man sieht nichts, man hört nichts – – ein Strahl, Exzellenz, und man ist wie weggeblasen. Buchstäblich wie weggeblasen! Nach dem, was ich gehört habe, bleiben nicht mal die Stiefelsohlen übrig.«

Da war er denn sehr aufmerksam geworden. »Woher – – –??«

»Ich habe vor vier Monaten den Wilkens, unsre Nummer »Vier«, als Laboratoriumsdiener bei Professor Grantow eingeschmuggelt. Er weiß noch heute von keiner Sache, wie sie gemacht wird, denn Grantow, der ja zu denen draußen gehört, läßt keinen in seine Karten sehen, aber er weiß, was sie können. Mit Tieren haben sie es gemacht. Bei Grantow ist nur die Arbeits- und Probestelle. Die Zentrale ist draußen. Nein, in dieses Haus – – – heimlich nicht! Da wird immer gesagt, Strahlen sieht man. Selbst bei Röntgenstrahlen, da hat man doch die umständlichen Apparate. Man weiß doch, was los ist. Aber die da draußen arbeiten nicht nur mit Strahlen, die man nicht sieht, sondern auch mit Apparaten, klein wie eine Zigarettendose oder ein Feuerzeug. Lassen sie die Leute solches Ding einfach verborgen anbringen neben einem Gartenwege oder in einem Hausflur – – man geht durch den Strahl hindurch und man ist ausradiert aus der Weltgeschichte. Eigentlich ist es eine Verbrecherbande – – –.«

Da hatte er zum ersten Male eine sparsame Handbewegung gemacht. »Kein Wort davon!«

»So sehr wie die Welt das Gefühl hat, daß eigentlich jetzt die Zeit der unsichtbaren Strahlen dicht vor der Tür steht – – und was man da vielleicht alles noch erleben kann – – von dem, was die da draußen haben, läßt sich keiner was träumen.«

»Sie sprechen von der Welt von gestern.«

»Es gibt noch eine Möglichkeit, in das Haus hineinzukommen.«

»Also – –??«

»Sie haben da ja auch einen Laboratoriumsdiener. Lembke heißt er. Richard Lembke. Das ist ein ganz trockner stupider Kerl. Einer, wie man so sagt, mit Glasaugen. Wie bei Puppen, wo kein Leben drin steckt. Ich habe mir ihn ein paarmal genau angesehen. Wilkens kann ja auf Anfordern auch fürchterlich dumm aussehen, aber bei dem da draußen ist das keine Mache.« Er zog Richard Lembkes Bild aus der Tasche. »Sehen sich Exzellenz mal den Burschen an. Der hat 'ne schöne stumpfsinnige Natur. Vielleicht kann man da rankommen.«

Das war vor sechs Wochen gewesen. Dann waren fast vier Wochen mit Warten vergangen. Ab und zu war eine Meldung über die Fortschritte gemacht worden. Und vor vierzehn Tagen war sein Spion bei ihm eingetreten. Obgleich sie gegen jeden unbefugten Lauscher gesichert waren, hatte er ganz leise gesprochen.

»Den Lembke haben wir! Es muß da draußen ziemlich klapprig hergehen. Sie sind vielleicht auch mit den Moneten am Rande. Er ist beim Lohndienerverein als Mitglied eingeschrieben. Und wenn er draußen freikommen kann und anderswo was zu tun ist, dann vermietet er sich. Es ist auch noch nirgends, wo er gewesen ist, eine Klage gekommen, wegen Ungenauigkeiten oder Silberzeug und so, aber sonst ist nichts los mit ihm, gar nichts. In den vier Wochen habe ich mich mit ihm angebiedert. Jedesmal anderswo. – – Die Dummen nennen das »Zufall«, wenn sie sich so treffen. Aber das erste Gesetz unsrer Zunft heißt: den Zufall biegen. Er fand Gefallen an mir, und als ich meine Wünsche andeutete, sagte er mir ganz plump ins Gesicht, das wäre da draußen ganz spaßig. Und wenn ich an so was Interesse hätte, warum nicht?! Aber da müßte was bei über sein. Er könnte Verdienst gebrauchen.«

»Na – – ja« habe ich denn gesagt »'ne Kapitalssache wäre es ja überhaupt nicht. Aber immerhin – – Geld! – Gewiß.« Wie der Mann auf dem Bilde aussieht! Ganz helle Augenwimpern. Alles in allem: er ist der geborne Stumpfsinn. Ich bin mit ihm handelseins geworden. Es muß nicht so verrückt eilig aussehen, aber in den nächsten Tagen gehe ich hinaus.«

»Ich bin natürlich aus dem Spiele geblieben?!«

Da hatte ihn der Spion erstaunt angeblickt. »Die Gesetze unsrer Zunft, Exzellenz, – – Alle Gefahr für uns! Hoher Verdienst! Schweigen wie ein Toter!«

»Es handelt sich nicht nur um den Apparat. Man muß auch seine Handhabung kennen – – und wie lange eine Ladung vorreicht – –!«

Der Spion hatte wortlos genickt.

– – – – – – – – Seit diesen vierzehn Tagen hatte er nichts mehr von dem Manne gehört. Acht Tage Wartens schienen ihm das Äußerste zu sein. Er hatte in den drei verabredeten Hamburger Zeitungen die verabredete harmlose Anzeige erlassen. Ohne jeden Erfolg. Der raffinierteste aller Spione war wie von der Erde verschluckt.

Heute nun fand er diesen Lembke auf der Empfangstreppe stehen, und jetzt sah er ihn Gäste bedienen. Ohne Irrtum: er war es.

* * *

Bankier Meersdorf sah ihn erwartungsvoll an. »Nun, Exzellenz, wann geht es los?«

»Ich glaube, wenn es überhaupt einen Krieg geben wird, dann wird er größer und fürchterlicher sein, als alle bisherigen.«

»Und wer wird Sieger sein?«

Marquis Kohito zauderte ein wenig. »Und wenn es in diesem Kriege überhaupt Sieger geben wird, dann werden es nur die sein, die sich an ihm nicht beteiligen. Das wird Ihr Land sein. Und hoffentlich auch meins.«

Rancke hatte diesen diplomatischen und trotzdem vielsagenden Satz noch gehört, sich aber gleich abgewendet, weil er Rainer Ringfeld, Wahnheim und Kurt Stein aus einem Nebensaale eintreten sah. Auf dem Wege zu ihnen stieß er auf Rose und Martha Berndsen.

»Na, Rosachen, du vernachlässigst mich ja hervorragend. Den Klimbim hier habt Ihr jroßartig aufjedreht. Bloß 's nächste Mal mußte die Lakaien, die Ihr als Treppenmonumente aufjestellt habt, von oben bis unten weiß anstreichen. Das sieht denn so schön jriechisch aus. Oder wärst du auf den Jedanken alleine jekommen?« Er blinzelte sie freundlich an.

Sie stand vor ihm und hatte Tränen des Zorns in den Augen. Sie preßte Marthas Arm unter den ihren. »Das ist meine Freundin, meine liebste, meine einzige. Ich habe den Wunsch, daß sie – – – daß – – – sie – –.«

»Aber Rosachen, was is mit dir? – Du hast doch sonst nich jestottert? –!«

»Daß sie – – – daß sie dich richtig kennenlernt. Ich habe ihr von dir erzählt, auch von dir, meine ich. Und nun sei doch endlich vernünftig – –!«

Er nickte. »Das is die Aufforderung, die sehr häufig an mich erjeht. – Sieh bloß mal an, was spritzt der Kurt Stein für'n heftigen Blick zu mir rüber! Den solltest du mal beruhigen. Der is ja beinah aus Fassong. Das paßt sich doch jar nicht in solcher Jesellschaft – – oder irre ich mich? – Vielleicht die neue Jugendbewegung? – Ohne Fassong?«

»Du bist fürchterlich, Bert. Ich lasse euch allein.« Sie drückte Marthas Arm noch einmal, kam aber nicht zum Weiterreden.

»Ja,« sagte Rancke freundlich »wenn das jnädige Fräulein das mal mit mir versuchen will?! – – Vielleicht habe ich 'n jünstigen Moment. – – Auf Wiedersehen denn, Rosachen, in einer besseren Stunde. Lassen Sie uns also durch die Jefilde wandern, jnädiges Fräulein!«

»Ja – – und Bert – –!« sie drängte sich an ihn und sah ihn herzlich bittend an.

»Weiß schon, Rosachen. Werde pflichtgemäß versuchen, äußerst vorteilhaften Eindruck zu machen.« Dabei blinzelte er sie wieder an.

Sie gab ihm, zwar noch ein wenig besorgt, aber doch lächelnd einen kleinen Schlag und glitt von ihnen fort.

»Rancke,« sagte Martha Berndsen leise »ich glaube, Sie kennen Rose gar nicht mal«.

»Und – – ob ich sie kenne! Sie sollen sehen, Kindchen, die heiratet mich noch mal.«

Sie fuhr zurück. »Unerhört!«

»Wieso?« fragte Rancke erstaunt »haben Sie noch nich jemerkt, daß ich, wenn'ch 'ne Katze sehe, sage: das is 'ne Katze!?«

»Aber bitte – – hier!!«

»Na ja – – die Männer heiraten doch nich. Diese Jlücklichen werden jeheiratet. Das is doch Tünche und Schminke, wenn da was andres jesagt wird. Möchte wissen, wieviel Tafeln Schokolade das Rosachen schon auf mich gewettet hat. Für die Frau is das 'ne jroße Hauptsache, und für den Mann – – na ja, unwichtig is es natürlich auch nich jrade. Aber er hat doch mehr zu tun. Bei der Frau bleibt der Mann der Brennpunkt – –.«

»Ich kenne Sie ja schon. Und ihre Neigung zum Scherzen – –.«

Er blieb toternst. »– – und beim Manne jeht das doch vorüber – –.«

»Rancke!«

»Ich meine, die Welt tritt wieder in ihre Rechte, beim richtigen Manne, heißt das! Übrigens ha'm Sie ein wundervolles Jesicht, wenn Sie wütend sind. Sie könnten mir direkt jefährlich werden. Rosachen kann auch wütend werden, aber die sieht dann aus, als wenn man ihrer Puppe ein Bein ausjerissen hat. Ich kenne das aus meiner ruhmvollen Verjangenheit. Sie sehen aus, wie 'ne Göttin, die 'ne Ananasbowle mit Zorn jefüllt hat und denn die Jeschichte umkippt. Ihren Zorn könnte ich trinken – – –.«

»Herr – – Baron! –!«

»– – und wer weiß, ob ich nich noch mal Durst kriege. Jedenfalls hat die Rose 'ne komplette Dummheit jemacht, als sie mich Ihnen zur Erziehung überjab.«

Wider ihren Willen mußte Martha lachen. Sie wurde aber schnell wieder ernst. »Mein lieber Rancke, was macht Lembke hier?«

»Na – der is doch hier im Dienst. Wie Sie und ich. Sehen Sie da drüben ein paar Schritte vom alten Jakob den Bonzen mit den abstehenden Ohren?«

»Der gerade die Hand zur Weste hebt?«

»Schtimmt. Der is im Dienst von dem kleinen Japs da drüben, von Exzellenz Kohito. Und da drüben die, vor der unser Lembke eben das Likörbrett schwenkt, – kennen Sie die?«

»Das ist eine von unsern Tanzkünstlerinnen.«

»Ja. Mit ihren Beinchen könnte sie sich nich über Wasser halten. Die schreibt Briefe.«

»Briefe?«

»Ja. Nach Paris. Aber natürlich so privatim, daß sie ihr hoch bezahlt werden. Gucken Sie da mal hin, den eleganten alten Herrn – – siebzig wird er – – der sich da, höchst wahrscheinlich sehr sachverständig, mit Professor Werner von der Sternwarte unterhält – – – mit dem arbeitet sie zusammen. Hier kennen sich die beiden nicht. Was in meinen Augen 'ne kapitale Dummheit is. Kastner hat sein Spionagesystem jroßartig aufjezogen.«

Er wurde unterbrochen. Eine Stimme hinter ihm sagte: »Guten Abend, Rancke!«

Er drehte sich langsam um. »Tag, mein lieber Stein.« Kurt Stein gab auch Martha Berndsen die Hand.

»Na – – wie is es?« fragte Rancke. »Du bist nun fertig? Vorjestern is bei uns die erste Rakete hochjestiegen, jestern die zweite. Un heute is der erste Schuß jefallen. Laß uns mal 'n bißchen nach dem Palmenwinkel schlendern. – – Kindchen, machen Sie mal 'n Jesicht, als wenn dieser unjlaubliche Kurt Stein Ihnen einen Witz erzählt hätte. Können Sie das?«

»Nein, das kann ich nicht« erwiderte sie lachend.

»So is es recht. Wenn Sie mal lachen müssen – – so für die andern! – wo es jar nichts zu lachen gibt, dann denken Sie an den Moment. Dann jeht's jleich. – – Also janz fertig, Stein?«

Sie hatten sich an einem eben von anderen Gästen verlassenen Einzeltisch niedergelassen. Rancke sah sich um. Es gelang ihm, Richard Lembke mit den Augen einen Wink zu geben. Ein paar Sekunden später stand Lembke vor ihnen. »Zeitjenosse, räumen Sie das hier weg und bringen Sie uns mal 'n sanften Trunk.«

Lembke nahm in totem Schweigen das Geschirr fort und verschwand, um kurz darauf das Gewünschte vor die drei hinzustellen und zu servieren.

Rancke fragte: »Die Limonade ist abgekühlt?«

»Der Herr Major sind mit dem Japs im grünen Zimmer« hauchte Lembke, sich verbeugend.

»Wir könnten eigentlich noch etwas mehr Zucker gebrauchen – –.«

»Der Herr Doktor Kastner lassen durch mich sagen, daß er sich auf zwei Stunden ins Laboratorium zum Herrn Professor begibt.«

»Ja – – dann bringen Sie mal, da drüben, die Streubüchse her – –!«

Lembke wandte sich zu einem drei Schritt entfernten Tische, an dem die Streubüchse für den Zucker überflüssig wurde, da man dort aufstand. Als er sie überreichte, hauchte er wieder. »Ich bitte um die Erlaubnis, sofort zur Schmiede hinauszufahren. Die Spionage ist in vollem Gange.«

»Na – – der Zucker ist doch fein pulverisiert – –.« Rancke ließ den Zucker durch das Sieb rinnen.

»Ja, es ist alles gesichert. Trotzdem – –!«

Rancke nickte. Lembke trat zurück und war nach wenigen Minuten nach der Schmiede unterwegs.

Kurt Stein hatte anfangen wollen, zu erzählen. Aber Rancke unterbrach ihn schon bei den ersten Worten. »Kindchen, Sie haben das reine Verschwörerjesicht. Wir sind 'ne fröhliche, harmlose Jesellschaft. Es is nu mal nich anders. Hören kann uns hier keiner. Aber wir werden beobachtet. Und deswegen lache ich jetzt grade. Ab und zu müssen Sie auch lachen. Uns Männern wird das schwerer. – – Also, mein lieber Stein?«

»Geh hinüber in das Zimmer vom Kommerzienrat. Da steht ein Koffer. Ein niedlicher Reisekoffer. Elegant. Er wiegt 45 Pfund. Das ist das Flugzeug.«

»Da ist es drin – – willst du sagen – –.«

»Nein. Der Koffer ist das Flugzeug. Das war ja die schwierige Aufgabe, die Wahnheim gestellt hat: Zusammenlegbar, so leicht, daß ihn ein Mann bequem tragen kann, absolut zuverlässig und – – – billig!! Der ganze Apparat kostet, wie er jetzt da ist, 240 Mark. In Zukunft, bei Massenherstellung wird er noch nicht 120 Mark kosten. Wahnheim hat verlangt: nicht mehr als ein gutes Fahrrad. Das schwerste war das Zusammenlegen. Du trägst den Koffer irgendwohin. In deinen Garten, in die Heide, auf eine Wiese. Schließt auf und klappst ihn auseinander. In vier Minuten ist er aufmontiert. Sämtliche Hebel stehen, alle Gelenke sind eingeklinkt. Du kannst abfliegen. Ohne Motor. Bei völliger Windstille kostet es natürlich zuerst Arbeit. Aber höchstens eine bis zwei Minuten. Es gehört dazu nichts als die jedem gesunden Menschen gegebene Möglichkeit, seine Kräfte zu konzentrieren, also auf ganz kurze Zeit mehr als gewöhnliche Menschenkraft zu entwickeln. Dann aber bist du 12-15 Meter hoch und hast genug Luft unter dir. – – – Gestern nacht habe ich ein Experiment gemacht. Es war stockdunkel. Ich bin hinter den roten Schlußlaternen eines D-Zuges hergeflogen. In dreißig Meter Höhe. Und habe mich auf den letzten Wagen aufgesetzt. Selbstverständlich mit äußerster Schnelle die Flügel eingezogen, sonst hätte mich der übermächtige Winddruck des Zuges heruntergerissen. Es gelang. Ein paar Kilometer bin ich mitgefahren. Dann habe ich wieder ausgespannt und schwebte sofort hoch. Mit dem Apparat ist einfach alles zu machen.«

Rancke, der dem Saale den Rücken zukehrte, hatte gedankenschwer vor sich hingesehen. »Das wäre etwas! – – Wenn das unsre kleine Armee wüßte!«

»Den Teufel!« fuhr Kurt Stein hoch. »In Stücke schlagen würde ich das Ding! Wie lange würde es dauern, dann werfen sich die großen Armeen draußen auch darauf. Neben Kampfflugzeugen würde es dann fliegende Regimenter und fliegende Divisionen geben. – – Ist das unser Ziel? Wir haben lange genug im Schützengraben gesessen, um zu wissen, daß so die Welt mit einer blutigen Kurbel rückwärts gedreht wird. Ich schaffe doch nicht, damit die Menschen noch ein Mittel mehr in die Hand bekommen, sich gegenseitig aufzufressen.«

Martha sah ihn bedeutsam an. »Wenn unser Großes Spiel nicht wäre, lieber Stein.«

Stein beugte sich zu den beiden. »Wahnheim soll hinein! – – Ich habe, soviel ich durfte, bereits vorgearbeitet. Es ist nicht leicht, an ihn heranzukommen, wenn man ihm nichts vorweist. Er hält sich nämlich für stark genug, die andern – – drinnen und draußen – – nicht an das Flugzeug herankommen zu lassen. Wir wissen das besser. Er meint ja auch, sein Abend hier sei ein Gesellschaftsabend, den ein reiches Kaufmannshaus gibt. Dabei können Sie wirklich mal lachen, Martha Berndsen!«

»Mir wäre seine Aufnahme recht« erwiderte sie »aber dann müßte Rose auch hinein. Sie ist wirklich sein anderes Ich.«

»Soll sie auch!« sagte Stein.

»Gut!« Rancke erhob sein Gesicht. Es lag eine starke Entschlossenheit darin. »Dann will ich das aber in die Hand nehmen. Und vorher will ich mit Rainer Ringfeld sprechen.«

»Rancke, überlassen Sie mir das mit Rose« bat Martha.

»Nein!« lehnte Rancke kurz und hart ab. Er stand auf und suchte nach Ringfeld.

— — — — — — — —

Eine Stunde später standen sich Rancke und Rose Wahnheim in einem abgelegenen Zimmer gegenüber.

»Ich möchte mit dir mal was ernsthaftes besprechen« sagte Rancke.

»Endlich!« Sie warf sich in einen Sessel.

»Während wir beide hier sind, ist der Major Ringfeld bei deinem Vater.«

»Was will er von ihm?«

»Was ich von dir will.«

Sie wurde sehr nachdenklich. »Bert – – du sprichst dunkel.«

Er setzte sich entfernt von ihr auf einen Stuhl. »Wofür hältst du mich? Was denkst du von mir? – – Sprich!«

Sie lehnte sich erstaunt vor. »Was ist los – – Bert?«

»Das ist keine Antwort!«

»Rede weiter!« bat sie.

»Ich bin der Krautjunker. Der Mann, der ein Monokel tragen würde, wenn er nicht zu faul wäre, sich den Glassplitter ins Auge zu klemmen. Der abgetakelte Offizier, der, wenn er nicht ein bißchen Geld hätte und eine kleine Klitsche, auf den Straßen Zeitungen verkaufen oder in irgendeinem Kontor an der Schreibmaschine tippen müßte. Das alles bin ich dir. Und außerdem alles in allem – – ein schönes Stück unnützer Vagabund.«

»Bert!« sie schlug entzückt die Hände zusammen »wenn du wüßtest – –!«

»Ruhig! – – Ich verlange von dir nicht, daß du mit einem Male deine bildschöne Meinung von mir änderst. Aber ich verlange von dir, daß du dich möglichst schnell an das andere, an das wahre Bild gewöhnst. Denn wir haben Eile! – – Allerhöchste Eile!«

Sie war aufgesprungen und hielt die Hände gegen die Brust gepreßt. Mit großen Augen schaute sie aus einem frohen Gesicht zu ihm hinüber. »Bert – – ach, Bert! – – Warum nicht schon lange – – –!«

»Setz' dich!« Er machte eine Pause.

»Mit mir zugleich steht eine Reihe von Menschen vor dir, wenn du sie auch nicht sehen kannst. Wir sind durch eine große Idee, durch ein unlösbares Band miteinander verbunden. – Wie ich, den du bis jetzt nicht gekannt hast, sind sie alle. – – – Wenn ich kein Licht in der Zukunft sehen könnte, wäre ich ein verlorener Mann. Ohne Hoffnung zu leben, bin ich nicht Tier genug. – – Wir alle sind bereit, die Vergangenheit in uns einzumauern. Denn sonst könnte zu leicht die Rache blühen. Aber wir haben Verantwortlichkeit für das Unglück anderer, und wir können das Elend nicht wachsen sehen. Es gilt, uns alle wieder hochzureißen. Uns alle! – Ich weiß, du hast eine schöne Schneid, auch zwischen das Elend zu gehen. Und du hast wirklich Augen, zu sehen.«

Sie war aufgestanden. Halblaut und in einem tiefen Atemzuge kam es über ihre Lippen: »So nimmst du mich wirklich ernst? – ! – Zum ersten Male – –.« Sie machte langsam einen Schritt auf ihn zu.

Er erhob die Hand gegen sie. »Noch sollst du nicht reden. – – Wohin ich sehe, ist Elend. Ich sehe Männer, die arbeiten wollen. Und für die keine Arbeit da ist. Man muß sein ganzes Denken hineinzwingen: da steht ein Mann, der – – nicht bereit ist; das ist Unsinn, Rose! – – ein Mann, den es mit allen Fibern treibt, seine Faust und seinen Kopf zur Arbeit herzugeben. Seine Augen sehen ins Leere, seine Hände greifen ins Nichts. Vor ihm steht der Tag mit seinem harten Grinsen. – – Ich denke mir das so: wenn einen der Vater und die Mutter verläßt, schlimm – –! wenn einen die Liebste verläßt, noch schlimmer – –, aber wenn einen die Arbeit verläßt – – – dann ist man wirklich von aller Welt verlassen. – – Und unsre jüngste Vergangenheit hat uns das gebracht. Es sind nicht Hunderte – – nicht Tausende – – – es sind viele Hunderttausende. Ich sehe die alten Leute hungern. Ich sehe die jungen Leute, die kein Heim bekommen können. Was heißt das weiter, als: die sich keine Heimat bauen können – – – –.«

»Bert – –,« es lag ein großes Frohlocken in ihrer Stimme »vielleicht kennst du Vaters Arbeit doch noch nicht ganz. – Und das neue Flugzeug – – – –.«

Er winkte ab und nickte dann. »Ich weiß! – Aber der einzelne nützt nicht genug. Das Elend ist ja überall. Der Friede muß kommen. Der wirkliche Friede. Nicht das Stillsein im Gefängnis. Die Völker sitzen alle in einem Gefängnis. – Die Gitter reichen schon bis zu den Negern – – –.« Er machte eine kurze Pause. »Wir sind eine Reihe von Männern. Wir arbeiten schon seit geschlagenen sechs Jahren. Und jetzt sind wir so weit. Wir können der Welt das Licht bringen. Vielleicht hört sich dir das zu phrasenhaft an. Also: wir können machen, daß die Gitter fallen. Rose, wir können der Welt den Frieden aufzwingen – – – – – – verstehst du das?«

Sie trat nicht zu ihm, sondern ging an ein Fenster und sah, mit dem Rücken an das Fensterkreuz gelehnt, zu ihm hinüber. »Nein, Bert. – Ich höre, was du sagst. Ich weiß, was es bedeuten würde. Aber dich, Bert, dich verstehe ich noch nicht. – – Jetzt hast du zuviel gesagt, um nun nicht alles zu sagen!«

Er sah vor sich nieder. Dann meinte er ruhig: »Es ist eine einfache Frage: Willst du mit uns gehen?«

»Bert! – – –!«

Er spürte den Vorwurf, der in ihrem Tone lag.

»So einfach ist das nicht. Wenn du mit uns gehst, gibt es nur dieses eine, einzige Ziel. Nichts, gar nichts anderes. Hörst du? Verstehst du mich? Alles hat zu schweigen, außer dem einen – –.«

Da ging sie auf ihn zu und hielt die Hände gegen ihn. Ihre Haltung und ihr Lächeln zeigten alle Bereitschaft, aber aus ihren Augen glühte eine andere Zuversicht zu ihm hinüber. »Um dein – – um euer Ziel kann ich dienen mit allen Fasern – – Bert, für mein Ziel!« Sie senkte den Kopf. Dann sagte sie etwas leiser: »Anders handeln kann ein Weib überhaupt nicht.«

Es wurde eine Weile still. Er verschränkte die Arme über der Brust. Sie sah mit Herzklopfen, wie ein Lächeln über sein Gesicht zog. » Daß ich hier stehe, Rose – – – mit diesen Worten vor dir stehe, beweist, wie ich von dir denke. Es ist eine tiefe Verbeugung vor dir. – – – Aber das Letzte, was du gesagt hast, war nicht richtig. Ich kenne eine, die anders handeln kann.«

»Wer ist das?«

»Du kennst sie.«

»Ich??« Sie sann nach und schüttelte den Kopf. »Das muß ein Irrtum sein. Das ist ganz unmöglich.«

»Du hast mich ihr vorgestellt. Vorhin. Deiner einzigen, besten Freundin.«

Sie starrte ihn an. »Mar – – tha?«

Er nickte.

»So kennst du sie schon länger – – ! – –? Das ist unerhört von dir – – von ihr!«

»Sie mußte schweigen. Wie du von heute ab schweigen mußt. Unverbrüchlich. Du stehst unter denselben Gesetzen wie sie und ich.«

Sie stellte sich dicht vor ihn hin. Es war schwer zu sehen, was in ihr überwog: die rührende Demut oder die wilde Hoffnung. »Und später – – Bert? – – Später? – – Mein Lebenlang schweigen? –?«

Er beugte sich zu ihr nieder und wollte ihr die Hand küssen. Sie riß aber diese Hand mit einer ungestümen Bewegung zur Seite. Ein Lachen und ein Blitzen lag in ihrem Gesicht. »Diesen dummen halben Kram! Bin ich Großmama? – – Was soll mir das?«

Er nahm sie lächelnd bei den Ohren, wobei er ganz und gar nicht zimperlich im Griff war und zog ihr Gesicht ganz nahe an sein Gesicht. Und gab ihr einen Kuß. Es war ein Andante im Crescendo. »Rose, ich habe noch 'ne janze Menge von den Dingern. Weil ich immer sparsam gewesen bin in dem Artikel. – – Aber ich habe sie nich bei mir. Sie liegen auf Jroß-Bestritz, auf der Klitsche. Wenn wir mal sollten da hinkommen und da einziehen, natürlich – – – aber man kann das ja nich wissen – – –.«

»Ach, du dummer Bert, das laß nur meine Sorge sein!«

»Siehste, so habe ich mir das auch jedacht.«

Sie zwängte ihren Kopf unter sein Kinn, so daß sie ihr Gesicht gegen seine Brust gepreßt hielt. Ihre Stimme klang dumpf und unterdrückt. Er wußte nicht, ob sie schluchzte oder lachte. »Bert – – –!«

»Was denn, Rose?«

»Du mußt dich noch an eins gewöhnen – –.«

»An was denn?«

»Ich bin ein Kaufmannskind – –.«

»Das is mir ja nich janz unbekannt –.«

»Bei der langen Lieferfrist scheint mir ein größerer Vorschuß angebracht.«

»Na ja! Komm her. So janz mittellos bin ich ja nich abjereist.«

Als sie ihn endlich losgelassen hatte, meinte er: »Wir können's ja später abrechnen – –.«

»Wer – – wir – –!?« lachte sie. »Die Bücher führe doch ich! – Übrigens, du dummer Bert, das ist doch eine Ware, die immer wieder nachwächst!«

»Das is denn was anderes. Weshalb sagste immer ›Dummer Bert‹ zu mir? Mir fällt das allmählich auf.«

Sie nahm seine Hand und preßte sie an ihre Lippen. Dabei sah sie ihn schelmisch an: »Die Männer sind doch allesamt dumm. Natürlich mit Ausnahme von meinem Vater – –.«

»Sehr entjejenkommend.« Er wiegte den Kopf hin und her. »Aber sage mal, wie wird sich das später jestalten, wenn de schon an diesem feierlichen Tage so freundlich bist?«

Sie schlug die Arme um seinen Hals. »Vorhin, mit Martha, da hast du doch Unrecht gehabt.«

»Wieso?« fragte er sehr erstaunt.

»Die hat ihr Ziel. Ihr eignes, meine ich.«

»Wer? – – Wen?«

»Meinst du, nur in Eurem Bunde kann man schweigen?« lenkte sie ab.

»Schön! – Also auch das später. Du wirst aber sehen, daß ich Recht gehabt habe. Die kennt gar keine ›Männer‹. Die ist nur Bundesseele. In der lebt nur unser ›Großes Spiel‹. Nichts als das!« Er sah sinnend gegen die Decke und kniff mit einem Male das eine Auge zusammen. »Sind wir nu eigentlich verlobt?«

Sie ballte die Fäuste. Ihr Gesicht wurde tiefrot.

Da stemmte er einen Fuß auf einen Sessel, riß sie hoch und hob sie auf sein Knie. Seine Stimme war ganz leise. »Ich frag ja nich die Rose, die feine, liebe Rose. Ich frag ja das Kaufmannskind. Man will doch nich auf blauen Dunst so erhebliche Vorschüsse geleistet haben.«

Zwischen zwei Küssen meinte er: »Jelegentlich müßte das zu mehrerer Sicherheit eigentlich schriftlich gemacht werden – –.«

»Meinetwegen!« hieß ihr nächster Kuß.

Ein Weilchen später hob er sie von seinem Knie herunter. »So – – nun laß uns wieder unter die geehrten Mitmenschen steigen. Und ich bin wieder der langweilige und nutzlose Junker.«

»Immerhin, Herr Kommerzienrat – –

— — — — — — — —

»Ach, lassen Sie bitte den Kommerzienrat verschwinden!«

»Gut. Versenken wir ihn mitsamt dem ›Major‹ in die Tiefe. – Ich habe Sie eingeweiht in unsre außerordentlichen Möglichkeiten – – –.«

Wahnheim nickte dankend.

»– – und auch in die Verpflichtungen, die der Bund auferlegt. Es kann bei uns keine ›Extratouren‹ geben. Das ›Große Spiel‹ ist untrennbar von dem einheitlichen Plan. Neben unsern Entdeckungen und Erfindungen ist Ihr Flugzeug so wertvoll, daß wir nicht getrennt marschieren dürfen. Wir müssen es einreihen. Lassen Sie uns das gleich besprechen. Dazu muß Rancke her und Kurt Stein und Martha Berndsen – –.«

Wahnheim riß gegen seine Gewohnheit die Augen auf. »Fräulein Berndsen? – Gehört die auch dazu?«

Statt aller Antwort klappte Ringfeld seinen Apparat hoch und rief Rancke an. Mit einer Lebhaftigkeit, die zu seinem sonstigen Wesen im Widerspruch stand, beugte sich Wahnheim zu dem bereitwillig entgegengehaltenen Instrument und sah schon in der ersten Sekunde Ranckes Kopf auf der Scheibe.

»Wir sind hier im Blauen Zimmer« sagte Ringfeld. »Komm sofort! Bring Kurt Stein und Martha Berndsen mit. Kastner und Ohlep möchten auf den Japaner aufpassen. – – Wie? – Lembke ist hinaus nach der Schmiede? Das weiß ich schon. Rose Wahnheim? – Aber gewiß. Bring sie auch mit.« Er wandte sich an Wahnheim. »Ihr Fräulein Tochter kommt auch. Es wird ein paar Minuten dauern, bis sie sich alle unauffällig abgelöst haben. – – Inzwischen – –.«

Wahnheim trat, erregt und aufgewühlt, von einem Fuße auf den andern. »Dieses ist ungeheuerlich. An Umfang! – – Wir müssen uns darüber klar sein, daß wir beide verschiedene Ebenen haben. Grundsätzlich verschiedene. Ich gehe von meinem wirtschaftlichen Kreise aus. International, was das Geschäft anbelangt, arbeite ich doch in meinen Bestrebungen in meinem kleinen Kreise. Das heißt also: ich bin national. Sie sind von Anfang her national und wollen ins Internationale vorstoßen. – – Ich will die paar tausend Menschen, die ich betreue, glücklich machen, also wirtschaftlich zufrieden. Das ist für mich ›glücklich‹. – – Deshalb habe ich wahrlich nicht kleine Summen für das Flugzeug eingesetzt. – – Ich bin kein Idealist. Ich halte das für vollkommen unfruchtbar. Hört sich an wie Musik. Und schläfert ein. Ob Sie einer sind, daraufhin müssen Sie sich prüfen. Sogar sehr genau prüfen. Wenn Sie einer wären, könnte das Ihre ganze Sache zur Pleite bringen. Sehen Sie, ich weiß, es gibt kindliche Leute, die mich den Mann mit dem warmen Herzen nennen. Ein bißchen irgendwo mag es stecken. Aber es ist gänzlich nebensächlich. Ich kenne nur sittliche Pflicht. Ich bin einfach der Mann der kalten Moral. Dabei gibt's kein Thermometer mit über oder unter Null, mit Liebe und Haß. Wie beim Herzen. – – – Von ein paar sehr seltenen Ausnahmen abgesehen, ist für mich jeder Mensch das Ergebnis seiner Umgebung. Er ist das Ergebnis der Umstände, in die er hineingeboren ist. Mich gehen also die Menschen nichts an, sondern nur ihre Umstände. Die gilt es zu bessern. Und was sind Umstände? – Die Familie und das Haus. Das Haus! Das ist sehr wörtlich zu nehmen. Richtig: wie die Familie haust! – – und so bin ich Bodenreformer geworden. Mit Leib und Seele. Und doch vom kalten Verstände her.« Er stand auf und ging in eine Ecke des Zimmers. »Sehen Sie hier diesen Globus. Er ist von besonderer Art. Er hat monatelange Arbeit gekostet. Es ist nichts auf ihm zu sehen, als die Bevölkerungsdichte. Mein lieber Ringfeld, man muß sich an den Kopf fassen! Ist die Menschheit verrückt? – – – Hier dieser kleine Fleck auf dem großen Globus, kleiner als die Spitze meines kleinen Fingers, das ist der Bodensee. – – Mann neben Mann, Frau neben Frau, Kind neben Kind – die ganze Menschheit hierher gestellt, in nicht zu ferner Zeit fast zwei Milliarden Menschen! – – die haben auf diesem Fleck Platz. Und gegen das stehen fünf riesige Erdteile!!« Er holte Atem. »Und da gibt es Wohnungsnot? Meine Devise heißt: nicht übereinander, sondern nebeneinander!« Er trat wieder ins Zimmer und nahm in einem Sessel Platz. »Daß überhaupt Menschen übereinander wohnen, ist doch gegen allen Sinn und Verstand. – – Natürlich ist das nur durch die Verkehrsfrage zu lösen. Durch das Kleinflugzeug. Arbeiten in der Gemeinschaft, in der Industrie, da müssen sie beieinander sein, aber wohnen, das heißt Sein, das heißt Leben, das sollen sie auseinander. – – Was ist eigentlich los mit der Menschheit? – – Glaubt denn wirklich einer, daß auch nur ein einziger meiner Arbeiter mehr Licht und mehr Luft hat, weil man von Stockholm nach Genf mit zweihundert und mehr Kilometern Geschwindigkeit in zehn Stunden rasen kann? – Fortschritt? – Für wen? – – Wird nicht immer gerade die Schicht unberücksichtigt gelassen, die am meisten Not leidet? Was sollen der arbeitenden Menge diese großen Linien, die riesenhaften Geschwindigkeiten? Und wenn diese armen Leute davon lesen, dann kommt der schiefe Stolz in die Gesichter. Ich seh's ja alle Tage. Was sind wir Menschen für Kerle!! Aber: hat die Masse etwas davon? Immer und immer wieder sieht man es: Sie ist es, die draußen bleibt. Guck einer genau hin: die arbeitende Schicht ist immer wieder die enterbte.«

Wahnheim machte eine Wendung und schritt durch das Zimmer. Zuletzt blieb er vor Ringfeld stehen.

Rainer Ringfeld hatte diesem Manne schon ein paar hundert Male gegenübergesessen oder gestanden, aber jetzt sah er in ein Paar Augen, von denen er meinte, er sähe sie zum ersten Male. In den klugen, dunklen Augen, die mit kalter Moral in die Welt sehen wollten, lag jetzt ein düsteres Glimmen. Wahnheim, der Mann ohne Geste, reckte beide Arme von sich, spreizte die Finger auseinander und ballte dann die Hände wieder zu Fäusten. Als er die Arme wieder gesenkt hatte, trat er dicht an Ringfeld heran. Seine Worte klangen, als wenn es ihn drängte, eine Beichte abzulegen.

»Sie haben mir von Ihren Mitteln und von Ihrem Können gesprochen. Und haben mir einen Teil davon schon gezeigt. – – Nun will ich Ihnen den großen Rest bloßlegen, der sonst in mir vor Ihnen hätte verborgen bleiben müssen. Ich bin weder Christ noch Jude; weder Heide noch Inder. Ich bin einfach ein gläubiger Mensch.«

Rainer Ringfeld legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihn mit einem sehr warmen Blicke an. »Wahnheim, – – wir haben mit Religion nichts zu tun.«

Wahnheim wurde heftig. »Es gibt keine Sache – – in irgendeinem Winkel der Welt – – die mit Religion nichts zu tun – – – oder gegen Religion – –.«

»Wir haben es nur mit Sittlichkeit gegen die Menschen und mit Liebe zu den Menschen zu tun.«

Das Gesicht des Kommerzienrates wurde um einen Schatten dunkler. Man sah, wie seine Kinnladen arbeiteten. Mit einer energischen Handbewegung stieß er Ringfelds Behauptung von sich. »Wenn wir zusammenarbeiten wollen, müssen wir jeder den andern genau kennen. Ich habe gesagt, ich bin ein gläubiger Mensch. – – Aber ich stehe unter einem Stigma. Mir ist der Glaube nicht in die Wiege gelegt, und keiner hat ihn mich gelehrt. Mein Weg ist vielleicht nicht der von Herrn Jedermann. – – Ich glaube an Gott, den ich nirgends sehe, nirgends – – – weil ich vom Satan weiß den ich überall sehe! Daß aber der Satan herrscht, das kann doch nun und nimmer der Sinn des Lebens sein. Ich sehe, daß der Satan stärker ist als Gott, daß er mehr kann als Gott – –. Und das kann nur an uns Menschen liegen. Wir helfen dem einen – – und dem andern helfen wir nicht.«

»Was für ein seltsamer Grund zu einem Glauben« sagte Ringfeld leise.

»Seltsam der Grund, der Glaube unerschütterlich!« erwiderte Wahnheim. »Reichen wir dem Ewigen die Hand – – – was will uns der Zeitliche 'tun!?«

»Was heißt das?«

»Nun, wenn wir schon sagen, Gott ist ewig – – dann können wir doch nicht auch sagen: Der Satan ist ewig. – – Das muß doch einmal zum Austrag kommen. Es muß doch einmal Schluß gemacht werden. Einer muß siegen. Und das muß Gott sein! Und in uns muß er siegen. Dann muß er also durch uns siegen. Kein anderer kann dazu helfen als wir. Aber – – was ich heute draußen sehe – –.« Er unterbrach sich und drehte sich um. Über den Teppich des Nebenzimmers kamen Schritte. Die Zusammenkunft dauerte fast dreiviertel Stunde. Am Schlusse war das Flugzeug in das »Große Spiel« eingereiht. Freilich hatte diese neue Erfindung ihre sehr besondere Eigenheit. Niemand konnte sich in den wunderschön gepolsterten Sitz niederlassen, um nun, durch den Druck auf einen Hebel, die Fahrt durch die Luft anzutreten. Dieses Flugzeug trug nur einen Menschen. Es war auch nur dem Gewichte eines Menschen angepaßt. Und, wie man Radfahren lernen mußte, wie man Schlittschuhlaufen lernen mußte, so mußte man auch fliegen lernen. – – – In dem eingehenden Vortrage, den Kurt Stein gehalten hatte, waren kantige Sätze gefallen. »So bewundernswert die heutigen Flugzeuge sind, einen so stolzen Fortschritt sie in bezug auf das Massige und die Schnelligkeit bedeuten, sie sind doch nichts als ein ununterbrochen geschleuderter Stein. Wird der Stein oben in der Luft nicht mehr weitergeschleudert – – zieht also der Motor nicht mehr – – dann geht das Flugzeug zu Boden. Der Mensch kann nichts dagegen tun. Weil er nicht flog, sondern geflogen wurde. Das neue Flugzeug ist die wirkliche Vollendung. Mit ihm fliegt der Mensch selbst. In Zukunft wird jeder sein eigner Flieger sein. Freilich braucht's dazu ein neues Geschlecht. Aber das wächst ja heran. Jene Leute, die, wenn sie sitzen, ihre Knie nicht sehen können, weil ihnen ihr Bauch die Aussicht versperrt, haben auszusterben. Schlank ist die Parole! Restlos Herr über seinen Körper sein! das Gesetz! Für das neue Flugzeug kommt auch das neue Geschlecht. Wir sehen ihm ja schon ins Gesicht!!«

* * *

Es gibt da ein Wesen, das ist von ältestem Adel. Es ist ein Weib. Es heißt Klio, Durchlauchtigste Fürstin auf Schloß Überall. Diese Frau, vor Urzeiten geboren, müßte jetzt uralt sein. Aber, jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, wurde sie wieder jung. Sie hatte sich niemals einem Manne hingegeben, wie man so sagt. Sie drückte sich anders aus: sie hatte sich niemals eines Mannes erbarmt. Sie hatte dazu auch einfach keine Zeit gehabt. Von allerfrühester Jugend stand sie an der Spitze eines Geschäftes, das sich immer mehr entwickelte, oder – – – wie in den Neujahrskatalogen zu lesen war – – »immer blühender entfaltete«. Sie besaß die Riesenfirma Geschichte & Cie. – – – – Cie. waren die beiden Men Teilhaber. Sie hießen Gräfin Sage, und Freiin Märchen. Die hatten im eigentlichen Geschäft nichts zu wollen. Sie saßen auch nicht im Hauptbureau. Zum Ersatz dafür, daß sie gänzlich einflußlos waren und in abgelegenen Räumen hausen mußten, waren ihnen diese Räume höchst phantastisch und farbenreich ausgestattet worden. Sogar vor den schimmernden Tapeten hingen violette Schleier von einer Decke herab, die aus einem einzigen blitzenden Kristall bestand.

Das Hauptgeschäft ging ausgezeichnet und lief ununterbrochen, Tag und Nacht. – – Wie das nun die Verhältnisse so mit sich bringen: weil Durchlaucht ihren Wert kannte und in ihrer Selbständigkeit das höchste sah, nahmen ihre Umgangsformen mit der Zeit etwas Männliches an. Und der Stil ihrer Schriften wurde hart. Er ließ jede Sentimentalität und Freundlichkeit vermissen. Sie legte bei dem todsichern Gange ihres Geschäftes schon längst keinen Wert mehr darauf, ob die Kritiker ihre Augenbrauen hochzogen und mit den Augen rollten. Sie machte sich nichts mehr aus dieser machtvollen Zunft. Sie schrieb ohne jedes Schielen nach dem Erfolge. – – – Dieser beneidenswerte Standpunkt stempelte sie nicht etwa zum Dichter. Zum Dichter fehlte ihr nämlich die Hauptsache: Sie besaß keine Phantasie. Sie brauchte sie auch nicht. Denn an das, was sie von ihrem Herrensitze »Überall« sah, reichte auch die brünstigste Phantasie nicht heran. Sie hatte nur nötig, in ihrem großen Buche, wie nach einem okkulten Diktat zu schreiben. So wäre sie eigentlich weiter nichts geworden als der kaltschnäuzige Registrator des Erdballes. Aber – – wie kam sie dazu, zu all dem Schönen und zu all dem Unfug, der ihr da diktiert wurde, immer den Mund zu halten? Sie war doch ein Lebewesen, und noch ein klein wenig darüber hinaus – – was die Zunge betrifft: Sie war doch ein Weib! Da nun das Sprechen nichts nützt, denn die Menschen hörten sie nicht, machte sie wenigstens ihre Randbemerkungen. Vielleicht hatte sie das von den hohen und höchsten Fürstlichkeiten abgesehen: Randglossen – – Marginalia.

Eins an ihr drückte sie auf die Stufe der Menschen nieder. Auch Durchlaucht Klio konnte nicht in die Zukunft sehen. Sie haben darüber manchmal geknurrt. Denn das wäre was gewesen! Damit hätte sie eine anständige Filiale aufmachen können! Vielleicht hätte die sogar das Hauptgeschäft verdrängt! – – Dieses Sehen in die Zukunft gab es ja nun nicht. Aber wie Frauen nun einmal sind – – gelinde gesagt, eigensinnig – – wenn sie einmal auf etwas versessen sind und besonders die Neugier sie plagt; wenn der eine Weg nicht geht, dann tüfteln sie ruhelos so lange, bis sie einen anderen gefunden haben. Zwar manchmal nur »Ersatz«, aber erstens bester als gar nichts und zweitens: man würde ja weitertüfteln. Durchlaucht fand, daß man immerhin und einigermaßen in die Zukunft sehen könnte, wenn man nur lernte, gründlich in die Vergangenheit zu sehen. Denn es wiederholt sich so ziemlich alles. Und da man wußte, wie es damals und damals und wieder damals abgelaufen war, konnte man auch wissen, wie es ablaufen würde, wenn man wieder dieselbe Dummheit vom Stapel ließ. Also? – Konnte man doch aus der Vergangenheit in die Zukunft sehen! – – – Und die Firma »Geschichte & Cie.« bot ja Mittel von so unerhörtem Umfange, wie sie von keinem andern Geschäft aufgebracht werden konnten, nicht mal von einem Konzern oder Trust, was ja die neuesten Umtaufen für den alten Titel »Wucher« und »Gurgeldruck« sind.

Und nun kam einmal der Tag, an dem die Durchlauchtigste von der Firma »Geschichte & Cie.« die unheimliche Entdeckung machte, daß trotz allem Absatz ihrer Bücher, trotz der riesigen Verbreitung der Klio'schen Literatur diese Menschen doch nicht in der Vergangenheit lesen konnten. Nicht einmal in der Vergangenheit!! Weder in der alten noch in der jüngsten! – – Was Durchlaucht selbst völlig abging: Phantasie – – das hatten sie. Das mußte man ihnen lassen. Es war aber zum Erbarmen. Für jede alte Verkehrtheit hatten sie bei jeder neuen Wiederholung einen neuen Namen. Und mit dem neuen Namen phantasierten sie auch davon, etwas ganz Neues zu unternehmen. – – – Das ist Unsinn, was da im Berliner Lustgarten zu Füßen eines Denkmals hockt; notdürftig bekleidet mit Haarschmuck und mit einem Schleier, der bis auf die Knie hinuntergerutscht ist. Ein glatthäutiges Weib mit klassischen Zügen, das mit ernsthaften Augen einen Griffel auf einer Tafel entlanggleiten läßt. So sieht Durchlaucht Klio nicht aus. Dort ist sie zu schön, um wahr zu sein. Dieses uralte, ewig junge Weib hatte zuviel erleben müssen, um ein so zurechtgebügeltes Gesicht zu besitzen. – – – Und wer ihre Durchlauchtigsten Randbemerkungen liest, wird auch bekennen: »Na – – wenn schon! Phantasie mag sie nicht haben – – aber Temperament hat sie! Alle Wetter! Das ist Rasse und Blut! Und Liebe ist es auch!« Freilich alles nur in den Randbemerkungen. Der Eingeweihte weiß aber ebenso, daß Randglossen das von Altersher eingesetzte Asyl für Temperamente sind. Da kann sich doch jeder loslassen! Denn der andere, der im Text selber seine Weisheit verzapft, ist ja sonstwo, und daher so taub wie stumm. Und die meisten Geschöpfe sind nun mal am stärksten, wenn der andere sich nicht wehren kann. Das gilt für en détail er en gros.

 

Durchlaucht hatte die Tagesarbeit hinter sich. Ach, wo waren die Zeiten hin, wo es noch ein bißchen ruhiger auf diesem bejahrten Planeten zuging. Da war doch die wunderschöne Eiszeit gewesen. Sinnig und im schönen Gleichschritt sanken die Tage in die Vergangenheit hinab. Aber jetzt? – –! Und nicht nur jetzt, schon lange jagte und hetzte das alles. Das war ja nicht mit einem Male gekommen. Je mehr Menschen geboren wurden, um so eiliger wurde dieses seltsame Geschlecht. Weshalb nur? Es war nur gut, daß ihr das nichts machte. Sie bekam jeden Morgen neue Jugend, ein neues Herz, sonst hätte das Asthma die Liebe verjagt – – neue elastische Muskeln – – sonst wäre sie längst lahm. Aber diese entzückenden Menschlein, was hatten ihre wahnwitzige Eile, ihr freiwilliges Fieber für einen Sinn?! – – Diese lieben Toren, weshalb lasen sie nicht die Bücher der Firma »Geschichte & Cie.«?

Sie hatte sich damals sehr gewundert – – – natürlich nur privatim und in ihren Randglossen. In Band 4763 stand von der Entdeckung Amerikas. War das ein Lärm! Von Indien bis Lissabon ging das Getöse. Der Kolumbus hatte ja geglaubt, er wäre auf dem Wege linksrum nach Indien gelangt, und deshalb hatte er die Leute, die er da traf, Indianer genannt. Als es offenbar wurde, daß das nicht stimmte, entstand wieder ein großes Getöse. Weil sie dadurch wieder mal eine große Entdeckung gemacht hatten. Diese Erde war viel größer, als sie je gemeint hatten. Gemeint nicht, sie hatten es bis dato gewußt. Sie wissen ja alles immer genau, bis sie es besser wissen, wenn auch immer noch nicht richtig.

Schön! Daß der Kolumbus da drüben »Menschen« gefunden hatte, stellten sie fest. Es ging ja auch gleich los, mit Schiffahrt und Handel, mit Reichtum und mit Mord und Totschlag. Und die sogenannte »Welt« bekam ein sogenanntes »anderes Gesicht«. Aber es nutzte nichts. Das andere Gesicht war weder schöner noch besser; es wurde nur breiter und gieriger. Und es ist nichts anderes zu sagen: An der Hauptsache dieser Entdeckung sind sie eben wieder vorbeigerannt, daß es nämlich dort – – Menschen!! gab. So ein Duseln wäre ihnen nicht passiert, wenn sie die Klio'sche Literatur gelesen hätten. Denn dann hätten sie in die Vergangenheit sehen können. Und hätten diesem wichtigsten aller Umstände bei der Entdeckung Amerikas ganz andere Beachtung geschenkt. Bitte! – Wo kamen diese Menschen her? Rechts Wasser – – unergründliches Wasser, links Wasser, vor ihnen Wasser, hinter ihnen Wasser. Das hatten sie auch festgestellt. Sie stellen ja alles fest, bis sie es wieder umwerfen. Sie hatten auch festgestellt, daß das große Afrika nichts ist, als eine ungeheure Bratenschüssel, die mit wundervollem Gemüse garniert war, der aber der Braten fehlte. »Denn in der Mitte« so schrieb Frau Klio, Durchlaucht »das war eine faule, höchst ungemütliche Sache: Nichts als Sand, Ebenen aus Sand, Dünen aus Sand, Täler aus Sand, wandernde Wellen aus Sand – und merkwürdigerweise alles aus salzigem Sand. Die lieben Menschlein teilen sich ein in solche, die sagen: »Das ist!« (Sie nennen das sich auf den Boden der Tatsachen stellen und halten das für eine Philosophie) und andere, die sagen: »Wieso kommt das?« (Und weil das eine Frage ist, halten sie das auch für eine Philosophie). – – Über den lieben Kerl, der wenigstens fragt, freue ich mich mehr als über den andern. Und wenn er außerdem vernünftig wäre, könnte er auch eine Antwort bekommen. Wozu sonst ist die berühmte Firma »Geschichte & Cie.« da?! Aber ist der liebe Mensch denn vernünftig? – – – – – Wenn einer ein Jahr lang gut und ehrlich ist, dann sagen sie: »Der ist gut und zuverlässig.« Niemand aber weiß, wenn eine große Versuchung kommt, ob er dann auch ehrlich und zuverlässig bleibt. Ist es etwa mit der Erde anders? Wenn die Erde tausend Jahre oder zweitausend Jahre oder meinetwegen auch zehntausend Jahre gut ist und zuverlässig, dann kümmern sich meine lieben Herrschaften nicht darum, ob sie nicht doch mal ihre Mucken bekommen könnte. Es ist ja so lange her – – –! Sie haben sogar ein ganz wunderliches Wort, die Menschlein: »Es ist ja so lange her, daß es gar nicht mehr wahr ist!« – – – Ja, aber der Kolumbus hat doch in Amerika Menschen entdeckt und die Sahara ist doch salzig! Also ist auch die Erde nicht zuverlässig, wenn sie auch nur alle neun- oder zehntausend Jahre ihre Mucken kriegt. Und wenn sie sich dann so ein bißchen dehnt und wälzt, dann krümmt sich der Leib, die Kleider verschieben sich ein wenig – – die Erde hat ja doch auch ein wundervoll buntes Kleid an – – die Länder zermalmen sich selbst. Die Meere werden zu flüssigen Gebirgen aufgetürmt und hin- und hergeschleudert.

Atlantis versank in den Fluten, und Afrika stieg aus den salzigen Tiefen. Glutströme schossen aus den Spalten, und Berge brachen in sich zusammen. Die herzigen Menschlein zwitscherten nachher unter sich: »Huh! – Es kam eine große Sintflut – –!« Aber die Firma »Geschichte & Cie.« mußte den wichtigen Band wegen Mangel an Absatz bald der Abteilung »Sagen und Märchen« überweisen. Und von da ab lasen es nur die Kinder und die ganz alten Leute. Kinder sind ja unreif, und alte Leute Fallobst. – – – – Sie sollten aber lieber alle miteinander aus der Klio'schen Literatur lernen, daß es gar keinen Sinn hat, daß es sich gar nicht lohnt, fiebrige Eile zu haben, sich gegenseitig das Leben schwer zu machen, Zank zu haben und Kriege zu führen. Daß es sich aber immer und allewege lohnt, Frieden zu halten und Liebe zu geben. Liebe, und immer wieder Liebe; Frieden, und Frieden immerdar. Hat sich denn alles andere gelohnt, wenn Mutter Erde sich mal wieder reckt? – – Sie sollten also – – – – – Halloh, was ist das??« Durchlaucht setzte den Füllfederhalter ab und schaute durch die hohen Fenster von Schloß »Überall« in die Heide und hörte zu. »Das ist ja wieder was Neues – – –!!«

* * *

»Ach Bert! Wie bin ich glücklich!« Rose war eben aus dem Flugzeug gestiegen und stand mit hochatmender Brust vor Rancke. Ihre Augen lachten ihn selig an.

»Na ja. Drei Stunden biste oben jewesen – –.«

»Bitte! Drei Stunden sieben Minuten – –.«

»Jenehmigt. 'ne schöne Ausdauer. Und elejant sah's aus. Manchmal warste so hoch und so weit weg, daß ich dachte, du wolltest die Verlobung aufheben.«

»Ruhig!« hauchte sie ihm zu. Zwischen ihren Lidern stand ein lustiges Flimmern. »Mein Herr, Sie sollten wissen: Wir arbeiten im ›Großen Spiel‹. Und Ihre Privatangelegenheiten gehen uns vorläufig nichts an!«

»Sch – – timmt. Immerhin, man braucht es ja nich jänzlich zu verjessen. Wo ist denn Martha Berndsen?«

»Die traf ich in 1200 m Höhe über Goslar. Als ich anfing, höher zu gehen, rief sie mir zu, sie wollte quer über den Harz nach Nordhausen und hinunter nach der Goldnen Aue, Kyffhäuser und so, weißt du. – – Ach, Bert, wie ist das herrlich! Sie sagte, sie hätte genug Proviant bis zur Nacht. Das hätte ich nur auch tun sollen! Dann brauchte ich noch nicht runter – – –.«

Er machte eine ziemlich dunkle Verbeugung.

»– – ich meine, Bert, ich habe ganz fürchterlichen Hunger. Liebster, ach da oben! – Der Himmel so blau, viel blauer als hier unten. Die Erde grün und braun und rot. Dazwischen die Dörfer, die Städtchen, die feinen Chausseen – – so weiße Linien – – und alles so still. Tief unter einem, das ist doch alles Leben! Und da oben, alles, alles so still. Viel stiller als die tiefste Kirchenstille. Es ist zum Weinen schön.«

Er holte aus dem Rucksack, der zu seinen Füßen lag, ein paar Butterbrote und zwei Äpfel. Durch sein Gesicht lief ein Blinzeln. »Du bist etwas aus Fassong jekommen, Jenossin meiner künftigen Tage.«

»Bert! – – Liebster!« Sie schmiegte sich an ihn.

»Ruhig! – – Das jeht bei dir durcheinander. Blauer Himmel und Zervelatwurst; Kirchenstille, jrüner Klee, Proviantkammer, joldne Aue und Schweizerkäse. Es ist zum Weinen schön.«

Sie bat ihn mit nassen Augen: »Bert, sei nicht so nüchtern!«

Er zog sie neben sich ins Heidekraut. Sein Flugzeug, mit dem er nach Verabredung mit Rose vor einer halben Stunde angekommen war, stand hinter ihnen, halb zusammengeklappt und an die unteren Zweige eines Machandelbaumes geschoben. Roses Flugzeug blieb ausgespannt. »Da du jrade in sentimentalen Jefilden wandelst, benutze ich die Jelegenheit, dir eine wichtige Bitte vorzutragen.«

»Ach – – mein Bert! – – Alles!«

»Behandle Jroßmama ein bißchen netter.«

»Wie??« fragte sie mit lachendem Staunen.

»Wenn auch nich jleich über 'n janzen Horizont, so doch allmählich.«

»Das ist eine Überraschung« sagte sie unter heftigem Kauen. »Bert, du bist wirklich unvernünftig. Ich hab' sie doch überhaupt lieb. Das war doch bloß die Wut, daß du sie immer so reizend behandeltest und mich so schlecht.«

»Is 'n höchst verständiger Jrund bei so'm unverständigen Mädelchen. Ich werde mich immer mit Verjnügen erinnern, daß meine jewesene Braut – –.«

»Gewesene – – –? – –?«

»Na, du willst doch nich immer Braut bleiben. – Also, daß meine jewesene Braut auf die eijne Jroßmama eifersüchtig war.« Er drehte ihr sein Gesicht zu. »Rose, hast du dir den Bund nun schon näher angesehen?«

Sie nickte. »Zwei sind mir unheimlich.«

Er horchte auf. »Unheimlich?«

»Ja. – Unheimlich. Ich habe wenigstens keinen andern Ausdruck dafür.«

»Was für ein Wort! – – – Wer?«

»Der Admiral Ohlep und der Lembke, der den Diener spielt – – der Richard Lembke.«

»Wenn das nicht überhaupt Unsinn ist, Rose, dann ist das ›feminin‹! Mit Gefühlen können wir uns nicht abgeben. Es gibt im Großen Spiel nur Gesetze. Aber – – – heraus damit! Weshalb sind sie dir unheimlich? – Zuerst: Ohlep.«

»Unheimlich – ist bei dem wohl nicht das richtige Wort. Ich habe ihn schon oft bei Vater gesehen und manchmal mit ihm gesprochen. Was man so spricht, wenn man nicht näher zueinander gehört. Aber jetzt gehöre ich doch dazu! Mir ist, als wenn er bisher immer einen Schleier getragen hätte. Ich glaube, der Mann ist tiefunglücklich. Wir vom Bunde sollten doch alle glücklich sein! – Ich habe nie soviel Sonne, soviel Leben, ach Bert – – richtig soviel Singen und Jauchzen in mir gehabt, als nun, wo ich eine von euch bin. Und da muß ich auf diesen Mann stoßen – – –.«

»Kennst du seine Vergangenheit?«

Sie besann sich. »Eigentlich nicht. Er war Admiral.«

»Und was für einer! – Es gab für ihn nur ein Wort: Flotte! – – Nur einen Begriff: Deutsche Flotte. – – Nur ein Lied: Des stolzen Deutschen Reiches stolze Seewehr.«

»Ja,« sagte sie leise »und das ist alles hin.«

»Sein Lied hat ausgeklungen, Rose!«

»So darf er traurig sein« meinte sie leise und nickte bei jedem Worte wie zum Takte.

»Nein! – – Das darf er nicht! Was haben wir alles begraben müssen! Jeder für sich. Wir alle für alle. – Man schlägt sein Gedächtnis nicht tot, man darf ein Denkmal, in schöner Verborgenheit, im Brustkasten mit sich herumtragen. Aber, wer zum Bunde gehört, der hat keine Zeit zu Besuchen bei dem Denkmal. Und – – Rose! – – – auch keinen Grund!«

Sie sah zur Seite. »Mit Ohlep werden wir schwere Überraschungen erleben.«

»Wie – – das?« Die Frage war zwar sehr gedehnt, aber sehr eindringlich getan.

Sie schwieg ein Weilchen. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Das weiß ich nicht.« Zuletzt sah sie ihm ins Gesicht. »Martha hat auch das Gefühl.«

»Gefühl, Rose! – – Im großen Spiel gibt's keine Gefühle. Wir haben Gesetze. Das ist nicht wie beim Strafgesetzbuch oder beim Bürgerlichen Gesetzbuch. Die werden über die Menschen ausgeschüttet. Die findet man vor, wenn man geboren wird. – – Wen wir nach sorgfältigster Prüfung für reif halten, der hört unser Gesetz Er kann ›Ja‹ oder ›Nein‹ sagen. Jeder von uns hat ›Ja‹ gesagt. Ohlep hat ›Ja‹ gesagt. Er gehört zu den Unverbrüchlichen. Und Lembke auch. Die Menschen sind ja alle verschieden. Und wir im Bunde sind auch verschieden. Aber uns alle eint das Gesetz des Großen Spiels. – – Das andre, daß Lembke Faktotum oder ›Diener‹ ist, ist etwas ganz Äußerliches. Richard Lembke ist auch die Unverbrüchlichkeit.«

Es entstand eine Pause.

»Und die Gesichter?« fragte Rose leise, indem sie in die Heide hinaussah.

»Gesichter! – Das ist eine gänzlich unzuverlässige Sache. Und für uns sind sie eine gänzlich gleichgültige Sache. Wir haben andre Bürgschaften.«

»Bert – – Vater sagt anders.«

»Was sagt er?«

»– – und Martha sagt auch anders.«

»Was sagen sie?«

»Wenn einer lesen kann – – –.«

»Nun – –?«

» Wenn einer lesen kann – – – in Gesichtern läßt sich lesen – – –.«

»Wo ›Treue‹ steht, Rose, da steht genug im Gesicht.«

Sie legte die Arme um die Knie. Ihm schien, als ob ein starker Schatten durch ihre schönen braunen Sammetaugen zog. Und als sie ihn ansah, lag in ihrem Blick ein wenig Unsicherheit. »Es ist seltsam – – sehr seltsam – –.«

Da sie stockte, fragte er: »Was ist seltsam, Rose? – – Was denn?«

»Vater hat ja manchmal so eigne Worte. Gestern sprach er mit mir. Über uns alle. Er sagt mir ja auch alles. Und – – –.«

»Aber was denn, du dummes Mädelchen – – –?«

»Ohlep ist für ihn einer, der seine ermordete Liebste rächen will.«

»Rächen! – – – Die Schmiede kennt keine Rache.«

» – – – und Lembke – –, das ist noch schlimmer.«

»Also was sagt er von unserm wirklich biedern Richard Lembke?«

»Lembke erinnert ihn an den Henker Ludwig des Elften. Du weißt ja, Vater studiert unablässig Geschichte. Dieser fürchterliche Henker hat schon auf die leisesten Winke seines Königs Menschen in Unzahl gefoltert, gehenkt, geköpft. Der König hat mal die Schwester dieses Fürchterlichen haben wollen. Sie wollte nicht. Da hat er seine eigne Schwester solange gefoltert, bis sie sich gab. – – Man hat ja kein Bild von ihm. ›Leider!‹ sagt Vater. Sonst wüßte man auch bei Lembke sicher Bescheid. Aber, so wie Lembke aussieht, so müßte der andere, der Henker, auch ausgesehen haben.«

Rancke unterdrückte die leise Regung von Unwillen und Zorn. »Ach, du lieber einfacher Richard Lembke!« Er sprang auf. »Das geht ans Spaßhafte!«

Sie sah ihn an. »Und Martha?«

»Was ist mit Martha?«

»Sie hat auch ein Grauen vor Lembke.«

Er lachte. »Und du? – – Nun bist du natürlich angesteckt – –.«

»Nicht angesteckt, Bert. Sieh ihn dir doch mal genau an – –.«

»Rose, liebste Rose! – Vernünftig bleiben. Wir brauchen uns keinen anzusehen, den wir uns angesehen haben. Und der sich unter unser Gesetz gestellt hat. Was heißt ›Folter‹ – ›Henken‹ – – ›Hinrichten‹? – Im Großen Spiel gibt's diese Worte nicht. Und gar unser stiller Lembke! – – Ich darf dir sagen, daß man ihn beinahe als die rechte Hand Rainer Ringfelds bezeichnen könnte, wenn es in unserm Bunde überhaupt Stufe und Rang gäbe. Das sind ja alles Phantasiegespinste.«

Sie erhob sich. Ihm fiel der schwere Ernst auf, mit dem sie ihn ansah. Das war nicht die fröhliche, die luftige und tolle Rose. Das war auch nicht die Rose, die so reizende Zornesanfälle haben konnte. Das war mehr, und alles andere als das, was er bisher von ihr gewußt hatte. »Bert, meinst du nicht auch, daß Frauen besser sehen können als Männer?«

Er schüttelte den Kopf.

»Männer – – meinetwegen, Bert – – mögen sie klüger sein, viel klüger. Aber wir Frauen ahnen mehr.«

»Die Schmiede hat mit Ahnungen nichts zu tun.«

»Ich weiß. Aber vielleicht war das der klügste Schritt der klugen Männer, daß Ihr auch Frauen in euren Bund ausgenommen habt. Und – –« sie stockte und stieß einen kurzen, gedämpften Schrei aus: »Bert!« Es klang fast wie ein Zischen.

Er sah in ihre entsetzten Augen, die in das Heidekraut zu seinen Füßen starrten. Als er blitzschnell der Richtung ihres Blickes folgte, sah er eine gute Spanne rechts von seinem Fuße eine Kreuzotter. Der Vorderleib lag bloß. Der Körper bewegte sich nicht. Nur der Kopf stieß hin und her. Die Zunge spielte wie spionierend.

»Ein sehr schönes Exemplar« sagte er ruhig. »Mindestens fünfundvierzig Zentimeter lang. Das ist eine gute Probe für dich. Nimm den Brennstrahl. Ich halte still.«

Bei seiner kalten Rede war sie zu sich gekommen. Sie griff in die innere Tasche ihrer Windjacke. Er beobachtete mit großem Behagen, wie sie schnell und ohne jedes Zittern die kleinen Hebel an dem Apparate richtig umlegte.

»Wie lange?« fragte sie leise.

»Eine halbe Sekunde.«

Sie stellte die Zeitscheibe ein und legte zum Visieren aus.

»Jenau auf das liebliche Köpfchen, Rose!«

Ein kurzes, kaum hörbares Knipsen. Und als sie sich beide niederbeugten, hatten sie den kopflosen Schlangenleib vor sich, Rancke warf ihn mit dem Fuß zur Seite und untersuchte den Boden. »Als erste Jefechtsübung nich schlecht. – – – 'n bißchen jezittert haste doch! – Sieh mal, hier dicht dabei is das Wurzelwerk auch verdampft. Immerhin, es kann 'ne Lebensrettung jewesen sein. Ich habe von dem beabsichtigten Besuche nichts jemerkt. Die Beesterchen jeben ja keine Visitenkarten ab. Wie is es, Rose?« Er bückte sich und sah sie fragend an.

»Was denn?«

»Wollen wir den schönen Rest von dem bunten Aal als Andenken mitnehmen?«

Sie zog die Schultern zusammen und schüttelte unter starkem Stirnrunzeln den Kopf. Er erkannte mehr als die bloße Ablehnung und sah sie prüfend an. »Würdest du sofort fliegen können?«

Sie verstand ihn. »Schlangen sind mir höchst widerwärtig. Aber hier war es doch etwas anderes, Bert! – – Es ging doch um dich!«

»Soll jelten, mein Mädelchen. – Aber merk dir's für alle Fälle und für alle Zukunft: Eine Gefahr, bei der man kalt bleibt, ist keine Gefahr. – – Steig' jetzt in deinen Kasten. Ich werde meinen auch ausspannen und danebenstellen. Abfliegen wollen wir aber nicht. Wir wollen ganz gemütlich bei denen da oben nacheinander anklingeln. Wollen mal feststellen, wo sich jemand rumtreibt.«

Das Aufstellen war schnell geschehen. Da das Flugzeug nur acht Meter Spannweite hatte und die Flügel schmal wie Sensen waren, konnten die beiden fast auf vier Meter aneinanderrücken. Ranckes Flugzeug stand anderthalb Meter hinter dem Roses.

»Ist so was nicht herrlich?« fragte er, als sie sich beide in ihre Sitze geschwungen hatten. »Sehen kann uns keiner, wenn er nicht dicht herankommt. Dieser kleine Salonwagen ist so wunderschön praktisch anjestrichen.«

Rose kuschelte sich in das bequeme Polster und spannte gegen den herzhaften Sonnenschein das leichte Deck über. Sie lachte ihn an: »Und Kreuzottern gibt's so auch nicht. Ich bin übrigens wirklich schon ruhig, Bert. Und wenn du willst, können wir – – –.«

Er blinzelte. »Unsinn. Wir können nicht, weil wir nicht wollen. Das is immer 'n jesegneter Zustand. Erstmal 'n bißchen unterhalten mit denen da oben. Kannst du wo was sehen?«

Sie suchten beide den blauen Himmel ab. »Das nutzt ja auch nichts, Liebster. Auf tausend Meter Höhe ist man schon viel zu klein. Und dann noch von unten blaugrün angemalt. – – Kurt Stein hat mir übrigens gestern ein riesiges Kompliment gemacht. Kastner markierte fast den Wütenden dabei. Ich flöge zum allermindesten ebensogut wie die Herren, die starken Gebilde der Schöpfung. – Hörst du, Bert?«

»Ich hör' schon. Aber durch Randbemerkungen wird ja viel vom Zusammenhänge kaputjemacht.«

»Ich flöge sogar beinahe so gut wie Martha. Die hätte die sparsamsten Flügelschläge und käme doch am weitesten. Die wäre direkt wie geboren zum Fliegen.«

»Jeboren bin'ch eijentlich auch« warf Rancke sinnend ein.

»Bert! – – sei vernünftig!«

»Prolog zur Ehe! Weiß – – weiß« nickte er lächelnd.

»Heute waren wir zu fünfen oben. Ohlep hat sich bald von uns getrennt. Martha ein bißchen später auch. Ich flog ihr später nach. Rainer Ringfeld und Kurt Stein stiegen sehr hoch. Die haben wir ganz verloren. Die sahen wir von unsrer Höhe aus nach oben auch nicht mehr. Es ist übrigens doch ulkig: Wenn man in gleicher Höhe ist und nicht zu weit voneinander, dann kann man sich ganz gemütlich unterhalten, wie wir hier unten. Es ist ja kein Motor da und kein Lärm. Ist einer aber nur zwanzig oder dreißig Meter höher, dann muß der andere schon schreien. Man nimmt dann natürlich das Armband. – – Wo mag Ohlep geblieben sein?!«

»Werden wir gleich wissen.«

Während sie feststellten, daß Martha Berndsen auf fast 2000 Meter Höhe über dem Saaletale ihre Kreise segelte – – Kreise, die sie genau zwischen Rudolstadt und Saalfeld abzirkelte, und von denen aus sie bei der glasklaren Luft den Fichtelberg und darüber hinaus den Böhmerwald, den Brocken, den Inselsberg in Thüringen und über die Wasserkuppe in der Hohen Rhön bis hin nach dem Taunus sehen konnte; während sie von Rainer Ringfeld hörten, daß er und Kurt Stein auf fast 3000 Meter Höhe, unsichtbar für die Welt da unten, über Berlin hingen, daß es da oben empfindlich kalt wäre und daß sie sich bald auf den Heimflug machen wollten; und während sie von Ohlep begrüßt wurden, der sich bei bedecktem Himmel in der niedrigen Höhe von sechshundertfünfzig Metern über Helgoland nach der jütländischen Küste hinaufgeschlängelt hatte, und sich über den Geestrücken von Schleswig-Holstein gleichfalls auf den Heimflug in die Heide machen wollte, saß Richard Lembke in dem Gartenhaus der Schmiede.

Vom ganzen Geheimbunde war er zur Zeit der einzige, der zu Hause geblieben war. Er hatte es sich sehr bequem gemacht. Die Füße hatte er auf einen Stuhl gelegt. Die Arme hielt er über der Brust verschränkt, und aus dem linken Mundwinkel hing ihm die geliebte Pfeife. Und wenn es nicht vormittags gewesen wäre, hätte das alles nach einer richtigen, geruhigen Siesta ausgesehen.

Er sah durch die Glasfenster über den Hof. Wer ihn unbemerkt hätte beobachten können, der hätte leicht gesagt: »Diese Augen sind ganz offen, aber trotzdem – – – dieser Mann schläft!« Er schlief aber nicht. Wenn er auch nur in sehr langen Zwischenräumen zwinkerte, so arbeitete doch sein Gehirn sehr lebhaft. Er sah zwar durch die Scheiben auf die Hinterwand der Schmiede, aber er sah diese Hinterwand ebensowenig, wie er irgendeine Tür oder irgendeins der Fenster sah. Nicht, daß das alles für ihn durchsichtig war – nein, es sank einfach fort und verschwand. Es gab nur ein Bild, das er ununterbrochen zwar, aber auch mühelos vor seine Augen brachte. Das war der eine kleine finstere Raum im Keller. Und ob es gleich dort stockfinster war, Richard Lembke sah jede Kleinigkeit und jeden Winkel. Genau so hell, als ob alles unter dem klaren, schönen Tageslicht stände. Er sah auch den einen Klumpen, der hilflos in einer Ecke hockte. In der polizeilichen und bürgerlichen Registratur hieß dieser Klumpen Max Detlefsen. Aber ob er richtig so hieß, das war noch nicht ganz sicher. Denn der Klumpen hatte, als er noch im Lichte wandelte, viele Namen gehabt. Vielleicht in jeder Woche einen anderen. Und selbst der Herr Marquis Kohito wußte wohl nicht einmal den richtigen.

Richard Lembke hatte schon viel aus dem Manne herausgeholt. Er wollte noch mehr wissen. Die Mittel dazu hatte er ja. Nicht Geld! – Für dieses Gesindel, das seinem Rainer in die Pläne gucken oder sogar in die Pläne pfuschen wollte, keinen Pfennig! Ärgerlich war es zuerst gewesen, daß dieser Mensch da unten keine Angst vor dem Tode hatte. Aber es hatte sich glücklicherweise bald gezeigt, daß auch über den Todesmutigsten ein fürchterliches Zittern vor dem langsamen Sterben kommt.

Er hob bedächtig seine Füße vom Stuhl herunter, holte einen Staublappen und wischte den Stuhl sorgfältig ab, und dann stopfte er sich eine neue Pfeife. Rainer, den er angestrahlt hatte, würde vor fünf oder sechs Stunden nicht kommen. Er hatte ihn sogar wissen lassen, daß er heute mit den anderen zusammen in der Heide essen würde. Und gegen sogenannte »Dritte« war die Schmiede wie immer gesichert. So waren er und der andere da unten allein.

Er ging aus dem Gartenhaus hinüber in das Vordergebäude. Im Laboratorium holte er sich einige von den kleinen, wunderbar nützlichen Apparaten und steckte sie in verschiedene seiner Taschen. Dann stieg er, in geruhigen Zügen rauchend, in den »Keller«. Es handelte sich aber nicht um das, was man in sonstigen Wohnhäusern gewöhnlich Keller nannte. Das gab es natürlich auch hier, die Materialien- und Gerümpelkeller. Mit Ausnahme eines Kohlenkellers. Den brauchte man nicht. Man heizte ja mit Strahlen. – – – Er ging durch die Räume hindurch. An der Wand, die für einen oberflächlich Beobachtenden als letzte erschienen wäre, ließ er durch ein leises Streichen mit den Fingern eine Reihe in sich verbundener Mauersteine sich um sich selbst drehen. Dann trat er durch die Öffnung und verschloß sie wieder.

Es war schwarze Finsternis in dem Raum.

Er lauschte ein kleines Weilchen und hörte endlich ein Geräusch, das klang, wie wenn jemand mit geschlossenen Lippen keuchend und schnell den Atem durch die Nase einzieht und ausstößt.

»Einen freundlichen Guten Tag!« sagte er.

»Satan!« Das eine Wort zischte und schnitt durch die Luft. Es schien aus abgrundtiefem Haß zu kommen. Und aus Gift und Wut. Nur eins war nicht herauszuhören, selbst nicht für Lembkes scharfe Ohren: Angst.

Durch einen Druck auf einen ganz unauffällig an der Wand angebrachten Knopf machte er Licht. Dann setzte er sich langsam auf eine Decke, die nicht weit von dem gelähmten Spion an der Erde lag. Die Beine hatte er gemütlich ausgestreckt. Er spreizte sie auseinander und holte aus seinen Taschen die dem Spion schon bekannten verhängnisvollen kleinen Instrumente. Er machte das in unerschütterlicher Ruhe. Als sie vor ihm lagen, sah er sie eine Weile an. So, als ob er ihre Lage prüfte und über sie nachdächte. Dann beugte er sich etwas vor, um sie anders zu ordnen. Es war, als wenn für ihre Benutzung ein bestimmtes Programm vorgesehen war. Von dem gelähmten Bündel, das weder die Arme, noch von den Knien nach unten die Beine bewegen konnte, trennten ihn fast zwei Meter. Aber er meinte jetzt hören zu können, daß dem andern das Herz wie ein Hammer schlug.

»Mein Lieber, Sie sind unfreundlich zu mir!« Das sagte er sehr gelassen, während er dabei paffte.

Der Spion machte ein paar stoßende und wühlende Bewegungen mit dem Kopfe und den Schultern. Die Arme und Unterschenkel lasteten ihm wie Blei am Körper. Die Lippen schoben sich ganz zurück, so daß das Gebiß fletschend herauskam. »Mach' mich doch tot! – – du – Schuft!!« -

»Laßt Euch erst mal ansehen, mein Freund. – Es ist wahr, Ihr seid etwas reichlich alt geworden in der kurzen Zeit. Es sind doch bloß ein paar Wochen. Aber das ist doch Eure Schuld. Was hat Euch denn gefehlt? – Wenn ich nicht höchstselbst Euch jeden Tag die Zähne geputzt hätte, könntet ihr jetzt nicht so ganz überflüssig gegen mich grinsen. Zählen wir einmal auf! – Dumm, nun ist mir die Pfeife ausgegangen. Erst mal stopfen. So viel Zeit haben wir ja beide.« Er besorgte das mit der Gründlichkeit und der Abgemessenheit in den Bewegungen, die ihm eigen war.

»Sehen Sie mal – – Ihre Hauptkrankheit ist nicht von heute oder von gestern. Auch nicht, seit wir uns überhaupt kennengelernt haben. Bewahre – – Sie haben das schon lange mit sich herumgetragen. Das ist die Neugier. An der sind schon ganz andere Leute kapputgegangen. – Aber hier? – In diesem Erholungsheim? – Was hat Ihnen denn gefehlt? – – Sie sind doch jeden Tag reichlich sattgeworden. Oder nicht? Wie oft haben Sie mir den Löffel mit Ihrem freundlichen Kinn wieder zurückgeschoben. Ich nehme an, Sie konnten durchaus nichts mehr runterkriegen. Und es war immer vom Besten. Genau das, was die hohen Herrschaften oben auch immer bekamen. Vielleicht aber waren Sie auch sehr verwöhnt. – – Aber – – entsinnen Sie sich – satt hätten Sie immer werden können. Und Pflege und Bedienung? Wer ist besser bedient und gepflegt worden als Sie?! Wer weiß, ob Sie es früher jemals so gehabt haben! Ich habe Sie jeden Tag dreimal gewaschen. Ich weiß, wie notwendig das ist bei einem, dessen Tätigkeit ihm leider nicht viel Bewegung gestattet. Jeden Tag habe ich Ihnen das schöne Lager aufgepolstert. Ich habe mich dabei vorsehen müssen. Wissen Sie noch, als ich Sie einmal da drüben an die Wand hintrug, wie Sie mir dabei mit den Zähnen an den Hals fuhren? Das war wirklich nicht nett von Ihnen. Ich habe meine Gurgel schnell zurückreißen müssen. Habe ich Sie das entgelten lassen? – – Wir sind doch eigentlich sonst gut miteinander ausgekommen? – – – Nicht?«

Der Kopf des Spions war zurückgesunken. Die bleichen Lider hatten sich über die eingefallenen Augen gelegt.

»Sehen Sie – – – das ist brav! – – Jetzt schämen Sie sich.«

Da rissen sich die Lider hoch und gegen Lembke glühte ein Strahl unverwüstlichen Hasses und heißer tierischer Wut. »Hund! – – Himmelhund! – Mach mich doch tot! – – – Gott im Himmel – – – gibt's solchen Schuft?!«

»Es muß Ordnung sein. In allem« sagte Lembke bedächtig. »Dafür hat man doch sein Programm.« Er führte seine Finger der Reihe nach über die Instrumente. »Sehen Sie, dieses Ding hier – – das vorletzte – – das ist der Apparat, der einen Menschen auslöscht. Ganz. Sie sind dann niemals bei mir zu Gast gewesen. Ich habe es Ihnen ja neulich vorgemacht mit den beiden Mäusen. Man muß immer beweisen, was man sagt. Wenigstens tun das die Leute, die etwas auf sich halten. Hier der letzte, – – interessiert Sie das?«

Der Spion stierte von der Seite her mit Zügen, in denen langsam das Grauen hochstieg, nach Lembkes Hand.

»Der ist freilich etwas unangenehm. Mit dem verbrennt man nur langsam. Der ist eigentlich ein Heilinstrument. Für schlimme Beulen und Geschwüre und so etwas. Die brennt er weg. Und macht dabei so langsam gesunde Löcher in das corpus. Natürlich kann man das auch so einrichten, daß einer nur halb verbrennt. Und langsam. Das ist natürlich nicht schön. Alles Halbe ist nicht schön. – – Sie brauchen sich übrigens gar nicht so zu entsetzen. Vorläufig – – meine ich. Der geht uns nichts an. Oder er braucht uns nichts anzugehen. – – – Sehen Sie mal, Sie haben sich geirrt, als Sie hierher kamen. Stimmt das?«

Der Spion atmete tief und schwer, aber er ließ keinen Laut hören.

Lembke nahm das Schweigen als Zustimmung. »Sehen Sie! – Und nun Sie hier sind, irren Sie sich wieder.« Er sah nach seiner Uhr. »In fünf oder spätestens zehn Minuten werden Sie Ihre beiden Arme wiederhaben. Ich weiß, Sie haben mir nicht geglaubt. – Aber wirklich: dann ist die Lähmung zu Ende. Die Beine allerdings, das bleibt noch etwas. – – Ich glaube aber, daß wir beide uns noch ganz gut verständigen können. Daß Sie das nicht gleich begriffen, war Ihr dritter Irrtum.« Er nahm das Instrument, das in der Reihe als letztes lag, und legte die Finger an die Hebel. Die Visierlinie ließ er auf dem Spion hin und her spielen. »Ich habe ja viel Geduld. Das liegt in meiner Natur. Aber man hat nicht immer viel Zeit. Und grade jetzt ist es eilig. Auch für Sie – –! Daß Ihr Marquis Kohito uns längst auf der Fährte ist, daß Ihr ehrenwerter englischer Kollege, der William Atkinson, sich in Singapore an unsern Rolf Lindow herangemacht hat – – vergeblich, wie ich Ihnen verraten darf – – und daß Ihre beiden saftigen Freunde, der Günther und der Lehmann (ich lobe mir überhaupt unverfängliche Namen!), wenn sie auch wahrscheinlich sonstwie heißen – – beim Kommerzienrat in der Fabrik arbeiten, um mit dem Flugzeug auszureißen, und daß dieses verrückte Frauenzimmer, die Corinna Weginsky besser mit der Feder tanzt als mit den nackten Beinen – – das haben Sie mir ja in freundlichem Entgegenkommen in unsern Plauderstunden erzählt. Aber das war nur ein Prüfstein. Denn wir wußten das alles. Wir wissen sogar noch mehr. Aber eins – – das will ich nun von Ihnen wissen. Damit können wir vielleicht sogar in ein sehr verständiges Verhältnis zu einander kommen. Sie haben diese Martha Berndsen schon lange beobachtet. Was will die bei uns?«

Der Gefangene antwortete nicht. Sein ganzes Empfinden lag auf der Lauer. Nicht nach außen. Er hatte gehört, was sein kalter Peiniger sagte. Aber das schwamm wie im Nebel. Mit fieberndem Herzschlag horchte er in seine Arme hinein. Die Fingerspitzen wurden ihm warm. Er versuchte die Armmuskeln spielen zu lassen. Die beiden Daumen gingen schon hin und her. Es kam ein Zucken in die Hände. Und als er diese Hände zu Fäusten zusammenkrampfen konnte, als er mit den wochenlang gelähmten Armen umherschlagen konnte, schoß eine wilde Lebensfreude, eine flimmernde gierige Freude über das Neugeborensein in ihm empor. Schwere Tränen flossen über das eingesunkene Gesicht. Er wollte hochspringen, er wollte sich herumschwingen, er wollte treten, stampfen, er wollte tanzen – – aber die Unterschenkel und die Füße waren noch Blei. Wie in halbem Irrsinn stieß er heraus: »Mensch – – oder Teufel! – – oder Gott! – Ich tu alles, was du verlangst – – aber mach mich frei!« Er schrie das weinend und zischend.

Lembke sah ihn wortlos aus seinen eisigen Augen an.

Die Arme des Spions fuhren in Kreisen durch die Luft. »Laß mich los! – – – Laß mich los!!«

»Was will die Martha Berndsen bei uns?«

»Ich weiß es nicht!« war die verzweifelte Antwort. »Ich weiß es in allen Ewigkeiten nicht – – – – –.«

»So« sagte Lembke kalt. Seine Finger spielten mit dem Apparat.

»Ich kann's bei allem – – – bei allem schwören – – – ich weiß es nicht.«

»So« klang es wieder.

»Das müßt Ihr doch besser wissen. Sie ist doch immer bei euch!«

»Das – nützt also nichts – – – –.«

»Ich kann es doch nicht wissen!« schrie der Gefangene verzweifelt.

»Das nützt also nichts. Mir nichts. Und Euch auch nichts.« Lembke hob den Apparat dicht vor seine Augen und zielte. Der Spion sah, wie er ganz langsam den Hebel schob. Er schlug sich die beiden Fäuste in die Augen. Und auch jetzt noch: Das zu können, schoß ihm wie eine hitzige Erschütterung durch das Herz, wie eine Freude, die aus lauter Blutwellen bestand. Dann brach er ganz plötzlich in ein fürchterliches Lachen aus und riß die Arme weit auseinander. Als er die Augen aufmachte – nun mußte ja der vernichtende Feuerbrand kommen! – – starrte er ins Finstere.

»Sind Sie noch hier?« stieß er heraus. In den Worten lag eine ganz abgründige Angst. Er wußte nicht, ob er tot war oder noch lebte. Er sah nichts mehr. Blitzschnell durchzuckte ihn der gräßliche Gedanke, der andere hätte ihn blind gemacht. »Sind Sie noch hier?« keuchte er zum zweiten Male.

»Nein« sagte Lembke, der sich, dem Klange nach zu urteilen, schon an der Wand befand.

»Um aller Barmherzigkeit willen! – – – Macht noch einmal Licht –!«

Der Schrei verklang. Der Spion hörte nur noch das leise Schleifen der schweren Geheimtür und war wieder allein.

— — — — — — — —

Was Lembke bewogen hatte, seinen Besuch plötzlich zu beenden, war ein Signal an seinem Armband. Er wußte nicht, von wem es kam, und er wollte nicht in Detlefsens Gegenwart sprechen.

* * *

Exzellenz Kohito hatte sich, wie es von alter und emsig geübter Sitte her in der hohen und mittleren Diplomatie üblich war, in der Reserve gehalten. Einige nannten das Vornehmheit. Sie kamen von der Kultur her. Andere – – sie hielten es mit der Zivilisation – – nannten es ausgewachsene Gerissenheit. Ganz Aufgeklärte sprachen von einem veralteten System, das der neuen, schönen Zeit, in der doch alles offenliegen müsse, bald würde weichen müssen. Aber diesem kleinen Marquis bedeutete es doch einen starken Ausfall an seinem wunderschönen Sichtfeld, daß sein Spion, diese Glanznummer aus der niederen Diplomatie, mit einem Male so spurlos verschwunden war. Er hatte nicht nötig, sein Gesicht erst zu dem gefrorenen milden Lächeln zu verziehen, wenn er daran dachte, wie spaßig es doch sei, daß die Menschen immer behaupteten, die Welt würde von »Oben« regiert. Ihm war längst klar, daß die Welt durch Oben von Unten regiert wurde.

Die Zeiten waren zu stickig, als daß er hätte länger warten dürfen. Ein Mann auf seinem Posten, ohne guten Nachrichtendienst, war eine glatte Null, eine Seifenblase, ein Kreis ohne Inhalt, eine schillernde Hülle. Er würde jederzeit jeden Spion fallen lassen, dem die Maske gerutscht war, aber er würde niemals darauf verzichten, Spione zu halten. – – – Und jetzt waren sie doppelt nötig. Es knisterte wahrlich und wirklich an allen Ecken und Kanten.

Eigentlich war es ungeheuerlich, daß man nicht einfach an diese Deutschen herantreten durfte. »Her mit der Hand! Laßt uns gut Freund sein! Uns geht es ja auch um den Frieden!« Und daß man nicht zu ihnen sagen konnte: »Ihr aus dem Herzen Europas, arm, wie Ihr seid, aber auch stark, wie Ihr seid – – und wir aus dem fernen Osten – –. Jeder ein Zentrum auf seiner Erdhälfte – – wir beide wollen es schaffen!«

Und weshalb ging das nicht? – – Von den paar wilden Gesellen, die von Krieg und Kriegsgetriebe lebten abgesehen, war doch in jedem Menschen ein tiefes Sehnen nach Frieden, nach der Arbeit im Frieden. – – – Aber? – –: Keiner glaubte dem anderen. Und dann: Wenn man schon den Schwachen nicht achtete, – – bei dem Starken hatte man doch die ewige Furcht, er könnte noch stärker werden wollen! – – Die Geschichte aller Zeiten hatte es ja auch gezeigt: war schon einmal ein Volk satt geworden? – – – Nicht eher, bis es starb.

Indessen was an ihm lag, wollte er tun, um mit den Deutschen zusammenzugehen. Zu Hause hatte er schon genügend vorgearbeitet. – – – – – – – – –

 

– – – – – – – – – Die drei Artikel zusammen hatten gewirkt wie eine Bombe. »Die neue Welt« – – »Das Geheimnis der Zahl!« – – und als der dritte erschien: »Ihr vergaßt das erste Blut!«, da hatte alle Welt nach Deutschland geschaut. Und kein Mensch auf dem Erdenrund zweifelte, daß diese Zentralstelle in Deutschland liegen müsse.

»Was wollen sie? – –?« hieß es an manchen Orten.

»Was können die wollen? sagten andere mit bald leisem, bald lautem Hohn. Einige gebrauchten die für alles Neue hergebrachten Worte der Gedankenlosen. »Bluff!« – – »Mystifikation!«

Es gab aber auch Stellen, die sich nicht mehr gegen ein Erschrecken wehren konnten. Ja – – – wenn es bei den bloßen Worten der alarmierenden Artikel geblieben wäre – –!

In London gab es behördliche Instanzen, in denen man verstört durcheinanderlief wie in einem Ameisenhaufen, dem der plumpe Fuß eines herzlosen Menschen den kunstvollen Bau zertreten hatte. Die im Geheimstil abgefaßte Kabeldepesche von der Sundastraße hatte die unerhörte Beschwerde gebracht, daß die Munition plötzlich versage. Man besäße die schwersten Geschütze der Welt. Man könne aber nicht schießen.

Das gab zuerst eine Verblüffung und ein ratloses Kopfschütteln. »Teufel nochmal!« schrie der Kriegsminister. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu! Wozu haben wir unsre Spione! – – Das liegt doch tiefer!«

Er war der Mann der Sachlichkeit, des soliden Einmaleins und der Geschoßbahn. Und wenn er sich überhaupt mit Beten befaßte, so kannte er nur ein Gebet, und das hatte nur eine Zeile: »Alt-England für immer!«

Bei allem Nachsinnen stieß er nur auf eine Möglichkeit: eine Verschwörung in Indien, dieser ewig wunden Stelle am britischen Reich. Wozu hatte man die Malakkastraße ausgebaut! – Sie beherrschte unerschütterlich den Weg von ganz Ostasien nach Indien, nach Afrika, nach Europa. Weitausschauend und mit ungeheuren Kosten hatte man sie zu einer Allee von Festungen gemacht, gegen die Gibraltar, Malta, Zypern, ja sogar die Straße der Dardanellen verblaßten. Aber welche Festung war noch eine Festung, wenn sie nicht mehr schießen konnte? Welches Land besaß noch eine Blüte, wenn seine Granaten nicht krepierten?

Für ihn gediehen Handel und Wandel – – der Lebensnerv seiner heißgeliebten Britannia – – nur unter dem Schutze von Kanonen.

Sein Adjutant, ein junger Offizier, trat herein und legte ihm drei Zeitungsblätter auf den Tisch.

Er sah ihn fragend an. »Zeitungen? – – Sie wissen – –.« Er machte eine sehr abweisende Bewegung mit der Hand. »Ich lese keine. Wir haben ja unsre Kabel und die Geheimschrift.«

Der Adjutant legte die Hand auf die Blätter. » Das könnte wichtig sein!«

Der Minister sah stirnrunzelnd auf. »Hat es etwa mit ›drüben‹ zu tun? – – Mit Indien? – – Mit Singapur?«

»Vielleicht« erwiderte der Adjutant, die Schultern hebend.

» Ihre Meinung?«

»Nicht nur meine. Andere vermuten das auch.«

Der Minister griff nach den Blättern. Der andere wies mit dem Finger auf den ersten Artikel und zog sich dann zurück.

»Was heißt das? –?« knurrte der Minister. »Durch Zeitungen?« Und dann fing er an zu lesen. Seine Stirn wurde von immer tieferen Furchen durchzogen. Seine Augen bohrten sich immer tiefer in die Buchstabenreihen. Seine Zähne bissen sich immer fester aufeinander, so daß die Backenknochen zuletzt wie gemauert herausstanden.

Er war zu verständig und zu nüchtern, um zu sagen: »Das ist doch alles Unsinn! – – Das ist entgleiste Phantasie!« Die letzten Jahre hatten Entdeckungen und Erfindungen in einer so überwältigenden Zahl gebracht, daß es fast war, als wenn Schnee fiel und die Flocken durcheinander tanzten und wirbelten. – – Möglich war zuletzt auf diesem Gebiete alles.

Er überflog den zweiten Absatz. Er las ihn noch einmal, er las ihn zum dritten Male. Er fühlte, daß hier ein geheimnisvoller Mensch etwas ganz Ernstes sagen wollte, und er erkannte, daß hier einer sprach, der sich auf seine Sache verließ und der auch sein Handwerk verstand. Denn das mußte er von vornherein zugeben: Die Titel waren »infam aufreizend«. Noch dazu bei den vielen verrückten Ideen, die überall in der Luft lagen.

Auf den freien Platz neben den Artikeln hatte der Adjutant mit Bleistift alle Orte ausgeschrieben, an denen die Aufsätze zu gleicher Zeit erschienen waren. Das »zu gleicher Zeit!« hatte er unterstrichen.

Er sah über die stattliche Reihe. »Damned! Die Bande ist organisiert. Deutsche? – – Man hat ihnen doch die Klauen beschnitten. Und ich denke, ganz gründlich. Kommen sie jetzt so?«

Er las zum vierten Male. Dann schlug er das Blatt zornig auf den Tisch und drückte auf einen Knopf.

Der junge Offizier erschien. Seine Mienen waren sehr erwartungsvoll.

»Hören Sie mal – – – die Melodie kennen wir doch! Das ist billig. Wenn man abgehalftert ist und nichts mehr zu sagen hat, dann redet man. Redet vom Frieden. Es ist bisher doch gesunde Angewohnheit gewesen, daß nur der Starke vom Frieden reden darf. Drohen und die Faust zeigen, das können sie nicht mehr. Jetzt sind sie die Sanftmütigen und Friedfertigen. Weltherrschaft in Sanftmütigkeit – – – gibt es das? – – Nein! Unser System ist das richtige. Das hier ist Gewäsch und Gewinsel.«

Der Adjutant legte den Kopf auf die Seite. »Wenn sie uns aber unsre schönen Granaten – – – –.«

»Unsinn! – – Die sind das nicht gewesen – –.«

»Der Lordkanzler denkt anders darüber –.«

»Wie denkt er darüber? – Der ist nicht Soldat!«

»Er hält die Sache für sehr beachtlich. Das fast explosionsartige Erscheinen rund um den Erdball ließe außer Zweifel, daß eine große Kraft dahinterstecke. Er hat auch gesagt, drüben in Indien – in Singapur – das wäre ja nur Materialschaden. Und wenn sie das könnten, dann könnten sie sicherlich auch mehr. – – Mehr als nur Materialschaden verursachen. Sie hätten ja auch wirklich zerstören können. Man könnte das nicht wissen – – –.«

»Nur Materialschaden? – –? Alle Teufel noch mal! Das sagt der Mann? – Ha! Nur Materialschaden! Eine Armee, die nicht schießen kann? Eine Granate, die nicht krepiert? – – Wenn sie sämtliche Säbel und Messer aus der Entfernung schmelzen – – vielleicht meint er, das können sie auch! – – ist das bloß Materialschaden? – Ein splitternackter Kerl ist das noch ein Soldat? Haben Sie schon mal gesehen, daß ein nackter Mensch Autorität hat? – – Lachen Sie nicht bei dem verrückten Gedanken, es könnte sich einer nackt auf den Thronsessel setzen!«

Der junge Offizier wich aus. »Der Lordkanzler sprach die Ansicht aus, das könnte vielleicht nur die Eröffnung sein. – – Und zudem sei jede. Armee in erster Linie doch zur Sicherung des Friedens – – – –.«

»Hören Sie mal, Landsdown, wir sind ja unter uns! Der Satan soll solche verrückte Meinungen runterschlucken. Ich nicht. Dann hätten wir ja seit Jahrhunderten zu Hause bleiben müssen. Und hätten niemals an ›Weltherrschaft‹, denken dürfen. Was wir doch von Neujahr bis Neujahr getan haben. – – Haben's die Deutschen anders gemacht? Bloß daß sie nach ihrer löblichen Manier immer zu spät kommen. Nun, jetzt ist's ja auch alle mit ihnen. Ihre paar Kolonien sind sie los. Und die verflixten Franzmänner? – Haben die es anders gemacht? Und die Dänen? Die Holländer? – Die Spanier?«

»Es kann immerhin, meinte der Lordkanzler, eine neue, vielleicht eine ganz andre Zeit kommen.«

Der Minister sprang auf. »Neue Zeiten sind schon immer gekommen. Noah war 'ne neue Zeit gegen den lieben Abraham. Oder – – war's umgekehrt? Ich weiß das nicht so genau. Weil sie beide lange tot sind. Nur wer neue Zeiten überdauert, wird alt. Nur wer bleibt, hat die Aussicht, groß zu werden. Aber stark muß er sich machen! Hören Sie mal den Unsinn!« Er riß eins der Blätter hoch und plusterte die Backen auf, um einen lehrhaften Ton nachzuahmen. – – »Der spricht nämlich auch von einer ›neuen‹ Zeit – – Also: ›Mit ihr weitet sich die Welt. Wir treten in einen grenzenlosen Raum, in ein Gebiet, das immer da war, ohne daß wir es wußten, und dessen Kräfte größer sind, als alles, was wir bisher kannten.‹ – –« Und nun wurde sein Ton geradezu pastoral: »Alle Erfindungen – ausnahmslos, die bisher gemacht wurden, liegen auf dem Gebiete des Mechanischen. Der tiefe Sinn aller Materie ist, daß sie dienen soll. Aber die Menschheit hatte die Materie bis jetzt, je länger je mehr, zur Herrin gemacht. Der tiefe Sinn des Geistes ist, daß er herrschen soll. Aber die Menschheit hat ihn bisher, je länger je mehr, dazu benutzt, die Materie auf den Thron zu heben. – – Sehen Sie, wird Ihnen nicht schwindelig? Also, ich frage Sie nochmal: Haben Sie schon ein einziges Mal einen nackten Menschen gesehen, der Autorität hat? – Nun geht es weiter: ›Es gibt außer der sichtbaren Welt eine unsichtbare, außer der starren, von der Menschheit bewegten Welt eine mit dem großen All schwingende. Das ist die Welt der Strahlen‹. – Schön. Wie? – Verstehen Sie das? – Es fehlt nur noch der Versicherungsschein auf die ewige Seligkeit, und der Verein der Jünger der letzten Tage ist fertig.«

»Und – – – – – – Gandhi?«

»Wer ist Gandhi? – – Was ist Gandhi?« fuhr der Minister auf.

Der Adjutant sprach bescheiden, aber er hatte einen festen Blick. »Wir sind fraglos das mächtigste Weltreich. Ich bin ganz Engländer. Grade weil ich es bin, scheint es mir wichtig, festzustellen, daß Gandhi in Indien – in den letzten zwanzig Jahren – immer mehr Überlegenheit gegen uns gewinnt. Und jetzt schon über Indien hinaus.«

»Ach, das ist der verdrehte Inder!« warf der Minister, sich erinnernd, ein. »Was hat er erreicht?«

»Seine Macht wächst mit jedem Monat. Wir sind gut unterrichtet. Und was die Waffen anbetrifft – – was wir Waffen nennen – – er ist gänzlich waffenlos.«

»Eben! Deshalb kann er auch nur reden!«

»Mehr tut er auch nicht. Und helfen. In vielem Kleinen. Und in manchem Großen.«

»Mein lieber Lansdown, ich kenne natürlich den Burschen. Und auch sein Phantasieren. Das wissen Sie doch von mir: solange ich Kriegsminister bin, trägt in ganz Indien kein Mensch eine Waffe, der nicht auf Britannia schwört. Und wenn sie mehr reden, als uns paßt, wir haben ja Mittel!« Er verkniff das Gesicht. »Es ist schon mancher drüben still geworden, ganz still. Nein – über die Waffenlosen lache ich, – – lacht die ganze Welt.« Seine polternde Sprache wurde leiser. Seine Augen wurden schlitzig. »Was wäre England ohne Indien! Mein Lieber, eine Krone, aus der man die Diamanten ausgebrochen hat. Das ist doch die Politik, die hohe Politik von Jahrhunderten her: den Ring rundum zu spannen und ihn weit draußen zusammenzuschweißen. Vom Kap bis Kairo. Deutsch-Ostafrika ist ja nun endlich hinausgeklemmt. Die Domininons! Australien, Kanada! Es wird immer noch eine gehörige Arbeit kosten. Aber in Rußland haben sie zu viel mit sich selbst zu tun, die werden uns nicht stören. Japan? Wir sind doch auf dem besten Wege, Japan als Macht zu isolieren. Und hier in Europa? – Frankreich sitzt – – das hat der Gott der Engländer so schön gefügt – – schon wieder mitten drin im Schwindel. Nach dem eigentlichen Grund brauchen doch gerade wir wahrhaftig nicht zu fragen. Polen hat sein verwesendes Präsent bekommen: es ist wieder da! Es existiert! Mehr braucht auch davon nicht gesagt zu werden. Und dieses Präsent bezahlt Deutschland mit Geld und Land. – – Freilich, es rumort natürlich überall. Wachsein ist alles. Und Waffenhaben die Hauptsache!!«

»Der Völkerbund?«

»Lansdown, unterhalten wir uns hier über Seifenblasen?«

»Der Völkerbund ist keine. Wenigstens sieht es nicht so aus. Überall – – –.«

Der Kriegsminister legte seinem Adjutanten beide Hände auf die Schultern. »Mein Junge, ich habe Sie gekannt, als Sie fünfzehn Jahre alt waren. Ich habe Ihren Lebenslauf verfolgt und zu Zeiten auch gelenkt. Und habe Sie hierher zu mir gezogen. Früher waren Sie anders. Das ging immer ›Drauf!!‹ Das wird auch wiederkommen. – – Wir beide können anders miteinander sprechen als so – – Dienstchargen. Der Völkerbund? – – Diese Schleimerei? – – Das ist doch alles nur verschleierte Waffenruhe. Asthma. Lassen Sie alle erst mal wieder zu Atem kommen – – – –.«

»Ich habe vier Jahre an der Front gestanden«, sagte der Adjutant ruhig.

»Weiß ich. Und sich tapfer geschlagen. Das sind keine Frühstücksorden.«

»Und wenn ich nicht draußen war, war's, weil ich im Lazarett lag.«

»Weiß ich auch.«

»Ich hatte schon ein Jahr Front hinter mir. Eines Morgens wachte ich auf. Wir waren wieder angesetzt zum Sturm. Angst hat man ja nicht. Vielleicht kann man gerade deswegen denken. Und da kam die Frage: »Wozu?« Es ist ja nur ein kurzes Wort. Es kam immer wieder. Und ich wußte mit einem Male: die drüben sagten auch das eine kurze Wort. – – In meinem letzten Gefecht bekam ich zu anderen Verwundungen als letzte einen Schuß durch den rechten Fuß. Ich schlug zur Seite, als wenn einer unter mir die Erde weggerissen hätte. Wir waren im Vorstürmen. Beim Sturz griff mein Arm nach einem Stützpunkt. Und fuhr in etwas Weiches. Und durch, durch Heißes und stieß auf Knochen. Ich warf mich auf die linke Schulter und riß die Hand raus. Der Mann war soeben von einer Granate zerfetzt worden. Er lag auf dem Rücken. Der ganze Bauch auseinander. Ich war ihm da durchgefahren. Bis ans Rückgrat. Es war Rolf Lean. Ingenieur. Ein guter Bekannter. Zweiundzwanzig Jahre alt. Und das beste Examen. Mit Leib und Seele Ingenieur. Die andern fegten weiter. Ich schlenkerte die Hand von Blut und Fett und Eingeweiden frei und stieß sie zum Himmel, an dem die Granaten heulten. – – – Ist je ein Schwur heilig gewesen, war's damals mein Schwur. Die Erde ist kein Metzgerblock! Die Völker sollen sich einigen! Sie sollen sich vertragen! – – Den Augenblick mit meiner triefenden Faust und den Schwur im fürchterlichsten Lärmen und Rasen – – die vergesse ich nie! – – Niemals!«

»Irrtum, mein Lieber! – – Das vergessen Sie. Das ist ja das Schöne am menschlichen Gedächtnis, daß so was mit der Zeit ganz sicher verblaßt. Sonst hätte es ja nie einen zweiten Krieg gegeben. – – Das sind persönliche Erlebnisse – – und eines Tages gar nicht mehr da. – – – Aber die große Idee, die ewige Melodie der Macht, die bleibt. Und siegt!« – – – Seine Stimme wurde auf einmal ganz leise: »Merken Sie sich das große Geheimnis des Krieges: Es gibt ja immer neue Menschen. – – Und die haben ja noch kein Gedächtnis!!«

* * *

Durchlaucht Klio hatte nach dem fließenden Diktat der Geschehnisse geschrieben. Sie lächelte, mit jenem Lächeln, das sie noch am späten Abend jung erscheinen ließ. Denn vielleicht – – vielleicht! kam doch jetzt eine neue, eine schönere Zeit. Es war eine schwere Ernte gewesen, das letzte Jahrzehnt. Sie schlug den Band zurück und flog alles noch einmal durch. Bei manchen Zeilen schüttelte sie den Kopf, zwar auch mit einem letzten Widerschein jenes Lächelns, aber ein wenig waren ihr doch die Augen naß geworden.

Und als sie mit lesen fertiggeworden war, sah sie durch die großen Spiegelfenster ihres Schlosses hinein in die Zeiten und an den weiten Horizont.

Der Überblick von kurz vorher war zwar ein wenig grausig, aber doch auch ein bißchen eintönig gewesen. Da gab es in der Hauptsache nur ein einziges großes Schlachten. Ein schweres Schlachten an den Menschen und an der Wahrheit. Es wurde gemordet und gelogen. Und in dieser Beschäftigung wurden die lieben Menschen immer feiger. Es war wirklich kein anderes Wort da. Sieh doch: der nackte Wilde mit der Axt, das war doch noch ein Kerl! Der Ritter mit der Rüstung und mit dem Speer, das war auch noch ein Kerl! Aber dann hörte es auf. Als die Kugel kam. Das war ja auch eine Erfindung gewesen. Die mit dem Pulver! – – – Wer am weitesten schießen konnte, der schaffte es. Der andere war tot. Und hatte vielleicht nur deswegen nicht geschossen, weil er noch nicht nahe genug heran war. Dann hatten sie Minen. Regimenter spritzten auseinander; Schiffe, auch die größten, auch die aus Stahl, flogen in die Luft. Dann erfanden sie giftige Gase. Ganze Gräben voller Menschen, unterirdische Gänge und Höhlen, alles voller Menschen, alles wurde erstickt. Die Menschlein, wahrhaftig, sie waren vielseitig. Aber im Grunde war es doch immer nur eine neue Variation zu einem uralten Liede.

Und feige, fürchterlich feige, war das doch auch. Wenn man es genau besah, waren eigentlich die Tapferen die, die starben. Aber nicht tapfer gegen die Menschen, tapfer gegen den Allbezwinger Tod. Wenn sie sich auch zuletzt fügen mußten.

Durchlaucht stellte fest, daß es jetzt anders geworden war. Es schien, als ob die Menschheit sich ausgetobt hätte. Die quälende Frage war nur: Auf wie lange?

Gelegentlich wollte sie doch mal nachlesen, wie groß oder wie selten die Pausen in den letzten Jahrtausenden zwischen den Schlachtfesten gewesen waren.

– – – – Nun – – aber der jüngste Überblick!

Also: Die Strahlenwelt hatten sie entdeckt. Das Tor hatten sie gefunden, an dem sie immer vorbeigerannt waren, und das nun, nachdem sie die beiden Torflügel weit auseinandergeschwungen hatten, ein blendendes Licht über die Zukunft der ganzen Menschheit herausströmen ließ. Sie nannten es den Eingang zu einer »neuen« Welt! Große Worte waren ja auch eine alte Erfindung.

Durchlaucht nahm den Füllfederhalter in die Hand. Wie sah es nun eigentlich aus? Sie ging an ihre Randglossen.

»Wer ist Lembke? Richard Lembke?« schrieb sie. »Dr. phil. von Marburg und Faktotum in der Schmiede im Alstertal? – – – Er hat die Strahlen ja schon in der Hand. Er wird also dabei sein, wenn die ›alte‹ Welt durch die ›neue‹ Welt überwunden werden wird.

Und was macht dieser liebliche Bursche? Sie brüsten sich immer damit, daß sie das Mittelalter überwunden haben mit seinen Femgerichten, Hexenprozessen und Folterkammern. Und wenn sie vom Mittelalter sprechen, haben sie ein Gesicht, als wenn sie tief unten im moorigen Grunde einen Klumpen von häßlichen, schleimigen Kröten sehen. Und er? Kaum hat er die Strahlen in der Gewalt, die ins frohe, freie Licht führen sollen, holt er dieses verworfene Mittelalter wieder herauf. Weshalb nur, du Narr! – Aber sie sind nicht nur im Erfinden bei der Technik groß. Sie sind es auch im Erfinden von Gründen. Ich bin sehr neugierig, wie er sich herausreden wird. Denn, mein guter Freund, irre dich nicht! Alles, alles kommt sicher einmal vor Gericht. – – Das muß sein. Muß! Sonst hätte nämlich die ganze Firma »Geschichte & Cie.« keinen Sinn. Sogar das Besserwerden hätte keinen Sinn.

Und die beiden andern? Da haben sich doch nicht der Kriegsminister und der junge Offizier gegenübergestanden? – – Das war doch die ›alte Zeit‹ und die ›neue Zeit‹«! Was sagt dieser infame knorrige Kerl? – –: ›Das ist das Geheimnis: Es gibt immer wieder neue Menschen! – Und die haben noch kein Gedächtnis!

Verdammt noch mal! Der grauhaarige Schubjak hat Recht. Aber so lest doch endlich die Bücher der Firma ›Geschichte & Cie.‹! Dann habt ihr doch Gedächtnis! Ein Gedächtnis sogar, das euch nie im Stich läßt. Es ist zum Auswachsen. – Und diese ungeheuerliche Raffiniertheit von dem Burschen! ›Mit der alten Generation ist das Grauen erloschen, und die neue, die es noch nicht kennt, läßt sich ohne Mühe hineinjagen.‹

Was sagt er? – – ›Das Gedächtnis verblaßt und stirbt, aber die ewige Melodie der Macht, die bleibt, die siegt!‹

Bei aller Himmel Himmeln! Auch der liest meine Bücher nicht. Es gibt nur eine ewige Melodie, die bleibt und siegt. Das ist die Melodie der Liebe. Lest doch, lest doch nur in meinen Büchern! Was ist denn von Anfang bis jetzt aus der Melodie der Macht geworden? Immer eine Weile gesungen, ist sie immer wieder verklungen. Ist das ewig? Was ist aus den Mächten geworden? Zu Staub zerfallen. Bis jetzt alle! Wo sind die Assyrer, die Meder, die Perser? Wo ist Mazedonien! Wo sind die Griechen! Die Römer! Wo sind die Reiche vom Ganges bis zu den Karpathen, die unter einem Zepter standen? – Erinnert euch doch! Lest doch nach! Es gab sogar ein Reich, dessen Herrscher sich rühmte, daß in seinem Königtum die Sonne nicht unterginge. Wo ist es? Und die Neuen? die Großen? Alles taumelt und schwankt. Aber nicht weil es zu schwach ist – – nein! In Kampf und Gier. Weil sie nie satt werden.«

Ehe Klio den durchlauchtigsten Federhalter, den sie von sich geworfen hatte, wieder an sich nahm, wischte sie sich die Tränen des Zorns ab. »Was sagt er? – – Seifenblase? – – Der Völkerbund eine Seifenblase? Asthma sagt er? Wenn sie nur erst wieder die nötige Puste haben, ginge es wieder los? – – Dieser Mann gilt nun bei meinen lieben Menschlein als gebildet. Wo sie eigentlich diesen Ausdruck herhaben! – – »Gebildet!« Er hat viele Untergebene und hat eine doppelte Reihe von Orden. Er hat auch noch nie im Kittchen gesessen und geht immer links, wenn der andere noch mehr ist. Aber er ist gänzlich ungebildet. Wie jeder ungebildet ist, der nicht zu den regelmäßigen Abonnenten der Firma »Geschichte & Cie.« gehört. Trotz Frack und Helmbusch, trotz Mathematik und Katheder, trotz Auto von 60 P. S., Flugmaschine und Luftschiff. –

Erst zwei Menschen! Sie schließen einen Bund. – Wozu? – – Dann zwei Heerführer. Dann zwei Staatsmänner, dann zwei Völker. Alle schließen einen Bund. Wozu? – – Um Frieden zu halten.

Und nun der Völkerbund, der große – – über einen ganzen Erdteil – – das soll eine Seifenblase sein?

Dieser zuwidere Kriegsminister, dieser ungebildete Mensch – – – – –! Laßt uns nicht schimpfen – – – – –.

Als ich anfing, erwachsen zu sein, hat Vater Chronos mir ein paar Tanzschuhe geschenkt und die Gabe, alle hundert Jahre einmal in die Träume der Menschen hineinzutanzen. Wie so manches dutzendmal habe ich das schon getan. Mal war es ein Spaß, mal eine Bitterkeit. Alle hundert Jahre, das ist eine sparsam bemessene Gabe. Wenn ich das eine Mal die Großväter sah, glitt ich das andere Mal zwischen den Enkeln durch. Und ich muß mir recht genau überlegen, wann ich dieses kostbare Geschenk benutze.

Ich glaube aber, wenn es je eine Zeit gegeben hat, wo die liebe Menschheit am Scheidewege stand, dann ist diese Zeit jetzt.

Wenn ich im Traum der heutigen stehe – – vielleicht danken es mir die Enkel. – – – – –.

Her mit den Tanzschuhen!

* * *

Rainer Ringfeld war von einer Unterredung, die er mit Wahnheim gehabt hatte, zurückgekommen und ging in seinem Zimmer im Obergeschoß der Schmiede auf und nieder. Es war eine große Unruhe in ihm. Und daß sie in ihm war, machte ihn traurig und unzufrieden. Weil sie nichts mit dem »Großen Spiel« zu tun hatte, sondern ganz und gar und nur mit seinem Innern.

Ohlep und Martha Berndsen waren nach Indien geflogen. Und wenn er auch jeden Tag mit ihnen gesprochen und ihre Gesichter gesehen hatte, an manchen Tagen sogar mehrere Male, so vermißte er doch Martha Berndsen jeden Tag mehr und mehr.

Durfte einer für sich selbst Wünsche haben? – – War das nicht, als wenn man am »Großen Spiel« treubrüchig wurde? – –.

Er prüfte sich und konnte sich nicht verhehlen, daß es nicht die Genossin im Bunde war, um die seine Gedanken und sein Sehnen kreisten, sondern diese Martha selbst. Er schalt sich. War er etwa ein Jüngling, über den so etwas Herr werden durfte? Siebenundvierzig Jahre! Und – – das durfte er doch wohl sagen: In allem Umfange gereift. Es ging ja überhaupt nicht um die Jahre. Auch ein Mann von dem Alter kann noch im Aufstieg sein. – – Aber das Ziel! Seine Arbeit! Das »Große Spiel«!

Er wollte sich fest in die Hand nehmen. Das durfte keine Gewalt über ihn gewinnen. Es ging wahrhaftig um anderes, als um ihn und sein Herz. Es ging um das Herz der Menschheit. – – Gut nur, daß sie von seinen geheimen Gedanken nichts ahnte. Vielleicht würde sie erstaunt sein. Vielleicht würde sie lächeln, aber nur lächeln, wie man es gegenüber jemandem tut, auf den man hinablächelt. Er hatte schon viel ertragen, und er war bereit, noch mehr zu ertragen, aber ein solches Lächeln nicht. Sie war immer in ihrer schönen Reserve geblieben, ihm aber war es sehr schwer geworden, weil sie viel nebeneinander und miteinander gearbeitet hatten, und oft genug sie beide allein.

Offensichtlich hatte sie für seine »Person« auch nichts übrig. Ihr galt immer nur die Sache. Sie war eigentlich nichts als kalte Sachlichkeit. Ihn hatte manchmal ein starker Reiz angewandelt, zu versuchen, ob sie denn so ganz und gar »unpersönlich« wäre, aber er war immer zurückgeprallt. Sie lebte nur in Formeln, in Wellenlängen, im planvollen Herumkreisen im »Großen Spiel«. Und wenn es nur ein Ausweichen war, so war es doch deutlich genug gewesen.

Ihre völlige Hingabe an den Bund und daß er ihr als Person nichts galt, das hatte sich besonders in der letzten großen Sitzung gezeigt. Er hatte sich selber den Entschluß abgerungen, sie eine Zeitlang von sich zu entfernen, um wieder Herr über seine Empfindungen zu werden. Und als der Beschluß, der eigentlich doch nur sein Beschluß war, gefaßt worden war, hatte sie neben dem lächelnden »Zu Befehl!« noch ein Flimmern im Auge gehabt, das ihm einen stillen Schmerz verursachte. – – –

Er hatte den Weg der beiden verfolgen können. Über Wien und Nisch in Serbien, nach Smyrna, Zypern und Damaskus. Immer die Luftlinie. Dann von Bombay querüber nach Madras, die Schiffahrtsroute hinüber nach der Halbinsel Malakka und zuletzt hinunter nach Singapore. Der ehemalige kaiserliche Admiral hatte sich sicher durchgepeilt. Sie hatten nicht ganz vier Tage gebraucht. Und »ohne Havarie!« wie Ohlep ihn hatte wissen lassen, »ohne Kleinholz zu machen!« wie Martha Berndsen ihm nach der zünftigen Sprechweise Kurt Steins über Tausende von Seemeilen zugerufen hatte.

Rainer Ringfeld konnte nicht wissen, was in Martha Berndsen während der Beratung vorgegangen war, und welches Glockenklingen sie innerlich hörte, als sie den Befehl erhielt. Für sie war das ein erlösendes Geschenk gewesen. Sie mußte durchaus eine Weile fort von Rainer Ringfeld. Auf die weitere Dauer konnte sie nicht neben ihm leben, ohne sich zu verraten. Und dann – – o welche unendliche Scham! – – dann wäre es doch das »Weib« gewesen, das die großen Linien des Spiels in Verwirrung gebracht hätte. – – – Als Rose bat, die Fahrt mit Ohlep machen zu dürfen, hatte ihr Herz einen Augenblick gestockt. Aber Rainer Ringfeld hatte ohne zu zaudern gesagt: »Nur zwei! – – Nur diese!«

Ohlep hatte gar keine Zeit gehabt, seine eigene Meinung über die Wahl seiner Begleiterin zu äußern. Ringfeld hatte Roses Bitte so schnell abgelehnt, daß jedes Wort überflüssig wurde. Denn in Wirklichkeit hätte Ohlep um Martha gekämpft, wenn er auch sich gehütet hätte, den letzten Grund zu nennen. Er war keinen Augenblick schwankend, daß sie die gegebene Persönlichkeit wäre, seinen eigenen Plänen zugänglich zu sein. Er hatte immer wieder ihren Gang studiert. Und er war nicht der Mann, auch die geringste Förderung seiner Absichten außer acht zu lassen. – – Aber er war auch nicht der Mann, der – wie er im stillen bei sich selbst sagte – einen Schwur durch den andern totschlug. – – Alle Eide einlösen, die wir geschworen haben! Alle! – Wenn's nicht zu gleicher Zeit geht, dann nacheinander!

– – – Und dann war bald darauf die »Spezial-Instruktion« gekommen. Da waren sie zu dreien gewesen. Rainer Ringfeld, Ohlep und Martha Berndsen.

»Wir haben immer darauf zu achten, daß die Materie nicht oben schwimmt« hatte er gesagt. »Weder Lärm über das Flugzeug selbst, noch großes Wesen überhaupt. Daß wir also so und dorthin fliegen können, davon braucht wenig gesprochen zu werden. Uns gilt es, das Band zu knüpfen. Das ist allerwege die Hauptsache.« So sollten sie – – und dabei hatte er ganz besonders sie angesehen – – Rabindranath Tagore und Gandhi aufsuchen. Und was die Festungsstraße da unten bei Singapur beträfe – – –: Nur der Hebel 4 dürfe angewendet werden. Das Gesetz der Schmiede »Waffen gegen Waffen« hätte immer obenan zu stehen. Blut dürfe niemals auf dem Wege zum Frieden spritzen.

Nun ja – – sagte sich Martha – – sie waren bei Rabindranath Tagore und bei Gandhi gewesen. Sie selbst zweimal bei Tagore und ein halbes Dutzend Male bei Gandhi. Ohlep hatte sich merkwürdigerweise nicht entschließen können, mehr als einmal zu jedem zu gehen. Ihre gewiß eindringlichen Fragen hatte er erst mit hochgezogenen Augenbrauen und mit einem Zucken der Schultern beantwortet. Zuletzt hatte er sich doch zu einer Äußerung bequemt. Aber auch die war unzulänglich und recht dunkel. »Diese Leute sind mir zu ölig. Und überhaupt – – – denken Sie mal darüber nach: Von uns zu den Leuten – – das ist ein langer Weg von Blut zu Blut.«

Sie hatte stets um den halben Erdball herum sofort bei Rainer Ringfeld mündlich Bericht erstattet. »Rabindranath Tagore ist überaus feierlich. Aber unangenehm weich. Mehr Gesinnung als Tat. Jedenfalls nicht anzuspannen. Und daher nichts Aktives für unsre Arbeit. Er ist schon geradezu jenseits des Lebens. Er geht nicht. Er schreitet. Er spricht auch nicht. Das ist ein Instrument zwischen Musik und Weinen. – – – Aber Gandhi! Der steht im Leben! Für mich ist er eine Mischung von Ulrich von Hutten und Giordano Bruno. Und bei aller, ich möchte sagen: schleichender Geschmeidigkeit hat er ein wunderbares Feuer. Seine Gefolgschaft ist außerordentlich groß. Die Menschen halten hier den Atem an, ehe sie seinen Namen aussprechen. Ganz, als wenn er die heimliche Zukunft ist. – – – – Ich habe nicht nötig gehabt, mit ihm zu kämpfen. Er ist für uns gewonnen.«

Das war noch nicht der knappe militärische Stil Ohleps, den sie sich zum Vorbilde genommen hatte, weil er sie vor Worten und Tönungen schützte, die sie ängstlich vermeiden wollte. Aber durch die mehrfache Übung war es doch eine Annäherung geworden. Kühle Berichte, kühl entgegengenommen.

Während aber sonst wirklich nur von Fahrtberichten und Gelegenheitsereignissen gesprochen worden war, enthielt diese Meldung sehr Wichtiges und – – darüber war sie im Stillen sehr froh – – auch Verdienstvolles.

Rainer Ringfelds Gesicht sah alles andere eher aus als kühl. Sie war einen Augenblick in Versuchung gewesen, den Stift herumzudrehen, der ihr Bild an Ringfelds Apparat zum Verschwinden bringen sollte, so schnell schoß ihr das Blut ins Gesicht, als seine Augen sie voll Bewunderung ansahen. Wenn es noch eine gewöhnliche Photographie gewesen wäre, in Schwarz-Weiß, aber dieses Bild trug ja in den feinsten Tönungen die natürlichen Farben. Und er hatte gelächelt, wie nur er lächeln konnte. Und ihr zugenickt. Dann aber, wie um ihr Zeit zur Besinnung zu geben, »Befehl« erteilt, Gandhi eine der Armbanduhren, die sie als Reserve mitgenommen hatten, zu überlassen.

Und dann kam etwas, was sie nie zu hoffen gewagt hatte: »Wenn ich Sie nur erst wieder gesund hier hätte!«

Das konnte etwas Landläufiges sein. Es konnte sogar mehr als eine Redensart guter Erziehung und freundlicher Gesinnung sein. Denn das durfte sie immerhin von sich sagen: Wenn sie plötzlich ausscheiden müßte, so wäre das ein Ausfall am »Personal der sehr geehrten Firma« gewesen, der sich wahrlich nicht so leicht hätte ausgleichen lassen. Sie hatte sich doch mit allen Kräften, mit Kopf und Hand und auch mit dem Herzen hineingearbeitet. Aber sie war Weib genug, um zu sehen, hier handelte es sich nicht um »Personal«! Durch seine Augen zog eine ganz andere Sorge. Sie meinte es zu fühlen, wie er schwer atmete. Einen Augenblick schlossen sich ihre Lider, um das Übermaß des Glücksgefühls zu verbergen, das sie durchströmte. Dann aber lachte sie ihn an. Und – – es war die echt weibliche Waffe – – sie lachte ihn auch aus.

»Rainer Ringfeld! – – Welcher unnütze Aufwand!«

Seine Augen weiteten sich. »Wie? – – Was heißt das?«

Sie sah die Schatten in seinen Mienen. »Erinnern Sie sich? In der ersten Stunde, als wir uns gegenüberstanden, haben Sie mich da nicht gelehrt: das Sterben liegt auf unserm Wege? – –!« Sie wußte, diesem Gesicht gegenüber waren die Worte grausam.

Er wandte den Kopf zur Seite. Als er ihn ihr wieder zudrehte, lachte auch er ein wenig, aber ihr war klar, daß dieses Lachen die gleiche Maske wie bei ihr war. »Die Strapazen sind doch wohl ziemlich groß gewesen. Sie sehen etwas schmal aus.«

»Das kann mir nichts machen. Ich bin ja nie eine Schönheit gewesen.«

»Darum zu fechten ist hier keine Gelegenheit. – – Ich habe Ihnen auch gleich in der ersten Minute gesagt: ich fühle mich für Sie verantwortlich.«

»Für mich natürlich wie für jeden.« Sie schüttelte den Kopf. »Für mich spreche ich Sie von Verantwortung frei. Gänzlich frei!«

»Das kann keiner. Und Sie zu allerletzt! Ich vermag natürlich von hier aus nicht alle Gefahren und Möglichkeiten zu übersehen. Aber ich darf doch bitten. Nicht?«

Sie sah zur Seite. »Um was?«

»Meinetwegen – – nehmen Sie auf keinen andern Rücksicht! Mag meinetwegen nur »Die Sache« für Sie existieren. Aber – – tun Sie alles, um miternten zu können. Um bis zum schönen Schluß dabei bleiben zu können. Und die Ernte kommt! Sie kommt sicher! Wir sind ja überall auf den besten Wegen. Und – – – – Martha, wie denken Sie sich das, wenn gefeiert werden sollte, ohne Sie?«

Da drehte sie den Stift doch schnell herum. Zum ersten Male sagte er »Martha« zu ihr. Das war der Klang, von dem sie in stillen Stunden immer geträumt hatte. Sie war allerwege nicht fürs Weinen. Wenn sie die Veranlagung überhaupt gehabt hatte, das Leben hatte sie ihr ausgetrieben. Es hatte sie stahlhart gemacht. Aber jetzt stockte ihr die Kehle. Sie preßte die Lippen zusammen. Und ein paar Tränen perlten ihr auf die Mundwinkel hinab.

»Martha – – bitte, lassen Sie mich Ihr Gesicht wieder sehen!«

Sie drehte sofort den Stift wieder zurück. »Ich danke Ihnen, Rainer!« Sie grüßte ihn mit nassen Augen. Dann aber löste sie die Verbindung ganz. Sie mußte allein sein. Und er würde genug wissen.

* * *

»Man kann die Menschen auf ein Programm verpflichten. Man kann sie unter eine Idee zwingen. Aber man kann sie nicht auf eine Schablone einschustern. Ganz und gar nicht, wenn sie eine Persönlichkeit sind.« Wahnheim sprach diesen Satz in aller Seelenruhe, während Rainer Ringfeld, den er noch niemals aus dem Gleichgewicht gesehen hatte, in Empörung und Verzweiflung vor ihm stand. »Wie hieß Ihr Befehl?«

»Wahnheim – – die einfachste Sache von der Welt! Die beiden sollten, nachdem sie die Munition auf der ganzen Festungsallee und auch die in den drei Munitionsfabriken abgestumpft hatten, Martha Berndsens Flugzeug an Rolf Lindow – Sie wissen ja, in Singapore – Kreuz – Punkt – Kreuz – – abgeben. Ohlep sollte auf direktem Wege heimfliegen, und sie sollte den mir sichereren Heimweg zu Schiff und mit der Bahn machen.«

»Wann kam die erste Abweichung?«

»Vorgestern. Nein, vor drei Tagen. Sie strahlte mich an. Ich kannte ihr Gesicht kaum wieder. Ihre Worte überstürzten sich. Ihre Haare waren in Unordnung. Es war, als wenn einer in der höchsten Not stammelt. Aus Ohlep wäre nicht mehr klug zu werden. Er wäre völlig verändert. Sie wären einmal, wie er gesagt hätte »zu seiner Orientierung!« – – hinauf nach Rangoon geflogen und dann quer über das ganze Siam hinaus auf das Südchinesische Meer. Ganz hinaus. Unter sich nichts als Wasser. Bei zweitausend Meter Höhe bis an den ganzen Horizont nichts als Wasser. Und über Backbord nach unten vier Kriegsschiffe. Er hätte – – hoch oben in der Luft mit einem Male angefangen ganz fürchterlich zu lachen. – – Wissen Sie, Wahnheim, die Flugorder, die Kurt Stein ausgearbeitet hat, hieß ja: immer dicht beieinander bleiben. Sie hätten auch keine zwanzig Meter zwischen sich gehabt. Näher dürfen sie sich nicht kommen, denn wenn mal eine Luftböe auseinandersplittert, wird leicht einer an den andern geschlagen und sie stürzen beide ab. – – Auf ihren Ruf, was denn los sei, hat er mit der Faust gegen den Himmel gedroht und geschrieen »Zu viel! – – Zu viel!« Sein Gesicht wäre ganz verzerrt gewesen.«

»Das ist ein Ausbruch. – – Aus alter Zeit« sagte Wahnheim stirnrunzelnd.

»In unserm Bunde? – – Alte Zeit? – – Sie hätte auf einmal gewußt, daß er sich gegen den ungeheuren Haß, der in ihm tobte, und den er so lange vor aller Welt verheimlicht hatte, nicht mehr wehren konnte. Und wohl auch nicht mehr wehren wollte. Und wenn es so stände, könnte sie unmöglich das Flugzeug abgeben. Sie hätte immer bei ihm bleiben müssen. Und dann wäre das Fürchterliche gekommen – – –.«

Wahnheim war aufgestanden. Seine Stimme klang fremd, weil er die Zähne aufeinanderbiß. »Mitten aus dem neuen Bunde heraus? – – Die alte Zeit? – – Und das Ziel? – – Und der Schwur?«

»Sie hätten sich eines Tages darauf bei einem seiner Rekognoszierungsflüge, von denen sie ihn durchaus nicht abhalten konnte, in der Provinz Johor, vielleicht 15O Kilometer von Singapore, niedergelassen. Dicht unter der Kuppe eines Berges, der gegen 1000 Meter hoch ist. Weit und breit kein Mensch. Und da hätte er so merkwürdig angefangen. Von der Vergangenheit. Und was eigentlich Treue wäre. Und was ein Schwur wäre. Und ob sie nicht manchmal noch an ihre Brüder dächte und an ihren Verlobten. So was dürfte doch nicht ganz und gar zu Dunst werden. Mit einem Male wäre er aufgesprungen. »Kommen Sie! – – Wir steigen wieder hoch. Land! Was heißt Land! – – Wem die See einmal Heimat geworden ist – – –.« Er wäre nicht mehr zu halten gewesen.

Nun – – und dann ist es eben gekommen. – – – –

Die Beiden sind hochgestiegen. Sie hielt sich immer dicht bei ihm. Stundenlang schleppte er sie über der offnen See umher. Mit einem Male fing er auf vierundzwanzighundert Meter Höhe an zu kreisen. Da unten, ganz allein, schraubte sich ein Hochseepanzer durch das blaue Wasser. Sie sah, wie Ohlep die Sperrhebel einklinkte, das Visierrohr über Bord schob – – und ein paar Sekunden später sich wieder zurückwarf und – – richtig zuckend – – beide Fäuste steil nach oben stieß. Da unten das Schiff war auseinandergerissen. Man konnte Schaum und Wirbel und schwarzen und weißen Dampf sehen. Sie reißt natürlich das Rohr vors Gesicht und sucht und sucht. Aber das war ja alles Stahl und Eisen, und sofort in wilden Strudeln weggesackt. Mit dem Panzer waren auch alle Boote zerfetzt. »Wir müssen doch hinunter!« schreit sie ihn an. Er aber hat nichts als sein wahnwitziges Lachen. »Spurlos!!« brüllt er ihr zu.

Wahnheim griff sich an den Kopf. »Das ist eine fürchterliche Tat. – – Und – – Ringfeld – – ein schwerer, schwerer Bruch. Und die Zeitungen? Die Öffentlichkeit? England? – –?

»Spurlos!« stieß Rainer Ringfeld heraus. »Noch weiß niemand davon. Die vier im Geschwader waren ihm zu viel gewesen. Man muß doch zielen. Und wenn es noch so schnell geht, alles will seine Zeit haben. Von den vieren hätte einer vielleicht doch noch funken können. Aber dieser Panzer war allein. Heute früh um drei sprach ich mit Rolf Lindow. Man versteht es drüben noch nicht, daß der Panzer nicht angekommen ist. Er hatte nur eine kurze Order. Sie raunen natürlich untereinander. Sie wissen, daß er überfällig ist, aber sie wissen nicht, was sie damit anfangen sollen, daß er auf keinen Funkspruch antwortet. Dieser große Panzer! Mit allem ausgerüstet! – – Sie haben nun drei von der dortigen Station auf seine Route gesetzt. Zur Erkundigung.«

»Ringfeld, Sie müssen Ohlep sofort zurückrufen! Das ist ja ganz ungeheuerlich.«

»Es war nur der Anfang. – – Sicherlich!« Ringfeld warf sich in einen Sessel, sprang aber gleich darauf wieder hoch.

Wahnheims Augen waren weit aufgerissen. »Der Anfang? – –?«

»Ohlep hat sich nur einmal von mir sprechen lassen. Und meine Sätze und das, was ich anordnete, das war, als ob ich überhaupt nicht gesprochen hätte. Er redete nur von sich und für sich. Er wollte Martha Berndsen bis nach Athen bringen, vielleicht auch bis hinauf nach Saloniki. Von dort könnte sie östlich um die Karpathen unter Nordwestkurs auf Hamburg steuern. Er halte es für nötig, hinunter nach Malta zu gehen und von da an der afrikanischen Küste entlang bis nach Gibraltar. In Algeciras wollte er unsern Enriko Hoffmeister aufsuchen. – – –«

»– – – ja aber – – was will er – – –?«

»Dann stellte er ab. Und hat, so oft ich ihn auch anstrahlte, nicht mehr geantwortet.«

»Aber, das ist doch eine offene Absage! – – Das sind doch eigene Wege, die er damit geht – –.«

»Wir müssen ganz schnell handeln. Martha Berndsen ist bei ihm geblieben.«

»Antwortet sie denn wenigstens?«

Ringfeld nickte. »Sie erklärt aber, sie fühle sich in ständiger Lebensgefahr. Unsere Gemeinschaft könnte doch nur bestehen, wenn jeder in jedem Augenblick von jedem wüßte, was er täte. So sähe sie keinen andern Ausweg, als bei Ohlep zu bleiben, um ihn zu beobachten. Deshalb sei sie gezwungen, scheinbar auf seine Ideen einzugehen. – – Aber sie verlangt sofortige Hilfe. – – Von Verrücktheit sei bei Ohlep keine Rede. Er habe nichts in sich als eine rasende Gier nach Rache. Im übrigen sei er ganz der untadelige Kavalier wie immer. – – – – Wissen Sie, Wahnheim, was ich habe hören müssen? Was sie mich gefragt hat?«

Der andere sah starr in sein Gesicht.

»Wer sagt mir, hat sie mich gefragt, wenn ich ihm nun ein unüberwindliches Hindernis würde, daß er mich nicht auslöscht? – – Spurlos – –. Ich kann ja nicht weit von ihm wegbleiben, wenn ich wissen will, was er tut. Wäre ich einmal ihm außer Sicht, dann wäre auch er mir außer Sicht. – – – – – Wir lagen gestern nacht im Freien. In Kleinasien. Auf der ganz unbewohnten Ebene um Troja herum. Wir waren am Euphrat aufgestiegen und hatten uns mehr als eine Stunde über Cypern herumgetrieben. Die Nacht war etwas diesig, aber trocken. Jeder hatte sich dicht bei seinem Flugzeug hingestreckt. Er schlief bald ein. Ich lag noch lange wach. Er warf sich unruhig hin und her. Da hörte ich die Worte: »Keine Angst, mein Junge! – – Ich denk dran!' – – Und ›Orkney‹ und ›Skagerak‹ – – ›Nein, nein! Hier meine Faust! Das ist nicht umsonst!‹ – – Und ›Seapa Flow‹. Auch im Traum nichts anderes als bei Tage. Der rasende Haß. Als er morgens gegen vier aufwachte, stieß er die Decken von sich und starrte in die aufgehende Sonne. Dann kroch er auf allen Vieren zu mir hin. Ganz dicht. Da war doch niemand sonst weit und breit. Er sprach aber ganz leise. Sein Morgengruß hieß: ›Ein Schwur, – – – wenn er alt ist – – – ist er deswegen nicht mehr da?‹«

Rainer Ringfeld senkte den Kopf und holte tief Atem. »Und das aus unsrer Gemeinschaft heraus! – – Wie kann das Segen bringen – – oder ein gutes Ende? – – Dann sagte sie mir noch: ›Ich bin ganz traurig darüber, daß ich drüben in der Chinesischen See dem Panzer nicht vorher die Munition abgestumpft habe, wenn auch kein Befehl dazu vorlag. Dann hätte er wenigstens nicht explodieren können. Ich weiß nichts Genaues über die Zahl der Mannschaft. Und ihn mag ich nicht danach fragen. Aber Tausend sind es wohl. Er war ja zu schnell. Es kam so ganz unerwartet. – – Meine Hoffnung ist, daß ich eine Wiederholung verhüten kann. Was soll ich aber machen, wenn da unten ein Geschwader fährt? Auf welches Schiff zielt er zuerst! – – – Denkt nur dran, kommt her! Helft! Aber sagt mir nicht, daß ich ihn vernichten soll – – –.‹«

Rainer Ringfeld wandte sich nach dem Fenster. Wahnheim sollte nicht sehen, daß er die Muskeln um seinen Mund nicht mehr ganz in der Gewalt hatte.

Plötzlich zuckte er zusammen. Er wurde angestrahlt. Die drei Stiche zuckten an seinem Handgelenk.

Er riß den Apparat hoch und sah in Martha Berndsens Gesicht. Sie lachte zwar, aber er empfand etwas Schmerzhaftes in ihrem Lächeln. »Guten Tag, Rainer!«

Er vermochte keinen Ton hervorzubringen. Er nickte nur. Die Anwesenheit jedes Dritten verbot ihm, das zu sagen, wozu ihn sein Inneres drängte.

»Ich habe Ohlep und mich zum Abstürzen gebracht.«

Er griff nach einer Sessellehne.

Wahnheim sprang auf. »Was – – ist? –?«

Er wehrte ihn ab.

»Aus fünfzig Meter Höhe. Ich dachte, wir wären schon näher am Erdboden. Wenn man von hoch oben runter kommt, unterschätzt man das. Bis auf ein bißchen Verstauchen sind wir beide unverletzt.«

»Ja – – – wo sind Sie denn?«

»Das Nest da unten im Tal muß nach der Karte Catanzaro sein. In Calabrien. Ganz unten in Italien. Von ganz oben haben wir noch Sizilien gesehen, und weit hinten am Horizont, das muß Sardinien oder Korsika gewesen sein. Wir müssen unsre Flugzeuge erst wieder instandsetzen. Ohlep meint, das ließe sich in zwei Tagen machen. Er hat eine dicke linke Schulter. Ich hinke.« Sie lachte ihn herzlich an: »So geht ein Teil nach dem andern von meiner Schönheit hin, Rainer. – – Überlegen Sie mal, was bleibt übrig? – – Ohlep ist hinuntergeklettert an den kleinen Bach, Wasser holen. Zum Trinken. Und für kalte Umschläge. Haben Sie keine Angst um mich, hoher Herr, ich bin so froh, daß ich jetzt etwas verhindern kann. Und daß es so glimpflich abgelaufen ist. Auf etwas mehr hatte ich mich denn doch gefaßt gemacht. Ich paßte den Augenblick ab, wo ich ihm zwei seiner Schwanzsteuerflächen und das Ende der Hauptachse mit meinem Vordersteven rammen konnte. Ein halbes Meter, aber anständig zu Kleinholz verarbeitet. So trudelte er sofort hinunter. Und ich mit. Vielleicht wäre es auch mit dem Kleinholz allein abgegangen. Ohne Verstauchung. Aber fünfzig Meter? – –! Wo sind Sie? Sind Sie allein? – Können Sie sprechen?«

»Nein. Ich bin bei Wahnheim. Er ist mit mir hier im Zimmer. Ich werde ihn bitten, sich sofort einzuschalten.« Er grüßte sie noch einmal mit den Augen, indem er langsam die Lider senkte und wieder hob. Sie verstand den Blick und nickte ihm so herzlich zu, wie Liebe nur nicken kann.

Dann drehte er den Stift, so daß sein Bild verschwand und berichtete in Eile, was zu wissen für Wahnheim notwendig war.

»Ringfeld – – Rose hat Recht – –: Das ist ein wundervolles Weib!«

Wahnheim schaltete sich zusammen mit Ringfeld ein.

»Das einzig Richtige,« sagte er nach einem kurzen, herzlichen Gruße »Martha Berndsen, ist, daß Sie beide die Flugzeuge lassen, wo sie sind. Werte sind es ja nicht. Zertrümmern Sie sie vollständig. Und dann kehren Sie möglichst schnell mit der Bahn zurück.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ohlep ahnt ja nicht, daß ich absichtlich mit ihm zusammengestoßen bin. Er darf es natürlich auch nicht erfahren. Aber unser Reservematerial ist noch ganz unbenutzt. Wir haben reichlich Spannzeug und Schrauben mitgenommen. Das Holz zum Anflicken der Achse will er im nahen Gehölz schlagen. Ich werde ihn keinesfalls bewegen können, seine Absichten aufzugeben. Ich schäme mich manchmal, wenn ich sehe, wie rührend er um mich besorgt ist. – – Er freut sich übrigens, daß uns das passiert ist. Denn ganz ohne Malheur – – sagt er – – das können wir nicht verlangen. Und nun hätten wir es hinter uns! Der stramme, tapfere Mensch, und so abergläubisch! – – Aber – – Seemann!!«

»Wie lange ist er fort?«

»Vor zehn Minuten ging er. Ich kann ihn von hier aus noch sehen. Der Abstieg zu Tal dauert wohl zwanzig Minuten, der Aufstieg dreißig. In vielleicht einer Stunde kann er wieder hier sein.«

»So haben wir Zeit! Ohlep darf nicht weiterfliegen. Er darf nicht – –!«

»Ich kann es hinhalten. Mehr nicht. Ich kann heimlich immer wieder etwas kaputt machen. Er hat zwar mit peinlicher Genauigkeit alles untersucht – –.«

»Trotzdem, Martha Berndsen« mischte sich Rainer Ringfeld ein »versuchen Sie es! – – Haben Sie Proviant?«

»Noch für mehrere Tage. – Aber – – das andere – – ich will es tun. – Gewiß! Ich will es tun. Ich kann uns ja wieder zum Absturz bringen. Diesmal etwas höher, damit der Schaden – – – nicht nur ein paar Tage, sondern endgültig – – – –.«

Da sprachen beide Männer zugleich. Und Martha Berndsen, die ein toternstes Gesicht machte, hinter dem sich eine große Seligkeit verbarg, denn sie hörte von beiden Stimmen doch nur die Rainers, schnitt beiden die Rede kurz ab. »So müssen Sie anders Rat schaffen. Das kann nur dadurch geschehen, daß einer – – oder mehrere hierherkommen – –.«

Ringfeld griff sofort zu. »Beschreiben Sie, bitte, genau, wo Sie sind.« Sie bemühte sich das zu tun, soweit es ihr nach der Karte und dem Aussehen der Umgegend möglich war.

»Gut,« sagte Wahnheim »es bleibt dann natürlich nichts anderes übrig, als daß einer von uns hier zu Ihnen hinunterkommt.«

»Aber schnell! – – Ganz schnell!«

»Ja. Sicher!«

»Und wer?«

»Darüber müssen wir beraten. Oder – – haben Sie einen Vorschlag zu machen? – – Oder einen Wunsch?«

Sie sahen beide, wie Martha Berndsen überlegte. »Nein!« sagte sie »Rainer Ringfeld darf es keinesfalls sein.«

»Weshalb nicht?« fragte Wahnheim.

Sie stockte und wendete ihr Gesicht einen Augenblick ab. »Ich habe das sichere Gefühl, daß das entweder zu nichts oder zu einer Katastrophe führen würde.«

»Ich unterschätze solche Empfindungen niemals« sagte Wahnheim. »Sie mögen sogar Recht haben. Ohlep ist ja auch schon den Gesprächen mit Ringfeld ausgewichen. Mit mir hat er allerdings auch noch nicht gesprochen. Aber das lag nicht an ihm. Die Kreise schoben sich wohl nicht genug übereinander. Hat er sonst mit jemandem gesprochen?«

»Ja. Natürlich. Rolf Lindow, Singapore. Auf dem Heimflug wohl ein Dutzend Male. Mit Hoffmeister in Algeciras und mit Simmern in Wien. Ich habe aber nur wenige Gespräche gehört. Es war meistens während des Fliegens. Als Rancke und ein andermal Rose mich anstrahlten und ich ihm das hinüberrief – – zum Einschalten – – wir segelten grade in schönster ruhiger Bahn über Ceylon weg; da hat er ziemlich gleichgültig abgewinkt.«

Sie schwiegen alle drei und dachten angestrengt nach. Endlich hatte Wahnheim einen Entschluß gefaßt. Er sah Martha Berndsen ernst an. »Benutzen Sie Ihre, alle Ihre weibliche Kunst und List, um dort zu bleiben. Bis Ihnen – – Ihnen beiden – – von hier aus Hilfe kommt. Was würde Ohlep machen, wenn Sie krank, richtig krank würden?«

Sie zögerte keinen Augenblick. »Mich in eine Klinik stecken oder sonstwie in Pflege geben. Von seinem Wege würde ihn das niemals abbringen.«

»Dann bleibt es also dabei! – – Verzögern Sie den Abflug mit allen Mitteln! Wir sagen Ihnen noch, was wir hier tun werden. Der schwere Bruch gegen die Gesetze, unter die wir uns alle gestellt haben, darf unter keinen Umständen weiter getrieben werden. – – Auf Wiedersehen!« – – – – – – –

Als die beiden Apparate heruntergeklappt waren, sahen sich die beiden Männer an. »Ich bin bald wieder hier, Ringfeld« sagte Wahnheim. »Ich will mal rüber gehen zu Rose. Auch ein kluges Mädel.«

Rainer Ringfeld hörte ihn die nächsten Zimmer durchschreiten, eine entlegene Tür öffnen und wieder zuklinken. Er nahm sofort den Apparat hoch und gab das Zeichen. Marthas Gesicht erschien. »Ich bin jetzt allein, Liebste! – Auf einen Augenblick. – – Du weißt, um was ich dich bitten will? – –«

Sie nickte. »Daß die Martha gelegentlich wiederkommen möchte. Nicht?«

»Daß du dich mir erhalten möchtest – –.«

»Ach, du Einziger! Jetzt doch erst recht! Mach doch nicht ein so betrübtes Gesicht, du Lieber!« bat sie.

»Betrübt – – na ja, Martha, was sind alle solche Erfindungen – – auch die schönsten – – gegen das Beieinandersein – –.«

Sie schenkte ihm einen ihrer tiefsten Blicke. »Mein Rainer, wir holen es nach. Ach, wie bin ich glücklich. – – Freilich, nun habe ich dich vor mir – – und habe dich doch nicht. Wie wollte ich dich liebhaben!« Sie sah, daß etwas Forschendes, Horchendes in sein Gesicht trat. »Was ist – –?«

»Wahnheim kommt« hauchte er und klappte den Apparat schnell zu. – – – – – – –

»Sie war da« sagte Wahnheim. »Sie wartet auf Rancke und unterhält meine Mutter, mit der sie sich seit einiger Zeit merkwürdig gut steht. Ich habe ihnen gar nichts erzählt. Mir ist ein ganz anderes Bild gekommen. Fahren Sie nach Hause und sprechen Sie gründlich mit Lembke. Der muß hin!«

Ringfeld richtete sich erstaunt auf. »Wie – –??«

»Das ist der Mann!« Wahnheim legte seine Hand flach, aber mit starkem Druck auf die Tischplatte und nickte dazu, wie um seine Worte als sehr wohlüberlegt, besonders zu bekräftigen.

»Richard – – – Lembke?«

»Sie kennen ihn doch schon länger, und gewiß ganz genau – –.«

»Aber Wahnheim! – – Lembke? Bitte, setzen Sie mir das auseinander – –.«

»Ich weiß nicht – –, eigentlich müßten wir Männer kein Wort weiter darüber reden. Weil wir ihn ja kennen. – – Aber meinetwegen. Sehen Sie mal, wir alle, mein Lieber, sind zu kompliziert. Wir würden Ohlep mit Reden und Beschwörungen überschütten. Und die würden wir auch noch aus den tiefsten Gründen herausholen. Die kennt er aber schon, ehe wir den Mund aufgetan haben. Auf die ist er vorbereitet. Und das gibt dann üble Schwingungen und Zündflächen. Sehen Sie jetzt – – wie bei mir. Ich rede und rede. Hätte ich allein etwas zu sagen, müßte Lembke sofort los. – – Lembke ist eine einfache, verblüffend gradlinige Figur. Meinem ganzen Empfinden nach ohne Irrwege, ja sogar ohne Nebenwege. Kein Schwanken. Kein Hin- und Herdenken. Der ist ein Gefäß für Befehle. Dem sagt man: Du gehst hin und bringst Ohlep her! – – – – Man kann es vielleicht irgendwie anders sagen. Aber ein Befehl muß es sein. Lembke führt ihn aus. – – Oder sind Sie nicht sicher?«

Ringfeld saß in tiefem Sinnen und schwieg noch immer.

Wahnheim faßte nach. »Man muß diesen Schritt auch von der andern Seite – – – von Ohleps Seite aus – – beleuchten. Wie es augenblicklich aussieht, droht Ohlep doch zu schwerem Schaden für unsern Bund zu werden.« Ringfeld nickte. »Er droht das ›Große Spiel‹ zu zertrümmern – – –.«

»Mehr noch! Wenn wir ihn gewähren ließen, schlägt er doch das Tor zur neuen Welt wieder zu. Er hat doch wieder Haß. Und doch wieder Rache.«

Auch dazu mußte Ringfeld nicken.

»Und das ist ein Bruch, von dem kein Mensch absehen kann, wie er wieder geheilt werden könnte. – – Die Berndsen hat schon Recht. – – Wir tun immer klug – – wenn Gefühle in Betracht kommen – – die Fähigkeiten der Frau sehr hoch einzuschätzen. – – Was sie da sagt ist zweifellos richtig. Ohleps Haß ist um so brennender, weil er ihn sich aufgespart, weil er ihn verborgen hat. Das hat nach innen gebrannt. – – Und den Haß des ›Admirals‹ kann ich natürlich verstehen. Aber bei uns hat sich der Admiral ebenso unterzuordnen wie sein Haß. – – Und da, lieber Ringfeld, hilft nur ein kaltes Bad. Und Lembke ist ein kaltes Bad. Er ist der kalte Überbringer eines kalten Befehls. Oder – – sind Sie sich Lembkes nicht sicher?«

»Richard Lembkes – – nicht sicher?« fragte Ringfeld, wie erwachend, aber doch erstaunt lächelnd.

»Ja. Ihres Richard Lembkes. – – Unseres Richard Lembkes?«

»Richard Lembke tut, was ich will. – – Unbesehen!«

»Und zweifeln Sie, daß Ohlep, der Admiral, der Offizier mit dem traditionellen Gefühl für die Unverletzlichkeit der Subordination – – – ohne welche doch die Welt aus den Fugen ginge! – – daß der einen Befehl angesichts des Befehlüberbringers nicht befolgen könnte? – – Dann, mein lieber Ringfeld, weiß ich es besser.«

»Ich muß das durchdenken. Es spricht vieles für das, was Sie sagen. Der stärkste Trieb in mir ist, selbst hinunterzugehen. – – Aber – –.«

»Davon kann doch keine Rede mehr sein!«

Ringfeld ließ sich in den Sessel zurücksinken und schlug die Hände übereinander.

Es herrschte lange Zeit tiefe Stille.

Wahnheim war weit entfernt, jenes Bild zu haben, das er entwickelt hatte. Das war nur der Oberflächenschein. Das eine an diesem Bilde war wahr: Lembke würde Ohlep zurückbringen. Lebendig oder tot. Wie er so in seinem Sinnen die Sache ansah: wahrscheinlich – tot. Man brauchte das nicht auszusprechen. Aber erledigen würde er die Sache. Und damit war alles getan und alles erreicht. – – Er hatte dem Manne nun genügend oft ins Gesicht gesehen. Lembke war keine besondere Intelligenz. Lembke war kein Herz. Und wenn er Treue war, war er gefrorene Treue. Ringfeld hatte gesagt: »Der Mann tut, was ich sage. – – Unbesehen!« Der Mann war hier am Platze.

— — — — — — — —

Die Kabinette aller großen und kleinen Regierungen waren in Aufregung. Depeschen flogen hin und her. In vielen Fällen gebot Vorsicht, die Mitteilungen, die man in tiefster Verschwiegenheit machen wollte, weder dem Kabel noch der Geheimschrift, noch der Luft anzuvertrauen. Nicht einmal schriftlich in den Geheimakten wollte man sie niederlegen. Seit der Äther sprach, war eine merkwürdige Unsicherheit über die Leute gekommen, die von Geheimnissen lebten. Der »persönliche« Dienst trat wieder in Tätigkeit. Kuriere reisten mit schnellsten Gelegenheiten. Ihre Aufträge waren nirgends anderswo verankert, als in einem treuen Gedächtnis. Man verlor Zeit, aber man wußte sein Geheimnis gehütet.

Die Front der Völker war in ihrer »obersten Linie« überaus unruhig. Die oberste Schicht war aufgescheucht. Man war längst gewohnt, zu fragen: »Was sagt unsere, was sagt die ausländische Presse dazu?« Der Satz: »Die Presse ist die siebente Großmacht! – – man dachte sie dabei als letzte an die sechs anderen Großmächte anzureihen und hielt das für eine erstaunliche Ehrung – – dieser Satz war zuerst etwas reichlich kühn erschienen. Bei verhängten Intelligenzen hatte er sogar ein verächtliches Lächeln hervorgerufen. Aber jetzt war er längst über Bord geworfen. Er gehörte einer versunkenen Rangordnung an. »Die Presse ist die erste Großmacht!« hieß es nun. Männer, die einen sicheren Blick besaßen, deren Kalkulieren nicht mit naiver Hoffnung, sondern mit Mathematik verwandt war, Männer, die wußten, daß, da doch alles Bestehende gewachsen sein mußte, auch das Morgen in dem Heute und Gestern wurzelte – – zweifelten keinen Augenblick daran, daß sehr bald der Satz heißen würde: »Die Presse ist die einzige Großmacht!« Sie würde jede Macht überdauern. Jede entstehende Macht würde die Presse vorfinden. – – In den Augen dieser Männer war die Presse Spiegel und Ratgeber. Sie war feinfühliger Taster. Und – – in geschickter starker Hand war sie Kommandostelle.

Daher dieses tiefbohrende, unentwegte, manchmal freilich etwas nervöse Hinstarren auf die Meinungen der Männer, die, ohne je mit dem eigenen Namen zu prunken, in treu befolgter Verantwortlichkeit im Namen von Hunderttausenden und Millionen sprachen.

Der Leitartikler eines weltberühmten Blattes blieb namenlos. Aber er war durch den Gang der Zeiten die Seele eines Hauptquartiers geworden, gegen das die Hauptquartiere, deren Kraft in Kanonen und giftigen Gasen bestand, versanken. Denn er war ein Mann mit einer Million Zungen. Schließlich hieß das nichts anderes als: Der Geist trat seinen Siegeszug über die Materie an.

Die Presse wurde beliebt, geachtet, gefürchtet und gehaßt. Aber sie wurde von niemandem übergangen. An ihr vorübersehen ließ sich nicht.

– – – – – Und nun waren diese drei Artikel, bewußt und geschickt über das Erdenrund verteilt, aus einem undurchsichtigen Hintergrunde aufgestiegen. Den Gefühlen, die in der Breite und Tiefe wogten, kamen sie mit flammenden Gedanken entgegen. Und überall, wo überkommene oder neu errichtete Gewalten an der Spitze standen, nahm man hellhörig Stellung zu ihnen. Denn die Vergangenheit, die jüngste und allerjüngste, die letzten zehn Jahre, hatten, wenn auch noch nicht die Geister, so doch die Seelen zur Bereitschaft geschliffen.

Und als diesen drei Artikeln nun der vierte folgte, verspürte man überall jene leise Erschütterung, die der Vorbote eines Wandels ist. Der Aufsatz trug die Überschrift: » Blüten und Selbstmord«.

– – – – Ob Kaufmann, ob Handwerker oder Heerführer, der war immer ein schlechter Verwalter, der sich nicht um den Nachwuchs sorgte. In restlos allen anderen Fällen wuchs der Nachwuchs in die Notwendigkeiten hinein, unter denen alles Werden und Vergehen steht. Nur der »Kriegsminister« war in einer verhängnisvollen Lage. Wenn sein einzigbestes »Material« verbraucht war, waren auch die Besten, die Blüten seines Volkes dahin. Und das war an diesem Verhängnis auch zugleich das am meisten einleuchtende Unsinnige. Man mag von vielen Seiten für den Krieg sprechen. Niemand wird je leugnen. können, daß er das hinrafft, was am stärksten ist und in schönster Blüte steht.

Die Geschichte kennt ein Beispiel, in dem Rücksichtslosigkeit und Versunkensein in den Ichkultus auch dem Nachwuchs keine Zeit ließ, erst noch heranzureifen, um mit der Schlachtensense gemäht zu werden. – – Napoleon war aus Rußland von seiner zertrümmerten Armee entflohen. In heimlicher Fahrt hatte er in einem Schlitten Deutschland durchquert. Der »Moniteur« brachte nur die lakonische Nachricht: »Seine Majestät, der Kaiser, sind gestern abend in die Tuilerien zurückgekehrt.« Drei Tage später waren die Listen zur neuen Aushebung ausgeschrieben. Die Armee sollte »aufgefüllt« werden. Hundertsechzig Tausend Knaben! – – Keine Männer! Die waren zerstampft, verwest oder Krüppel. Knaben! Sechzehn Jahre alt. Knospen, denen keine Zeit gelassen wurde, zur Blüte aufzubrechen. Napoleon fand ein Volk, das weinte, aber lieferte. – – Auf einen Vorwurf erwiderte er: »Ach, Sie wissen nicht, wie es in dem Kopfe eines Soldaten aussieht. Der macht sich nichts aus einer Million Menschen!«

Die Zeiten waren fortgeschritten. Der Artikel »Blüten und Selbstmord!« wies darauf hin. Die Idee, die Napoleon kühn zur Forderung erhob, würde heute beim bloßen Auftauchen an der Presse zerschellen. Die Einzelmeinung von Millionen würde heute durch die Presse eine so unerhörte Schlagkraft erhalten, daß solche Aufforderungen zum Selbstmord des Volkes spurlos hinweggefegt würden.

Die Völker hatten in klarer, aber ungeheuer brutaler Schrift das Gesetz des Krieges gelesen.

Die Völker sagten: »Genug!«

— — — — — — — —

Rainer Ringfeld war von Wahnheim nach Hause gefahren. Auf dem ganzen Wege hatte er über den Vorschlag nachgegrübelt. Und als er nun die Schmiede betrat, war er entschlossen, Richard Lembke den Auftrag zu geben.

Er rief nach ihm. Alles Rufen nutzte nichts. Er griff schon nach seinem Apparat, um ihn anzustrahlen und wenigstens zu erfahren, wo er sich befände, da hörte er Schritte die Treppe hinabkommen. Es schienen aber zwei Personen zu sein. Er trat auf die Diele.

Lembke blieb auf der Mitte der Treppe stehen. Gegen seine Gewohnheit, in Gegenwart Dritter nicht zuerst zu sprechen, fragte er: »Sind der Herr Major schon lange hier?«

»Nein. Ich bin eben gekommen. Wer ist das?«

»Das ist ein Spion. Zu Befehl!«

»Hier bei uns? – Was soll das?«

»Er heißt Wilkens. Oder nennt sich so. Ich habe ihn schon ein paarmal gesehen. Bei Herrn Professor Grantow. Wahrscheinlich hat er sich auch da eingeschmuggelt.«

»Was will er hier? – Was wollen Sie mit ihm?«

»Er sucht einen andern Spion. Der Narr.« Er wandte sich an den Mann, der mit abwartendem Gesicht neben ihm stand. » Wie soll der andere heißen?«

»Detlefsen.«

»Weshalb sucht er ihn bei uns?« fragte Rainer Ringfeld.

»Zu Befehl! – – Das weiß ich nicht.«

»Ach was!« fuhr Wilkens dazwischen. »Die letzte Spur führte hierher.«

Ringfeld sah Richard Lembke forschend an. »Wie kam dieser Mann überhaupt ins Haus?«

»Zu Befehl! Ich habe ihn hergeführt. Er hat sich draußen ein paarmal an mich herangemacht. Auch die beiden letzten Male, wo ich zum Herrn Professor mußte. Da habe ich ihn denn mitgenommen. Um ihm zu zeigen, daß hier keiner ist.«

»Wie lange ist er schon hier?«

»Eine Viertelstunde.«

»In wessen Diensten stehen Sie? – Als Spion.«

»Das sage ich nicht.«

Richard Lembke straffte sich. »Zu Befehl! – Wenn ich dem Herrn Major das nachher sagen dürfte – –.«

Rainer Ringfeld winkte ab. »Lembke, ist Ihnen der Mann bekannt, nach dem der Spion hier bei uns sucht? – – – Wie hieß er doch?«

Richard Lembke schien angestrengt nachzusinnen.

Wilkens antwortete: »Detlefsen.«

Lembke sah immer noch aus, als ob er tief in seiner Erinnerung suchte. »Zu Befehl, Herr Major! Nach seiner Beschreibung kann ich ihn wohl schon einmal gesehen haben.«

»Ist er hier im Hause?«

»Zu Befehl, nein.«

»Haben Sie alles nachgesehen?«

»Zu Befehl!«

»Dann bringen Sie den Mann hinaus. Bis auf die Landstraße. Er hat hier nichts zu suchen.«

Nach wenigen Minuten kehrte Richard Lembke zurück. Allein zwar, dem erhaltenen Befehle entsprechend, aber mit einem Gesicht, über welches alle die verblüfft gewesen wären, welche meinten, er bestände nur aus einer gipsigen Unerschütterlichkeit.

Um nicht sofort reden zu müssen, holte er seine Pfeife aus der Tasche heraus und ging daran, sie zu stopfen. Ringfeld bemerkte nicht nur das außergewöhnlich Flackernde in seinen Mienen, sondern auch die Unruhe seiner Hände. Da er wußte, daß zwei Zustände bei seinem treuen Freunde Richard ausgeschlossen waren: Nervosität und Angst, sah er sich vor einem Rätsel.

»Was ist mit dir, Richard?«

»Komm auf meine Bude!«

Als sie es sich dort bequem gemacht hatten, freilich unter jenem schwingenden Erwarten, das sich hinter übertrieben langsamen Bewegungen versteckt, brachte Lembke seine Pfeife in Gang. »Du solltest dir jetzt die Rettungsmedaille holen.«

Ringfeld sah ihn an. »Das verstehe ich nicht.«

»Rainer – – – wie in aller Welt – – kannst du solchen Kerl laufen lassen?«

»Laufen lassen? – Was sollen wir denn mit ihm anfangen? – Wir leben doch nicht im Kriege, wo man jeden Spion, der sich erwischen ließ, an die Wand stellte!«

»Na – –,« Lembke wiegte den Kopf hin und her, »wir leben schon noch im Kriege. Und das Verfahren, das aus fünf Minuten und einer Kugel bestand, war mir immer sehr sympathisch. Vielleicht ein bißchen kurz. Aber man hatte ja keine Zeit. Gewissermaßen leider.«

»Ja – – aber bester Richard, was hättest du denn mit dem Manne machen können?«

Es lag ein gewisser Tadel in Lembkes Gesicht. »Du kamst zehn Minuten zu früh. Dann hättest du ihn nicht mehr angetroffen.«

Ringfeld sprang auf. »Richard!« – – –

Lembke hatte wieder sein kaltes Gesicht. »Auch niemand anders hätte ihn mehr getroffen. Weder hier noch sonstwo.«

Ringfeld faßte sich an die Stirn. Es war fast ein Stöhnen, das über seine Lippen kam: »Daß ich das noch verhütet habe. – – Unsre reine Sache verschandeln. Unsern Weg besudeln! Richard!« Er krampfte die Hände ineinander. »Und dir wollte ich einen Auftrag geben – – – – –.«

»Alles ist tot, Rainer. Du bist der einzige, der weiß, daß ich noch den Hammer hier drin habe, im Brustkasten. – – Setz dich. Sei ruhig. Also noch mal – – und hoffentlich zum letztenmal! – – – Den Vater nicht gekannt. Die Mutter gestorben. Die Frau verloren. War nur noch der Junge da. Der hing im Drahtverhau. Zwölf Tage. Fast zwei Wochen. Die Tage waren fürchterlich. Die Nächte grausig. Ich habe ihn immer hängen sehen. Die drüben schossen her, wir schossen hin. Und ob die alle, die da hingen, tot waren, die Kugeln gingen immer wieder hindurch. Man wußte, es war Krieg. Das war der Krieg! Da kam der Rittmeister Ringfeld zu seinem Wachtmeister. Drüben brannte ein Dorf. Der Schein flackerte in unsere Gräben. »Lembke, warum lassen Sie nicht feuern?! Sie haben doch Sichtfeld!« – – Da hat der Lembke, der Soldat, der Wachtmeister gesagt – – weißt du die Worte noch? – – »Da drüben, der fünfte in der Reihe, der da so hilflos, so jämmerlich hilflos hängt, das ist mein Junge. Mein einziger Junge. Jeden Tag hängt er schrecklicher. Die Kugeln reißen dem Toten die Gelenke entzwei. Und er weint und jammert zu mir rüber: ›Ich hab doch schon genug – –!‹ – – Herr Rittmeister, das geht über meine Kraft.« – – Ich sah wohl, wie du die Zähne zusammenbissest. Und ich hörte die harten Worte: ›Jeder da draußen, hüben wie drüben, ist eines Vaters, einer Mutter Sohn. Das ist der Krieg!‹ – Der Rittmeister Rainer Ringfeld ist aber nachts hinausgekrochen. Ohne Waffen. Mit einer Zeltbahn und einer Drahtschere. Er hat sich an meinen Jungen rangetastet und ihn losgeschnitten und losgewürgt. Es kostete ihn einen Schulterschuß und eine Schramme am Kopf. – – – Ich will nicht, ich kann nicht das alles wieder aufrühren. Das Gehirn dreht sich einem rum. Aber ich habe einen Schwur getan. Mir! – – Rainer, mir! Das ist anders als vor Gericht. Vor Talar und Barett. Und jedesmal, wenn ich dich ansehe, sehe ich auch die Schramme. Und jedesmal ist der Schwur neu.«

»Und was du für mich getan?«

»Lassen wir das, Rainer. Wir stehen jetzt Schulter an Schulter. Und doch wohl auch – – Herz an Herz. Du kennst mich. Ich habe keine Vasallentreue. Ich habe Männertreue. Und als du zu mir kamst und mich für das ›Große Spiel‹ holtest, für den Bund gegen das Ungeheuerliche, gegen das Schlachten, da machte ich die Bedingung, ich wollte im Unscheinbaren bleiben. Von dort aus sieht man am sichersten ins Licht. Ich wollte nur eine untergeordnete Rolle spielen. Niemand sollte etwas aus meiner Vergangenheit erfahren, niemand von dem Zusammenhange mit dir. – Abstand wollte ich haben zu allen, nur nicht im Geheimen zu dir. – – Das war der Weg, dir und deiner Sache restlos zu dienen. – – Rainer, du bist ein starker Mensch. Du bist ein guter Mensch. Aber, du hast zu viel Herz. – – – Meinen Schwur halte ich dir. Wer dir und deiner Sache auch nur als Schatten im Wege steht, ist verloren. Ist hin. Ob er im Verborgenen lauert oder offen als Gegner austritt, er ist hin. Laß uns nicht mehr davon reden. – – Es sollte dir nur sagen, weshalb ich den Kerl von vorhin, schmerzlos für ihn, aber auch ohne jede Aufregung für mich hätte verdampfen lassen. Dein dummes Herz hat dir einen schönen Streich gespielt. Du hast diesen Dreck wieder in die dreckige Welt geschickt. Ihr nennt das Reinheit. Es war ganz und gar verkehrt. – – Du brauchst dich übrigens doch um solche untergeordnete Angelegenheiten gar nicht zu kümmern. Ich will die Bahn schon rein halten. – – Übrigens – – du sprachst vorhin von einem Auftrag. – Erst mal: Bei meinem langen Oratorium ist mir die Pfeife ausgegangen. Was war das? – Dieser Auftrag.« Er klopfte die Pfeife aus und stopfte sie von neuem.

Rainer Ringfeld sah zu Boden. Seine Gesichtsfarbe war gegen die sonstige Ausgeglichenheit abgeblaßt. In seinem Gehirn wühlten die Gedanken. Es schien ihm unmöglich, auch nur ein Wort herauszuwürgen. Sein Quälen wurde unterbrochen.

»Noch erst das andere: Daß Kurt Stein abgestürzt ist, weißt du?«

Ringfeld fuhr hoch. »Nein. – – – Wann?«

»Heute Nachmittag.«

»Und – –??«

»Tot.«

»Was für ein Unglück!«

Lembke schüttelte den Kopf.

»Was – – soll das?«

»Kein Unglück. – – – Selbstmord. Für mich Selbstmord.«

»Richard – –! Woher? – Mach doch nicht solche – – – –.«

»Mit unserm Flugzeug kann man nicht abstürzen. Ein Vogel stürzt ja auch nicht ab. Und ein Meisterflieger wie Kurt Stein – –.«

»Aber es kann doch sein. Das Flugzeug ist doch zuletzt nur eine Maschine. Ein Fehler – ein Bruch –.«

»Die andern werden es auch dafür nehmen. Ich habe es kommen sehen. Siehst du? – Das ist die gesegnete Stellung eines Lohndieners. Vom Finstern ins Helle. Da wird alles deutlich. – – Er war versessen auf Wahnheims Rose. Rancke hat sie ihm weggenommen. Hoffnungslos weggenommen. Ich wußte, daß er schwer daran schlucken würde. Nun hat er es so ausgetragen. Natürlich ist das ein schwerer Verlust für uns alle. – – Aber, Rainer, ich begreife die Leute nicht, die bei uns jetzt Zeit für Liebschaften haben. – – Und: Es ist doch wie im Kriege. Man hat keine Zeit, zur Seite zu sehen, wenn einer fällt. Vorwärts! – – Immer vorwärts! – – Also Rainer, was ist dein Auftrag?«

In Ringfeld, dessen Kultur immer zu groß geschienen hatte, um in Gesten zu toben, brach der ursprüngliche Mensch durch. Er nahm den schweren Tisch, der vor ihm stand, mit beiden Fäusten und stieß ihn von sich, daß er bis fast an die Tür schurrte.

»Was ist eigentlich los?« rief er. »Was ist ein Schwur? Wir alle haben geschworen! Auf unser Großes Spiel! Du auch! Du hast mir geschworen. Du hast sogar dir geschworen. – – Er geht aus dem Großen Spiel heraus – – und Richard, was ist ein Schwur! Dich hätte er fast zum Mörder gemacht!«

Lembke lehnte mit einer weit ausholenden Handbewegung ab.

»Fast! sage ich. Fast!« Er sah finster in Lembkes Gesicht. »Und ein anderer, der zwischen Schwur und Schwur nicht mehr unterscheiden kann, ist zum Mörder geworden – –.«

»Aha! Rainer – – nun sprich dich aus. Ich habe dich in der letzten halben Stunde ein wenig anders gefunden als sonst. Sprich – –! Es wird alles klar werden.«

»Ohlep hat einen Hochseepanzer in die Luft fliegen lassen.«

»Teufel noch mal!« Die Pfeife flog auf das Fensterbrett. Die Asche stiebte herum. »Wo? – Drüben –?«

»In der Chinesischen See.«

»Englisch?«

»Ja.«

»Und die Engländer?«

»Noch weiß niemand etwas davon.«

Rainer Ringfeld erzählte. Er ließ nichts fort, was Ohlep belasten, nichts, was ihn entschuldigen konnte.

»Und jetzt sitzen sie beide unten in Calabrien. Beide Flugzeuge invalide. Martha Berndsen hat – – um weiteres Unheil zu verhüten, ihn oben in der Luft gerammt und ist mit ihm abgestürzt. Sie sind noch ganz gut davongekommen – –.«

»Das ist ja ein verteufeltes Frauenzimmer – –.«

»In zwei Tagen meint er die Flugzeuge wieder geflickt zu haben. Und dann will er sofort wieder auf Fahrt gehen. Das darf er nicht. Unter keinen Umständen. Du mußt ihn wieder hierherschaffen!«

»Ich –? – –?« Lembke stand auf.

»Ja.«

Nach einer kleinen Pause. »Kein kleiner Auftrag! – Habe ich Vollmacht? In allem Umfange?«

Rainer Ringfelds Stirn zog sich zusammen. Er trat ganz nahe an den Freund heran, und tippte ihm mit dem Finger auf die Brust. »Du sollst ihn lebend und gesund herschaffen. – – – Und sie auch!«

»Der Auftrag ist noch schwerer. Lebend und gesund. Nun, sie – –? Sie wird schon von selbst hinterherlaufen, wenn ich ihn bringe.«

»Richard, für sie sollst du auch sorgen. Sie sollst du auch behüten. Sie ist mir so viel geworden, wie ein Weib einem Manne überhaupt nur werden kann.«

Es kam ein Schweigen. Richard Lembke hatte ein schmerzlich gequältes Lächeln. Es fiel ins Grimassenhafte, als ob ihm übel wäre. »Also – – – doch!« sagte er langsam.

»Mein lieber Richard, du treue Seele, – – – versteh das doch nur – –.«

»Ich verstehe das schon. Wie soll das einer nicht verstehen! – – – Ihr seid mir Männer! Der eine holt sich eine Braut. Der andre kriegt sie natürlich nicht. Und dreht sich künstlich das Genick um. Und du? – – Der Meister? Und die Seele des Ganzen? – – – Ihr bleibt in eurer kleinen, engen Welt. Rainer – – Wo bleibt das Große Spiel?«

So traurig es Lembke eben noch zu Mute war – – als er jetzt in Rainers Augen sah und ihm von dort wieder das alte klare Leuchten entgegenbrannte, zog Stärke und Ruhe auch in ihn wieder ein.

»Richard – – es ist nur eins zu sagen. Und du wirst alles wissen: Wenn ich das Große Spiel gewinne – – ohne dieses Weib, werde ich nie ganz glücklich sein; wenn diese mein Weib wird und das Große Spiel geht verloren – – bei allem Glück, das ein Weib bringen kann, ich werde immer unglücklich sein.«

»Was gilt dir mehr?«

Ringfeld antwortete nicht.

»Ich übernehme das, Rainer. Mehr als sich einsetzen, kann niemand.«

»Wer zweifelt bei dir daran, Richard!« Er legte ihm die Arme um die Schulter und sah ihm warm ins Gesicht.

»Es wird eine harte Sache, Rainer. Aber die harten Sachen haben ja eigentlich immer in meinem Leben gestanden. Eine so schön neben der andern.«

»Ich weiß das, du lieber Kerl – –.«

»Hier wird ja fortwährend von Schwüren gesprochen. Vielleicht – – – wenn es das gibt! – – hat das Leben einen Schwur gegen mich getan.«

»Richard,« sagte Ringfeld sanft, »das ist doch ein unsinniger Gedanke!«

»Unsinnig oder nicht – –. Was ist überhaupt Sinn?«

Ringfeld sah zu Boden. »Innerlich – ganz tief drinnen – –.«

»Was, Rainer?«

»Ich fühle da so einen leisen Stoß. Du solltest lieber hier bleiben, nicht hinuntergehen. Ob ich nicht lieber selbst – –.«

Lembke durchschnitt die Rede. »Ich hab's übernommen. Vielleicht ist's so verdreht und so windig und so lustig sogar, wie manche Fahrt, die man als Student gemacht hat. Oder vielleicht – – na, man hat ja auch im Kriege manche Fahrt gemacht. – – Also kein Wort mehr! Ich mach's. Du sollst zufrieden sein.«

— — — — — — — —

Es ging zur Sitzung. In Genf. Es war wieder einmal eine Tagung des Völkerbundes. Zwei Männer begegneten sich beim Aufstiege an der Freitreppe.

– – – – – – Seit Babylon waren die Sprachlehrer und Dolmetscher zünftig geworden. Denn, als der Turm so hoch geworden war, daß die Menschen sagten: »Jetzt werden wir gleich ›oben‹ sein und da oben, wo die Wirtschaft uns ziemlich unverständlich ist, mal ein Wort mitsprechen!« da verwirrten sich plötzlich ihre Sprachen. »Und redeten mit fremden Zungen; also daß keiner den andern verstand.« So wurde es mit der Einmischung in die jenseitigen Regierungsmaßnahmen gewissermaßen Essig.

Seit daher trafen Völker, die miteinander sprechen wollten, neben vielen andern Schwierigkeiten und Gegensätzen, die innerlich lagen, auch auf eine äußere: Sie redeten nicht nur mit verschiedener Sprache, sondern sie redeten auch aneinander vorbei.

Die beiden Männer, die sich da an der Freitreppe trafen, hatten es gut. Der eine war ein Italiener, der andere ein Engländer. Der eine temperamentvoll, der andere kühl. Beide aber in dem sicheren Gefühl, Kultur zu besitzen und als Abgesandte ihres Volkes Träger einer großen Mission zu sein. – – Wenn sie aber nicht das äußere Bindeglied besessen hätten, wenn sie nicht beide Französisch gesprochen hätten, dann hätte einer der Strahlen vom Turm zu Babel in ihr Gesicht scheinen können.

» Mon Dieu!« sagte der eine »Wie schauen Sie aus!?«

»Ja – – und man ist doch wahrhaftig kein altes Weib! – – Aber Sie sehen eigentlich auch nicht berückend aus!«

»Bei mir – – – das kann wohl sein. Mir liegt noch ein Traum in den Gliedern, und – – –.«

»Ihnen auch? Das ist ja wunderbar. Mich hat auch einer – – – gequält, will ich nicht sagen, er hat mich erschüttert. Ganz und gar durcheinander geschüttelt.«

»Man muß sich freimachen! – – Träume!«

»Können! – – Erst können!«

»Eben! Mir jedenfalls will es auch nicht gelingen. Ich dachte, die frische Morgenluft, da sollte es vergehen. Bei Tage sieht doch alles anders aus als bei Nacht. Morgens sogar anders als abends. Und man hat doch seinen Verstand und seine Nüchternheit. Aber das will nicht weg und will nicht weg.«

Die Sonne schien so wundervoll. Das Leben und Treiben der schönen Stadt haftete an ihnen vorüber. Zeitungsverkäufer schrieen sie an. Menschen liefen durch die Straßen und über den Platz, als wenn sie aus einem Würfelbecher herausgetrudelt worden wären. Aber alle die starken Rechte, die der Tag und das Licht besaßen, waren nicht imstande, die flimmernden Gebilde der Nacht zum Erlöschen zu bringen.

Der eine griff den andern bei der Hand. »Kommen Sie! Wir haben ja noch Zeit!« – – Sie gingen in eine stille Ecke, abseits der lärmenden Heerstraße. Der eine erzählte seinen Traum. Der andere riß schon nach den ersten Worten die Augen auf. Und je länger jener sprach, um so tiefer wurde sein Staunen und Sichwundern. Es war ja fast wie im Märchenland.

Der eine Traum in zwei schlummernden Gehirnen, Bild an Bild, Licht an Licht! – – Er sah zuletzt in die Weite und fuhr mit der Faust an den Himmel. »Ob es doch so etwas gibt –?«

— — — — — — — —

»Da war also eine Frau. Oder erstmal, ich will sagen: es war ja gestern abend etwas spät geworden. Arbeiten, dinieren, durchdenken. Und so schlief ich schwer ein. Und bin mehrfach aufgewacht. Wenn man überhaupt träumt, dann wechselt das doch im Traum. Das springt doch immer hin und her. Wie es eigentlich im Leben niemals springt. Und bei jedem neuen Einschlafen träumt man doch etwas Neues. In dieser Nacht nicht. Kaum war ich wieder eingeschlafen, da war die Frau auch wieder da.

So fing es an: Es war nicht hell und nicht dunkel. Nicht klar und auch nicht Nebel. Überhaupt keine richtige Farbe. Wir haben es oben bei uns manchmal so. Unsere Schotten sagen, das ist die Stunde, wo der Tag die Nacht erwürgt. – – Ein Stück Heide. Weiter ab niedriges und mal hohes Gebüsch. In der Ferne, am Horizont Wald. Ein paar hundert Schritte vor mir stand ein Galgen. – – Wissen Sie, ich habe ja noch keinen Galgen gesehen. Sie natürlich auch noch nicht. Das ist ja längst vorbei. Aber man kennt es doch aus Bildern. Ein richtiges Dreibein. Die drei Stämme oder Pfähle und querdrüber die Träger. – – – – Da hing ein Mensch. Den Strick konnte ich nicht sehen. Dazu war es zu weit. – – – Wenn man's jetzt so erzählt – –« er schüttelte den Kopf »– – aber im Traume wundert man sich ja nicht. Wie ich so dastehe und mir den Burschen ansehe, so von weitem, der da als Schatten im gleichmäßigen Grau baumelt – ich hatte durchaus kein Bedauern, es war doch ganz in Ordnung, daß da einer hing. Denn es war doch ein Galgen. Und alles Erschaffene schreit nach seinem Zweck. Ob es die lindernde Salbe ist oder die Kanone. Und daß gerade der da hing, war sicher auch in Ordnung. Da gleitet von hinter mir her ein anderer bei mir vorbei, und dann noch einer, und dann wieder einer, und dann kamen sie auch von der Seite und von drüben her. Mich schien keiner zu sehen. Ich hörte auch keine Tritte, ich hörte nicht einmal das leiseste Rascheln im Gestrüpp. Ich sah sie schleichen und sich winden. Manchmal schien einer zu Boden zu sinken. Es war aber nur, weil er sich duckte und auf allen Vieren weiterkroch. Ich konnte sehen, wie sie alle nach dem Galgen zu marschierten. Wie nach einem Zentralpunkt. Zuletzt war es so, als wenn jeder eine Schnur zwischen den Zähnen hielte und am Galgen würde die Schnur aufgewickelt.

Als sie bis heran an den Galgen waren, blieben einige unten und richteten sich steil auf; andere kletterten an den Stämmen hoch und krochen über die Querbalken, bis sie gerade über dem Gehängten hockten. Und nun sah ich etwas, was man im lebendigen Leben nicht ertragen könnte. – – Was konnte denn anderes kommen, als daß alle, die heimlich und bei Nacht an den Galgen schlichen, stille und heimliche Anhänger waren und nun den geliebten Toten abschneiden und ihm ein ehrliches Begräbnis geben wollten, damit er dahin komme, wo ihm nicht die Raben die erloschenen Augen aushacken konnten. – – Nein – – die unten sprangen hoch und griffen nach seinen Beinen, und einer huckte sich auf die Schultern des anderen. Und sie schnitten ihm mit Messern, die sie bisher zwischen den Lippen gehalten hatten, ein Stück nach dem andern ab. Die oben rissen an den Haaren, an den Ohren und an dem Kopf. Aber der Gehängte fing an sich zu wehren. Stieß mit den Beinen und den Stümpfen gegen sie und schlug mit den Armen, als wären es Mühlenflügel. Dazwischen lachte er manchmal. Ich hörte es bis zu mir hin.

Ich fand es gar nicht wunderbar, daß, was sie ihm auch abschnitten, dennoch an seinem Körper blieb. Nur war es nicht mehr Fleisch oder Knochen. Überall da fing ein Licht an zu brennen. Nicht ein Licht, wie wir es so haben. Nein, eine leuchtende Kugel. Faustgroß. Je mehr sie schnitten, es reihte sich eine an die andere. Jede verschmolz mit denen neben ihr. – – Sie zerstachen und zertrümmerten ihm den Schädel. Es nützte ihnen nichts. Zuletzt als sie alles, was Mensch an dem Gehängten war, vernichtet hatten, hing da eine leuchtende Gestalt. Die Umrisse waren da. Aber sie waren als Licht flüssig. Und so schien, was da hing, mehr als Menschengröße zu haben. Und die Gestalt hatte eine solche Leuchtkraft, daß die kleinsten Krautstengel einen scharfen Schlagschatten warfen. Es war beinahe so, als ob auch der Himmel sein Teil von dem großen Lichtschein empfing. – – Ich wollte hinter mich nach meinem eigenen Schatten sehen und drehte mich um.

– – – – Da stand die Frau. Sie war das einzige im ganzen Umkreise, was keinen Schatten warf. Sie war aber auch das einzige, was kein Licht brauchte. Auch im Traume ist man Mensch. Auch im Traum hat man erdgebundene Triebe. Ich machte einen Schritt auf die Frau zu, hob meine Hand und hielt sie so, daß der Schatten meiner Hand vom Galgen her auf ihre Brust fallen mußte. Meine Hand warf keinen Schatten. Ich trat auf die Frau zu und stellte mich dicht vor sie hin. Mein Schatten fiel durch sie hindurch in die Heide.

Ich trat zurück. Meine Verbeugung stammte aus einem diplomatischen Zirkel. »Gnädige – – haben Ihren Schatten vergessen – –.«

Sie schob einen Fuß vor und lächelte auf ihn hinunter. Dann sah sie mich an. »Kannst du tanzen?«

Nun – ich kann ja eigentlich nicht tanzen, Aber – – im Traum? Und so nickte ich.

»Du darfst ›Du‹ zu mir sagen« meinte sie freundlich »und mich mit meinem Vornamen anreden. Ich heiße Klio – – – Klio von Allezeit. Ich wohne nicht weit von hier, auf Schloß ›Überall‹. Hast du es noch nicht gesehen, das berühmte Schloß mit den tausend Fenstern?«

»Nein. Aber ich möchte es sehen!«

»Erst tanzen – –!«

»Nein! – Sag mir erst, wer hängt da am Galgen?«

»Sieh doch hin! – Kennst du ihn wirklich nicht?«

Ich drehte mich um. Der Glanz blendete mich. Ich mußte die Hand vor die Augen heben.

Sie strich mir ganz linde über die Finger und das Gesicht. »Nun – –?«

Ja, jetzt konnte ich sehen. Wenn er auch den Kopf herunterhängen ließ, ich konnte ihm doch ins Gesicht schauen, weil das viele Licht auch von unten leuchtete. Wie ich aber auch sann, ich kannte ihn nicht. Und sah sie fragend an.

»Das ist Giordano Bruno. Den habt Ihr verbrannt.« Sie strich wieder mit der Hand. »Und jetzt?«

Da hing ein anderer. »Das ist Crispin. Den habt Ihr auf einem glühenden Gitter geröstet. Und jetzt?«

Wieder war es ein anderer. »Das ist Archimedes. Dem hat ein einfacher Soldat mit einer Kriegsaxt den Schädel auseinandergespaltet. Bis aufs Genick. Und jetzt?«

So ging es immer weiter. Jedesmal ein anderer. Und sie wußte jedesmal, was mit ihm geschehen war.

Da kam Galilei, da kam Peter Henlein, dann Johannes Huß, dann Guido Arezzo. Es war eine Parade aus Jahrtausenden.

»Ihr habt nicht nur den schnellen, feurigen Tod. Ihr habt auch den trocknen, langsamen Tod. Das ist, wenn Ihr die leuchtenden Menschen verhungern laßt.«

Im Traum habe ich das alles für richtig und natürlich befunden. Das ist doch so. Oder das war doch so!

Sie schob aber ihren Arm durch den meinen. »Sieh mal, Lieber, Ihr könntet es eigentlich anders einsehen. Freilich dürft Ihr nicht sein, wie eine Kuh oder ein Frosch – Ihr müßt euch um eure Vergangenheit kümmern! – Denn das sind doch fürchterliche Taten. Ihr kämpft immer und immer wieder gegen das Licht. Ihr seid erfinderisch in Hindernissen, die Ihr dem Lichte aufbaut. Aber zuletzt: Licht wird immer stärker sein. Man kann einen Menschen verbrennen und auseinanderreißen. Die Asche kann man in die Winde streuen. Man kann sogar mit aller Überlegung und Niedertracht daran gehen, seinen Namen erlöschen zu lassen. Aber wenn er ›Geistiges‹ hatte, das in alle Finsternis doch ein Licht warf – – dann kann man das nicht vernichten. – – Mein Freund, ich habe schon lange hinter dir gestanden. Du hast doch vorhin das alles mit angesehen. – – Je mehr Mühe sie sich gaben, solche Träger des Lichts zu peinigen und zu vernichten – wie hitzig sie auch ihre Messer gebrauchten, um ihn zu zerstückeln, mit Tücke und Erbarmungslosigkeit – – um so Heller leuchtet das Licht. Knochen und Muskeln und Sehnen – – ja! aber das, was am Menschen nicht sichtbar ist, das können Menschen auch mit einem zerquälten Leib nicht in den Tod schicken.«

»Weshalb tun sie das?« habe ich sie gefragt.

»Deine Schuld, mein Lieber! – – Du hast sie ja heranschleichen und ihn noch im Todeskampfe zermartern sehen. Was da oben hing, jedesmal in andrer Gestalt, das war auch jedesmal der Mensch des Lichts. Was sich da unten heranwälzte, war der Schlamm. Menschenform hatte er auch. Warum bist du nicht dabei, Dämme zu bauen gegen den Schlamm!? Das Licht zu schützen, wenn es noch unter euch wandelt.«

Ich reckte mich auf. »Das war – –!! Heute – –.«

Da hatte sie wieder ein Lächeln, aber diesmal war es eins, das ihr die Augen mit einem nassen Schleier überzog. »Das war? – – Ja, ganz gewiß. Ihr seid größer geworden. Heute genügt ein einzelner Mensch nicht mehr. Heute, sieh doch nur zu! Heute zermartert, verbrennt, röstet Ihr langsam ganze Völker.«

Ich war plötzlich in Wut geraten. Auch in quälende Scham. Und wachte auf. Wissen Sie, wie man im Traum abhängig ist von dem Lager, auf dem man liegt? Vielleicht hatte ich sehr schlecht gelegen, wie man das so nennt. Jedenfalls: Im Wachen war das Bild noch da. Und ich verteidigte mich in dem nebelhaften Übergang zwischen Traum und Wirklichkeit. Ich darf sagen: Ich verteidigte mich heftig. Weiß ich denn, weiß denn irgend jemand von uns, wenn wo solches Licht brennt!? Es ist uns doch verborgen! Kann man mehr erkennen, als was die Augen sehen? Frau Klio hat gut reden! – – Ich war noch im Schelten mit ihr, da war ich schon wieder eingeschlafen.

Und, als wenn sie gar nicht weggewesen wäre, so stand sie wieder vor mir. Sie lächelte und hatte den einen Fuß wieder vorgeschoben. Ich sah ihn mir an. Sie trug richtige Tanzschuhe. »Wollen wir?« fragte sie.

Ich legte den Arm um ihre Hüfte und fühlte, daß sie einen Körper hatte.

Sie trat aber schnell einen Schritt zurück. »So nicht! – – Erst mußt du dir auch Tanzschuhe anziehen.« Sie holte aus ihrer Tasche ein paar Schuhe heraus. Als ich sie in die Hand bekam, schienen sie mir fast kein Gewicht zu haben. Darin mochte sich's wohl tanzen und schweben lassen.

»Weshalb?« fragte ich, während ich die Schuhe anzog.

»Liebster, wir tanzen ja anders. Wir tanzen durch allen Raum und durch alle Zeiten. Wir machen kleine Schritte. Zierlich und fein. Aber wir machen große Wege. Laß mich erst einmal deine Augen bestreichen.«

Wir schmiegten uns aneinander und fingen an, uns zu drehen. Da schwand die Heide. Und über ein ganz kleines, da schwebten wir zu einer Kirchentür hinein. Ich sah das alles ganz genau. Das war das große Portal von St. Peter zu Rom. Das war ein schmaler Eingang zu einer kleinen dürftigen Kirche in einem Heidedorfe, das war das Domportal in Köln, das war der Eingang zur Westminster-Abtei, das war der singende und klingende Eingang zur Madeleine in Paris, das war das byzantinische Tor zu einer Moschee und das war der pomphafte Eingang zum Kreml in Moskau. Alles war da. Und alles in einem.

»Laß uns eine Tanzpause machen. Und still und andächtig niedersitzen!« Sie griff nach meiner Hand und zog mich auf die Empore, und dort, dicht an der Balustrade, von wo man in den weiten Raum hinunterschauen konnte, ließen wir uns auf der ersten Bank nieder.

Das war wieder nicht eine Kirche. Das waren hundert Kirchen und Tempel und Dome. Und hundert Kanzeln. Auf jeder ein Prediger oder ein Priester. Und alle redeten. Es waren wohl ein Dutzend Sprachen und ich verstand sie alle.

Sie hoben die Hände zum Himmel. Begeisterung und die Hitze, die auch die Demut haben kann, sprachen aus ihren Worten. Der Schrei an das Unsichtbare schmolz ihr Gebet zu einer Beschwörung um. Was Bitten, also Beten sein sollte, klang wie ein Befehl. Was Flehen war, stürmte wie eine Forderung an den Himmel. Und ob der eine deutsch sprach, der andere russisch, ob englisch, türkisch oder italienisch – – – alles hatte ein und denselben tiefen Akkord:

»Herr aller Heerscharen! König aller Könige! Vater im Himmel! Segne unsere Waffen! Gib uns den Sieg! – – Zerschmettere unsere Feinde!«

Dieselben Kanzeln waren es, von wo auch die anderen Sätze geklungen hatten: Was hülfe es, wenn ich auch die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an meiner Seele – – und die andere Melodie, der Sang aller Gesänge: »– – und hätte der Liebe nicht – –!«

Frau Klio stand auf. Ich wankte. Sie wollte mich stützen. Ich fiel aber hin, und als ich nach ihrer Hand greifen wollte, wachte ich auf. Ich griff wirklich um mich. Mein Kissen war aus dem Bett auf den Boden gefallen. Man sucht sich ja alles zu erklären. Ich hatte ein ärgerliches Lächeln und sagte mir: Nun ja, du hast mit dem Kopfe viel zu tief gelegen. Daher also! Ich hob das Kissen auf und schlief wieder ein.

»Nun? – Laß uns wieder ein paar Tanzschritte tun. Der Weg ist weit. Der Raum ist groß.« So stand sie wieder vor mir, als wenn ich niemals aufgewacht wäre.

»Siehst du die Frau?« fragte sie nach einem kurzen Reigen.

»Ja. Und jetzt sehe ich auch noch mehr Frauen. Sie wachsen wie aus der einen. Und jetzt sehe ich auch Männer.«

»Sei still! Hör zu! – – Die beten auch.«

Es schien, als wäre der halbe Erdkreis versammelt. Und wieder sehr viele Sprachen. Und viele, viele Häuser. Das meiste aber waren Hütten und niedrige Räume. Alles ineinander geschoben, aber doch durchsichtig wie Glas und getrennt von einander. Ich konnte alles zu gleicher Zeit sehen.

Die Frau lag auf den Knien und rang die Hände: »Herr Gott im Himmel! Laß mir den Jungen!«

Eine schrie in einer andern Sprache: »Einen hast du mir genommen. Ewiger Erbarmer, laß mir den zweiten! – – Wozu – um deiner ewigen Gerechtigkeit willen, hast du mich Kinder gebären lassen?!«

Da jammerte eine: »Ich habe immer gebetet: Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Welt geworden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Schütze meinen Mann! Wache über ihn!«

Dazwischen stand ein Mann, gereist, mit schweren Furchen im Gesicht. Er hatte den Kopf nicht gebeugt wie die anderen, von denen manche mit der Stirn am Boden lagen. Er hatte ihn ins Genick zurückgelegt und die Fäuste gegen den Himmel gereckt. »Einen? – – Ja! – – Den Zweiten? – – Ja! – Den Dritten? – Jetzt hast du auch den Vierten. Den Letzten! – – Du, zu dem sie alle miteinander flennen und winseln, vielleicht bist Du! Aber ich kann dich nun nicht mehr sehen!« Er schüttelte wild die Fäuste. »Und ich kenne dich nicht mehr! Du hast keine Macht und keine Kraft und keine Herrlichkeit! – – Das ist nicht Gottesdienst an der Menschheit – – das ist Satans Werk!!«

– – – – – – »Komm,« raunte Frau Klio mir zu »ich darf nicht oft tanzen. Alle hundert Jahre einmal. Das ist wenig, und ich muß das ausnutzen. Ich muß nachher wieder sitzen und schreiben und schreiben. Wie Ihr sagt ›Tag für Tag!‹ Ihr kurzlebiges Geschlecht! – Wie es bei mir heißt: Jahrhundert für Jahrhundert!«

Da verschwanden Menschen und Häuser und Hütten. Wir glitten durch das Unendliche. Dann schwenkte sie mich mit mildem Druck zur Seite.

Es war nur ein Raum da. Viele Fenster, viele Zeitungen, viele Bücher, viele Tintenfässer und Papierkörbe. Es war eine Redaktion. Und es hing Hitzigkeit in der dunstigen Luft.

»Ist die Statistik fertig?« brüllte einer, der die Tür nur zu einem Spalt geöffnet hatte, durch den er den Kopf mit dem geröteten Gesicht und den fiebrigen Augen klemmte.

»Ja. Bald. Gleich! – – Sofort!« Der das antwortete, schlug mit der geballten Faust auf den Tisch. »Teufel, noch mal! – Das ist doch Jammer über Jammer! – – 7463 Autounfälle, davon vierundzwanzighundert tödlich! In einem lumpigen Jahr 1930 Bergleute im Kohlenschacht verbrannt oder erstickt. Zweihundertsiebenundsechzig Ertrunkene. 63004 Unfälle in Fabrikbetrieben. Zweiundeinehalbe Million Arbeitslose. Zweieinhalbes Tausend durch Erdbeben umgekommen. Sieben Schiffe mit hundertsechzig Mann verschollen. Fünfviertel Millionen Lungenkranke – –.«

»Das ist der Kampf im Frieden,« schrie ihm ein anderer entgegen. Ich konnte von dem, was er noch sagen wollte, nur die Worte verstehen: »Und da führt die verrückte Menschheit auch noch gegeneinander Krieg und schlachtet die Gesunden – – – und – –.«

Frau Klio wiegte sich mit mir schon wieder im Reigen. Sie lächelte. Und daß sie lächeln konnte, machte mich mit einem Male fast rasend. Ich preßte sie an mich, als wollte ich sie erdrücken und ersticken.

»Warum bist du so wild, Lieber?« fragte sie.

»Wie kannst du lachen! Mir ist die Gurgel so eng. Ich kann kaum atmen!«

»Wie ich lächeln kann? – Du Lieber, ich lächle ja in Hoffnung! Deshalb tanz ich ja mit dir – –.«

»Mir ist ganz wirr. Mir ist wie im Traum – –.«

»Du träumst ja auch. Aber ich schicke dir den Traum in deinen Tag. Meine Zeit ist jetzt bald um. Bald wird das Frühlicht kommen. – – Komm! Schnell! Es geht zum Kehraus.«

Sie schwang sich mit mir durch die Luft. Sie wiegte sich mit mir durch die Wolken. Und als sie mir wieder über die Augen strich, standen wir hier unten, in Genf. Vor der Freitreppe, wissen Sie, wo wir uns vorhin trafen. »Was ist das?« fragte sie.

»Das ist der Bau, in dem der Völkerbund tagt.«

»Nun also – –« und als sie jetzt unter dem Schein des Frühlichts ihr Gesicht zurückbog, sah ich erst, daß ich das wundervollste Weib im Arm hatte, ein Weib, dessen berückender Ernst durch alle Schönheit hindurchstrahlte.

»Steig mit deinem Traum diese Stufen hinauf! Und tu, was dir der Traum gesagt hat. – – Ihr habt viele, viele Tempel. Vielleicht nennt der Bund der Völker das hier auch ›seinen‹ Tempel. Aber denke immer daran: Die ganze Erde ist ein Tempel! Die ganze schöne Erde! – – Es steht ein Wort geschrieben an alle Menschen und an alle Völker: ›Ich habe euch einen Tempel gebaut. Ihr aber habt daraus eine Mördergrube gemacht!‹ – Geh hin und mach, daß das Wort nicht mehr gilt! – – Jetzt, du Lieber, muß ich scheiden. In abermals hundert Jahren – – –!« die Worte wurden immer mehr zum Hauch. Sie ließ zum letzten Male die Hand leise über mein Gesicht streichen. Ich sah nach ihr hin. Die Farben wurden matter. Sie wurde blasser und durchsichtig. Ich sah durch sie hindurch Treppenstufen und Steine und Säulen.«

— — — — — — — —

Der andere erhob sich. Sein Gesicht war von Erregung überflutet. Und wenn er sich auch bemühte, seine Mienen in der Gewalt zu behalten, seine Stimme konnte er nicht so weit beherrschen, daß sie nicht klang, wie wenn ein Mann mit letzter Gewalt die Tränen zurückpreßt.

» Mein Traum! Mein Traum! Das war auch die Geschichte meiner Nacht! Und als ich auf die kalten Steine sah, war es mir, als wenn mir eine harte Welt ins Gesicht puffte. Und ich wachte auf.«

Der Engländer, der zuletzt die Ellbogen auf die Knie gestemmt und den Kopf in die Hände gestützt hatte, sprang auch auf. »Freund – – – Traum? –? Das war kein Traum!« Seine Stimme wurde von einer inneren Flut getragen. Er preßte seine Fäuste gegen die Brust. »Lassen Sie uns jetzt da hinaufsteigen! – – Lassen Sie uns alle Schleier zerreißen. Wir gehen hin – – wir verkündigen die frohe Botschaft des einzigen Tempels! Es gibt doch und doch nur eine Melodie: Liebe zum Brudertum!«

»Ja. – – Und lassen Sie uns verhüten, daß das hier vor uns – nichts weiter wird, als ein neuer Turm von Babel! Wo keiner den andern versteht. Wo die Zungen sich fremd sind. – – – Damit, wenn in abermals hundert Jahren – – –.«

»Wenn Klio wieder in die Träume der Menschen tanzt – – –.«

— — — — — — — —

Es war ein regnerischer, mißmutiger Tag. Einer der Tage, wie sie in Italien, besonders ganz unten im südlichsten Teile, sehr selten sind.

Ohlep war nicht der Mann, den anderes als unsichtiges Wetter scherte. Bei Tage war ihm der weite Horizont für die Sicht eine Forderung, bei Nacht für die Signale und Lichter.

Martha Berndsen hatte eben den Frühstückstisch gedeckt. Sie lief zwar noch mit einem kühlen Verbande um das Fußgelenk herum, weil Ohlep darauf bestand, aber sie konnte sich schon wieder ungehindert bewegen. Die beiden Knüppel, die ihr der Flugkamerad zurechtgeschnitten hatte, hatte sie als zukünftige Andenken verteilt. Einen hatte er bekommen. Einen wollte sie behalten. Benutzt hatte sie keinen von beiden.

Als sie sich beieinander niedergelassen hatten, schmunzelte er. »Nur weil ich eine Dame so – – gewissermaßen – – an Bord habe, respektiere ich Servietten. Haben Sie die Güte, mir, wenn wir erst wieder daheim sind, das Zeugnis auszustellen, daß ein Admiral auch Servietten waschen kann, fast so gut, wie jede Frau – –.«

»Bester, mein lieber Ohlep! Erheblich besser! Wenn es auch nicht so schnell geht.«

»Aber ich bitte Sie, was' heißt hier bei uns schnell! Wir sitzen doch ohnehin im Kittchen. Rechts ist Nebel. Links ist Nebel. Und als Füllsel zu der schwankenden Tunke Regen.«

Sie aßen und tranken zusammen. Waren es auch alles nur Konserven, so waren es doch auserlesene Sachen. Der Kaffee war so schön heiß, das Brot, wenn auch nicht frisch, so doch wunderschön geröstet, statt der Milch die feinste Sahne, und der Heidehonig hätte fast Calabrien vergessen machen. Die Zeltbahn, die über ihnen von Flugzeug zu Flugzeug gespannt war, schützte sie vor Regen, der zudem bei fast völliger Windstille nur senkrecht fiel.

»Wirklich gut,« meinte Ohlep »daß wir unser vertragliches Malheur hinter uns haben!«

»Ohlep, – – wie kann man!«

»Sie meinen?«

»So abergläubisch sein!«

»Da frage ich, wie kann man – –!«

»Sie meinen?«

»Nicht abergläubisch sein! – – Das gehört doch zum guten Ton – – den Geschehnissen und dem lieben Gott gegenüber.«

»Wie – –??« Ihr blieb der Mund offen stehen.

»Na also: der liebe Gott hat doch's Regiment. Das ist aber ein ziemlicher Bezirk. Gucken Sie mal da oben hinauf zum Himmel, auch im klarsten Sonnenschein! – – Wie weit können Sie sehen? – – Und durch die Erde durch nach unten, wieder in den Himmel – – Wie weit können Sie sehen? – Also! – Da kann er sich nicht um jeden Winkel und um jede Kleinigkeit kümmern. Und dafür sind die ausführenden Organe da. Wir! Hier auf der Erde, die Menschen. Und da alles Menschliche unvollkommen ist, hat ein für alle Male jeder Weg seine Glitsche.« Er lachte. »Und unsre Glitsche haben wir eben gehabt. Basta! – – – Oder glauben Sie etwa, daß das der liebe Gott ist, der uns so etwas Verqueres schickt? Irrtum. – – Das ist genau wie bei der Marine. Der Kommandant – – wenn da mal ein Marlspieker über Bord fällt oder ein Ankertau reißt – – ja, der Kommandant hat natürlich das Ganze, aber um den Marlspieker oder das Ankertau kann er sich nicht kümmern. Da sind eben andere hingestellt. Die haben das in Ordnung zu halten und zu vertreten. So machts der liebe Gott auch.«

Sie lachte. »Da hat er sich also die Marine zum Vorbild genommen. Bei einem Admiral gefällt mir das.«

»Sie sind überhaupt ein ganz vernünftiges Mädelchen.«

Nach einer kleinen Weile sagte er: »Das habe ich übrigens gleich beim ersten Male gewußt, als ich Sie sah. – Und klug sind Sie auch.«

Während sie kaute, machte sie plötzlich ein recht bekümmertes Gesicht. »Schade, daß ich trotzdem nicht alles begreifen kann.«

»Was zum Beispiel?«

»Sind Marlspieker und Ankertaue – – Kleinigkeiten und Ecken, um die sich Ihr lieber Gott nicht kümmert?«

Er sah sie erstaunt an. »Das verstehe ich nicht – –.«

»Ich meine – – sind tausend Menschen Kleinigkeiten?«

»Tausend Menschen? – – Wieso?«

»Der Panzer, Ohlep, den Sie da drüben auseinandergerissen haben. – – Wie viele Menschen waren da drauf?«

Er wiegte den Kopf hin und her. »Nach dem Typ, schätze ich, vierzehnhundert.«

»Und? – – Ohlep?«

»Ja aber – – es muß doch ein Ausgleich geschaffen werden. Das verlangt doch die Gerechtigkeit! Wie viele von unsern Jungens – –.«

»Ich frage nur: gehört das zu den Kleinigkeiten – in dem großen Bezirk?«

»Sie sind kein Mann, Martha Berndsen! Jeder Bootsmannsmaat, jeder Matrose, der da im Wasser paddelte – – der Kopf kam noch einmal hoch – – mit dem einen Arm, den er nur noch hatte, schlug er in die roten Blasen. – – Ich sah das. Nicht nur einmal. Wer konnte helfen!? Ich hatte nur noch Hose und Hemd an. Ich klammerte mich an einen Holzklotz an, der kaum mein Gewicht trug. Martha Berndsen, da gibt es doch einen Schwur! – Wenn einen so ein prachtvoller, versackender Junge ansieht, dann heißt es doch: Du sollst nicht umsonst runtertrudeln! Verlaß dich auf deinen Admiral! – – – Und: Die stolzesten Schiffe der Welt! Ja – – keine zweihundert Meter vor mir – das ganze Heck himmelhoch raus aus der See. Die Schrauben wirbeln in der Luft und machen einen Skandal, wie der schwerste Orkan. – – Den Choral müssen Sie mal gehört haben, Martha Berndsen! Der summt einem doch noch im letzten Augenblick in den Ohren, ehe man in den Sarg gelegt wird. – – Und mit dieser Musik geht so ein Schiff hinunter. Auf Nimmerwiedersehen. Hinein in den nassen Keller. Von dem Wellengewoge wird man herumgerissen und herumgetrudelt wie ein Korken. – – Das letzte Heulen – – gibt doch einen Schwur! – – Wissen Sie, das ist wahrlich nicht, als wenn man vor Gericht steht. – – Das ist ein Schwur, der füllt einen aus von den Fußsohlen bis zur Schädeldecke.«

»Und das Gesetz der Schmiede?« Sie legte keinen besonderen Ausdruck in diese schwerwiegende Frage. Ihr Herz schlug, aber sie wußte auch, daß sie es zu keinem Streit, nicht einmal zu einer offenen Aussprache kommen lassen durfte.

»Erst den Ausgleich!« sagte er kalt.

»Haben wenigstens Sie nun noch nicht ausgeglichen?« Er schwieg eine Weile nachdenklich.

»Ihr Gesicht, mein lieber Ohlep, ist jetzt sehr hart.« Er blieb stumm.

» – – – wenigstens für einen, der den Frieden bringen will!«

Da fuhr er auf. »Der Friede darf doch keine Belohnung sein! – – Und wofür wäre er hier eine Belohnung? – – Denken Sie nach, Martha Berndsen! – – Erst der Ausgleich!«

Sie lenkte ab. Sie dachte an Rainer. Gestern hatte er sie angestrahlt. Als sie von ihm hörte, daß Lembke bestimmt sei, Ohlep zur Besinnung zu bringen, war sie entsetzt gewesen.

»Ist er etwa schon fort?« hatte sie gefragt.

»Ja, meine Martha. Er ist schon fast zwei Stunden unterwegs.«

»Das geht doch nicht!« hatte sie geklagt. » Das darf doch nicht sein! – – Jeden! Jeden! – – Aber Lembke nicht! – – Ruf ihn zurück – – oder, wenn du das nicht willst, komm sofort hinterher! – Komm! – – Wie konntet Ihr nur auf den Gedanken kommen?! – – Mit Ohlep kann ich es nicht schaffen. Er läßt sich nicht zurückhalten. Morgen früh wollen wir kurze Probeflüge machen. Er sagt zwar, es ist nicht nötig. Aber ich habe darauf bestanden. Zeit gewonnen! – – Vielleicht muß es wieder Kleinholz geben. Und ich muß das natürlich auch wieder so machen, daß er die Absicht nicht merkt. Sonst fürchte ich – – – –.«

»Aber Martha – – Liebste – – – was – –.«

Sie sprach ganz leise. »Ich fürchte überhaupt – der Rainer und seine Martha sehen sich nicht wieder – –.«

– »In zwanzig Minuten bin ich unterwegs. – – Und nicht ich allein – –.« Kein Wort mehr, keinen Blick mehr hatte sie erhalten.

Und nun rechnete sie und wartete. Es war nicht einmal ein bloßes Warten, es war ein Lauern. Im Laufe des Nachmittags konnte Lembke eintreffen. Und wenn sich Rainer und die andern ordentlich in die Schwingen legten und lange Züge machten, konnten sie vielleicht bald nach ihm landen. Auf der immerhin beträchtlichen Strecke ließ sich viel einholen.

Hier bei Ohlep wurde es jetzt ähnlich so wie in Tausend und einer Nacht. Sie mußte fortwährend etwas erfinden, im Erzählen oder Tun und Handeln, nur um den Hauptgedanken in ihm zu ersticken.

Sie wandte sich an ihn. »Während Sie zum Wasserholen hinunter waren, habe ich Rose angestrahlt. Sie läßt vielmals grüßen. Und ist nahe daran, vor Neid umzukommen. Sie beklagt sich über ihr Schicksal, nicht mit Ihnen die Fahrt – – –.«

»Ich weiß schon« erwiderte er lachend. »Ich bin ganz zufrieden mit ihrem Schicksal. Das mag sie trösten.«

»Und mit Wahnheim habe ich auch gesprochen. Mit dem über eine Viertelstunde. Der ist glücklich. Wirklich ganz glücklich. Man sah es seinem Gesicht an. Er steckt mitten drin in der Siedlung für seine Arbeiter. Jede Nacht ist ihm zu schade zum schlafen. Sonst liegt ihm immer so ein – – ein bißchen finsterer Zug um Stirn und Augen. Der ist wie weggewischt. – – Denken Sie, vierzig Kilometer um jede Fabrik hat er einen Kreis gezogen. Das ist im bequemsten Ausruhen zwanzig Minuten Flugzeit. Als wenn einer eine Promenade macht.«

Sie strich ihm eine Schnitte. »Sie essen ja heute so wenig. – – Ja, und er läßt es sich wirklich schweres Geld kosten.«

»Hat es ja auch.«

»Gewiß. Aber es ist doch anders als bei Ihnen, mein lieber Ohlep«

Er sah auf. »Natürlich. Aber wieso?«

»Bei ihm auch ein Ausgleich! Er sagt: für die Enterbten! Alles für die Enterbten! Er freut sich so schrecklich über das ganz andere Gesicht seiner Arbeiter. Er möchte immer zwischen ihnen herumgehen. Das ist doch alles Feuer und Flamme und Leben! – – Dabei wären sie ihm im Grunde noch nicht einmal Dank schuldig! Sie bekämen doch nur, was ihnen das Leben schuldig wäre. Licht und Luft und – – – – so hat er zum Schlusse gesagt: ›ihr Recht an die Erde, das Heimatglück! – – Wir wollen doch mitbauen an unsrer ›neuen‹ Welt!‹ Sagen Sie, Ohlep, ist das nicht ein echtes Glück bei ihm?«

»Mein Himmel – – ja. Martha Berndsen, so'n kluges Mädelchen wie Sie sollte eigentlich niemals Fragen tun, auf die die Antwort schon vorher feststeht. Aber – – Ihnen zu Gefallen! – – natürlich ist's ein Glück. Und übrigens: Ich freue mich ehrlich mit ihm und mit seinen Arbeitern und – –.«

»Schon recht! – – Aber was tun Sie, oder – – ich will nicht immer sagen ›Sie‹ – – was tun wir

Er blinzelte sie an. »Ich weiß! Ihr eigensinniges Thema. Aber, warten Sie nur noch ein Weilchen. Sie werden mit mir ebenso zufrieden sein wie die ganze Welt. – –«

Sein Ton klang mit einem Male, als wenn er an einer Tafel saß und jene Unterhaltung zu pflegen hätte, die nur Oberflächen kennt. »Wieso? Mein gnädiges Fräulein, was fragen Sie? Was ich tue? Ich gucke in den Nebel. Und an den Himmel. Und – – wahrhaftig! Der Nebel über uns schlägt blau an. Er wird immer dünner. Der Regen hat auch aufgehört. Passen Sie auf, er geht zu Tal! – – In einer Viertelstunde stecken wir die Nasen in die Sonne.«

Es sollte nicht so lange dauern. Der Nebel sank wirklich mit Macht. Sie erhoben sich und traten an den Abhang, von dem aus sie sonst von weit draußen her das Ionische Meer und den Golf von Otranto hatten herüberschimmern sehen.

»Das ist neckisch!« sagte Martha. »Sehen Sie hin! – – Meter um Meter!«

Der Nebel bettele sich ins Tal hinunter, und Hügel um Hügel stieg aus seinen Schleiern heraus. Die Sonne schmeichelte sich immer tiefer in die Senkungen hinein.

»Ist es nicht herrlich, Ohlep?« Sie wies auf die Tautropfen hin, die noch an den Gräsern hingen und wie Diamanten funkelten.

Nach ihrer Berechnung müßte es noch mindestens vier Stunden dauern, bis auch der geübteste Flieger über dieser Ecke Calabriens in Sicht käme. Sie hoffte auch mit großer Bestimmtheit, daß Lembke sich verfliegen würde. Die Alpen waren ein sehr schwieriges Gebiet. Man mußte sehr hoch fliegen, um die vielen Richtungswechsel in den Tälern und über die Pässe zu vermeiden. Da setzen Kompaß und Karten sehr viel Behendigkeit in der Benutzung voraus. Sie wußte, daß Lembke sehr gut fliegen konnte, aber um sich über solchem schreckhaften und unübersichtlichem Gebiete orientieren zu können, dazu gehörte mehr, als ihm schon von Jugend und der Schule her zu Gebote stunde. Er war ja ein gänzlich ungebildeter Mensch. Und so würde dieser unselige Plan schon in sich zerfallen, denn die andern würden ihm zuvorkommen.

Sie sprang hinüber zu den Flugzeugen, löste die eine Zeltbahn, die zwischen ihnen aufgespannt war, ab, wickelte die zweite, die ebenfalls naß geworden war, auf und breitete sie nebeneinander auf dem Boden aus. So bildeten sie einen ziemlich weit erkennbaren Sichtfleck für jeden, der da oben flog. – – »Nun werden sie schnell trocknen!« sagte sie in einem angenommenen vergnügten Tone und sie freute sich, daß Ohlep unter den heißen Strahlen der Sonne seine Windjacke auszog und mit seinem Hellen Sporthemd den zweiten Sichtfleck bildete, der um so mehr von da oben aus auffallen mußte, als er sich fortwährend bewegte.

Es ging ans emsige Arbeiten. Ohlep war ganz und gar bei der Sache. »Merkwürdig!« sagte er »die Schrauben sind fast sämtlich locker.«

»Die sind ja schnell nachgezogen – –« tröstete sie lachend.

»Es sind mehrere hundert!«

»Die Zeit müssen wir uns schon nehmen.«

— — — — — — — —

Rainer Ringfeld hatte Wahnheim sofort angestrahlt.

»Martha Berndsen ist entsetzt!«

»Weshalb?«

»Daß wir Lembke hinuntergeschickt haben!«

»Nicht hin- und herschwanken – – mein lieber Ringfeld! – – Das wollen wir nun auf keinen Fall mehr ändern – –.«

»Er kann kaum über Thüringen hinaus sein. Wir können ihn noch zurückbeordern – –.«

»Ich beschwöre Sie! Lassen Sie ihn ziehen! – – – Er einzig ist hier am Platze – –.«

»Dann gehe ich auch hinunter. Ich habe mit Rancke gesprochen. Er will auch mit. Und Ihre Rose auch – –.«

»Aber welcher Aufwand, Ringfeld! – – Meinetwegen! Fliegt alle hinterher! Nur rufen Sie Lembke nicht zurück! – – Auf keinen Fall!«

Als er seinen Apparat heruntergeklappt hatte, mußte er doch den Kopf schütteln. »Merkwürdige Leute! – – Sehen sie denn nichts? Und das ist doch geradezu sentimental! Aber es macht ja nichts. Vor Lembke kommen sie doch nicht an. Und ich müßte Lembke nicht kennen! Der wird den andern schon zur Raison bringen! – – So oder so!«

— — — — — — — —

Richard Lembke war ein sicherer und ausdauernder Flieger. Auf Tricks und Eleganz kam es für ihn nicht an, schon gar nicht bei einer solchen Fahrt. Noch vor Mitternacht hatte er die schwerste Partie der Alpen überwunden und hatte sich dann vorsichtig und langsam der Mailändischen Tiefebene zu sinken lassen. In einer Höhe, von nur noch dreitausend Metern war er zwischen Mantua und Piacenza durchgekommen. Dort ganz hinten im Osten, ein Schimmer wie ein schwaches, aber ständiges Wetterleuchten, das mußte Venedig sein. – – Nun er schon so weit war, wußte er sich vor einem Verfliegen sicher. Links immer die Adria und rechts, ganz hinten am weiten Horizont den Golf von Genua. Großartig eingerichtet, dieses Italien! Für das Fliegen bei Nacht! – Es wurde schmal und immer schmaler. Das Meer war ein ausgezeichneter Wegweiser. So dunkel, ja fast blauschwarz die Tiefe auch unter ihm lag, das fluffige Element war immer heller als Erde. War der Silberschimmer auch nur schwach, man konnte doch sehr gut Meer und Festland unterscheiden.

Müde war er wirklich nicht. Wenn man sich nur in die nötige Höhe geschraubt und das Flugzeug genau auf Kurs gesetzt hatte, konnte man ohne jede Besorgnis ab und zu eine halbe Stunde schlafen.

Wenn auch Aufregung schon seit langem eigentlich nicht mehr seine Sache war, so grübelte er doch und grübelte immer wieder.

Er hatte einen Befehl. Aber er hatte keinen Plan. Ja, er hatte überhaupt kein rechtes Bild davon, wie sich die Angelegenheit entwickeln würde. Nur: Er würde sie zu dem von seinem Rainer gewünschten Ende führen. Es war ein eiserner Entschluß bei ihm. Die Ausführung mußte sich aus dem ergeben, was er jetzt noch nicht beurteilen konnte. Ohlep zu hindern – – an was in der Welt es auch sein mochte – – Kleinigkeit! Aber Rainer hatte ihm die Hände gebunden: heil und lebend sollte er ihn nach Hause bringen! Ihn und die andere, gegen die er eine tiefe Erbitterung in sich trug.

In das feine Surren, mit dem sein Flugzeug mit den Vorderkanten der beiden sensenartigen Flügel die Luft durchschnitt, fuhr sein verbissenes Lachen. Was war Venedig! Was der Meerbusen von Genua! Was Rom, Neapel – – überhaupt Erde, Wasser, Licht, Sonne, Nacht, Weg und Steg – – er sollte da hinunter – – irgendwohin – – auf einen bestimmten Fleck – –! Er würde den Fleck finden! – –

Aber daß Rainer gerade ihn ausgesucht hatte, das blieb ihm bei allem Sinnen und Grübeln ein Rätsel.

– – – Das Frühlicht war längst in den vollen Tagesschein übergegangen. Er sah den Tiber. Der Vesuv glitt rechts von ihm tief unten vorüber. Er hielt die Nase seines Flugzeugs immer nach Süd-Süd-Ost. Die Sonne schien ihm ins Gesicht und hinderte ihn ein wenig im Beobachten. Aber er schoß unentwegt vorwärts. Nach einer geraumen Zeit sah er im Südwesten Sizilien und die Straße von Messina auftauchen. Jetzt war es Zeit. Er schwenkte ganz nach Osten aus und kam nun, mit dem Rücken gegen die Sonne, vom Ionischen Meer her gegen die Küste. Eingehend suchte er zuerst das Unterland ab und stieg dann mit dem Fernglas in die Berge. Mit Catanzaro im Visier ließ er sich ganz langsam sinken.

Bei 1500 Metern Höhe sichtete er die beiden Flugzeuge und sah zwei Menschen sich bei ihnen bewegen. Die Bergkuppe, unterhalb der sie umherturnten, mochte gegen tausend Meter hoch sein. Es war schwer abzuschätzen. Er warf das Steuer herum und ließ das Flugzeug in einem großen Halbkreise und in langsamer Fahrt an die Kuppe heranschweben.

»Wie einfach wäre die Sache jetzt!« knurrte er vor sich hin. »Aber lebend! Lebend und gesund! – – Rainer, Rainer, was hast du verlangt! – – – Nun, auf alle Fälle – –: Sein letztes Schiff soll der Mann versenkt haben. Und heim soll er auch! – – – Dafür stehe ich dir ein!«

— — — — — — — —

»Alle Wetter – – – – was ist das??« Ohlep riß den Kopf hoch.

Aus dem wolkenlosen Blau des Himmels war ein Schatten, dicht und in schnellem Huschen auf ihn und seine Arbeit gefallen. Martha hatte das Flugzeug schon vor mehreren Minuten entdeckt. Aber nur das eine! Sie hatte die Zähne zusammengebissen. Das Herz klopfte ihr bis zum Halse hinauf. »Rainer – – Rainer! – – Bist du es? – – Oder – – wann kommst du?«

Als das Flugzeug nun aufsetzte, die Schwingen klappte und Richard Lembke ausstieg, starrte erst Ohlep nach ihm, beugte sich vor, als ob ihm Unfaßbares vor den Augen gaukele, und dann stemmte er beide Fäuste in die Hüften und lachte aus voller Kehle. Er lachte, wie ihn Martha nie hatte lachen hören, und mit einem Lachen, das sie ihm auch niemals zugetraut hätte. So richtig eine Art tiefer Freude. – – – »Das ist ein Spaß! – – Ausgerechnet unser lieber Lembke macht uns die erste Visite!«

Lembke stieß erst ein paarmal etwas ungeschickt mit den Beinen, die ihm nach dem langen Sitzen nicht recht gehorchen wollten, und stellte sich dann in strammer Haltung vor dem zu ihm eilenden Ohlep auf.

»Dem Herrn Admiral einen ›Guten Morgen!‹ zu wünschen!«

»Danke, mein lieber Lembke! Danke sehr! Unserm lieben gnädigen Fräulein doch auch?« Er legte ihm lachend die Hand auf die Schulter.

»Zu Befehl – – Dem gnädigen Fräulein auch.«

Martha war herangetreten. Die Füße gehorchten ihr, aber sie wußte kaum, daß sie Schritte machte. Sie hatte mit flirrendem Blick den Himmel abgesucht. »Das ist ja nett. – Direkt von zu Haus?« Sie fühlte, wie banal das klang, aber woher jetzt Worte nehmen?

»Zu Befehl! Von Hamburg. Aus der Schmiede.«

»Ohne Pause?«

»Nichts da!« lachte Ohlep »Examen! Was soll das? Keine Fragen! Erst soll er geatzet werden. Also, Martha Berndsen, wir haben doch noch genug?«

Sie beeilte sich, mit wenigen Griffen für Lembke ein kleines Tafeltuch aufzulegen und einen nicht zu eng bemessenen Imbiß aufzutischen. »Ich mache Ihnen sofort heißen Tee.«

»Oder, mein lieber Lembke – – – haben Sie besonders Eiliges? – Aber Unsinn! – – Das hätte uns ja hergestrahlt werden können.«

»Zu Befehl, Herr Admiral, nein! – – Es hat Zeit.«

»Schön also. – – – Kein Wort vorläufig. Und dann, während Sie kauen und schlucken, wenn Sie da mal eine Pause überhaben, dann bitten wir gelegentlich um ein paar Silben. Wir haben zwar oft genug mit der Heimat gesprochen, aber wir haben lange kein Gesicht aus der Heimat gesehen. Keine aus Fleisch und Blut.«

Richard Lembke ließ sich nieder und machte sich ans Frühstück. Hunger hatte er nicht. Seit seiner letzten Mahlzeit war es nur eine Stunde her. Aber diese Pause jetzt war gut fürs Beobachten und Überlegen. Darüber war natürlich nicht zu reden: Mit den Experimenten dieses verteufelten Mädels war es nicht getan. Damit war Zeit gewonnen, aber kein Ziel erreicht. Der Befehl hieß doch nun mal klipp und klar, ihn nach Haus zu bringen, lebend und gesund. Und die andere auch.

Ohlep und Martha bastelten weiter.

Einmal fragte Ohlep gemütlich: »Nun? Schmeckt der heiße Tee? – – Da oben ist es sicher sehr kalt gewesen.«

»Befehl, Herr Admiral!«

Ohlep hatte bei aller Freundlichkeit doch keinen Augenblick vom tiefen Nachdenken abgelassen. Nachdem die erste, wirklich vergnügte Überraschung vorübergegangen war, kamen die Fragen. Was wollte Lembke? Was sollte Lembke? – – Denn das war ihm klar, daß Lembke irgendwie Ersatz dafür sein mußte, daß er sich nicht mehr hatte anstrahlen lassen. – – Aber was auch immer der Beweggrund gewesen sein mochte, daß man dieses Faktotum hierher schickte – – nichts sollte ihn hindern, den Weg noch nicht erloschener Pflichten zu gehen.

Martha Berndsen schielte zu Lembke hinüber. Sie mußte alles möglichst hinziehen. Sie schenkte ihm schon die dritte Tasse Tee ein.

Für ihre bang suchenden Augen blieb der Himmel immer noch leer. Und Lembke war nun schon vor fast einer Stunde gelandet.

»Martha Berndsen!« lachte Ohlep.

»Was – – denn?«

»Sie pumpen ja unsre Ordonanz übermäßig voll. – – Oder – – können Sie noch, mein lieber Lembke?«

Lembke stand auf. »Zu Befehl, Herr Admiral! – – Nein!«

»Na, denn an die Geschütze! – – Wollte sagen an die Geschäfte! – Wenn Sie welche haben. Oder sind Sie zu einer Spazierfahrt aufgestiegen? Zu einer besseren Morgentour?«

»Zu Befehl, Herr Admiral! Nein!«

Jetzt war Richard Lembke wieder der Statuenhafte, die Unbeweglichkeit, die ein Gesicht aus Gips hatte und Glasaugen mit einer schmalen, hellen Einfassung.

Martha zog die Schultern zusammen. Sie krampfte die Hände auf dem Rücken ineinander. Gerade, als ihr Herz bettelte: »Rainer, Rainer! Komm! – – Es ist Zeit! – – Es ist letzte Not!« sah sie am Himmel nach Norden zu einige Punkte. Es waren mehr als Punkte. Es waren feine Striche, die sich in der Mitte verdickten. »Also – – in spätestens zehn Minuten! – – Nun wird schon alles gut werden!«

»Na also, mein lieber Lembke, legen Sie los!« Ohlep stand fünf Schritte von Richard Lembke entfernt. »Erzählen Sie mal! – – Wie war die Fahrt? Schön, nicht? – – Alpen – – Italien. – – Die See, die schöne blaue Adria – – –.«

»Befehl vom Herrn Major! – – Den Herrn Admiral zu bitten, sofort nach Haus zu kommen. Nach der Schmiede.«

Ohlep hörte das und trat ihm zwei Schritte näher. Martha sah die Veränderung an ihm. Er hielt den Kopf ein wenig schief, als wenn er angestrengt nach etwas horchte. Die Augenbrauen hatten sich ganz zusammengezogen und dann schoß in seine Augen das gefürchtete Glimmen.

»Ist das alles?«

»Zu Befehl, Herr Admiral!«

»Schön, mein lieber Lemke. Sie müssen Ihre Dienste als Ordonanz weiter verrichten. Steigen Sie wieder in Ihre Droschke und melden Sie dem Herrn Major, die Lage hier gestatte mir nicht, dem Befehle nachzukommen. Und die allgemeine Lage verlange von mir andere Maßnahmen. Ist das verstanden?«

»Zu Befehl, Herr Admiral!«

»Oder soll ich Ihnen lieber ein paar Zeilen mitgeben?«

»Zu Befehl, Herr Admiral! – – Nein!«

Es entstand eine Pause von fast einer Minute. Die Augen versteiften sich in die Augen. Bei Lembke blickten sie kalt und groß. Er zwinkerte nicht ein einziges Mal. Ohleps Augen standen regungslos zwischen verengten Lidern.

»Wollen Sie nicht einsteigen?« Die Stimme hatte etwas Gekniffenes.

»Zu Befehl, Herr Admiral! Nein!«

Ohleps Körper bog sich vor. Sein Gesicht war dunkelrot. »Der Grund?«

»Ich habe Befehl, den Herrn Admiral in die Schmiede zu bringen.«

Mich? – – – Bringen? – –?«

»Zu Befehl, Herr Admiral!«

Martha sah das Blut in Ohleps Augen. Sie wollte zuspringen, aber es war zu spät.

Mit einem blitzschnellen Satze war Ohlep vor Richard Lembke. Er holte aus und seine geballte Faust sauste mit aller Schwungkraft Lembke zwischen die Augen. – –

»Mich?? – – – Du – – Knecht?? – –«

Da war von Strahlen und Apparaten keine Rede. Die Faust mußte her. Auch Lembke machte nicht die geringste Bewegung in die Tasche zu greifen.

Der Faustschlag hatte ihn mit der schwersten Gewalt getroffen, und er war so blitzschnell niedergefahren, daß er ihm nicht hätte ausweichen können, selbst wenn er gewollt hätte. Aber er hatte gar nicht gewollt. Als er dieses funkelnde, stierhafte Gesicht vor sich gesehen hatte, erlebte er in dem Bruchteile einer Sekunde Bilder, die sein Leben umfaßten. Er sah seine Jugend, sah seine Studentenjahre. Er sah sein Weib, seinen Jungen. Er sah den Krieg. Er sah seinen Rainer, den letzten Anker in diesem Erdenleben. Er sah den Spion, den er um Rainers willen hatte verdampfen lasten, und er sah diesen Mann hier vor sich, der sich anschickte, den Schlußstrich unter eine ziemlich melancholische Rechnung zu setzen. – – – Jetzt kommt wohl so irgendeine Art Ausgleich. Der letzte Akt der Treue. »Rainer, du hast mich hierhergestellt. Jetzt geht's um deine Sache! Ich will's wohl aushalten.«

Er empfand den fürchterlichen Schlag. Es war kein Schmerz. Es war eine umfassende Dumpfheit, ein schweres Gewitterrollen. Er hörte auch das Knistern im Schädel, als wenn ihm die Stirnknochen zersplittert würden. Feurige Kreise drehten sich vor seinen Augen, und gleich darauf schwamm alles durcheinander. Das war nur für eines Augenblickes Dauer. Die Zähne konnte er nicht auseinander bekommen. Er schwankte ein wenig hin und her. Wie eine stämmige Säule, an deren Grunde die Erde zittert. Den einen Fuß quälte er, wie suchend, ein bißchen zur Seite und stellte ihn gleich darauf wieder an seine Stelle. Und dann stand er, wie er immer gestanden hatte.

Er mußte aber wohl meinen, er stände wieder vor Rainer Ringfeld. Denn es war ein ganz dumpfer Klang, mit dem sie ihn aus verkrampften Kinnladen heraus den fürchterlichen Faustschlag beantworten hörten: »Zu Befehl, Herr Major!«

Martha Berndsen hatte sich schon die Fäuste in die Augen gepreßt. Aber – – nun – – dieses: »Zu Befehl, Herr Major« – – in dieser Stunde! – – das konnte sie nicht aushalten. Es zerriß ihr das Herz. Sie schrie laut auf und stürzte auf Lembke zu. Sie warf ihm ihre beiden Arme um den Hals. Als sie sich an ihm festhielt, fühlte sie, wie die Säule wankte. Die Knie ließen unter ihm nach und er riß sie zu Boden. Sie lag über ihm und schluchzte: »Lembke – – lieber, lieber Lembke!«

Dieser Schlag und nach ihm dieses: »Zu Befehl!« – – nein, das war eine Welt, die sie nicht kannte. Aber sie kniete vor ihm in tränenschwerer Andacht. Richard Lembke war ihr mit einem Male ein ganz anderer. Der Mann, von dem sie sich immer abgewendet hatte, war ihr in seinem Zusammenbruch, in seiner unerschütterlichen demütigen Klarheit ein Bruder geworden.

Ohlep war aus seiner rasenden Wut zur Besinnung gekommen. Dieses: »Zu Befehl!« aus dem blutunterlaufenen Schädel und den halbverschwommenen Augen hatte ihn schlimmer getroffen, als es je irgendein Faustschlag hätte tun können. Er schauerte zusammen. Er stand unter dem fürchterlichen Eindruck, der arme Kerl hätte ihn selber ja gar nicht mehr gesehen. Unter dem Schlage mußte sich in ihm alles gedreht haben, so daß er wohl gemeint hatte, zu Hause zu sein.

Tränen, die er seit Jahren nicht mehr kannte, rannen ihm in den Bart. Er kniete bei den beiden nieder und bemühte sich, Martha von Lembke zu lösen. »Kind,« stöhnte er »wir müssen ihm helfen – – – –!«

— — — — — — — —

In ihrer Erregung überhörten sie ein nahes Sausen. Dann kam ein Knacken und Krachen. Sie blickten verstört hoch. Drei Flugzeuge fegten auf den Erdboden zu und eins reckte, kopfüber gestürzt, die Schwanzsteuer zum Himmel. Die Spitze war in das niedrige Knieholz gerammt.

Rainer Ringfeld hatte von oben den Faustschlag gesehen. Er hatte überlaut geschrien. Aber er war noch zu hoch gewesen. Mit dem steilsten Winkel, den er nehmen durfte, war er hinuntergeschossen. Aber er hatte sich beim Aufsetzen versehen. Er überschlug sich. Bei dem schweren Anprall flog er aus dem Flugzeug heraus.

Er hatte sich nichts getan. Er sprang wieder auf und eilte in großen Sätzen heran.

Die andern – – es waren Kastner, Rose und Rancke – – landeten kurz nach ihm und standen gleich darauf mit ihm neben dem am Boden Liegenden.

Ringfeld betastete Lembkes Gesicht und Kopf, er horchte ihm das Herz ab. Es gab ein stoßweises Fragen. Aber während Ohlep in seiner schmerzlichen Erschütterung und in seinem zornigen Jammer über sich selbst ratlose Griffe tat, während Martha, die den Verbandskasten herbeigeholt hatte, mit Hilfe von Rose die kleinen Flaschen und Gebinde mit zitternden Händen auskramte, blieb Rainer Ringfeld bei voller Besinnung. Er löste Lembke den Kragen, machte ihm die Brust frei und versuchte ihm die Zähne zu öffnen. Es gelang. Sie wollten Atembewegungen mit dem Bewußtlosen machen. Da richtete Lembke langsam seinen Oberkörper auf. Er schwankte mit den Schultern ein wenig hin und her. Die Augen öffneten sich. Sie sahen ins Weite.

Die Männer stützten ihn auf jede erdenkliche Weise. Ringfeld sprach ihm leise ins Ohr: »Richard – –!«

»Zu Befehl, Herr Major!« Es klang matt, wie aus weiter Ferne.

»Ich bin ja hier, Richard! – – Richard – – hörst du mich?«

»Zu Befehl, Herr Major! – – – Ich – – ich bitte um meine Entlassung – –.«

»Richard! – – Richard – – höre doch! – –«

»Zu – – – meinem – – Jungen.«

Er sank zurück.

Bald darauf drückte ihm Rainer Ringfeld die Augen zu. Sie betteten ihn auf die Zeltbahn und deckten ihn zu.

— — — — — — — —

Das All schien sich nicht darum zu kümmern, daß hier eine Tat geschehen war, die vielleicht eine Sühne sein mochte, vielleicht auch die Wurzeln zu einer tiefen Besinnung schlug. In beiden Fällen eine Erlösung. Der Himmel leuchtete im tiefsten Blau, das Meer glitzerte fröhlich herauf, unten im Tal und weiter hinab bis an die Gestade – – die vielen Dörfer und Städte, das war alles lauter Leben.

Da oben aber wurde lange Zeit kein Wort gesprochen. Ohlep ging hin zu dem Toten und legte sich, mit dem Gesicht nach unten, neben ihn. Er schloß die Augen und drückte sie auf seinen Arm. Den andern Arm schob er über die Zeltbahn, die Lembkes Leib verhüllte.

Als der Nachmittag kam, holte ihn Rainer Ringfeld zu sich und den andern. »Was wir hier sonst noch zu tun haben, gehört der Welt der Mechanik an.« Und dann erzählte er ihnen von dem Richard Lembke, den sie so oft gesehen hatten, ohne ihn zu kennen, und der von niemandem gekannt sein wollte. Jetzt war es ja gleich.

»Laßt uns nun das eine im Herzen tragen. Keiner kann hinter den Vorhang sehen, ehe er nicht hindurchschreiten durfte. Aber aus Tod muß überall Leben wachsen. – – Wir wissen ja nun von der Schmiede – der große Weg ist offen. Und Sie, Ohlep? Darf das hier nicht ein Schlußstein sein für alle Vergangenheit? – – Darf nun noch etwas in Ihnen leben, was Rache heißt? – – Versenken Sie das alles. Dann ist auch dieser hier für die Menschheit gestorben.«

— — — — — — — —

Nicht weit von Frau Klio, auf der zweituntersten Stufe einer Trittleiter, hockte ein kleiner Gnom. Er hatte ganz weiche, lautlose Filzschuhe an. Das war ein Gebot für alle im Schlosse Überall. Vom Hofmarschall bis zum letzten Küchenjungen. Denn Durchlaucht lauschte und horchte ja immer nach draußen. Nicht das geringste Geräusch durfte ihr entgehen.

Der kleine Gnom war Vorsteher der Gilde, die die Bücher zu karren hatte. Er sah hinüber nach der schreibenden Gebieterin. »Alle Wetter!« dachte er bei sich, »sie ist außer Rand und Band! Und das ganze Gesicht voll Sonne. Das kommt wohl noch von der Nacht, wo sie wieder mal tanzen ging.«

Sie winkte.

Er glitt mit den Filzschuhen über den Teppich.

»Durchlaucht?«

»Ein neues Buch!!«

Er lachte mit seinem wispernden Stimmchen. »Halten zu Gnaden, Durchlaucht, – – dieses Buch ist ja erst halb voll – –!«

Sie zog ihn bei den Ohren. »Hör zu, du kleiner Kerl – –: Ein neuer Gedanke, dazu gehört ein neuer Absatz. Ein neues Kapitel, dazu gehört eine neue Seite. – – – Aber eine neue Zeit? – – – Dazu gehört ein ganz neues Buch!« – – – – –

— — — — — — — —

Als das neue schöne Buch vor ihr lag, schrieb sie. Dieses Mal keine Randglossen, denn es stand noch nichts auf den schneeweißen Seiten. Aber sie schrieb eine Einleitung. Und die Feder flog nur so über das Papier.

»Also? – –? – – – Ich habe nicht umsonst getanzt! Hat einer schon mal einen Engländer so reden hören? – – Hat einer schon mal einen Italiener ihm so sekundieren hören? – –

Und wenn man es alles überblickt – – auch da draußen in Calabrien – – sie sind eigentlich alle miteinander, meine lieben Menschlein – – gar nicht böse. – Sie sind nur so herzlich ungeschickt. Sie könnten alles viel billiger haben.

Aber das ist es eben: Sie haben den großen Trieb und den kleinen Trieb. Und vertauschen das miteinander. Sie haben die große Liebe und die kleine Liebe. Aber weil die kleine Liebe sie zeitweilig ganz ausfüllt, halten sie sie für die große Liebe. Sie haben einen kleinen Schwur und einen großen Schwur. Und das vertauschen sie auch wieder miteinander. – – – Richard Lembke! – – Nun ist er tot. Ein totgeschlagener Mörder. Ich habe mir das gleich gedacht: Er wird schon einen anständigen Grund dafür finden, daß er den Spion hat verdampfen lassen. »Treue und Liebe« sagt er. Und hat nicht darüber nachgedacht, daß es die kleine Liebe und die kleine Treue war! – – Herr Ohlep? – – Der Mann mit dem eigensinnigen Gedächtnis? – – Was hat er gesagt? – – »Liebe und Treue«? Und hat nicht geahnt, daß es die Liebe war, die sich zum Haß auswächst, und jene Treue, die – – – ein schmerzhaftes Zwitterding – – – das Kind von Liebe und Haß ist. – – Und nun gar Herr Kurt Stein! Bewahr mich einer! – – Der bricht in Verzweiflung über zerbrochene Kleine Liebe der Großen Liebe seinen Schwur und wird fahnenflüchtig. – – – Und der Herr Kommerzienrat, der Herr Wahnheim? – – Der Wohltäter großen Stils? – – Der hetzt doch den trostlosen kaltherzigen Knecht – – für so etwas hält er doch den Lembke – – als Henker auf den Ohlep!

Muß menschliches Werk, auch das beste, immer so viele. Schlacken haben? – – – – – –

Und haben sie es sich nicht unnötig schwer gemacht?

— — — — — — — —

Aber jetzt wird es Licht! Die neue Zeit kommt wirklich. – – Ich sehe, daß die Völker großäugig und in herzhafter Erwartung vor einer Zukunft stehen, in der die »Große Liebe« endlich zu ihrem Rechte kommen kann. Da mochten sie bisher Geist und Verstand noch so sehr ins Schwingen bringen, es gelang ihnen nichts, weil Herz und Seele »Privatangelegenheiten« waren. Jetzt aber haben sie Herzwunden erlitten, und die Seelen sind ihnen geschliffen worden. Jetzt wissen sie, daß der Friede des einzelnen nur im Frieden aller wohnen kann, und daß der Kleine Friede nicht dauerhaft ist und nichts wert ist gegen den Großen Frieden, daß die Kleine Liebe ihre Rechte hat, daß sie aber verblaßt gegen die Große Liebe, daß der Kleine Schwur sehr, sehr oft nichts ist als ein Treubruch gegen den Großen Schwur.

Aber diese Erfinder! Diese lieben Menschlein! Sie sprachen immer erhabene und auch umfangreiche Worte. Politik, Religion, Wirtschaftlichkeit, Kunst, Ethik – – und dann erfanden sie ein ganz fauliges Wort für die Freundlichkeit und Halbheit und nannten es »Kompromiß«. Und fanden es herrlich, weil es überallhin paßte und jeden Bruch entschuldigte.

Endlich aber sind sie auf dem Wege zu dem Allumfassenden, Einen, wo man keinen Kompromiß braucht: zu der Großen Liebe! Laß sie es auch in schöner Vorsicht und noch schönerer Schamhaftigkeit »Großes Spiel« nennen!

Nicht nur der Mensch hat ein Gewissen. Es gibt auch ein Weltgewissen, dem das Kleine Gewissen Rede stehen muß. Nicht nur der Mensch weiß von einem »Sinn«, es gibt auch einen Weltsinn!

Endlich sehen meine lieben Menschlein, meine Sorgenkinder ein, daß das Weltgewissen und der Weltsinn nichts anderes sind, als die große Menschheitsliebe. Von Bruder zu Bruder, von Volk zu Volk, rund um den ganzen Erdball!

— — — — — — — —

Ich habe es vor Urzeiten schon einmal schreiben müssen: »Und die Augen wurden ihnen aufgetan – –.« Das ist unter die Sagen und Märchen gewandert.

— — — — — — — —

Jetzt schreibe ich es wieder. Und im Hauptbuch. Und dort soll es stehenbleiben:

»Und die Augen wurden ihnen aufgetan, weil ihre Herzen geblutet und ihre Seelen gefroren haben.«

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Buchdruckerei Gutenberg
Albert Paul
Leipzig

 


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