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Ehe Martin zu seinem Vater ging, erteilte er im Vorsaal dem Diener Aufträge. »Sagen Sie in der Garage, mein Wagen soll in zwanzig Minuten an der Wohntreppe warten.« Er blieb nochmals stehen: »Richtig, und sagen Sie im Stall, man soll die Pallas absatteln, ich reite nicht.« Der Diener verneigte sich, Martin hielt ihn auf. »Warten Sie, telephonieren Sie auch ins Gärtnerhaus . . . man soll mir einen Strauß roter Rosen ins Auto legen, so etwa dreißig, 39 vierzig Stück, wenn so viele da sind . . . lose gebunden . . . warten Sie doch . . . und in die Wohnung telephonieren Sie hinüber, ich komme, mich umkleiden.«
Er pfiff vergnügt vor sich hin, machte kehrt, durchschritt, leise pfeifend, fröhlich das Zimmer der Schreiber und trat bei seinem Vater ein.
»Da bin ich,« sagte er, »was steht zu Diensten?« Sein Gesicht war nun ernst, doch seine Augen lachten.
»Nimm Platz.« Overbeck sprach leise und sah nicht auf. Er las einen Kurszettel.
»Danke.« Martin saß.
Overbeck tat, als studiere er den Kurszettel zu Ende. Aber er mußte erst seine Befangenheit meistern, die ihn wie immer vor jedem Energieaufwand, besonders seinem Sohn gegenüber, befiel.
»Eine Sekunde noch«, murmelte er.
»Bitte!« Das klang herausfordernd lustig. Overbeck zuckte von der Seite her einen raschen Blick nach Martin. Glänzend bei Laune, dachte er, und dachte noch weiter. Ein bildhübscher Junge. Behagen und Glücksgefühl breiteten sich in ihm aus. Er ließ das dünne Papier sinken, lehnte sich zurück und schaute Martin voll ins Gesicht. Jetzt war Overbeck in der richtigen Stimmung.
»Du mußt heiraten,« begann er unvermittelt.
Martin schwieg.
»Nun?« fragte Overbeck nach kurzer Weile. Er hatte mild sein wollen, doch es klang stahlhart.
40 Martin zögerte. »Wieso . . . nun?«
»Hast du nichts darauf zu sagen . . .?«
»Wenn ich muß . . . dann hab' ich natürlich nichts zu sagen«, erklärte Martin.
Sie sahen sich in die Augen, die einander so sehr glichen.
»Dein Müßiggang muß ein Ende nehmen«, fuhr Overbeck fort.
Martin warf rasch dazwischen: »Die Ehe als Arbeit.«
Allein Overbeck redete drüber weg. »Das geht nicht, dieses Leben ohne Beschäftigung, ohne ernste Interessen, bloß Reiten, Autofahren, Tennisspielen. Abends mit irgend einem Frauenzimmer. Das Geld vergeuden, in den Tag hineinschlafen.« Er schwieg, so viel hatte er lange nicht gesprochen.
Martin lächelte: »Ich ruiniere also die Firma Overbeck . . .?«
Overbeck machte eine schnelle Handbewegung, als scheuche er eine Fliege. »Unsinn. So was sagt man nicht! Du kannst die Firma nicht ruinieren.«
»Gar nicht meine Absicht«, lachte Martin. »Ich verbrauche niemals mehr, als du mir gibst.«
Overbeck schlug nochmals mit der Hand durch die Luft. »Unsinn. Gehört alles nicht zum Thema. Dich ruinierst du!«
Martin lachte wieder: »Ich hab' mich noch nie so wohl gefühlt.«
Das Antlitz Overbecks verhängte sich. »Genug!« 41 rief er scharf; dann wieder leise, aber bestimmt: »Der Mensch muß arbeiten, auch wenn er reich ist.«
»Damit er noch reicher wird?«
»Nein, damit er den Sinn des Lebens erfüllt.«
»Ansichtssache.«
Overbeck ließ das unbeantwortet. »Du wirst also heiraten.«
»Damit ich den Sinn des Lebens erfülle?« fragte Martin scherzend.
»Ja!« Das kam prompt, das sauste beinahe wie eine Degenklinge, die mit kräftigem Hieb geführt wird. Der Vater hatte sich zurückgelehnt und schaute zur Decke hinauf, als sei er der Kindereien satt.
Ein Hauch von Schüchternheit wehte Martin an, das lautlose Vorgefühl von Angst regte sich in ihm. Er suchte diese Empfindungen los zu werden, indessen er sich erkundigte: »Darf ich vielleicht wissen, wen . . . du mir als Frau verordnest . . .?«
»Du kannst es nicht erraten . . .?« inquirierte Overbeck.
Marta Pollheim! Der Name, der schon die ganze Zeit in der Luft schwebte, durchzuckte Martin. Er senkte den Blick, um sich nicht zu verraten. »Keine Ahnung«, flüsterte er.
Nun sprach Overbeck es aus: »Marta Pollheim . . .« wartete und setzte dann fort: »Was sagst du?«
Martin verharrte, die Augen am Boden: »Es hätte schlimmer kommen können . . .«
42 »Es gibt keine Bessere!« korrigierte der Vater.
Martin zuckte die Achsel. »Bitte . . .«
»Ein schönes Mädel«, stellte Overbeck fest.
»Geschmackssache«, warf Martin dazwischen.
Doch Overbeck sprach weiter: »Sanft anschmiegsam, wie es scheint. Gesund wie ein Pferd. Einzige Tochter – wie du einziger Sohn. Neben uns die erste Firma im Land.« Und nach einer Pause: »Was willst du noch mehr?«
Martin schwieg.
»Liebe?« rief Overbeck in seiner stillen, bestimmten Art: »Du wirst sie lieben!«
»Auf Befehl?« fragte Martin, die Augen immer am Boden.
»Wer spricht von Befehl?« entgegnete Overbeck harmlos. »So etwas kommt von . . .«
Martin stand rasch auf: »Wie soll die Sache vor sich gehen?« forschte er sachlich, und als sein Vater ihn ansah, sagte er zur Erläuterung: »Ich denke, du hast doch schon alles abgemacht . . .« Er ließ dem Vater Raum.
Overbeck nickte: »Der alte Pollheim und ich sind einig.«
Auch Martin nickte ein ungesprochenes »konnte mir's denken«, murmelte »na eben« und blickte zum Fenster: »Was soll ich . . .?«
Overbeck teilte mit: »Wir sind morgen abend bei Pollheims, engster Kreis. Da hast du Gelegenheit . . .« 43 Er reichte ihm die Fingerspitzen: »Nachher reden wir weiter.«
Martin griff darnach, verbeugte sich: »Wiedersehen.« Und ging.
Overbeck erhob sich, trat an den Tisch vor dem Kamin und ergriff das Milchglas.
Es war leer.
Er setzte es enttäuscht wieder hin.
»Wann habe ich denn das getrunken?« grübelte er.
Martin lief in seine Zimmer hinauf. »Heiraten!« dachte er. »Was der Vater sich ausdenkt!« Und er lächelte vor sich hin. »Ist das Auto unten?« fragte er den alten Christoph. Der gab ruhig Bescheid: »Alles in Ordnung.«
Martin ließ sich umkleiden. »Sieh mal,« überlegte er, während die Diener an ihm hantierten, »sieh mal, die Marta«, und es fiel ihm ein, wie ihn Marta Pollheim früher einmal, in der Kinderzeit, mit der Kutschierpeitsche hatte schlagen wollen. Das war draußen im Schloß Rossenhofen geschehen. Die Mutter war noch am Leben und Pollheims hatten die Overbecks besucht. Marta wollte durchaus den Ponywagen kutschieren. Aber Martin ließ das nicht zu. Das Gespann gehörte ihm, die Ponies waren zu feurig für eine kleine Mädchenhand und Marta war sein Gast. So hatte sich's Martin zurechtgelegt. Aber Marta machte der Diskussion ein Ende, indem sie zur Peitsche griff. Merkwürdig, daß ich gerade jetzt daran denke, fuhr 44 es Martin durch den Sinn. Herrgott, war er damals in Zorn geraten. Er hatte es niemals, schon als kleiner Junge nicht geduldet, daß ein Mensch die Hand gegen ihn aufhob. Da faßte ihn sinnlose Wut und er geriet außer sich. Es wurde denn auch nicht mehr an ihm versucht. Selbst der Vater, na, es hatte ein paarmal ganz nette Auftritte gegeben, vor vielen Jahren. Dann hatte der alte Overbeck diese Erziehungsmethode eingestellt. Martin wurde einen Moment ernst und errötete. Gleich nachher schmunzelte er wieder. Die Peitsche war damals unter seinen tobenden Händen in viele kleine Stücke zerbrochen. Die schöne Peitsche. Und Marta hatte, furchtbar erschrocken, zu heulen angefangen. Er stand vor dem hohen Spiegel. Ein ganz nettes Mädel, Marta Pollheim, ganz niedlich. Sehr viel Sport und die rechte Schneid dazu . . . Aber seine Frau . . .? Er konnte sich das Verheiratetsein nicht vorstellen. »Ach was!« schnippte er, »das hat noch Zeit.«
»Addio«, rief er dem alten Christoph munter zu und sprang die Treppe hinab. Ungeduld trieb ihn, Fröhlichkeit schwang in seinem Gemüt bei dem Gedanken an Tine Schaffner, bei der Vorstellung, dieses wunderschöne Antlitz wiederzusehen, diese milde, sangliche Stimme wieder zu hören.
Er gab dem Chauffeur die Adreßkarte von Tine Schaffner: »Dorthin! Schnell!« befahl er. Dann stieg er ein und fand neben seinem Sitz den großen Strauß Rosen, behutsam in Seidenpapier gehüllt. 45
O Gott, o Gott . . . der Mann, der Mann . . . is er schon wieder da?« Marie wandte sich gleich bei ihrem Eintreten in die Rettungsstation mit diesen schluchzend gestotterten Worten an alle Anwesenden. Sie wandte sich immer an alle und ihre Fassungslosigkeit kannte keine Zurückhaltung, sie schenkte jedermann Vertrauen. Da stand sie nun, in dem hellen, weißgetünchten Raum, vor der Barriere, die ihn teilte. Alle sahen zu Mariens mächtiger Erscheinung auf, die Leute, die auf ihrer Seite, außerhalb der Barriere sich befanden, ebenso wie Tine Schaffner, die Hilfsschwestern und Dr. Brunner jenseits der Barriere. Hinter dem Verschlag kam das runzelige, zerknitterte Gesicht Mausbergers zum Vorschein.
Die kleine Adeli hielt sich neben Marie und sah neben der Gewaltigen noch winziger aus. »Gib' doch Ruh'!« schrillte sie zu ihr hinauf, »das Malheur is ja nicht so schrecklich!«
Aber das war vergeblich. Der Tränenstrom, der Marie entrollte, floß rauschend weiter. Dieses überlebensgroße Weib schluchzte aus ganzem Herzen. Ihre lichtblauen Augen tropften, ihre Wangen weinten, ihre kleine kecke Stumpfnase, ihr frischer gesunder Mund, es war ein einziges, unstillbares Weinen. Ja, der ungeheure Körper der Marie drohte sich aufzulösen. Ihr blaues, von zahlreichen weißen Tupfen besätes Waschkleid hing traurig an ihr nieder. Darunter bebte die riesenhafte Brust, zitterten die großen, weichen 46 Kissen ihrer Hüften und selbst die schöne Krone ihres reichen blonden Haares schien nur noch ein Trauerschmuck.
»Wie soll ich denn ruhig sein?« fragte Marie unter Schluchzen. Sie sprach ohne andere Betonung als die vom Weinen hervorgerufene, gleich einem schluchzenden Kind. Die Worte schwammen ihr von den Lippen, dicht aneinander gedrängt, ineinander geklebt, liefen aus ihr heraus, wie gelöst und haltlos geworden. »Ruhig sein . . .« fuhr sie fort, »wenn der Mann . . . und er hat's doch versprochen . . . Jetzt liegt er wieder da . . . es is nicht die Schand – o nein . . . aber er wird krank werden . . . o ja, wo er doch so zart ist . . . und das letztemal hat er's so fest versprochen . . . aber er tut's nicht aus Schlechtigkeit . . . o nein . . . er ist so gut und so brav is er. Aber jetzt liegt er doch wieder da . . . o Gott, ich schäme mich . . . er tut's nur, weil er gern ein bissel lustig is. Das darf doch jeder Mensch . . . und jetzt is er wieder da . . .«
Die Frauen, die herum saßen, die paar Mädchen, die Männer, die alt oder krank auf den Bänken lehnten, hörten ruhig zu. Sie kannten alle das Unglück der Betrunkenheit, sie hatten es alle mitangesehen oder selber erlebt, und sie blickten ernst zu Marie hin, die dastand wie ein lebendiges Monument der Leiden, die das Volk sich selber zufügt.
»Sei doch froh, daß er da is –!« unterbrach Adeli die Schwägerin. »Da is er ja gut aufgehoben!« fuhr sie dazwischen. Und alle nickten dazu.
47 »Aber er hat doch versprochen . . .« Marie wollte, wie immer in solchen Fällen, wieder von neuem beginnen.
»Versprochen!« fiel ihr Adeli ins Wort. »Versprochen!« Sie lachte fröhlich. »Das gilt nicht und das hält nicht und daran glaubt man nicht!« Sie schaute sich um. Alle stimmten ihr bei. »Ach was,« rief sie munter, »der einzige, der dran glaubt, is der Peter . . . sei still endlich!« drang sie in Marie. »Bedank' dich lieber beim Fräulein Schaffner, das ist gescheiter, als so zu plärren . . . wissen Sie, Fräulein,« Adeli trat an die Barriere, »wissen Sie, die Marie meint's gar nicht so . . . sie is eine gute Frau, die Marie, aber sie hat eben die feuchte Güte, und der einzige, der sie trocknen kann, is der Peter.« Sie lachte wieder. Und alle Leute lächelten, waren getröstet und der kleinen Buckligen dankbar.
In diesem Augenblick trat Martin Overbeck ein. Verwirrt blieb er eine Sekunde an der Türe stehen. Er war der Welt hier fremd und verbreitete Fremdheit.
Als er Tine Schaffner sah, wurde der ernste, verbissen hochmütige Ausdruck seiner Züge sogleich in freundliche Helle gemildert. Er ging rasch an die Barriere und streckte die Hand aus: »Guten Tag . . . ich halte mein Wort.« Er sah niemanden. Diese häßlichen Menschen da verschwanden für ihn. Der schlechte Geruch nach armen Leuten, den er zum erstenmal atmete, schnürte ihm nicht mehr die Kehle. Er hatte 48 wieder das stürmisch verlangende Glücksgefühl, das Tine Schaffner in ihm erweckte. »Ich . . . ich halte mein Wort . . .« wiederholte er.
»Zum Staunen schnell!« erwiderte Tine, ein ganz klein wenig zögernd. »Aber es ist nett«, setzte sie rasch hinzu.
Martin hielt ihre Hand fest, Tine entzog sie ihm.
»Ich muß Sie sprechen!« flüsterte Martin dringend.
»Bitte,« sagte Tine laut, »ich stehe zur Verfügung.«
»Allein sprechen.« Martin flüsterte noch leiser.
Tine blickte ihm mit offener Verwunderung voll ins Antlitz. »Warum denn? Unsere Angelegenheit kann doch jeder hören.«
»Nein!« widersprach ihr Martin mit einem energischen Ruck. Er wurde nun ungeduldig. Das große Rosenbukett, das er in der Hand hielt, behinderte ihn. Er konnte den Hut nicht abnehmen, sonst hatte er überhaupt keine Hand frei. Die ganze Situation, hier inmitten der Leute, die ihm entsetzlich waren, die er nicht sehen wollte und nicht sah, diese Situation bedrückte ihn. Er fühlte, wie ihn alle neugierig beobachteten, und das erregte seinen Zorn. »Nein«, rief er flüsternd. »Hier kann ich nicht . . .« Er hielt inne und sagte dann ganz leise und als sei er ihrer Zustimmung gewiß: »Sie verlangen doch nicht, daß ich vor dem Gesindel da . . .«
In Tine Schaffners Augen blitzte es auf. »Das ist kein Gesindel!« rief sie leise, aber mit Schärfe.
49 »Meinetwegen,« gab Martin nach, »wie Sie wünschen, das ist mir doch gleichgültig!«
Scharf klappte Tine drauf: »Mir ist das gar nicht gleichgültig.«
Martin sah sie an. Tine war rot geworden und ihre Mienen hatten sich ganz zugeschlossen. Sie war noch schöner als zuvor. Dieser Ausdruck strenger Entschlossenheit gab ihrem Antlitz einen neuen, unerhörten Reiz. »Entschuldigen Sie,« murmelte er, und ganz zaghaft geworden, bat er, »seien Sie doch nicht böse, ich bitte Sie, es lag mir ganz ferne, jemanden zu verletzen – ich habe das nur so hingesagt, gedankenlos –.«
»Allerdings, gedankenlos«, bekräftigte Tine.
»Aber ich bitte ja um Verzeihung,« wisperte Martin, »also verzeihen Sie mir, ja?« Und als er sah, daß Tine milder blickte: »Ich flehe Sie an . . . vor den Leuten da könnte ich kein Wort herausbringen . . . ich flehe Sie an . . .«
Tine zauderte noch. Sie war nun erst mißtrauisch geworden. Der heiße Ton in Martins Stimme, seine Erregtheit gefielen ihr nicht. »Sie wollten mir eine besondere Spende bringen,« sagte sie kühl, »das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich weiß nicht, wozu wir deshalb allein . . .«
Martin drängte: »Ach, das Geld . . . das . . . das ist's nicht . . . ich habe . . . das heißt . . . es ist auch das Geld . . . doch ich muß Ihnen noch etwas sagen . . . 50 verstehen Sie? . . . etwas Wichtiges . . . seien Sie gut . . . ich bitte Sie . . .«
Tine überlegte schnell. Das Geld stand auf dem Spiel, das ihre Armen so sehr brauchten. Gewiß eine größere Summe. Und was ihr der junge Mann zu sagen hatte, sollte ja damit Zusammenhang haben. Er behauptete es wenigstens. Wer konnte wissen, was für Aussichten sich ihrer Rettungsstation öffneten, sie wagte nicht viel.
»Tja,« meinte sie, indem sie das kleine Gitter aufschloß, »einen Salon haben wir freilich nicht, aber kommen Sie hier herein . . .«
»Danke tausendmal.« Martin schlüpfte befangen und eilig zu ihr.
Sie schritt ihm voran durch die niedrige Tür in das enge Gemach, in das sie früher den betrunkenen Maurer gebracht hatten. Martin sah zuerst nur den zahnärztlichen Fauteuil. Das Unbehagen, das die ganze Umgebung hier ihm erregt hatte, zog wieder als ein Nebel über sein Gemüt. Sie muß heraus von da – ich muß sie in eine schöne Wohnung bringen, dachte er und hielt Tine den Rosenstrauß hin.
»Bitte, neh . . . nehmen Sie«, stotterte er.
Tine sah ihn spöttisch an: »Was soll mir der Buschen?«
Er wurde wieder zornig. Seine Ungeduld, dieses schöne Mädchen an sich zu reißen, stieg. Er war so ahnungslos sicher: hielt er sie erst nur im Arm, dann 51 kam alles von selbst. »Nehmen Sie doch!« Er stotterte nicht mehr. »Die Blumen sind für Sie!« Und da sie sich nicht regte, ihn nur immerzu mit ironischem Staunen ansah, wechselte er den Ton, der jetzt herrisch gewesen war, und scherzte: »Ich kann mich ja nicht bewegen.«
Sie nahm ihm den Strauß ab und fragte gelassen: »Nun . . .?«
Martin fuhr in die Tasche, zog sein Portefeuille heraus und gab ihr alles Geld, das darin war. »So . . . erst einmal das!« sagte er fast unhörbar.
»Oh!« rief Tine erfreut, denn es war eine überraschend große Summe. »Oh! Das ist gut von Ihnen. Ich danke wirklich . . . ich danke vielmals!« Sie streckte ihm die Hand entgegen. Glückselig griff Martin danach.
»Ch . . . ch . . . ch . . .!« schnarchte in diesem Moment der Maurer.
Erschrocken fuhr Martin herum und gewahrte jetzt den Schlafenden. Er war ganz entsetzt. »Um Gottes willen,« stammelte er, »was ist das für ein besoffenes Vieh?«
»Ach nein,« entgegnete Tine sanft, begütigend, »ach nein, so dürfen Sie nicht sprechen. Das ist ein armer Unglücklicher, sonst ein braver Kerl. Sehen Sie ihn doch nur an . . .«
Martin blinzelte hinüber, der Ekel packte ihn. »Furchtbar . . .« preßte er durch die geschlossenen Zähne hervor, »furchtbar . . .«
52 »Sehen Sie ihn nur an,« forderte Tine harmlos, »hat er nicht ein Klein-Jungen-Gesicht?«
Sie blickte zu den bleichen, spitzen Zügen des Maurers nieder, um dessen festgeschlossene dünne Lippen und um dessen geschlossene Augen jetzt wirklich ein Ausdruck von Unschuld lag.
»Und . . . und . . .« Martin vollendete einen entrüsteten Gedanken, ». . . und . . . zu . . . zu dem da führen Sie mich herein? Mich?«
Tine lachte kurz auf: »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß kein anderes Zimmer da ist . . . ach Herrjeh!« rief sie, »er wacht auf!« Sie wandte sich zu Martin. »Nun müssen Sie fort. Ich danke nochmals – auf Wiedersehen!«
Martin blieb stehen und zog eine Miene, als sei ihm himmelschreiendes Unrecht geschehen. »Wegen dem . . . Burschen da . . . soll ich fort . . .?«
»Ooh – aah – uuh!« gähnte der Maurer und streckte sich.
»Ich hab' jetzt keine Zeit«, entschuldigte sich Tine und strebte zur Türe.
»Einen Moment . . .« rief Martin voll Angst, »ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich Sie sprechen muß. Sie scheinen das vergessen zu haben!«
»Hopla!« sprach der Maurer und schlug die Augen auf.
»Dann warten Sie meinetwegen«, warf Tine rasch hin, öffnete die Türe und rief hinaus: »Frau Spieß, kommen Sie, Ihr Mann ist wach!«
53 »Ich warte!« knurrte Martin. Er war nun vollständig verwirrt, aber nicht entmutigt. Seine Zähigkeit hielt ihn fest und der Anblick Tines. Er stellte sich vor das breite Fenster, durch das die Sonne schien. Sein Gesicht blieb so im Dämmer. Niemand beachtete ihn.
Marie und Adeli traten ein. Marie, tief bekümmert, langsam, das große, hübsche Gesicht zum Weinen verzogen. Adeli war lustig und rief munter: »Na! Wünsch' guten Morgen!«
»Hallo! Adeli!« krähte Peter mit belegter Stimme, schleuderte die Decke von sich, gab seinen Beinen Schwung und saß aufrecht. »Marie . . . auch da?« meinte er lachend. »Dann kann's ja losgehen!«
Es ging richtig los. »Aber Peter . . . Peter,« floß Marie über, »wo du mir doch versprochen hast . . . und ich schäm' mich so . . . und ich hab' mich die ganze Nacht so geängstigt . . . und du hast doch versprochen . . .«
Derweil hatte Peter wie suchend umhergeblickt. Jetzt fuhr er Marie heftig an: »Still! Zum Teufel! Still!«
Marie verstummte gehorsam.
Adeli fragte: »Was suchst du denn? Kleider? Deine Kleider? Die sind futsch!«
»Ja, mein Lieber,« bestätigte Tine sanft, »das bißchen, das Sie anhaben, ist alles. So sind Sie gekommen. Wieder einmal!«
Peter schlug die Hände zusammen: »Da sehen Sie, 54 Fräulein, was es für schlechte Menschen gibt. Da sehen Sie!«
Marie weinte: »Du weißt doch, Peter, du sollst dich nicht . . . es geht dir immer so . . . und ich habe immer Angst . . . und du hast versprochen . . .«
Peter machte eine übertrieben drohende Gebärde, als wolle er sich auf Marie stürzen. Alle sahen, daß es Scherz war. Nur Marie erschrak und schwieg sofort. Dieses gewaltige Weib hatte Furcht vor ihrem kleinen, schwachen Mann.
Peter lachte auf: »Sehen Sie, Fräulein, sehen Sie doch, die Marie, die kann mich doch zerquetschen wie eine Mücke. Aber sie hat Respekt vor mir, was?« Er lachte harmlos, wie ein Junge.
Adeli streichelte Marie an der Hüfte. »Sei trocken, Mariele«, sprach sie, als rede sie zu einem Baby. »Schneuz' deine Nase, wisch' dir die Augen und sei glücklich. Du hast ihn ja wieder. Alles ist gut.«
Peter starrte Marie dabei mit verstellter, grimmiger Miene an und Marie tat, wie ihr geheißen. Sie schneuzte sich, sie wischte sich die Augen. Sie lächelte sogar, und sie war sehr hübsch.
»Komm her, du Gebirge«, winkte Peter, und als sich Marie zu ihm niederbeugte, klopfte er ihr leise die Schulter: »Na, Mutter, na, na.«
Eine Gehilfin kam ins Zimmer. Tine nahm ihr die dampfende Schale ab und reichte sie dem Maurer. »Da, trinken Sie zunächst einmal was Warmes.«
55 »Glänzender Einfall!« sagte Peter anerkennend, indem er mit beiden Händen danach langte. Nach den ersten, gierigen Schlucken krähte er: »Weißer Kaffee! Wunderbar!«
»Sie sollten nie was andres trinken,« mahnte Tine.
»Ah, wenn ich mal was andres trinke,« gab Peter ernsthaft zurück, »geschieht's nur aus Irrtum. Glauben Sie mir!«
»Und irren ist menschlich!« lachte Adeli. »Gelt?«
Peter setzte die leere Schale neben sich auf das Bett. »Jetzt wollen wir aber nicht länger stören«, sagte er, während er sich erhob.
Marie fing wieder zu weinen an: »So kannst du doch unmöglich . . . in dem Anzug . . . und ich schäme mich doch . . . das geht doch nicht . . .«
Peter stand da, spindeldürr, bleich und hilflos. »Da ziehen einem diese Gauner die Kleider aus, während man schläft!« Er war ehrlich empört. »So eine Gemeinheit!«
Adeli wandte sich an Tine: »Seine Frühjahrsgarderobe ist noch nicht geliefert,« deklamierte sie, »und zu Hause haben wir nichts als seinen Zobelpelz.«
»Ich werde gleich nachsehen lassen, was da ist«, beruhigte Tine, ging zur Türe und erteilte Auftrag.
»Wasch' dich derweil«, rief Adeli und fuhr Marie, die immerfort leise geweint und gesprochen hatte, gutmütig an: »Hör' doch endlich auf und hilf dem 56 Peterlein. Is gescheiter! Heda!« Sie stach den Bruder mit ausgestrecktem Finger in die Rippen und scheuchte ihn so aus seinem verbitterten Grübeln. Er fuhr jählings zusammen. »Heda!« lachte Adeli. »Steck' deinen ruppigen Kopf unters Wasser! Vorwärts!«
Peter ging zum Waschtisch. Marie folgte. Und nun entstand dort ein wortloser Tumult zwischen den beiden, nur unterbrochen vom Rauschen, Klatschen und Plätschern und von dem kurzen, fröhlichen Aufkreischen, womit Adeli das Reinigungswerk begleitete, das Marie energisch und geschickt an ihrem Mann vollzog. Peter hatte fruchtloses Sträuben eingestellt und sich ergeben. Jetzt rieb ihm Marie mit einem groben Handtuch Gesicht und Hals trocken.
»So! Das tut gut«, sagte sie mütterlich. »Das gehört sich! Das ist gut!« Ihre Stimme war jetzt fest, sanft und klangvoll. Marie wurde nur zum Kind, wenn sie weinte. Und sie weinte leicht. »Fertig!« vollendete sie und entließ Peter.
Adeli jubelte: »Weg ist der Dreck.«
Peter schüttelte sich und rief: »Weg ist der Kater!«
»Die dicke Miezekatze hat ihn fortgejagt«, stimmte Adeli bei und puffte Marie.
Peter lachte laut: »Du bist ja närrisch, Adeli!«
Alle drei waren fröhlicher Laune.
Inzwischen hatte man verschiedene Paar Schuhe, Hemden und Kleider gebracht und mit Tines Hilfe auf das Bett gebreitet.
57 Peter machte sich daran, ein Paar Schuhe zu probieren. Die Frauen sahen zu, ernst geworden und interessiert.
»Wie angemessen!« konstatierte Peter. Er ging hin und her. »Ganz, wie für mich gemacht.« Er schlüpfte in die Beinkleider. »Fein!« rief er aus und blickte an sich hinunter.
Tine reichte ihm ein Hemd. »Versuchen Sie das hier,« schlug sie vor, »das ist Flanell und hält warm.«
»Einen Moment,« sagte Peter und zog ohne weiteres das seinige ab. Eine schmale, eingesunkene Brust kam zum Vorschein. Dann huschte er in den blauen Flanell, den ihm Tine dienstfertig hinhielt.
Zuletzt stand er da in einer Knabenjoppe. Eine andere hatte nicht für ihn gepaßt.
Marie faltete andächtig die Hände: »Schön . . .«
Adeli sagte mit einem leicht ironischen Unterton: »Er muß doch belohnt werden, der Peter, er hat doch wieder was geleistet.«
Peter warf ihr einen Blick zu, raffte sich zusammen und rückte vor Tine. Er war ganz verwandelt. Hatte er vorher einem Vagabunden geglichen, so sah er jetzt ehrbar, gesetzt und reputierlich aus, wenn er auch bloß ein kleines, schwaches Männchen war. »Ich bedanke mich schön . . .« stammelte er, dann setzte er entschlossen dazu: »Ich verdien's nicht. Ich weiß das selbst!!«
Tine schnippte mit der Hand. »Sie sollten das Trinken wirklich lassen,« redete sie ihm freundschaftlich zu. »Macht es Ihnen denn so viel Vergnügen?«
58 Peter zuckte die Achsel. Doch Adeli flüsterte eifrig: »Keine Spur! Vergnügen! Schau'n Sie ihn doch an, Fräulein, er trinkt ja gar nicht! Er kann nur nichts vertragen, zwei, drei Gläser Bier schmeißen ihn um! Ist's nicht wahr?« drängte sie den Bruder.
»Weshalb also?« Tine wartete eine Erklärung ab. Und Adeli gab sie. »Ach wissen Sie . . . er möcht' gern ein Vergnügen haben . . . das sind so Einbildungen, was sich die Männer selbst einbilden . . .«
Tine Schaffner fiel ihr ins Wort. »Herr Spieß, sehen Sie, es geht nicht. Sie müssen das lassen. Sie müssen! Ich rede gar nicht davon, daß ich Sie seit kaum zwei Jahren heute schon zum drittenmal ankleide . . . so was kann ich auch nicht immer tun. Aber davon spreche ich jetzt gar nicht. Ich rede von Ihnen, Herrgott, Sie sind doch kein Riese . . . und selbst ein Riese kann einen Knax bekommen, wenn er die Nacht lang halb nackt auf der bloßen, feuchten Erde liegt – denken Sie doch, lieber Freund, Sie werden sich einmal eine böse Krankheit holen.« Sie hatte herzlich gesprochen, dennoch war etwas zwingend Befehlendes in ihrem schönen Antlitz und in ihrer sanglichen Stimme hin und wieder zum Durchbruch gelangt.
Peter hielt den Kopf gesenkt. Er war wie begossen. Dann drückte er ein bißchen herum: »Ich . . . ich . . .« und platzte schließlich los: »Ich werd's nicht mehr tun! Nie mehr!«
59 Tine streckte die Hand aus: »Sie versprechen es mir?«
Er schlug ein: »Abgemacht! Nie mehr!«
Marie ebenso wie Adeli, alle beide waren von dem männlichen Gelöbnis ergriffen.
»Aber eine Bitte hätt' ich noch«, fing Peter schmeichelnd an, indem er Tines Hand festhielt. »Haben Sie keine Mütze für mich oder einen alten Hut? Sehen Sie . . . so bloßkopfig über die Straße laufen . . . bring ich nicht fertig . . . da käm' ich mir vor . . . wie . . . wie ein Wandervogel . . .«
Eine Mütze wurde gebracht. Peter stülpte sie schwungvoll auf seine Haare, sagte undeutlich etwas Lobendes und die drei empfahlen sich.
»War das nicht nett?« wandte sich Tine an Martin, der immer noch regungslos am Fenster stand.
»Nett?« brach er mit unterdrückter Erregung aus. »Nett?« Er stürmte an Tine vorbei zur Türe, die er zuklappte. Dann pflanzte er sich davor auf. »Hören Sie«, rief er außer sich. »Hören Sie . . . ich bin entsetzt . . . das hab' ich mir nicht gedacht! Das nicht! Das hätte ich nie für möglich gehalten! Nie!«
Tine blickte erstaunt. »Was haben Sie denn für möglich gehalten, Herr Overbeck?«
»Daß Sie für die Leute Geld sammeln!« schnaubte er. »Daß Sie ihnen Geld geben . . . und fertig! Aber . . .«
Tine unterbrach ihn. »Man hat den armen Leuten 60 verflucht wenig gegeben,« sagte sie ruhig, »wenn man ihnen Geld gibt.«
Martin hörte sie kaum und verstand sie noch weniger. Er kochte: »Es ist höchste Zeit, daß ich gekommen bin, Sie hier herauszuholen – höchste Zeit!«
»Herr Overbeck!« Tine hatte einen hellen, scharfen Ton, als sie ihm jetzt das Wort abschnitt. »Sie haben mich zu sprechen verlangt. Ich weiß nicht, was Sie mir sagen wollen . . . aber in dieser Manier geht's nicht!«
Er sah sie an. Ihr Antlitz sprühte. Martin wurde ganz sanft. Er war entzückt. »Verzeihen Sie«, sagte er. »Sie haben recht. In dieser Manier geht's nicht. Verzeihen Sie . . . ich bin nur beim Zuschauen . . . es ist ein Jammer . . .«
»Ganz recht, ein Jammer!« bekräftigte Tine eifrig.
»Hören Sie«, er flammte auf. »Sie werden von hier fort – so schnell wie möglich . . . es ist mir unerträglich, Sie hier zu wissen . . . . nein, sagen Sie jetzt nichts, seien Sie jetzt still, ich bitte Sie, sprechen Sie nichts.« Sein heißer, entfesselter Redestrom riß jede Silbe, zu der Tine den Mund öffnete, unwiderstehlich hinweg. »Hören Sie mich an, wenn es notwendig ist, daß ich's erst noch sage, wenn Sie's nicht selbst sehen, wenn Sie's nicht fühlen, daß ich von Ihnen bezaubert bin, daß mein ganzes Wesen Ihnen entgegenfiebert vom ersten Moment an, da ich Sie sah . . . . still, still, kein Wort – ich liebe Sie, ich habe 61 immer nur Sie allein geliebt, still – mein Leben lang – oh, jawohl mein Leben lang – ich hab' immer nur von Ihnen geträumt – mich immer nur nach Ihnen gesehnt – gewiß – ein Unglück, daß ich Sie nicht früher getroffen habe – ach, was für ein Glück, daß Sie nun endlich, endlich vor mir stehen!«
Tine Schaffner war Schritt für Schritt von ihm zurückgewichen, bis der zahnärztliche Fauteuil ihr Halt gebot. Jetzt stützte sie sich darauf und ihre tastende Hand spürte die Rosen, die sie dorthin gelegt hatte.
Martin folgte ihr Schritt für Schritt; er war dicht bei ihr, als sie sich, wie umsinkend, an den Stuhl lehnte und, ganz bleich geworden, sagte: »Sie sind wahnsinnig!«
»Ja!« rief er. »Ja und nein! Wie Sie wollen . . . wie Sie wollen – ich bin noch nie so vernünftig gewesen wie jetzt und noch nie so glücklich . . .«
Er hatte nach ihr gegriffen. Er hatte mit der einen Hand ihre Schulter umfangen, die andere hielt ihre zarte und doch in ihrer Fülle bezaubernde Brust. Er beugte sich nieder, dieses schöne, bleiche Antlitz zu küssen. Da rauschte es dunkel und pfeifend vor seinen Augen, schnitt ihm das Wort wie das Sehen ab, und er fühlte sein Gesicht gestriemt und verhüllt von einem Streich, der weich, aber dennoch mit vielen Spitzen traf.
Tine hatte ihm den Rosenstrauß ins Gesicht geschlagen.
62 Martin blickte auf und ließ sie los. Die alte, der Besinnung beraubte Wut, die jedesmal, wenn ihm Gewalt angetan wurde, in ihm ausbrach, stieg blutschwer in ihm auf. Sein Atem ging hörbar laut.
Aber Tine peitschte ihn mit den Worten: »Hinaus!« rief sie. »Sofort hinaus!«
Seine Wut verging in einem weiten Empfinden von Schmerz und Schwäche. Er zitterte und rührte sich nicht von der Stelle, er sah das schöne Mädchen vor sich, fühlte noch in seiner Hand die geschmeidige Frische dieses Körpers; er begriff nichts von dem, was in den letzten paar Sekunden geschehen war. »Hinaus –« wiederholte er stammelnd, »warum denn? . . . Um Gottes willen . . . warum?«
»Wenn Sie nicht augenblicklich gehen – rufe ich meine Leute!« Die Härte, mit der Tine das sagte, bezwang ihn. Er schritt gehorsam zur Tür. Dort drehte er sich um: »Sie haben mich . . . mißverstanden . . .« murmelte er traurig.
»Ich will es hoffen«, gab Tine kalt zurück.
Martin zögerte noch: »Auf Wiedersehen!«
»Nein!« kam es entschieden von Tine . . .
»Aber . . . ich muß . . . ein andermal . . .« stotterte Martin.
»Guten Tag, Herr Overbeck!« Das war so stark, wie ein Befehl. Stärker noch. Es war, als fasse ihn jemand an der Schulter und stieße ihn hinaus.
63 Martin ging, gelangte mühsam durch den Vorraum, wo die andern nach ihm schauten. Und erst im Auto überließ er sich der Verzweiflung.
Marta Pollheim spielte Tennis mit dem Grafen Bernholmen, als Martin des Nachmittags in den Parkklub kam. Auf allen anderen Plätzen waren gleichfalls Partien im Gange. Der große, von hohen alten Ahornbäumen umschattete Raum blitzte von lichten Gestalten, von weißen, durch die Luft sausenden Bällen, war leise durchklungen von Lachen, kurzen Rufen und Gesprächen.
Martin schaute mit einem Gefühl sacht sich regender Freude auf das Bild wohligen, sicheren Geborgenseins. In ihm biß Ungeduld, bohrte schmerzlicher Verdruß. Er brachte die Empfindung des kläglichen Mißerfolges nicht los, und er befand sich immerzu ganz dicht an der Grenze eines ausbrechenden Zornes. Da erblickte er Marta Pollheim und zerknüllte wütend seine Handschuhe. Es war ihm ärgerlich, gerade Marta jetzt zu begegnen. Er wandte sich ab, wollte einen anderen Weg nehmen, um ins Klubhaus zu gelangen. Aber man hatte ihn gesehen. Er wurde von einigen Plätzen her angerufen. Er blieb stehen, fragte barsch hinüber: »Was gibt's?«
Fritz Rallinghausen war mit Titi Arnsberg an das Netzgitter gelaufen: »Spiel' mit«, bat er. Und die 64 kleine blonde Titi, die so herausfordernd farbig geschminkt war, flehte zärtlich: »Ach ja, Herr Overbeck, spielen Sie mit uns, der Rallinghausen ist so langweilig.« Während Rallinghausen noch erklärte: »Wir singeln schon die ganze Zeit«, stellte Martin Overbeck zufrieden fest, daß auch Marta von ihm keine Notiz nehmen wollte.
»Danke«, gab er, sanfter geworden, zur Antwort. »Tennis ist heute nichts für mich . . .«
Titi wurde dringend: »Mir zulieb? Ja?«
»Nein!« klappte Martin so brüsk, daß er selbst erschrak. Er zwang sich zu einem Lächeln und fügte höflich hinzu: »Wirklich, ich kann nicht . . . ich brauche heute stärkere Arbeit . . . entschuldigen Sie . . . eine Verabredung . . .«
»Ach, Sie wollen bloß nicht«, schmollte Titi und entfernte sich vom Gitter.
Martin drehte sich fort. »Gewiß will ich nicht«, dachte er zornig. »Dir zuliebe – ha! Könnt' mir einfallen – Frosch! Gelber!«
»Overbeck!« Das war die hohe Kommandostimme des Grafen Bernholmen, die immer einen so seltsamen Beiklang von Schüchternheit hatte.
»Esel, verdammter!« fluchte Martin vor sich hin, blieb stehen und sagte: »Ja . . .?« Er lüftete grüßend den Hut gegen Marta. Sie stand ferne, in ihrem Court, kam nicht näher, blieb anscheinend mit ihrem Haar beschäftigt und nickte nur kurz herüber: »Grüß Gott!«
65 Graf Bernholmen erkundigte sich: »Gehen Sie ins Haus?«
»Jawohl.«
»Bleiben Sie lange?«
Martin wurde nervös: »Das weiß ich nicht . . . vielleicht eine Stunde.«
»Weil ich Sie . . . nämlich . . . gerne sprechen möchte . . . nur einen Moment«, sagte Graf Bernholmen schüchtern.
»Stehe zur Verfügung.« Martin ging.
»Wo finde ich Sie, Overbeck«, schrie ihm Graf Bernholmen nach.
Martin antwortete nicht. »Such' mich«, murmelte er und eilte weiter.
Er schritt rasch durch die kühle Halle, in der ein paar Herren bei Whisky und Zeitungen saßen. Nervös und erbittert vermied er, gesehen, gegrüßt oder gar angesprochen zu werden. Hastig sprang er über zwei, drei Stufen auf einmal die Treppe hinauf, lief in seine Box, warf die Kleider ab und hatte schon sein Trikot übergezogen, ehe noch der Diener kommen und ihm helfen konnte.
»Wollen der gnädige Herr nicht erst duschen?« fragte der Klubdiener.
»Ach ja,« stimmte Martin zu. »Noch eine Dusche, eine wirkliche, die brauche ich jetzt!«
Er trat unter die Brause, ließ den stärksten kalten Strahl auf sich herabstürzen, wurde aber davon 66 keineswegs beruhigt. Hastig lief er in den Athletiksaal, begann Keulen zu schwingen, Kugeln zu stemmen, mühte sich ab, geriet in Hitze, ohne die Qual zu lindern, die ihm das Innere verbrannte.
»Zum Dreiteufel noch mal!« knirschte er, schmiß die schwere Eisenstange, die er gerade in Händen hielt, weit weg, daß der Fußboden nur so dröhnte. »Ich geh' wieder hin zu ihr!« Erfreut von diesem Einfall rannte er in seine Box, um sich rasch umzukleiden. Dort jedoch blieb er grübelnd sitzen. Jetzt gleich wieder hin zu ihr? Jetzt sogleich? Die Begierde, Tine so bald wiederzusehen, riß und zerrte an ihm. Trotzdem erlahmte der Entschluß in seinen Fingern, die nach dem Hemd greifen wollten. Er winkte dem Diener ab, der herein kam.
»Das hab' ich schlecht angefangen . . . ganz schlecht angefangen . . . verdammtes Zeug!« dachte er. Er schloß die linke Faust, öffnete sie wieder und betrachtete die Handfläche. Da saß noch immer das Gefühl, das ihn durchzuckt hatte, als er Tines Busen berührte, durchzuckte ihn genau so wie in jener Sekunde, glühte in seinem Herzen, peinigte ihn und machte ihn sehnsüchtig. »Ich muß hin zu ihr,« dachte er, »ich muß!« und blieb ganz erschlafft sitzen. Immer aufs neue fiel es ihm ein, wie sie ihn fortgejagt hatte. Das schüttelte ihn, er wurde gänzlich mutlos. »Hinaus!« hat sie gerufen, »sofort hinaus!« Er ließ beschämt den Kopf sinken. Furchtbar! Erbärmlich! Noch nie war ihm dergleichen passiert. Im Leben nicht. Wie ein Hund weggejagt 67 werden! Schlimmer. Wie ein entlarvter Verbrecher! Ob es jetzt nicht am besten wäre, sich einfach totzuschießen? Er hörte ihre Stimme. Aus stählernem Willen sprang diese Stimme auf und schien Funken zu stieben. Er sah Tine vor sich stehen, ganz gestrafft, ganz zornige Abweisung und betäubend schön.
»Ich war dumm«, überlegte er. »Niederträchtig dumm! Sie ist doch nicht die erste beste?« Der Gedanke, er könne es für immer mit ihr verdorben haben, lag nur als eine dumpfe Angst in ihm und wurde nicht deutlich.
Plötzlich stand er auf. »Morgen!« rief er leise vor sich hin. »Heute nicht mehr. Nicht so bald nach . . . nach diesem . . . Unglück. Aber morgen.« Ihm wurde ganz frei bei seinem Entschluß und es schien ihm, als werde morgen alles völlig verändert sein. Eine Nacht vorbei, ein ganzer Tag und eine ganze Nacht, dann war die Dummheit, die er begangen hatte und die jetzt noch so verhängnisvoll riesenhaft vor ihm lag, beinah schon nicht mehr geschehen. Morgen . . . das war so endlos weit, das dauerte so schauderhaft lang. Das Empfinden der Befreiung schwand. Rasende Ungeduld erhob sich in ihm und wollte der Zeit vorausstürzen.
Er raffte seine Boxhandschuhe zusammen, schlüpfte hinein, ging vor die Türe, ließ sie vom Diener festbinden und eilte zum Punchingball. Jetzt, am Nachmittag, war niemand in diesen Räumen.
Martin schlug auf den schweren Lederball, daß 68 dieser nur so flog. Dazu fluchte er leise, zwischen den zusammengepreßten Zähnen. Er drosch drauf los in einer Wut, die sich mehr und mehr steigerte. Alles, was er nicht zu entwirren vermochte in seinem Herzen und in seinem Sinn, zerhieb und zerstieß er hier ganz einfach mit der animalischen Kraft der entzügelten Muskeln. Den törichten Streich, den er durch sein ungestümes Werben begangen hatte, die unsagbare Wonne, die er in der Berührung dieses Mädchens empfand, daß sie ihm den Rosenstrauch ins Gesicht schlug, der Tobsuchtsanfall, der sonst bei jeder Mißhandlung in ihm ausgebrochen war, der sich auch jetzt wieder regen wollte, aber erbärmlich zerrann in Feigheit, die Pein, die es ihm bereitete, nicht los zu können von diesem seltsamen Mädchen, sein hoffendes Verlangen, das immer stürmischer nach diesem Mädchen schrie . . . Martin schlug, stieß, trommelte gegen den Punchingball, bis er keuchte, bis ihm das Haar in die Stirne flog und er total erhitzt war.
»Na, Overbeck . . . man hört Sie ja schon auf der Treppe«, ließ ein hohes Reden sich vernehmen. »Overbeck!!«
»Ja?« Martin hielt so unvermittelt inne, daß der Ball ihm gegen das Gesicht bumste. Er sprang zurück und schaute abwesend. »Bitte?«
Graf Bernholmen fragte höflich: »Ich störe Sie doch nicht?«
»Nein, danke . . .« stammelte Martin, »ich bin fertig.«
69 Bernholmen blickte ihn verwundert an: »Jawohl. So sehen Sie auch aus!«
»Ich komme gleich,« hastete Martin, »wenn Sie mich in der Halle erwarten . . . in zwei Minuten . . .« Er lief zur Dusche, ließ sich frottieren und kleidete sich eilig an.
Als er aus der Box trat, war Graf Bernholmen da. »Verzeihen Sie, Overbeck, in der Halle sind . . . man ist nicht allein . . .«
»So? Was schadet das?« sagte Martin obenhin, indessen er dachte: Morgen! Morgen!
Bernholmens schmales, braunes Gesicht hatte einen angestrengten Ausdruck: »Ich will Sie . . . allein sprechen . . . nur zwei Minuten . . .«
Martin dachte: Nur zwei Minuten? Bis morgen ist stundenlang Zeit! Stunden! Stunden! »Bitte«, sagte er höflich, öffnete seine Box wieder und die beiden jungen Männer standen in dem engen Raum dicht beisammen.
»Sagen Sie, Overbeck«, begann Bernholmen mit mühsamer, ein wenig atemloser Leichtigkeit, »sagen Sie . . . können Sie mir etwas Geld pumpen . . .?« Die wasserblauen Augen blinzelten verlegen, sein braunes Offiziersgesicht wurde dunkelrot.
»Gewiß«, antwortete Martin und überlegte dabei: die Zeit vergeht! Morgen wird heute sein! »Aber gewiß, Graf,« wiederholte er, »gerne!«
Während er in die Tasche fuhr, stotterte Bernholmen: »Nämlich . . . ich bin . . . nur momentan . . . peinliche Verlegenheit.«
70 Martin suchte in seinem Portefeuille: »Ich habe nichts bei mir . . .« Er lachte. Ich kann wieder lachen, fiel ihm ein. Alles wird wieder gut werden, alles muß gut werden, sonst könnte ich jetzt nicht lachen! Er lächelte dem Grafen zu: »Mein ganzes Bargeld habe ich ihr gegeben . . .« Er stockte, als er auch Bernholmen verzerrt lächeln sah, » . . . der Rettungsstation,« setzte er ernst und erklärend hinzu, »eine Spende!«
Er merkte, wie das braune, dunkelerrötete Antlitz vor ihm fahl wurde.
»Einen Augenblick,« murmelte er, zog sein Scheckbuch und die Füllfeder und fragte: »Sind zweitausend genug . . .?«
Bernholmen verneigte sich. Als er den schmalen Zettel entgegennahm und einsteckte, begann er: »Mein lieber Overbeck, ich muß Ihnen ein Geständnis ablegen . . .« Er kehrte sich nicht an Martins gleichgültiges »Ach was,« sondern sprach weiter: »Es ist nämlich gar keine momentane Verlegenheit . . . sondern, wir sind arm.« Seine hohe Kommandostimme hatte einen Ton herzlicher Aufrichtigkeit.
Martin erinnerte sich, da er das Wort »arm« hörte, an Tine Schaffners weißgetünchte Stuben, an den betrunkenen Maurer, an den widerlichen Geruch der Leute dort. Er schaute den schönen, eleganten, gepflegten Grafen an und schüttelte belustigt das Haupt. »Doch,« sprach Bernholmen weiter, »wir sind arm wie die Kirchenmäuse . . . die Revolution hat uns alles 71 genommen.« Ein bitterer Zug schärfte sein Gesicht. »Das muß ich Ihnen sagen, denn ich weiß nicht . .«
Martin reichte ihm die Hand: »Lassen Sie. Lassen Sie, morgen wird alles gut! Morgen!« rief er und rannte weg, als schäme er sich.
Bernholmen blieb verdutzt zurück.
Gnädiges Fräulein, verzeihen Sie mir. Ich bitte Sie darum. Sie müssen mir verzeihen, denn ich bereue aufrichtig, und Sie sind gut. Außerdem bin ich gestern ganz und gar von Sinnen gewesen, aber meinem Betragen hat jede beleidigende Absicht gefehlt, so sehr es Sie auch verletzte. Ich muß Sie sprechen. Was ich Ihnen zu sagen habe, ist ja leider ungesagt geblieben. Ich muß Sie sprechen. Diesen Brief sende ich voraus, zugleich mein Ehrenwort, daß ich Ihnen nicht den kleinsten Anlaß geben werde, mit mir unzufrieden zu sein. Stoßen Sie mich nicht zurück, ich bin unglücklich. Ich will lieber auf der Stelle tot sein, als Sie nicht mehr sehen!«
Seit dem frühen Morgen saß Martin am Schreibtisch und plagte sich, ehe er diesen Brief zustande brachte, stundenlang. Er hatte glühende Liebeserklärungen aufs Papier geschleudert, viele Seiten. Dann zerriß er alles wieder, aus Furcht, Tine werde ihn, durch solche Ausbrüche erschreckt, gar nicht anhören. Was tue ich denn da? überlegte er. Ich überfalle sie mit Worten, wie 72 ich sie gestern mit meiner Umarmung überfallen habe. Kann ein Mensch wirklich so gottverlassen dumm sein? Dann schrieb er ein paar kurze Zeilen nieder. Doch sie kamen ihm, wenn er sie durchlas, bald zu zärtlich, bald zu kategorisch, bald wieder zu gleichgültig vor. Immer ungeduldiger zerknüllte und zerfetzte er Bogen auf Bogen. Martin war kein Briefschreiber. Den Geschäftsstil kannte er so beiläufig, die gesellschaftlichen Floskeln beherrschte er. Aber hier half ihm weder das eine, noch das andere. Er wurde erregt und zwang sich gewaltsam zur Ruhe. Daß er den gestrigen Tag hatte verstreichen lassen, war gut und richtig gewesen. Er sah das ein. Er bewunderte auch den Plan, heute morgen erst mal den Brief an Tine vorauszuschicken. Vieles würde damit beschwichtigt und geglättet. Wenn er das bedachte, fühlte er sich bis zum Jubel fröhlich. Nun sollte er alles wieder in Frage stellen, alles wieder verderben und verpatzen, weil ihm der Brief nicht gelang? Was hatte es ihn nicht an Geduld und Nerven gekostet, sich still zu halten und zu warten. Von gestern bis heute. Eine Ewigkeit. Die war nun endlich . . . endlich vorbei. Jetzt kam alles darauf an, klug zu sein und behutsam. Doch die Stunden rannen hin bei den vergeblichen Anstrengungen Martins, so viel Klugheit und so viel Vorsicht aufzubringen, wie er für notwendig hielt. Angst packte ihn, den Vormittag zu versäumen. So verfaßte er denn, getrieben und unglücklich, den Brief, der ihm plump erschien, der ihm nicht entfernt 73 genügte, der ihm nicht genügen konnte, weil kein Brief, auch kein noch so meisterhafter, das getan hätte, wenn er nicht imstande gewesen wäre, ihm Trost, ihm noch während des Niederschreibens Tines Antwort zu bringen oder ihn doch gleich den Eindruck wissen zu lassen, den sein Inhalt auf Tine üben würde. Ächzend verschloß er den Umschlag, steckte ihn zu sich und verließ schnell das Haus.
Auf der Straße fiel ihm ein: er wird nicht bis vor ihre Türe fahren. Er wird überhaupt nicht fahren. Nur der Brief soll so rasch wie möglich befördert werden. Ein guter Gedanke. Martin freute sich darüber.
Ein paar hundert Schritte von seiner Wohnung entfernt, auf dem stillen, vornehmen Platz, standen Autodroschken. Martin übergab den Brief einem Chauffeur. Langsam schlenderte er nun durch die prächtigen Straßen seines Viertels. Wenig Menschen gingen hier. Ab und zu rollte ein blitzendes Auto geräuschlos vorüber. Linden säumten den Fahrdamm, bildeten mit ihren dichten Wipfeln einen grünen, schattigen Korridor, verhüllten mit ihren Laubkronen, die ineinandergriffen, die schweren, steinernen Fronten der Paläste, die sich rechts und links erhoben.
Vor dem Siegestor wurde es lebhafter. Wagen, Autos, elektrische Straßenbahnen, Menschen, alles strömte zusammen. Die Gartenanlagen mit ihren alten Bäumen, mit den hellgrünenden Hecken, den breiten Wiesen und dem großen blühenden Rhododendron-Buschwerk endigten hier. Als Martin die hochgewölbte 74 Säulenhalle des Tores durchschritten hatte, umbrauste ihn der betäubende Lärm der City. Das Gedränge auf diesen Straßen war Arbeit, war Gischt und Brandung des tätigen Lebens. Die unaufhörlich bewegte Menschenmasse, die durcheinanderwimmelte, fuhr, ging, lief, schien sich nicht von der Stelle zu bewegen, schien beständig aus denselben Leuten zu bestehen und wechselte doch von Sekunde zu Sekunde. Erfrischung hauchte das Treiben, Mut sprühte von diesem Jagen und Hasten aus, Entschlossenheit trieb die andauernde Bewegung der Unzähligen in die Nerven der einzelnen. Die Warenhäuser brüllten aus Riesenfenstern mit Farben und phantastisch arrangierten Puppen. Die Modesalons lockten mit Kaskaden schreiender Stoffe, exzessiver Hüte und mit prunkhaften Pelzen. Die Auslagen der Juweliere strahlten den Glanz unerhörter Schätze, die das Dasein als ein Märchen ausriefen. Die Schiffahrtsgesellschaften hatten wunderbare Modelle ihrer Luxusdampfer hinter die Spiegelscheiben gestellt, gigantische Landkarten und verführten in alle Fernen der Welt. Aus den Buchhandlungen schimmerten in breiten Reihen Prachtwerke. Die Bankgeschäfte hatten Wertpapiere und Goldstücke ins Schaufenster gelegt. Und aus den Blumenläden sang in buntem Treiben die beherrschte, gepflegte, zur Luxusdienerin gewandelte Natur. Es war im ganzen ein gewaltiger, sinnberauschender Choral der Arbeit, des Willens und Werbens, der alle Wünsche entfachte, Sehnsucht weckte und Ehrgeiz aufstachelte.
75 Martin ging nicht oft hier. Deshalb behielt dieses Schauspiel für ihn noch einen gewissen anregenden Reiz. Heute wollte er sich ablenken, wollte Nervenruhe gewinnen, sich zerstreuen lassen. Er sah, wie fast immer, nur die große Menge der Komparsen, sah in der großen Menge nur die Mehrzahl der Gesunden, Zufriedenen, der Jugendlichen und Eiligen. Die Alten nahm er gar nie wahr, nie die Müden, die Gescheiterten, die Verzweifelten, die in dem majestätischen Strom des Lebens nicht mehr steuern können, nur noch getrieben werden, ohne Ziel und Hoffnung. Er hatte kein Auge für diese Armen, deren Anblick gerade im rücksichtslosen, von Kraft und Rhythmus durchpulsten Gewühl so ergreifend wirkt. Heute schlenderte Martin Overbeck völlig achtlos dahin. Seine Versuche, sich für irgend etwas zu interessieren, mißglückten. Sein Bemühen, die Gedanken, sei es auch nur für Sekunden, von Tine wegzuwenden, blieb vergeblich. Er überlegte, ob der Brief jetzt schon zu ihr gelangt sein könne. Wie lange war er gestern dort hinaus gefahren? Er wußte es nicht mehr. Vielleicht zehn Minuten, vielleicht zwanzig, vielleicht eine halbe Stunde. Er seufzte. Viele Leute grüßten ihn. Doch er versäumte oft den Dank, besann sich erst ein paar Sekunden später, daß jemand den Hut vor ihm gezogen hatte.
Er gelangte aus der innersten Stadt hinaus in ein ödes, langweiliges Geschäftsviertel. Eine Straße glich der anderen. Es gab keine Kaufläden mit Schaufenstern. 76 Nur Großfirmen. Nur Niederlagen von Webereien, von Maschinenfabriken, Spediteure, Bureaus. Auf dem Fahrdamm das Knarren und Rattern unförmiger Lastenautos, auf den Bürgersteigen rennende Kommis, Platzagenten, Geschäftsleute, alle in der nüchternen Erregung ihrer Arbeit, fast alle abgegriffen und verbraucht, viele von Freuden, die keine Freuden waren, sehr viele mit einer lächerlichen und vermuddelten Eleganz gekleidet, die sich bemühte, aufzufallen und mehr zu scheinen, als sie zu sein vermochte. Martin besann sich und blieb stehen. Ich nehme die Straßenbahn! Das lockte ihn. Die Gegend dahier ist gräßlich! dachte er und scheute sich, zu denken, daß er ja doch nur früher zu Tine kommen wollte. Er suchte eine Haltestelle, wartete bis ein Wagen kam und stieg ein. »Wie viel?« fragte er den Schaffner. Der gab verwundert Bescheid. Martin reichte ihm eine Silbermünze und schnippte mit der Hand. »Es ist gut.« Der Schaffner sah ihn strenge an und murrte: »Ich nehme nichts. Verstehen Sie?« Gewiß, Martin verstand. Die Leute schauten ihn erstaunt und, wie er meinte, entrüstet an. Er saß da, steckte das Kleingeld ein, das er zurückbekommen hatte, und genierte sich. Er begann ein Unbehagen zu empfinden, das immer heftiger wurde. Hier war es nicht angenehm. Das nahe Aneinanderhocken war ihm gräßlich. Er machte sich schmal. Aber seine Nachbarin, eine fette Person in schmutziger Bluse, machte sich noch breiter, zur anderen Seite rückte ein älterer Mann, der scharf 77 nach schlechtem Tabak stank, sich behaglich zurecht. Also hatte Martin trotzdem die Körperwärme fremder Menschen an seine beiden Schultern gedrückt. Alle, die da saßen, gegenüber und neben ihm, kamen ihm in ihrer Schäbigkeit fremd und hassenswert vor. Sie schienen ihm feindselig. Er paßte nicht hier herein, er störte hier nur. Nach einer kurzen Weile ertrug er diesen Zustand nur noch mühsam. Als der Wagen wieder anhielt, simulierte Martin Eile und sprang auf. Fluchtartig.
Es hat keinen Zweck, sagte er sich, während er wieder auf der Straße dahinging. Ich wäre zu rasch nach meinem Briefe bei ihr! Es hat keinen Zweck! Dabei trieb ihn die ungeduldigste Erwartung, daß er seine Schritte beschleunigte. In der Elektrischen hatte er die paar Minuten wirklich nicht an Tine denken können. Das schien jetzt wie ein ungeheueres Versäumnis.
Was werde ich sagen? grübelte er. Ach Gott, was ich sagen will, das weiß ich ja! Nur zu gut weiß ich das. Aber wie ich es sagen soll? Wie? Wenn ich das lieber wüßte. Wie soll man sprechen, in dieser entsetzlichen Umgebung? Er dachte weiter: Alles hängt davon ab, wie sie zu mir sein wird, wenn ich vor ihr stehe. Donnerwetter, ja! Das ist die Hauptsache! Doch er vermochte sich gar nicht vorzustellen, absolut nicht auszumalen, wie Tine ihn empfangen werde. Er sah sie nur vor sich, zornig, blaß, drohend, wie gestern, oder in jener charaktervollen Liebenswürdigkeit, die so 78 bezaubernd wirkte, in jener freien, heiter ernsten Anmut, die sie hatte, als er ihr im Treppenflur des väterlichen Hauses entgegengetreten war. Rasch nacheinander abwechselnd schwebten ihm diese beiden Erinnerungsbilder von Tine vor.
Er ging langsamer. Sein Mut war wieder stark gesunken. Der volksbelebte Proletarierbezirk, in den er nach und nach gekommen war, umgab ihn mit der häßlichen Armseligkeit, die solche Stadtteile haben, und bedrückte seine Seele. Die Grünwarenkeller, die Fleischerläden, die Schnapsbutiken drängten ihm, zudringlich, wie er glaubte, ihre übeln Gerüche und ihren wüsten Spektakel auf. Hie und da kreischte ein heiseres Grammophon und wirkte wie eine Insulte. Seine Augen waren völlig wehrlos. Er konnte sich nicht retten. Der Anblick verkommener, kranker, schwangerer, häßlicher alter Weiber quälte ihn. Die Männer und Burschen, die brutal aussahen, lasterhaft, mit einer geheimen Wut oder mit verhaltener Bosheit in den bleichen, mageren Zügen, reizten seinen Zorn. Aber die zahllosen Kinder, die sich umhertrieben, verwahrlost, schmutzig, krüppelhaft viele von ihnen, diese Kinder, die einen irrsinnigen Radau vollführten, mitten im Straßenverkehr Fußball spielten und jeglichen Unfug verübten, ihm zwischen die Beine rannten, sich im Vorbeilaufen an seine Kleider klammerten, waren ihm ein Gegenstand besonderen Abscheues und angeekelter Empörung. Er hielt alle diese Menschen da, groß und klein, für Verbrecher.
79 Aus solch einer Welt, dachte er, will ich mir eine Geliebte holen? Aus solch einem Dreck?
Ach wo! korrigierte er sich sogleich. Sie gehört doch nicht zu dieser Welt dahier. Keine Spur! Weiß der Teufel, was für ein Spleen dieses Mädchen dazu gebracht hat, sich mit dem Pack abzugeben. Er hielt inne. Weiß Gott, was für ein Schicksal. Dieser Gedanke fuhr ihm wie ein Stich ins Herz. Was mag sie erlebt haben? Er bebte vor übermächtiger Erregung, die ins Leere, ins Dunkle irrte. Sie war fünf- oder sechsundzwanzig! Sicherlich. So rein sie aussah, was mag sie erlebt haben? Sie kam ihm jetzt undurchdringlich vor. Und ihre strahlende Reinheit schien ihm verdächtig. Angestrengt mühte er sich, den jäh ausbrechenden Schmerz, der ihn zerriß, zu lindern und zu beseitigen. Was immer sie erlebt haben mag, entschloß er sich . . . vielleicht ist ihr im Krieg der Bräutigam gefallen . . . vielleicht hat sie irgend ein Verführer sitzen lassen . . . es tat sehr weh, das zu denken. Nein, nein! unterbrach er sich lebhaft und triumphierend. Nein, nein, nein . . . die läßt man nicht sitzen, die nicht! Eher schon ist sie es, die einen Mann aufgibt . . . natürlich, sie jagt ihn einfach davon. Da stand sein eigenes Abenteuer von gestern wieder vor ihm. Und jetzt war ihm die Erinnerung daran merkwürdigerweise ein Trost. Was immer sie erlebt hat, beschloß er, es ist jedenfalls eine Verrücktheit von ihr, sich mit solchem Gesindel zu befassen. Man muß sie aufklären, ganz einfach . . . 80 richtig aufklären. Das, was sie treibt, ist ja Unsinn, zwecklose Duselei. Dazu sind andere da. Da gibt es so häßliche Reformweiber. Menschheitsbeglückerinnen, jawohl, weil sie keinen einzigen, rechtschaffenen, gesunden Mann beglücken können, diese gräßlichen Ziegen . . . Er lachte kurz auf. Aber sie, ach sie! Was für Glück hat sie zu verschenken, was für unermeßliche Seligkeit. Man muß sie nur aufklären, auch über sich selber, muß ihr nur den rechten Weg zeigen, sie führen . . .
Er trug den Kopf höher. Jetzt fühlte er seine Überlegenheit wieder, um die er seit gestern vergeblich gerungen hatte. Aber er behielt sie nicht allzulange. Vor allem kannte er sich hier in den Straßen gar nicht aus. An jeder Ecke stand er still, und wußte nicht, ob er nach rechts, nach links oder geradeaus gehen sollte. Das machte ihn unsicher. Sein Eigensinn, sein gehässiger Widerwille, den er vor allen Menschen hier empfand, hielt ihn ab, jemanden zu fragen. Er wollte damit warten, bis er einen Schutzmann traf. Doch er sah nirgendwo einen. Eine halbe Stunde irrte er nun schon umher und war davon gänzlich zermürbt. Endlich erblickte er, in einer Nebenstraße, ziemlich entfernt, an der nächsten Kreuzung eine Uniform. Rasch bog er ein. Aber schon nach wenigen Schritten rief ihm das weiße Holzschild mit schwarzen Lettern entgegen: Rettungsstation!
Da klopfte ihm das Herz bis in den Hals.