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Ein Tag im Mai war es, an dem Johanna von ihrem Bruder nach Mauerbach geleitet wurde.
In Weidlingau verließen sie die Eisenbahn, bekamen einen Mietswagen und fuhren die lange ansteigende Waldstraße dahin. Die Sonne strömte mit sanfter Kraft durch das junge Laub, die Wiesen lagen da, wie von einem kindlichen Lächeln überbreitet. Und von den blauen Bergen ringsum kam ein zärtliches Lüftchen herabgeschwebt.
Der Hofrat sagte zu seiner Schwester: »Siehst du, wie schön es hier ist.« Er sagte es in einem Ton, als habe er die ganze Landschaft hier zurecht gemacht, als habe er persönlich den Frühling darauf veranstaltet, aus Großmut, um seiner Schwester willen.
Johanna schwieg. Ihre Augen blinzelten 10 der Sonne entwöhnt, und ein gedankenleeres Lächeln saß kümmerlich in all den lederbraunen Falten ihres Gesichtes.
Den Hofrat machte es diesen Vormittag unruhig, keine Antwort zu hören. Er begann dringender: »Die frische Luft hier heraußen . . . die wird dir gewiß gut tun . . .«
Johanna merkte an seiner Stimme, daß sie jetzt etwas reden müsse. Gehorsam sagte sie: »Ja.«
Sie fuhren weiter und saßen schweigsam nebeneinander. Diese letzte Stunde erfüllte den Hofrat mit Ungeduld. Er wünschte, es solle schon alles erledigt und vorüber sein. Er malte sich's aus, wie das dann angenehm für ihn sein werde, allein im Wagen hier durch die Wälder zu kutschieren. Eine kleine Sehnsucht nagte und keuchte in ihm, nach dem überstandenen Abschied diese Rückfahrt zu genießen. Jetzt, in der letzten Stunde, war er ein wenig beklommen wegen dieser ganzen Geschichte. Daß er seine Schwester in das Versorgungshaus bringe, erschien ihm freilich noch immer als der einzige praktische Ausweg. Aber er war doch nicht mehr so ganz sicher. Sie hätte vielleicht trotz alledem bei ihm bleiben können, bis an ihr 11 Ende. Er fühlte, daß er in die Gefahr geriet, von seiner Ueberzeugung abzufallen, dem Beschluß untreu zu werden, den er mit seiner Frau zusammen gefaßt hatte, und den er nun zu vollziehen im Begriffe war. Dabei empfand er irgendeine dunkle Erbitterung gegen Johanna. Warum hatte sie ihn auch in diese Lage gebracht? Es kam ihm vor, Johanna habe ihn durch ihr Altwerden, durch ihre Hilflosigkeit in diese Lage gebracht, und er empfand sie hier neben sich wie eine schwere Last, die ihm unschuldigerweise aufgebürdet war.
Johanna trug um ihre dünnen Schultern eine alte Mantille aus schwarzem Ternostoff, die an ihren Rändern mit schwarzen Glasperlen, freilich nur noch lückenhaft, besetzt war. Sie hatte diesen Prunk noch zuletzt von ihrer Schwägerin mit auf den Weg bekommen. Auf ihrem ordentlich glattgestrichenen, grauen Haar schaukelte ein alter Hut. Die Rosen und die Federn daran, entfärbt und zerknittert, nahmen sich aus wie eine verschollene Lustbarkeit aus fernen Tagen, die jetzt keinen Sinn mehr hatte. Dieser Hut war viele Jahre im Schrank der Frau Hofrat gelegen und sah heute, gerade wie Johanna, 12 zum erstenmal wieder die Sonne, den Wald und den Lenz.
Johanna saß da, hatte die Hände im Schoße, blickte geradeaus und lächelte. Sie war befangen, denn das Alleinsein mit ihrem Bruder brachte die Ehrfurcht, die sie vor ihm empfand, in Erregung. Je länger sie so an seiner Seite saß, desto mehr sammelte sich der Respeckt in ihrem Gemüt, schwoll an und bedrückte sie. Dazwischen ging der Zeiger ihrer einstigen Pflichten noch immer weiter in seinem altgewohnten Kreise. Jetzt hätte sie das Kaffeegeschirr vom Frühstück abwaschen sollen. Es war die Stunde. Gestern hatte sie's noch getan. Und dann war jetzt die Stunde, in der das Mittagessen zugestellt werden mußte. Sie sah das heiße Wasser aufschäumen und Blasen werfen, und in dem lauen Wind, der sie anhauchte, spürte ihr Erinnern den fetten starken Geruch des siedenden Fleisches und den scharfen Kräuterduft des Grünzeugs, das verkochte. Heute war außerdem Donnerstag. Da mußte das Kupfer geputzt werden, Kessel und Pfannen, auch die Küchenbank, der Tisch und das Nudelbrett waren zu scheuern. Mit frischem Reibsand mußte das geschehen und 13 mit ganz heißem Wasser, darin etwas Laugensalz gelöst war. Das biß in die Hände und die Haut ringsum der Fingernägel sprang davon auf, aber schön sauber wurde das Holz. – Jetzt hatte sie nichts mehr zu tun, jetzt saß sie da in dem weichen Wagen, indessen die Stunden, die sonst mit allen möglichen Verrichtungen bis zum Rande gefüllt waren, leer und entfremdet vorbeirannen, wie entwertetes Gut zu Boden glitten. Alles, was früher, was gestern noch ihr Leben ausgemacht hatte, war jetzt wie ein Zifferblatt ohne Uhrwerk. Sie konnte es immer noch ablesen, konnte noch sehen, wo der Zeiger just stand, aber es hatte keine Wirklichkeit und keinen Gang mehr. Und daran zu denken, das war, als klopfe man an ein Haus, darin niemand mehr wohnt. Sie bekam ein wehes Gefühl. Dennoch lächelte sie beständig. Sie konnte nicht anders; sie mußte das Lächeln der Landschaft erwidern. Sie war zu schüchtern, um es nicht zu tun.
»Na, und die Ruhe hier, die wird auch sehr gut für dich sein . . .,« redete der Hofrat.
Johanna hörte wieder, daß eine Antwort verlangt wurde, und sagte wieder: »Ja«.
14 Der Wagen kroch langsam über eine Wegbiegung hinauf. In geringer Ferne schimmerten Dächer.
»Das ist Mauerbach!« sagte der Hofrat erregt. »Ganz eingebettet im Grünen liegt es da.« Er sprach das, als stimme dies alles hier mit seinen Anordnungen überein. Und er sagte »eingebettet«, als wollte er damit den höchsten Luxus bezeichnen.
Die Straße lief aus dem Schatten in die volle Sonne, wurde blendend weiß und schmiegte sich die kleine, letzte Anhöhe hinauf. Ueber ein dunkles Gartengitter hinweg war blühender Goldregen geneigt, hing festlich und üppig herab wie neue gelbe Fahnenseide. Johanna wurde von der Sonne jetzt völlig übergossen, wurde bis ins Herz hinein von ihr durchwärmt, wurde von der sanften Glut gebadet und gelabt, und irgendeine winzige, vertrocknete Zuversicht begann sich in ihr zu regen.
Da stand der Wagen auf einem Vorplatz still. Eine große Linde gab breiten Schatten; ein majestätischer Torbogen wölbte sich zwischen grünen Zweigen und blauem Himmel; ein Hof lag hinter diesem Rahmen als ein Bild, Gänse und Hühner spazierten darin 15 über Gras und Steine, und weiter noch dahinter schwang sich eine kurze Brücke über einen wild umbuschten Wassergraben zu einer Pforte hin, die braun und ernst war.
Auf dem Vorplatze saßen die Armenhäusler. Auf Bänken und an den Steinen saßen sie, ungesellig, einsam ein jeder. Alte Männer humpelten durch den Torbogen, hockten auf den Bänken, manche von ihnen mit einem Ausdruck schmerzhafter Schwäche im bleichen Gesicht, kahlköpfige, zwerghaft gewordene Greise saßen da, weißhaarige verhutzelte Weiber, den grünen Schirm vor den Augen.
Sie alle blickten jetzt auf Johanna, der ihr Bruder aus dem Wagen helfen mußte. Sie alle begriffen, daß es hier einen neuen Ankömmling gab, daß ihnen das Leben wieder einen verbrauchten, nutzlos gewordenen Menschen herausgesendet habe, daß jetzt wieder einmal solch ein morsches Gerümpel bei ihnen abgeladen werde, und sie schauten mit kalten, mißtrauischen, mit verächtlichen, mit gehässigen oder mit unsäglich gleichgültigen Gesichtern nach Johanna.
Die stand nun da, von der Sonne durchwärmt, mit der eben erwachten Zuversicht 16 in ihrem Herzen, mit dem verblichenen, schaukelnden Rosenhut auf ihrem grauen Kopf, stand da, schiefgezogen in den Schultern, mit eingesunkener Brust. Mit einem ungeheueren Erstaunen und mit einem fernen Klang von Mädchenhaftigkeit in der Stimme rief sie aus: »Aber – da sind ja lauter alte Leute . . .!«
»Früher«, sagte der Beamte, der sie führte, »also früher, wie das noch ein Kloster war, da ist die Kirche passend gewesen. Aber für uns war sie ja viel zu groß . . . und dann haben wir auch den Platz gebraucht . . .«
Sie standen in der Kirche, die man der Quere nach halbiert hatte, wie ein Zimmer, das zu lang ist. Der Hofrat blickte zerstreut umher; aber der Beamte war ungemein eifrig: »Herr Hofrat werden doch wissen, daß Mauerbach früher ein Kloster gewesen ist. Es war, was man sagt, eine Karthause, weil nämlich Karthäuser Mönche hier gelebt haben.«
17 »Richtig,« brachte der Hofrat räuspernd hervor.
»Nun, und wir haben dann die Kirche abgeteilt, so daß nur diese vordere Hälfte, die der Herr Hofrat hier sehen, als Kirche geblieben ist . . . und aus dem rückwärtigen Teile, da wo früher die große Orgel war, haben wir Schlafsäle gemacht, drei Stockwerke übereinander, die Kirche ist ja sehr hoch; und damit haben wir sehr viel Raum gewonnen, nicht wahr?«
»Das ist außerordentlich praktisch,« sagte der Hofrat nervös.
»Aber natürlich,« redete der Beamte weiter,« und für die alten Leute ist es sehr hübsch zum Wohnen, hier in der Kirche . . .«
Er blickte Johanna ermunternd an. Die hatte eine verlorene Empfindung aus der Kinderzeit. Als man sie das erstemal in die Schule brachte, war ihr in dem fremden großen Hause, vor dem fremden Herrn Lehrer gerade so verschrumpft zumute gewesen, wie jetzt.
Der Beamte deutete die kahle Querwand hinauf, von der die Kirche mitten entzweigeschnitten war. Ganz oben, einem Oratorium ähnlich, war ein breites Fenster in der 18 Mauer. »Dort hinauf kommt auch die Fräulein Schwester vom Herrn Hofrat. Es ist der schönste Schlafsaal.«
Der Hofrat mied Johannas Antlitz und blickte angestrengt zu dem Fenster auf, hinter dessen Scheiben ein paar alte Weiber in weißen Hauben und Kopftüchern neugierig in den Kirchenraum herunterschauten. Johanna betrachtete den Altar, vor dem sie stand, die Barocksonne darauf, die mit ihren Goldblechstrahlen das Kruzifix umleuchtete; sie betrachtete die beiden gewundenen Säulen, die riesig zur Decke emporstrebten und die zwei Erzengel, die zu beiden Seiten des Altars eine prächtige Wache hielten; ihr war feierlich zumute und sie fühlte sich wunderbar getröstet.
Der Beamte antwortete eben auf eine Frage des Hofrats: »Ja, sehr richtig, Kaiser Friedrich der Schöne hat das Kloster seinerzeit erbaut. Er liegt sogar hier begraben.« Dabei trat er an einen Marmorquader heran, die seitlich vom Altar in die Mauer eingelassen war. »Hier ist das Grab des Kaisers,« sagte er.
Der Hofrat zog ein trübseliges Gesicht, als wolle er damit sein Bedauern ausdrücken, 19 daß der Kaiser nun nicht mehr am Leben war.
Johanna sah einen rötlich schimmernden Stein, ganz bedeckt mit Schriftzeichen, die sie nicht lesen konnte.
Alle drei standen noch eine kurze Weile still nebeneinander. Dann gingen sie durch die schwere schwarze Türe hinaus.
Der Beamte meinte, indem er zuschloß: »Ah, der Fräulein Schwester wird es schon gefallen bei uns.«
Sie gingen über einen breiten Korridor. In weißen Wänden dunkelten die altersbraunen mächtigen Türen wie Geheimnisse. Es war alles streng hier, starr und ohne Anteil am Lebendigen. Johanna schlich neben ihrem Bruder und hatte das Gefühl irgendeiner Gefahr.
Als sie dann über einen kleinen Flur zur Treppe kamen, stand da eine Tragbahre, von der Gurten und Schnallen lose zur Erde hingen. Johanna blieb vor der Bahre stehen.
Der Beamte erklärte dem Hofrat: »Das ist . . . weil manchmal . . . nun, die alten Leute sind ja so eigen . . . und wenn eins tobend wird . . . natürlich . . . anders geht's eben nicht . .
20 Der Hofrat winkte zustimmend, aber dieser Anblick quälte ihn, und er wünschte, dies alles möchte bald ein Ende nehmen. Jetzt kamen sie in den Schlafsaal; der war weiß und rein, aber ein dumpfer Geruch nahm dem Hofrat alle Energie. Er sagte sich, hier rieche es nach Tanten und Großmüttern; und er wußte: nach Armut. In dieser Luft mengte sich der Geruch von Weihrauch, von Lavendel, von Essig, von feuchtem groben Bettzeug, der Geruch von aufgewärmtem Kaffee, von getrockneten Aepfeln, von Kamillentee, von Arnikaumschlägen, und von der Ausdünstung der vielen welken alten Frauenkörper, die hier atmeten, wohnten und schliefen. Der Hofrat schnupperte in dieser Luft und wurde unruhig. Sie war von einem unnachgiebigen Eigensinn beinahe fühlbar durchzogen, und sie war erfüllt von einer niederschmetternden Dummheit und von hoffnungslosem Verzweifeln; sie war erfüllt von einer solchen Schwäche, daß jeder, der diesen Raum betrat, diese Schwäche wie eine Last auf sein Herz fallen spürte; und diese Luft war erfüllt von der beständigen Bereitwilligkeit und dem unaufhörlichen Erwarten des Letzten . . . Der Hofrat streifte mit 21 einem raschen Blick das Antlitz seiner Schwester; Johannas Augen waren völlig erloschen. Sechs oder acht alte Weiber standen von ihren Betten auf, an deren Rand sie gesessen hatten, starrten ihnen mit offener Neugierde entgegen. Einige nahmen die Störung übel, wendeten sich zornig murmelnd ab oder hatten ein erbittertes, stummes Keifen auf ihren festzusammengepreßten Lippen und in ihren tiefbeleidigten Mienen. Andere schienen erpicht darauf, angeredet zu werden, andere wollten die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und stürzten sich in ein auffälliges kokettes Hantieren.
Der Beamte schritt an das Fenster, das gegen die Kirche zu lag. »Hier«, sagte er. »hat die Fräulein Schwester die schönste Aussicht.«
Johanna blickte hinunter; dort prangte der Altar in der Tiefe; dort standen die beiden Erzengel mit ihren roten und blauen Mänteln und mit dem rosig bemalten Fleisch ihrer nackten Schenkel; da lag mit ihren Bänken die ganze Kirche, und es schien ihr wunderbar, sie von oben zu sehen.
Die Decke setzte sich von draußen, von der 22 Kirche her, hier innen im Schlafsaale fort. Man hatte nichts an ihr geändert, und so wölbte sie sich mit ihren alten Malereien, mit ihrem Zierrat und Stuckfiguren niedrig über dem Gemach der Greisinnen.
Der Hofrat tauschte einen Blick mit dem Beamten, dann gab er sich einen Ruck und trat zu Johanna.
»Na, Johanna,« sagte er, und seine Stimme war geschnürt, »ich wünsche dir alles Gute . . . daß du deine Ruhe haben sollst . . . Du brauchst's . . .« Er stockte.
Johanna blickte vor sich nieder. In diesem Augenblick, in dem nun wirklich geschah, was sie niemals recht hatte ausdenken können, in diesem Augenblick, in dem sich der Bruder von ihr löste, verfiel sie der Atmosphäre dieses Saales, ward sie das Eigentum dieses Raumes, war schon ganz umfesselt davon und versuchte gar nicht, sich gegen den Abschied zur Wehr zu setzen.
Der Hofrat nahm ihre Hand, die schlaff zur Seite hing; dann küßte er sie oberhalb der Augen, fühlte mit Unbehagen, wie kalt ihre Stirn war, und stammelte erschrocken: »Also . . . wir seh'n uns bald . . . ich such' 23 dich heim . . . ich und die Frau . . . und die Kinder auch . . . natürlich . . .«
Johanna hörte dieses Versprechen, wollte sich daran festhalten, aber es war in diesem Augenblick etwas so Geringes, daß es ihr wie Schaum zwischen den Fingern zerging. Sie nickte nur einigemale.
Da wandte sich der Hofrat zur Tür und schritt hinaus. Jetzt überflog sie plötzliche Angst. Irgendein jäh aufflammendes Wünschen brannte hinter dem Bruder her, der nun davonging, heftete sich an ihn, an seinen Rücken, den sie noch sah; ein Wünschen, das gar nicht deutlich in ihr wurde, das aber alles auf einmal umfing, den Bruder, seine Kinder, seinen Herd, die Arbeit in seiner Küche, seine Gestalt, die dünnen, blonden Haare, die ihm den Nacken hinunter liefen, diese wohlbekannten Haare, und dazu das ganze Zusammenleben mit ihm, von Anfang an, von der Elternzeit, von der Jugend her, bis jetzt, in dieser Sekunde, in der es auseinander brach. Ein Schmerz wühlte in ihr, unter dessen Stichen das Blut hinzuströmen schien, als stürze es aus vielen Wunden. Sie brachte nur einen trockenen, scheuen Laut hervor, der von bitterer Scham dicht 24 verschleiert war; sie hob, von Scham gebunden, unbeholfen die Arme, die hölzern geworden waren.
Da schloß sich die Türe.
Der Hofrat eilte die Treppen hinunter, eilte durch den blühenden Garten, über den Vorhof, wo die Gänse mit den Flügeln schlugen und die Hühner glucksend umherliefen. Unter dem Lindenschatten draußen reichte er dem Beamten die Hand, und bestieg den Wagen.
Als er abfuhr, schauten ihn die alten Leute, die dort saßen, mißgünstig und verächtlich an; dann blickten sie noch lange dem Wagen nach, der die Waldstraße hinunter stadtwärts rollte.
Oben, an dem breiten Fenster saß Johanna und schaute in die Kirche hinunter. Von den alten Frauen, die den Schlafsaal mit ihr teilten, war sie umschlichen und umlauert, betrachtet und besprochen worden; aber sie merkte es nicht.
25 Sie strichen an ihr vorbei, blieben bei ihr stehen: »Na, . . wie g'fällt's Ihnen denn?« oder: »Na, . . wie is Ihnen denn? . .« Es sollte sie einladen, Bekanntschaften zu schließen, war auch ein Versuch, sie auszuforschen. Sie konnte jedesmal nur mit dem Kopf nicken, dankbar und furchtsam zugleich lächeln.
Dann versank sie gleich wieder in sich selbst.
Es war schön, da zu sitzen und in die Kirche hinunter zu schauen, und diese feierliche Stille ringsherum zu spüren, und zu spüren, wie sich überall in dieser Stille das Leben vieler Menschen regte.
Die Kirchenbänke da unten waren leer. Die beiden Erzengel lächelten regungslos und standen, als wüßten sie, daß man sie von oben her, aus dem Fenster beschaute.
Johanna strengte sich an und wollte zufrieden sein; sie wollte glücklich sein, weil sie nun hier war, weil sie nun immer hier bleiben konnte. Aber in ihr war eine solche Niedergeschlagenheit, daß ihr kein freudiges Gefühl gelang. Sie unternahm es, sich an der Kirche, an allem, was hier festlich und glanzvoll war, aufzurichten; aber je länger 26 sie da hinunter blickte, desto demütiger wurde sie. Das war alles zu fremd und zu stolz für sie. Die ganzen langen Jahre her hatte sie in einer Küche gelebt, hatte in der Küche gegessen und geschlafen, hatte nur einfache Geräte um sich gesehen, die sich von ihr in die Hand nehmen, pflegen und putzen ließen. Der Umgang mit ihnen war ihr vertraut, ängstigte sie nicht, und wenn das so von der Wand herabblinkte, war sie in sich selbst und in ihrer Umgebung heimisch und befriedigt. In die gute Stube des Hofrates, dort wo sein Schreibtisch stand, sein Glasschrank und seine Salongarnitur, hatte sie nur selten den Fuß gesetzt; und hatte sich dort immer gleich bedrückt, nicht an ihrem Platze, hatte sich geniert gefühlt. Bei alledem hatte sie sich wenigstens Mut einflößen können, wenn sie sich sagte, diese prächtige Stube gehöre ihrem eigenen Bruder, der wohne darin, der Bruder, der es so weit gebracht hatte im Leben. Hier jedoch war es anders; hier war der Altar mit der goldenen Sonne, und in einer silbernen Ampel, die von der Decke herab hing, brannte das ewige Licht. Johanna konnte die rote Schnur verfolgen, wenn sie geradeaus die Decke entlang 27 sah. Da kam die Schnur aus einer Luke, stürzte in die Tiefe, und trug in freier Schwebe die Silberampel. Hier war es doch anders. Hier war die Kirche; sie öffnete sich mit ihrer Heiligkeit und mit ihrem Weihrauchduft vor diesem Fenster. Da oben, wo Johanna saß, standen Betten, in denen man schlief; aber dort unten stand der Tisch des Herrn, unter demselben Dach, und ein Kaiser lag dort unten begraben: Kaiser Friedrich der Schöne.
Johanna betete.
Stunden verrannen, sanken nieder wie blasse Schleier, die grauer und dunkler wurden, je mehr es dämmerte.
Johanna war es, als müsse sie jetzt die Lampe anstecken. Jeden Abend hatte sie in der Küche gesessen, hatte die Dämmerung so schön mild um sich herfließen lassen, und gewartet, bis »die Hofrätin« nach der Lampe schellen werde, oder bis eines der Kinder zu ihr heraus kam, um ihr zu sagen: »Tant' Hanni, du sollst Licht machen . . .«
Ihr war, als warte sie auch jetzt darauf, daß man sie rufe. Die Erwartung lag in ihr, daß man sie nötig haben, etwas von ihr verlangen möge. Jetzt entdeckte sie, daß sie 28 die ganze Zeit über dagesessen und gewartet habe, ihr Bruder werde zurückkommen, werde zur Tür da hereintreten, um sie zu holen. Sie hatte sich in diesen langen Stunden nichts anderes gedacht, hatte sich keine andere Möglichkeit vorgestellt als diese, hatte in ihrem Innern keinen Augenblick daran geglaubt, daß sie nun wirklich hier bleiben müsse.
Als sie nachher im Bette lag, erblickte sie die Decke nahe über ihrem Haupte, und da war ihr, als öffne sich über ihrem Kummer der lichte Himmel. Erschüttert und getröstet zugleich schaute sie grade hinauf, wie sie so auf dem Rücken lag. Es war dieselbe Decke, die sich auch draußen über die Kirche spannte. Kleine weiße Engel trugen, eng geschmiegt an diese Decke, die weit ausgeschwungene Stuckfassung des Gemäldes, das die Mitte füllte. Das alte Bild wob da oben in den weißen Raum einen Königsmantel, breitete ihn aus, und er prangte wie ein Wunder hernieder. Geheimnisvolle, andächtige Gestalten leuchteten aus der Finsternis des Hintergrundes; holde Frauengestalten strahlten sanft hervor, weißbärtige Greise mit Bischofsmütze und goldenen Stäben; und es war wie ein stilles 29 Brausen von dunkeln, tiefen und funkelnden Farben über ihr.
Wo die Trennungsmauer an das Gemälde stieß, gleich über Johannas Bett, kam ein großer Engel in den Saal geflogen. Es war als winde er sich durch die Mauer, als schlüpfe er durch das Gestein. Weiß war er und glänzend, ein Jüngling voll Schönheit; seine Hüften steckten noch in der Wand, aber seine Brust und sein Haupt ragten herein. Mit schlanken Armen hielt er eine lange Posaune vor den Mund, als wolle er zu blasen anheben. Aber er lächelte noch, er fing noch nicht an, die Posaune zu schmettern; und er neigte sich gütig über den Saal, darin die alten Frauen schliefen.
Neben ihm war ein anderer Engel, so groß wie er; aber von diesem sah man nur die Beine. Es war als laufe er da oben, als enteile er durch die Luft, so hing die eine Sohle herab, und man sah den Bug der Ferse. Man sah auch noch einen Flatterzipfel des wallenden Gewandes, das er trug. Der Leib aber und das Antlitz dieses Engels waren draußen, jenseits der Mauer, in der Kirche drüben. Von hier glich er einem Boten, der eben weggeschickt ward, und der 30 nun stürmisch mit dem Kopfe durch die Wand gerannt war, um Nachricht in die weite Ferne zu tragen.
Johanna lag und blickte wie unerwartet beschenkt zur Decke. Sie faltete die Hände und betete die beiden Engel an, den einen, dessen lächelndes Antlitz sich zu ihr herabbeugte, und den andern, von dem sie nur die Beine sehen konnte.
Dann legte sie sich zur Seite und schloß die Augen. Da kam plötzlich eine furchtbare Sehnsucht, fiel über sie her, und überwältigte sie im Nu. Sie sehnte sich nach ihrem Bruder, nach seinen Kindern, auch nach seiner Frau. Diese Menschen fehlten ihr jetzt, erschienen ihr jetzt unermeßlich fern. In der beständigen Nähe dieser Menschen hatte sie gelebt, ihre Nähe hatte sie gefühlt, wenn sie am Einschlafen war, Abend für Abend; jetzt aber fühlte sie sich allein, und fühlte, wie sehr sie alle liebte. Sie begann zu weinen; ganz langsam, unhörbar weinte sie, mit geschlossenen Augen, bis tief in die Nacht hinein.
31 Johanna ging mit kleinen Schritten durch den Garten. Ihre Beine schmerzten, und ihre Knie wankten vor Schwäche; sie war so müde, als ob all die Müdigkeit der ganzen durcharbeiteten Jahre in ihr aufgesammelt sei und jetzt auf einmal losbrechen würde.
Sie ging kreuz und quer durch die Alleen, an den Bänken vorüber. Da saßen überall alte Leute, und Johanna wagte es nicht, sich zu ihnen zu gesellen.
Der Garten war groß und viele Wege durchliefen ihn; er war verwirrend für Johanna, die sich darin nicht zurecht finden konnte. Nur zur Kirche traf sie zurück, wo sie wohnte. Das war leicht, denn die Kirche ragte stolz über die anderen Gebäude hinweg. Aber Johanna hätte es nicht vermocht, den Ausgang wieder zu erkennen, den Weg, auf dem man sie hier herein gebracht hatte. Es schien gar kein Tor, gar kein Pfad mehr zurückzuführen, hinaus ins Freie, dorthin, woher sie gekommen war.
Jetzt stand eine leere Bank vor ihr; Johanna spähte umher, als habe sie Verbotenes im Sinn, dann ließ sie sich darauf nieder, auf die äußerste Kaute. Mühsam atmend, zerschlagen saß sie da, als hätte sie eine 32 ungeheuere Strapaze hinter sich. Vor einigen Tagen erst, daheim bei ihrem Bruder, war sie noch nicht so schwach gewesen. Da hatte sie noch den schweren Schrank im Vorzimmer von der Stelle gerückt, weil sie Antons Spazierstock dahinter suchen wollte. Der Anton war zu ihr in die Küche gekommen und hatte gesagt: »Tante Hanni, ich weiß nicht, wo mein Stock ist . . . er muß im Vorzimmer sein.« Deshalb hatte sie nachgeschaut, aber er war nirgends zu sehen. Der Anton konnte freilich nichts an den ordentlichen Platz geben. Lieber Gott, so ein junger Mensch. So hatte sie nur gleich den Schrank gerückt, und da war denn auch der Stock gelegen. Sie stellte ihn gleich in den Behälter unter dem Kleiderrechen. So war's gewesen, und es hatte sie nicht müde gemacht.
Die schöne Sonnenwärme berührte ihr bloßes Haupt, lag wie eine gütige Hand auf ihrem grauen Scheitel, glitt ihr zärtlich und heiß über die Schultern. Von den Bäumen wehte der lichte Blütenduft herab, das Gras roch stark und erdfeucht, und die Vögel sangen. Kleine schwirrende Vögel riefen in der Luft, schrien auf wie im Jubel, zwitscherten und pfiffen.
33 Es war schön.
Da kam ein kleiner alter Mann über den gelben Sand des Gartenweges heran, mit kurzen, stoßenden und stampfenden Schritten. Er trug seine Mütze in der Hand, sein kahler Schädel flammte dunkelrot und ein zorniger weißer Bart stand ihm gesträubt um Wangen und Mund.
Vor Johanna blieb er stehen, so nah, daß sie aufsehen mußte. Er schaute sie an und seine blutumränderten hellen Augen blickten so fest, als könnten sie zugreifen. Sie loderten so sehr, als kämen Funken aus ihnen gestoben. Er faßte sie mit diesen Augen an, schüttelte das Haupt bedenklich, hob die Hand mit der Mütze gegen sie, und sagte: »Sind Sie die Neue . . ?« Er war ungeduldig und setzte gleich hinterdrein: »Die Schwester von dem – von dem Hofrat, mein' ich . . ?«
Und er wartete gar nicht, bis Johanna ja gesagt hatte, sondern bestätigte es selbst: »Richtig . . . aha, . . . es stimmt schon . . .« Damit setzte er sich zu ihr. Johanna machte eine kleine Bewegung, als wollte sie fliehen.
»Bleiben S' sitzen!« befahl der kleine alte Mann.
Hierauf schwieg er lange und betrachtete 34 sie eingehend. Johanna versank dabei in Abgründe von Verlegenheit und Furcht, denn wenn der kleine alte Mann auch schwieg, aus seinen Augen, mit denen er sie musterte, schrien und riefen lauter Fragen, eine nach der anderen; keine aber konnte beantwortet werden; denn sie war es schon durch seine Mienen, so wie sie ihm nur blitzend aus den Augen herausfuhr. Er befragte ihre müden Hände, ihren verschrumpften Leib, ihre eingesunkenen Schläfen, ihr faltiges vom Küchendunst braungegerbtes Gesicht. Alles befragte er, und dann kam ein beredsamer Ausdruck von Güte und eine große Aufregung in sein weißbärtiges, altes Gesicht; er ließ den Kopf auf die Brust herab sinken, schnaufte unzufrieden durch die Nase und biß die Lippen zusammen. Endlich wandte er sich wieder zu Johanna, maß sie von oben bis unten und sagte mit verzerrtem Lächeln: »Ha . . . Sie! . . . Sie hat man schön hergerichtet!«
Er schrie wütend auf: »Hah!«
»Die lieben Anverwandten . . . hah . . . die lieben Anverwandten . . . Bande!«
»Sagen Sie nichts!« schnappte er heftig gegen Johanna. Die hatte sich nicht gerührt, aber der Alte schnappte, als wolle er sie 35 beißen. »Sagen Sie nichts!« Er zog die Brauen hoch. »Pscht! Mir werden Sie nichts erzählen . . . Gar nichts!«
Sein Gesicht war jetzt von Schmerz und Entrüstung durchwühlt, und seine Stimme kippte. »Meine Kinder . . . meine eigenen Kinder . . ! . . und die lieben guten Frauerln, die was sie sich genommen haben . . . meine eigenen Kinder haben mich verstoßen . . !«
Er brüllte wie ein krankes Tier. »Alles hab' ich für diese Brut getan! Meine Kräfte und Säfte hab' ich aufgeopfert, damit sie im Leben was vorstellen . . . Ja! . . Da schauen S' her – das hab' ich aus mir gemacht . . . das!! für meine Kinder!«
Mit einem Riß entblößte er seine beiden Arme bis zum Ellbogen, streckte sie vor sich hin; sie ragten wie zwei dürre gelbliche Stecken in die Sonnenluft. Er starrte darauf, entsetzt, erschüttert, von unterdrücktem Schluchzen geworfen.
»Da schauen S' her! Und dann haben s' mich da heraus gesperrt . . . Da wollen s' mir noch einreden, es geschieht mir was Gutes, wenn ich allein und verlassen da herumgeh' und auf den Tod wart' . . .«
36 Er kreischte. »Keine Scherereien wollen sie haben mit mir! Zu viel ist ihnen alles . . . Jedes Bissel ist ihnen zu viel, was sie sich hätten anstrengen müssen um mich . . . hah . . . um mich, der ich gerackert hab' für sie, bis ich hab' nimmer können . . ! Angst haben sie gehabt, daß ich bei ihnen sterbe . . . daß sie dabei sein müssen in meiner letzten Stund' . . . daß sie's mit anschauen sollen und sich aufregen darüber . . . daß ich ihnen dann dalieg', mitten in der Wohnung als ein Toter.«
Er lachte und weinte. »Da heraus haben sie mich gegeben, damit ihnen das alles erspart bleibt, damit sie davon nichts sehen und nichts hören, damit ihnen alles fix und fertig geliefert wird, das Hinwerden und der Leichnam und alles zusammen. Auf die Art braucht sich freilich keins anstrengen mit dem Herrn Vater . . . braucht keins bei sein' Bett sitzen, braucht keins in der Nacht aufbleiben oder zum Doktor laufen. Das wird alles fix und fertig geliefert hier . . . und macht keine Umständ'.«
Johanna faltete die Hände: »Ist es denn möglich?« rief sie leise. Jede Scheu war von ihr gewichen, so heftig stürzte ihr Mitleid 37 dem alten Mann entgegen. Was er da sprach, öffnete ein neues Leben vor ihr, voll Mißtrauen und Haß. »Ist es denn möglich,« rief sie leise, »daß die eigenen . . .«
Er aber unterbrach ihre Teilnahme und fuhr auf Johanna los. »Ja, glauben Sie vielleicht, Sie schau'n anders aus. Grad so schauen S' aus . . . genau so wie ich! Ein Hofrat ist Ihr Bruder? Ein sauberer Hofrat!« Und jetzt prasselten die Fragen wieder über sie her, gesprochene, deutliche Fragen diesmal, aber selbst wenn Johanna imstande gewesen wäre, ein Wort zu sagen, sie hätte es nicht können; so wenig gab es auf diese Fragen eine Entgegnung.
»Hat er Sie im Haus gehabt bis jetzt, der Herr Hofrat? Ja, freilich! Aber war ihm denn das nicht sehr recht? Hah? Haben Sie ihm nicht sein' Dienstboten abgegeben, was? Aber natürlich, damals hat er so getan, als ob er Ihnen eine Wohltat erweisen würde, nicht wahr? . . . Damit Sie nicht so allein in der Welt steh'n? Stimmt's? Natürlich stimmt's! Ich weiß es ja!«
»Na, und damals, wie er sie genommen hat, da war halt der Herr Hofrat noch nicht so weit, daß er ein Dienstmädel hätt' zahlen 38 können . . . Gelt ja? . . Sehen Sie, das ist der Witz!«
»Und da haben Sie ihm diese Ausgab' erspart, ihm und seiner lieben Frau? Ist Ihnen das noch nicht eingefallen, weil Sie mich jetzt so anschau'n? Sind Sie denn wirklich so blöd?«
Johanna bückte sich als würde sie geschlagen, raffte sich auf, wollte sich zur Wehr setzen, oder entfliehen. »Nein, nein . . . .« stammelte sie, »das dürfen Sie nicht . . . was glauben Sie denn eigentlich . . ?«
»Vielleicht ist es nicht wahr?« schrie er dazwischen. »Und hat er Ihnen vielleicht nicht eingeschärft, Sie sollen Rücksicht nehmen auf die Frau Gemahlin? Sollen bescheiden zu ihr sein? Sollen sie reden lassen? Sollen alles einstecken? Damit Frieden ist . . . Was? . . ? Erraten! Erraten hab' ich's!«
Er sprang umher, stieß die Beine gegen den Boden, tanzte beinahe vor Wut. Ein paar weiße Haare wehten um seinen rotflammenden Schädel.
»Und Sie haben natürlich gekuscht und gerackert, was? Gekuscht und gerackert! Haben mit sich herum befehlen lassen, wie 39 wenn das so sein müßt' . . . Und haben das Maul nicht aufmachen dürfen, hah . . ?«
Als hätte Johanna zugestimmt, rief er: »Sehen Sie, wie ich das weiß! Oh, ich kenn' diese Leut'! Jetzt kenn' ich sie alle miteinander!«
»Der Herr Bruder . . .,« fuhr er fort, » . . . Hat er Sie denn wie eine Schwester gehalten die ganze Zeit . . ? Reden S' nicht! Lügen S' nicht!« rief er streng. »Ich seh's ja . . . ich seh' ja, wie Sie anschauen . . . Wie eine alte Köchin!«
Er machte eine Pause, versammelte seine Empörung, ließ sie in einem zögernden anschleichenden Schritt fallen und lauerte Johanna mit vorgestrecktem Kopf entgegen. »Aber . . . Wer hat denn die lieben Kinder vom Herrn Bruder gewiegt und gebadet . . ? Wer ist denn vom Schlaf aufgestanden, wenn die Kinder ihre Windeln naßgemacht und geweint haben? . .« Immer langsamer wurde er: »Wer hat sich denn zerrissen, wenn die Kinder krank waren . . ? –Wer hat denn aufgepaßt auf die Kinder, wenn der Herr Bruder mit seiner Frau wo eingeladen war? – Wer denn?«
Er hob jählings die Stirn. »Na, seh'n 40 Sie!« rief er, als hätte er schon die Antwort. Dann duckte er sich wieder, wurde wieder langsam und leise. »Und die lieben Kinder? – Sind die vielleicht gut zu der Tante gewesen? – Haben die eine richtige Liebe und einen Respekt gehabt? – Und einen Dank? – Oder haben s' herumgeschrien mit der Tant', und sie umeinand' gehetzt und sich bedienen lassen, grad so wie die werten Eltern, solang' die Tant' nur hat kriechen können? – Als ob s' ein bezahlter Dienstbot' wär, die Tant'? – Was sag ich? Aerger! Denn ein bezahlter Dienstbot' läßt sich nicht so aussaugen . . .«
Johanna fühlte, daß eine Veränderung sich ereigne. Etwas Neues und Gefährliches drang in ihr Inneres, fühlte sie, und bemächtigte sich ihres Herzens, ohne daß sie Widerstand leisten konnte. Sie lieferte sich diesen Reden aus; sie staunte über jedes Wort, das sie hörte, wie über etwas Ungeahntes, und war ihm doch gleich im tiefsten vertraut und anheimgegeben. Nur äußerlich wollte sie's noch nicht gestehen; konnte es noch nicht, schüttelte den Kopf und flüsterte: »Nein . . . nein . . .«
»Sehen Sie, wie ich das weiß! Sehen 41 Sie!« Er brüllte. »Damit Sie nicht so allein sind, hat der Herr Bruder Sie ins Haus genommen . . . der gute Herr Bruder . . . na, und jetzt auf Ihre alten Tag', sind Sie jetzt vielleicht nicht allein? Hah?«
»Wenn Sie in die Fremd' gegangen wären, wenn Sie fürs Geld gearbeitet hätten . . . vielleicht hätten S' jemanden g'funden und wären jetzt nicht so verlassen . . . was? Aber beim Herrn Bruder hat's ja so was nicht 'geben . . . Dem haben S' ja so was nicht antun dürfen . . . Stimmts?«
Johanna war auf die Bank zurückgesunken und starrte ihn an.
Er lachte bitter. »Sind Sie heut' nicht dem jungen Dienstmädel neidig, die was jetzt bei Ihrem Bruder ist, und die jetzt in Ihrem Bett schlaft? – Sehen Sie!« fuhr er sie an, als hätte er sie ertappt. Er lachte. »Jetzt kann sich der Herr Hofrat schon ein Dienstmädel zahlen! Und deswegen, ja, ja, deswegen hat die Frau Gemahlin natürlich keine Ruh' gegeben, bis Sie draußen waren . . . weil jetzt eine Junge mehr leisten kann . . .«
Er schüttelte traurig den Kopf, zog sein Taschentuch, wischte über den dampfenden Schädel und seufzte. »Ach ja, ich kenn' 42 das . . . mir kann niemand was erzählen . . . Da heraus wird man gesetzt . . . Verstoßen wird man . . . und wenns einen nicht mehr brauchen, dann wird man da hier dem Tod' zum aufheben gegeben . . .«
Er schwieg eine Weile. Sein Gesicht wurde ruhig und besänftigt, dann trat er näher zu Johanna. »Na, mich hat's gefreut, die werte Bekanntschaft zu machen,« sagte er still. »Vielleicht sehen wir uns öfter hier im Garten . . . da können wir dann wieder miteinander plauschen . . . es wird mir immer ein Vergnügen sein . . .« Er machte eine unbeholfen zierliche Verbeugung, sah ihr mit lächelnden Augen ins Gesicht. Dann ging er die Mütze schwenkend davon.
Es läutete zum Mittagessen.
Johanna hörte es gar nicht.
43 Die Fenster ins Freie standen offen, der Schlafsaal war leer, die Nachmittagssonne fiel schräg herein und lag breit, in Streifen auf den schmalen Betten, und auf den Holzdielen, die frisch gescheuert glänzten. Es roch nach Spülwasser, nach Seife und nach Blumen.
Johanna saß auf ihrem Koffer.
Verstoßen! Das Wort durchzuckte sie unaufhörlich wie ein Messer und zerschnitt ihr altes Herz. Der Bruder, die Kinder, sie alle wollten also jetzt nichts mehr von ihr wissen; sie waren weit weg von ihr, und Johanna gehörte nun nicht mehr zu ihnen; sie fühlte ihr Inneres entblößt, da wo es mit dem Bruder, mit den Kindern, mit der Familie verwachsen gewesen. Sie war wie ein Ast, der abgesägt am Boden liegt, und an seiner Wunde stirbt; von eben der Stelle her verdorrt, von wo er sonst sein Leben empfing.
Sie hatte nun so viel geweint; still und bitterlich, mit gesenktem Antlitz. Dieses Wort hatte wie ein Totes in ihrem Schoß gelegen; sie hatte sich darüber gebeugt und darauf nieder geweint, wie eine Schmerzensmutter.
Johanna schaute durch den Tränenschleier ihrer Augen und sah alles zusammenfallen. 44 Was ihr ganzes Dasein ausgemacht hatte, das stürzte jetzt vor ihr ein wie eine baufällige Hütte. Sie warf es gewiß nicht selbst um, sie riß es nicht nieder, aber sie konnte auch nichts daran halten. Langsam krachte es zusammen, sank ganz von selber dahin. Dieses Leben hatte sich auf dem festen Grund ihrer Arglosigkeit aufgemauert und gestützt die vielen Jahre her. Jetzt aber, da dieses Fundament geborsten war, wankte alles und brach.
Es ging Sturz um Sturz. Und jedesmal erschrak Johanna aufs neue. Da fuhr der Tisch in die Tiefe, der Familientisch, an dem sie alle gesessen hatten, wenn Johanna mit den rauchenden Schüsseln aus der Küche kam und sie bediente. Ihr Bruder, der Hofrat, der so gebieterisch dasaß, daß sie ihn immer bewundern mußte; seine Frau, breit und nobel in ihrem geblumten Schlafrock; dann der Anton, der jetzt schon einen Schnurbart bekam, der Anton, der beständig solchen Hunger hatte und der so schön lachen konnte; neben ihm Christine, die blond war und rotwangig, die auf ein Haar Johannas Mutter glich und die sie deshalb so sehr geliebt hatte. Johanna war dem Hofrat geradezu dankbar 45 gewesen, weil diese Tochter seiner und Johannas Mutter so ähnlich war. Sie hatte das wie eine Güte von ihm empfunden.
Das versank nun. Tisch und Zimmer und Bruder und Schwägerin und die Kinder. Wie im leeren Raum sah sie noch alle; wie aus der Ferne, umzittert von dem Tränenschleier, der ihr in den Augen war. Aber alle hatten ihr den Rücken zugekehrt, als scheuten sie sich davor, ihr jetzt in das Angesicht zu blicken, oder als wendeten sie sich aus Abneigung von ihr weg. Trotzdem sah Johanna ihre Augen. Es half nichts, daß sie ihr den Rücken zeigten, sich vor ihr verbargen. Sie sah diese gesenkten Blicke, sah diese Gesichter, an denen sie Miene für Miene kannte und das Spiel all der Mienen zusammen. Aber es war jetzt auf dem Antlitz der sonst geliebten Menschen wie ein Ausschlag, der sie entstellte. Johanna hätte zum Scheuerlappen greifen, sie alle blankputzen müssen. Wie beim Kupfergeschirr war es, darauf sich Grünspan gesetzt hat. Ganz nahe bei sich gewahrte sie plötzlich die schuldbewußte, verlegene Miene, die der Bruder hier im Saale gehabt, als er Abschied nahm. Jetzt, hinterher, sah sie das auf einmal, was 46 sie vor so viel Stunden nur mit den Augen, aber nicht mit der Seele geschaut hatte. Die Augen hatten ihr dieses Bild aufbewahrt, das jetzt plötzlich vor ihre Seele kam. Sie betrachtete des Bruders Antlitz und er war jetzt wie entlarvt. In seiner Stimme vernahm sie auf einmal einen Klang von Unwahrheit, von falscher Güte, jetzt nachträglich. Als er hier Abschied nahm, hatte sie ihn nur mit den Ohren gehört. Jetzt aber erkannte sie diesen Klang. So war es gewesen, als er noch ein Kind war; und wenn er da log, hatte seine Stimme auf ihrem tiefsten Grund dieses Flattern des Tones; da hatte sie immer gewußt, daß er log.
Der Hofrat versank. Gleich einer Statue, die man von ihrem Sockel stößt, neigte er sich langsam, schwankte beschämt und besiegt, sah unkundig des Sturzes und töricht aus und fiel ins Unsichtbare.
Dann stürzte die Küche ein; ihre alte Küche: da fiel die Arbeit ihres Lebens zusammen. Ihre jungen Jahre, ihre ganzen Kräfte, ihre Gesundheit hafteten hingegeben an diesen blinkenden Geräten, die jetzt in Scherben zersprangen und in die Tiefe sausten.
47 Nichts blieb zuletzt übrig, nur das eine: Verstoßen. Das fraß alles auf, schlürfte alles ein, und blieb doch dürr und spitz dabei und regte sich nicht.
Jetzt wurde sie langsam hart; sie zog sich zusammen; das Weinen vertrocknete in ihr; sie wurde stets, spröde, kalt und immer kälter. Das tat eben so weh, war eine brennende Kälte, aber es schwächte sie nicht so sehr.
Johanna duckte den Kopf, machte ein böses Gesicht und blickte verbissen zur Seite.
In der Nacht wurde sie von schweren Schritten geweckt. Eine Kerze schimmerte unruhig und fahl durch den weiten Raum. Männer gingen hin und her. Die Türe stand offen.
Sie richtete sich auf und sah, daß auch andere Frauen in ihren Betten wach und aufgerichtet saßen. Ihre Schatten hingen wie große matte Vögel an der Wand.
In einer entfernten Ecke, wo die Kerze brannte, standen sie um ein Bett; die Männer, 48 die da hereingekommen waren, zwei, drei Frauen in weißen Nachtjacken, bildeten einen beweglichen Schirm um das Bett, waren tief darüber geneigt, traten zurück, suchten etwas, beugten sich wieder über das Bett in der Ecke dort. Johanna hörte das leise Klatschen nackter Fußsohlen auf dem Boden, hörte halblautes Sprechen.
Dann drang aus der Tiefe jenes umstellten Bettes ein Schmerzenslaut.
Johanna schaute entsetzt hinüber und rührte sich nicht.
Von jener Ecke her kam es jetzt, mit kurzem, stoßendem Keuchen, flehend, ein greises Weinen und Schlucken; kleine, mißlungene, unkenntliche Worte, in den Fetzen eines zerreißenden Atems verwickelt; dann brach ein blasiges Röcheln aus.
Ein Männerrücken schob sich zur Seite. Johanna sah dort in den Kissen eine spitze, grünbleiche Nase und einen klaffenden Mund zur Decke emporstarren. Mehr sah sie nicht, der Rücken schob sich wieder vor.
Eine kleine, alte Frau, die kahlköpfig in ihrem Bett saß, fing plötzlich laut mit einem gleichgültigen Jammer in der schlafverhängten Stimme an: »Vater unser, der Du bist.«
49 Durch die Türe kamen jetzt zwei Männer, gingen mit schleifenden Schritten durch den Saal, immer im selben Abstand von einander, einer hinter dem andern. Zwischen ihnen streckte sich die Bahre, die sie brachten. Sie gingen in einem schaukelnden Takt, blieben dort in der Ecke stehen, setzten ab.
Und jetzt begannen sie, über das Bett gebeugt, ein schnelles Hantieren. Alle anderen traten zurück. Johanna starrte angestrengt in die Kerzenflamme.
Dann kam es von dort her, kurz: »So«. Ein Mann sagte es, tief, und sein Ton war belegt.
Jetzt gingen die zwei Männer wieder einer hinter dem anderen. Mitten durch den Saal kam das Röcheln und Schlucken, näher und näher, glitt an Johannas Bett vorüber, zur Türe hinaus. Sie schaute furchtsam nach der Bahre; es war nichts zu sehen als ein weißes Tuch, das Falten warf, und ein schwaches Regen darunter.
Ein Mann kam von der Türe her zurück und rief mit halber Stimme, beschwichtigend, wie man Kinder anruft, in den Saal hinein: »Schlafen!«
Das Licht brannte weiter. Ein paar 50 Frauen ächzten. Die Betende schwieg. Man hörte das Knarren der Betteinsätze, das leichte Klopfen mit flacher Hand auf Pölster und Federdecken.
Johanna hatte das Gefühl, als ob jemand sie anschaute. Sie hob den Blick. Da hielt der große Engel die Posaune über ihr, hielt sie nahe vor seinem Mund, als warte er auf ein Zeichen, um zu beginnen, neigte sich herab und lächelte sie an.
Sie warf sich zurück und schloß die Augen.
»Schlafen«, dachte sie, »schlafen«.
Johanna kramte in ihrem Koffer. Ihre Hände ordneten und wühlten unter den Kleidern, strichen Schürzen und Hemden glatt und waren zitternd beschäftigt. Tief in ihrer Brust saß die Aufregung und trieb sie an. Es war eine Aufregung, die sich zu einem Entschluß zusammengezogen, die sich wie durch einen Krampf in sich selbst verkrümmt hatte; und nun pulsierte die Eile darin.
51 So also stand die Sache. Das begriff sie jetzt. Vielmehr, sie hatte es schon begriffen, ohne recht zu wissen, wann. Im Schlaf vielleicht, vielleicht auch gestern schon, während sie weinte, war ihr dieses Begreifen ins Blut geschlichen, und hatte sie verwandelt.
Sie fuhr mit den Händen zehnmal über eine Schürze, verweilte dabei, hielt die Schürze, wendete sie, zupfte sie zurecht.
Das war also der Dank!
Was glaubten denn die? Sie würde sich kränken? Johanna lachte auf und warf die Schürze in den Koffer. Oh nein, sie wird sich gar nicht kränken.
Ihr Herz war eingeklemmt in dieses Begreifen und drückte nach oben, daß es ihr wie verhaltenes Weinen im Halse saß.
Sie nahm einen blauen Rock, den sie noch gar nicht getragen hatte. Er war noch ganz neu, und es waren noch grade feine Büge im Stoff vom langen Daliegen. – Sie wird sich gar nicht kränken. – Sie zog den Rock über, ließ ihn sorgsam von ihrer Mitte herunterfallen, achtete darauf, daß er gut saß, und geriet in eine hastige Freude. Den Rock hier wird sie von jetzt ab immer tragen, alle Tage. Sie hat sich nie was gegönnt . . . . 52 aber ein zweitesmal wird sie nicht mehr so dumm sein.
Sie holte die schwarze Terno-Mantille aus dem Koffer. Ehrfurchtsvoll hielt sie sie zwischen den Fingern und legte sie dann sanft um die Schultern. Alle Tage wird sie die Mantille jetzt tragen; sie denkt nicht daran, dieses teure Stück zu schonen.
So nobel wie die Schwägerin wird sie auch sein, genau so. Die glaubt vielleicht, daß sie allein im geblumten Schlafrock herumgehen und sich anspreizen darf? Johanna wird jetzt in dem neuen blauen Rock und in der Terno-Mantille herumgehen, ganz ungeniert; und wenn die Frau Schwägerin sich auch darüber zu Tod ärgert . . . und wenn der Herr Bruder kommt und sagt: »Das sollst du nicht . . . meine Frau meint ebenfalls, du sollst es nicht . . .« dann wird sie ihm einfach sagen: »Du hast mir gar nichts zu befehlen, – verstanden?«
Verstanden!
Wie sie sich so in ihrem Staat betrachtete, schien es ihr, als habe sie jetzt schon eine unerbittliche Vergeltung geübt.
Sie wird es ihnen aber noch zeigen.
53 Sie machte ein eigensinniges Gesicht und hielt die Lippen zusammengekniffen, als sie hinausging. Mühelos stieg sie die Treppen hinunter. Die Erregung straffte sie so sehr, daß sie keine Schwäche und keine Müdigkeit empfand.
Wie sie unten über den kleinen Vorplatz kam, wo die Tragbahre mit den Gurten stand, erklang die Orgel in der Kirche und schütterte mit ihrem Rollen gegen die Mauern.
Johanna trat ein. Von der Musik geschoben, schritt sie zwischen den Bänken durch, immer weiter, bis ganz nach vorne. Der Orgelton war voll Kraft und tat ihr wohl. Jetzt schwoll er wie wogende Zuversicht hinter ihr her, und befeuerte ihren Mut. So was konnten die zu Hause nicht haben, so in aller Frühe, so gleich nachdem sie angekleidet waren und den Fuß vor die Türe setzten. Das würde ihnen gefallen, diese helle Kirche bei der Wohnung und die spielende Orgel darin.
Die hatten geglaubt, Johanna werde es hier schlecht und erbärmlich treffen; hatten geglaubt, Johanna werde nach ihnen weinen und sich sehnen. Das wäre ihnen recht gewesen, aber da hatten sie sich eben geirrt.
54 Johanna ging bis ganz nach vorne, dann saß sie in dem Betstuhl vor dem Stein, hinter dem der Kaiser begraben lag. Ganz nahe bei dem Kaiser saß sie.
Das wußten die zu Hause freilich nicht, daß sie hier allein in der schönen Kirche saß und so schön angezogen war. Nur dort bei der Standorgel war der Mann, der spielte. Aber den konnte sie nicht sehen; und hier, hinter diesem Stein lag ein Kaiser und schlief und Gott schenkte ihm die ewige Ruhe; und sie konnte ihn auch nicht sehen. Aber er war hinter dem Stein, wie der Mann hinter der Orgel war.
Hier wollte sie sitzen, Tag für Tag.
Stunden vergingen. Johanna schaukelte auf dem Strom ihrer Gedanken. Sie hatte niemals nachgedacht; in all den Jahren nicht. Da war ihr Kopf geworden wie ein Felsstück; jetzt aber hatte dieses Begreifen daran geschlagen gleich einem Wunderstecken, und jetzt sprang der Quell daraus hervor, rauschte über sie hinweg und trug sie mit sich fort. Sie konnte gar nicht mit ihrem Gefühl folgen, so heftig schossen die Gedanken dahin.
Die Orgel war verstummt. Die Türe ging ein paarmal auf und zu; ein paar Greise 55 waren hereingekommen, etliche alte Frauen. Die saßen in den Bänken verstreut, eins immer weit abgerückt vom andern. Niemand aber war bis ganz nach vorne gegangen wie Johanna.
Ein kurzer stoßender Schritt kam durch die Kirche. Johanna sah den kleinen alten Mann eintreten; sah seinen rotflammenden Schädel, an dem die wenigen weißen Haare flatterten. Sie erschrak und empfand eine fürchterliche Scham. Der wußte es, daß sie verstoßen war.
Der alte Mann beachtete sie nicht. Er kam bis ganz nach vorne, bis dicht zum Altar, aber er schaute nicht nach der Seite, wo Johanna saß. Er schob sich auch nicht in eine der Bänke; auf den Steinfließen fiel er hart ins Knie, lag dann mit der glühenden Stirne auf dem Boden und betete lautlos.
Johanna starrte ihn an. Er lag da, wie unter einer entsetzlichen Mißhandlung, wie unter Fußtritten lag er da, und pochte mit seiner alten Stirne an die Steine.
Der wußte, daß sie verstoßen war. Er wußte alles von ihr, aber was sie jetzt tat, das wußte er nicht. Sie hätte ihn anrufen wollen, um es ihm zu sagen.
56 Bald werden es alle wissen, daß sie Tag für Tag bei dem schlafenden Kaiser sitzt.
Und einmal wird Jemand herauskommen, um nach dem Grab des Kaisers zu sehen. Es mußte doch wohl immer Jemand kommen? Vielleicht erst zu Allerseelen? Aber nein; es mußte sicherlich schon vorher jemand kommen, denn bei einem Kaiser ist das nicht so, daß seine Leute nur alle Jahr einmal zu seinem Grab gehen.
Dann wird sie dasitzen, und man wird erfahren, daß sie immer so treu dasitzt, und man wird mit ihr sprechen, wird ihr dafür danken.
Man wird vielleicht sagen: »Also wenn die Johanna ohnedies immer dableibt und achtgibt, dann brauchen wir nicht mehr so oft nachschauen.«
Und dann wird sie sagen, daß sie es gern tut.
Dann aber wird sie fragen: »Kennen Sie vielleicht den Hofrat Lehngruber?«
Natürlich wird man ihn kennen; und sie wird alles erzählen. Dann wird man den Kopf schütteln und wird sagen: »Nein, nein, das hätten wir nicht gedacht . . .«
57 Johanna lächelte. Der alte Mann dort sprang auf, als hätte er ihr Lächeln gehört, als hätte dieses Lächeln ihn emporgeschreckt. Wie aus dem Boden gewachsen, stand er da; und sie hatte seiner vergessen; jetzt traf sie sein Blick, verstört, fremd und unter Tränen blitzend.
Johannas Antlitz erlosch.
Es war so warm und so fröhlich hell draußen im Garten. Die Blüten hatten sich an allen Zweigen geöffnet und die jungen Obstbäume standen nun da, streckten einem die Arme entgegen, wie Kinder, die gratulieren kommen und Blumen bringen.
Johanna lief im Garten umher, den alten Mann zu suchen. Sie wollte wieder auf einer Bank mit ihm sitzen; er sollte wieder zu ihr sprechen wie gestern, aber dann wollte sie ihm sagen, daß sie sich gar nichts aus ihrem Bruder mache, daß ihr an der ganzen Sache überhaupt nichts mehr gelegen sei. Man 58 konnte jetzt hergehen und sie bitten, sie solle wieder nach Hause zurückkehren. Sie würde höchstens dazu lachen. Einen Dienstboten gab sie auf dieser Welt keinem Menschen mehr ab.
Sie kam zur Gartenmauer. Jenseits davon stieg eine Wiese zum Bergwald hinan. Eine große, sanftgeneigte Fläche, und in das tiefe Grün des Rasens waren gelbe, blaue und rote Blumen wie viele kleine Pünktchen eingestreut. Auf dem Abhang wandelten Menschen mit langsamen Schritten, sahen von weitem aus wie Punkte, die Männer wie schwarze, die Mädchen wie weiße Punkte.
Johanna blickte unaufmerksam nach der Wiese hin. Ihr schien es, als wandelten die Menschen da draußen nur, um zu warten, bis sie hier herein durften. Aber sie durften nicht herein. Daran, daß sie selbst nicht hinaus konnte, draußen nichts zu tun hatte, dachte sie keinen Augenblick.
Sie war jetzt damit beschäftigt, sich vorzustellen, wie das sein werde, wenn sie den alten Mann reden ließ, und sein Erstaunen, wenn sie dann selbst zu sprechen anfing. Wenn sie ihm zeigt, wie sie es machen wird, wenn der Bruder sie besucht. Kurzweg 59 abwenden wird sie sich, als ob niemand da sei, und keine Antwort geben.
Suchend kreuzte sie durch die Alleen. Eine Ermattung schlich von den Beinen her an ihr empor; sie fühlte die warme Sonne auf der Mantille, aber die kühle Luft der Kirche lag noch fröstelnd in ihren Gliedern. Sie schauerte manchmal leicht zusammen; dann war es, als wolle die Fröhlichkeit ihr entgleiten. Eine seltsame Leere tat sich in ihr auf, und da hinein wollte ihre trotzende Zuversicht versinken. Sie erschrak und hielt ihre Vorsätze fest an sich gepreßt.
Eine Bank stand da. Johanna setzte sich nieder, wartete, spähte nach rechts und links. Ueber den gelben Sand mußten die stampfenden kurzen Schritte kommen, da mußte sie den Alten sehen, wie er die Mütze schwenkte und sich näherte. Sie war voll Ungeduld; es verlangte sie heftig danach, sich jemandem anzuvertrauen. Lange saß sie da und wartete darauf, endlich sprechen zu dürfen.
Draußen auf der Wiese, gegen den Wald zu, fing einer an, auf dem Flügelhorn zu blasen, bemühte sich um ein Lied, das nicht gelingen wollte. Wie flatterndes Linnen im Wind rissen die Töne entzwei, zersetzten in 60 der Luft, und dann nahm er sie wieder, holte sie zurück, schickte sie aufs neue durch die Trompete; und jetzt hielten sie zusammen, flogen herüber: »Wenn's Mailüfterl weht.«
Aber weiter ging es nicht. Nur bis da her: »Wenn's Mailüfterl weht . . .« fünf-, sechsmal. Dann schwieg das Flügelhorn.
In Johanna war unter diesem Blasen das alte Lied erwacht, kam herauf, und hing an ihren Lippen. Sie schämte sich, als sei eine große Zuhörermenge versammelt, um ihr zu lauschen; doch sie konnte nicht anders, das Lied regte sich von selbst in ihr. Leise sang sie es, und lächelte entschuldigend dazu: »Wenn's Mailüfterl weht – zergeht im Wald drauß't der Schnee..« Die Worte glitten ihr aus der Deutlichkeit in die Finsternis vergangener Jahre, verloren sich darin, tauchten dann wieder auf. ». . . Und die Vögerl, die g'schlaf'n ha'm, die ganze Winterszeit – die werd'n wieder munter und singen vor Freud' . . .« Die Melodie stockte keinen Moment.
Sie fing es noch einmal an. Aus ihren frühesten Tagen klang es jetzt her zu ihr. Sie sah das bäuerliche Gehöft vor sich; vom geschmolzenen Schnee war der Boden mit 61 schwarzen Pfützen überschwemmt; Gänse und Enten wateten im Wasser und ihr Bruder, ein kleiner Bub, patschte mit nackten Beinen drin umher. Die Erde war überall naß und wie gekneteter Teig unter jedem Schritt; hoch am Himmel flogen rasche, weiße Wolken; von den Bäumen tropfte es, vom Taubenkogel, vom niederen Schindeldach. In der Türe stand die Mutter, breit und blond, sah aus wie des Hofrats Christine und sang es den Kindern vor: »Wenn's Mailüfterl weht.« Drunten lag die Stadt Wien, weit weg. Aus dem Frühnebel heraus stießen die Kirchtürme ihre funkelnden Kreuze.
Johanna sang jetzt das Lied wieder der Mutter nach, wie einst, hörte wie einst die Mutter vorsingen; die Befangenheit wich aus ihren Mienen, das Lächeln, das ihren Mund umschwebte, wurde andächtig und liebreich.
Die Mutter fing das andere Lied an. Johanna hatte nur diese zwei von ihr gelernt, kannte sonst keines mehr. Die Mutter sang: »Dort drunten überm Bacherl . . .« Johanna sang mit.
Der Hof verschwand, die Mutter verschwand. Sie sang allein weiter.
62 Ein Schauer überflog sie plötzlich. Sie verstummte eine Weile, schaute leer vor sich hin, dann stand sie auf, ging wieder durch die Alleen kreuz und quer. Den alten Mann hatte sie vergessen.
Sie schritt unter dem Schatten junger Kastanienblätter und es kehrten die beiden Lieder noch einmal zurück. Als sie beim zweiten war, »Dort drunten überm Bacherl . . .,« sagte jemand: »So ist's recht. Nur immer munter!« Der Beamte stand da und lächelte.
Johanna verstummte. Sie machte einen kleinen Sprung und entwich, beinahe laufend; hinter sich zu schauen, wagte sie nicht; sie hastete voll Scham, von Angst und Reue gepeinigt, weiter. Es war ihr, als sei sie bei etwas Schlechtem erwischt und verhöhnt worden. Sie fürchtete sich, fühlte sich gekränkt und verlassen.
Jetzt plötzlich entfiel ihr alles, was sie so fest zusammengehalten hatte, ihr Trotz und ihr Mut und ihre Fröhlichkeit, das war auf einmal zerronnen. Jetzt auf einmal bemerkte sie, wie allein sie war, wie ganz allein, und da brach plötzlich die Sehnsucht in ihr aus. Sie wollte nach Hause, zu ihrem Bruder, zu ihrer Schwägerin, zu den Kindern. Sie 63 wollte in die kleine Wohnung zurück, die warm war, und in der es vertraulich roch vom jahrelangen Drinnenleben. Sie dachte nicht mehr an die Kränkung, nicht mehr ans Trotzen, an nichts mehr; sie unterwarf sich bedingungslos. Sie wollte diese Stimmen hören, diese Gesichter sehen; in der nächsten Minute schon, sofort, sie konnte jetzt nicht länger warten.
Sie begann wieder schneller zu gehen. Als sie an das Gesicht des Beamten dachte, fiel ihr unvermutet ein, daß heute Sonntag sein müsse. Kaum war ihr das eingefallen, da stand es auch schon fest in ihr: es war heute Sonntag. Und kaum hatte sie diese Zuversicht, da war es ihr auch schon gewiß, daß heute alle herauskommen werden, sie zu besuchen. Und kaum war sie bei diesem Glauben, meinte sie auch gleich, der Hofrat, seine Frau und die Kinder seien jetzt schon da. Man sucht sie, man erwartet sie, im Garten oder im Schlafsaal oben.
Sie wandte sich der Kirche zu. Wie weit hatte sie sich entfernt! Wenn die nun durch den Garten nach ihr suchten, wenn man sie verfehlte, wenn am Ende alle wieder weggingen, weil sie nicht da war . . .
64 Ein paar alte Männer und Frauen in einer Reihe nebeneinander kamen ihr langsam entgegen. Johanna flog auf sie zu, daß die alten Leute nach rechts und links beiseite traten. Erschrocken stand Johanna still, fand sich in diesem verdutzten, stummen Kreise, besann sich, was sie gewollt hatte, schluckte, und von der Not des Augenblicks zur Tapferkeit gezwungen, rief sie mit überspannter Stimme: »Nicht wahr, heute ist doch Sonntag?«
Die alten Leute blickten sich gegenseitig an. Einige lächelten unmerkbar, einige machten zornige Augen, einige schüttelten mißbilligend den Kopf. Niemand sagte ein Wort.
Johanna lief weiter.
Es läutete zu Mittag noch während sie lief. Da blieb sie stehen und besann sich, daß der Bruder doch erst am Nachmittag kommen werde. Ihre Knie wankten vor Erschöpfung.
Sie schleppte sich hinauf und ruhte am Bettrand aus.
Natürlich erst nachmittags.
65 Sie sah das Mittagessen zu Hause, und es war ein beschwichtigendes Bild vor ihren Augen. Sie begriff daran, daß sie Geduld haben müsse, bis das alles erledigt sei. Sie labte ihr Heimweh daran, kam in ein schwelgendes Gedenken.
Da glänzte das neue weiße Tischtuch; da saßen alle herum und dufteten nach der frischen Luft und nach der Straße, da plauderten alle durcheinander und Johanna hörte zu, während sie aus und ein ging. Sie hörte wie ihre Löffeln und Gabeln an die Schüssel und Teller klapperten. Dann flog von der Zigarre des Hofrats der angenehm beizende Geruch durch das Zimmer, drang bis in die Küche hinaus zu Johanna. Draußen in der Küche aber lag nachher das weiße Porzellan umgestürzt auf dem Tisch, die Schüsseln und Teller mit der Höhlung nach unten, triefend und dampfend vom heißen Wasser, das nun in Tropfen ablief und in kleinen Perlen auf der Glasur schimmerte. Inzwischen waren sie jetzt drinnen beschäftigt sich anzuziehen. Die Schwägerin half der Christine und die Christine half der Schwägerin. Der Hofrat aber hatte sich auf das Sofa gestreckt; er war in Hemdsärmeln, hatte die Schuhe 66 ausgezogen, und an den weißen Socken baumelten die Pantoffel. Er las die Zeitung, bis die anderen hereinkamen und sagten: »So, wir können gehen.« Da stand er auf, und war im Nu bereit. Der Hofrat konnte immer so schnell fertig sein.
Johanna lächelte wieder.
Wenn das erst geschehen ist, dann werden sie zur Bahn gehen, dann werden sie in Weidlingau aussteigen, werden hier durch den Wald wandern und auf einmal da sein, eh' man es denkt.
Sie schob sich einen Stuhl an das Fenster, das in die Kirche blickte, setzte sich dorthin, um ihre Sehnsucht zu vertrösten.
Ein paar Stunden flossen sacht dahin.
Johanna bemerkte, daß Leute in der Kirche unten umher gingen, und vor dem Grab des Kaisers standen. Sie meinte auf einmal, sie dürfe nicht so ruhig hier oben sitzen, wenn fremde Leute dort unten waren.
Und sie eilte die Treppe hinunter, trat in die Kirche, und setzte sich mit strengem Antlitz in den Betstuhl vor dem Kaisergrab, um achtzugeben.
Die Leute entfernten sich. Johanna glaubte, sie habe alle vertrieben.
67 Es blieb lange still.
Dann kamen wieder Menschen. Zwei ältere Herren, eine dicke Frau und ein kleiner Junge. Sie wanderten schauend und flüsternd in der Kirche herum, standen miteinander vor dem Altar, deuteten mit halben Bewegungen nach den beiden Erzengeln, und kamen zu Johanna. Die wollte sie streng anblicken; als sie aber nahe herantraten, schlug Johanna doch die Augen nieder. Jetzt sah sie nur die blankgewichsten Schuhe der Herren, den Kleidsaum der Dame dicht vor sich und die zierlichen Lackstiefeletten des Jungen.
»Nun, weißt du etwas von Friedrich dem Schönen?« Von den Herren sagte es einer zu dem Jungen.
Es kam keine Antwort. Die Dame wiederholte drohend: »Was ist denn? Weißt du nichts von ihm, oder was weißt du eigentlich?« Eine schüchterne Kinderstimme entgegnete: » . . . daß er schön war . . .« Alle lachten. Dann gingen sie fort.
Johanna war sehr müde. Sie hätte gewünscht oben im Bette zu liegen, den schmerzenden Leib auszuruhen. Aber sie wartete. Sie hörte die Turmuhr schlagen, und das 68 klingend harte Niederfallen des Glockenhammers traf sie in den Kopf. Langsam glitt sie in einen tiefen Schacht von Müdigkeit, immer weiter, bis sie sich berauscht von ihrer Erschöpfung daraus erhob, wachgehalten davon, aufgeregt und angestrafft.
Die ersten Dämmerschleier wehten von der Decke nieder. Johanna saß wieder aufgerichtet da, und starrte nach der Tür. Sie hütete sich davor, sich's zu sagen, daß niemand kommen werde. Wenn es in ihr zu flüstern anfing: niemand wird kommen! hörte sie gar nicht danach hin.
Ein junger Mann mit einem jungen Mädchen trat herein. Die Schultern aneinandergelehnt, gingen sie Arm in Arm zwischen den Bankreihen. Er war hübsch, hatte einen dunklen Schnurbart und milde glänzende Augen. Das Mädchen an seiner Seite war lieblich in ihrem hellen Kleid; unter dem breiten Strohhut lächelte ihr frohes Gesicht. Sie kamen schnell heran.
Johanna schaute sie erwartungsvoll an; sie standen knapp vor ihr. »Friedrich der Schöne . . .«, hörte sie den jungen Mann. Die Beiden schauten einander nah in die Augen und lachten auf.
69 »Der muß es getrieben haben!« sagte das Mädchen.
»Warum?«
Das Mädchen schnalzte: »Tch!«, umfing Johanna mit einem Blick, darin ein wenig Mitleid und ein wenig Spott war, und als nehme sie ohne weiteres an, Johanna sei taub, sprach sie: »Das hätte der sich auch nicht gedacht, daß er einmal so mitten unter lauter alten Weibern begraben sein wird . . . Friedrich der Schöne . . .«
Der junge Mann schaute vorsichtig zu Johanna und sagte verlegen: »Er liegt übrigens schon längst nicht mehr da . . . ist überführt worden . . .«
Johanna blickte hinter sich die steinerne Tafel an. War das denn möglich? Konnte denn das hier lügen? Zornig drehte sie sich um und fixierte den jungen Mann. Er war es, der hier log. Nur um ihr etwas Böses anzutun, hatte er das gesagt. In ihr schlug plötzlich die Wut heraus wie Feuer. Natürlich, man wollte ihr nichts mehr gönnen. Gar nichts mehr! Sie sprang auf.
Das Mädchen zog den jungen Menschen am Arm. »Komm'«, flüsterte sie und blinzelte dabei schuldbewußt nach Johanna.
70 Die Beiden verließen die Kirche, aber Johanna ging ihnen nach. Sie kamen in den Garten hinaus, aber Johanna wankte eilig neben ihnen her und schaute seitlings dem jungen Menschen scharf ins Gesicht.
Die Beiden hielten sich eng aneinandergedrückt, lächelten verlegen und schritten aus. Johanna wich nicht von ihrer Flanke. Sie wollte sich zu einer Anrede sammeln, wollte den jungen Menschen fragen, ob ihn nicht jemand geschickt, ob ihn nicht jemand angestiftet habe.
Sie kamen durch das Tor, kamen über die Brücke, Johanna immer nebenher. Die beiden flohen jetzt, aber sie wagten es nicht zu laufen. Das Mädchen zischelte mit Angst im Ton: »Was hat denn die Alte? . . . Was will sie denn?«
Der junge Mann lachte beklommen: »Ja, ich weiß wirklich nicht . . . vielleicht ist sie närrisch . . .«
Johanna suchte nach einem Wort, fing an, murmelte, jappte und drohte mit den Augen.
Jetzt waren sie überm Vorhof, durch den Torbogen. Der Platz war da mit der Linde darauf; und da lag die Straße.
71 Die jungen Leute kehrten sich rasch zu Johanna, die eben ihren Arm ausstreckte, um sie zu fassen. Sie zeigten ihr zwei auflachende, befreite Gesichter, machten eine blitzschnelle Schwenkung und rannten die Straße hinunter dem Walde zu.
Johanna stand wie betäubt vor Staunen, völlig entwaffnet.
Die Straße selbst schien vor Johanna zu fliehen, stürzte die kleine Anhöhe hinter dem Platz hinunter, wand sich eilfertig zwischen den Wiesen durch, schlüpfte in den Wald hinein, der sie schirmend aufnahm und von ferne zu Johanna herübertrotzte.
Sie stand da und sah sich um; sie war allein auf dem Platz; jenseits des Weges strebte der Goldregen schwer und festlich über ein schwarzes Eisengitter. Hier unter der Linde hatte der Wagen gehalten, in dem sie mit dem Bruder herausgefahren war. Sie schrumpfte zusammen bei dieser Erinnerung, verarmte daran.
72 Sie stand da und sah sich um. Ueberall fielen schon dichte Schatten nieder, und von der Abendsonne hingen nur noch ein paar blasse Flammen in den Wolken; heute kam niemand mehr zu ihr.
Vielleicht kam überhaupt niemand mehr.
Sie hielt die Hände fest an die Brust gedrückt und fühlte die atmende Stille der Landschaft. In diesem Augenblick öffnete sich ein Ahnen in ihr und sie fühlte die Stille der ganzen Welt. Sie schaute mit Blicken, die jetzt klar und durchdringend waren, die leere Straße hinunter, und sie sah, was nicht in Wirklichkeit dort war, sah auf der leeren Straße ein junges Mädchen davon rennen, in einem hellen Kleid. Ein junges Mädchen, das sich von ihr schied, das einst, vor vieler Zeit, sie selbst gewesen . . ., mit dem sie nichts angefangen, das sie hatte verschmachten und in einer Küche verderben lassen; sich selbst. Dort lief nun die junge, arme Johanna von einst, schwebte über die Wiesenstraße im Abenddunkel, als ein Gespenst. Noch um einen Ruck öffnete sich das dämmernde Verstehen in ihr; und da traf es sie, daß sie davon geknickt wurde: Alles war vorbei. Ihre Jahre waren vergeudet, waren gestohlen 73 worden, die Jugend ihr entsprungen, ihr ganzes Leben war weg, und nichts mehr kam.
Es traf sie so, daß sie plötzlich aufschrie, lange und wie gedrosselt. Ein Schluchzen begann in ihr, so hart und so trocken, daß sie unter seinen Stößen taumelte.
Alles fiel von ihr ab in diesem Augenblick. Trotz und Hoffen, jeglicher Vorsatz und jeder Groll, alle Sehnsucht und das Heimweh. Das fiel zu Boden, als reiße man ihr die Kleider vom Leibe. Sie war so gänzlich entblößt, daß es sie schüttelte; alles wich vor ihr zurück, wie die Luft, in der sie atmen gewöhnt war, und erstickend griff sie mit den Armen ins Leere.
Es vertrieb sie von diesem Platze hier; sie lief fort, um sich zu retten, um irgendetwas zu retten. Als sie über den Vorhof kam, quoll endlich das Weinen in ihr auf und verdunkelte ihren Blick. Sie weinte, wimmernd und klagend, wie sie einst als kleines Kind geweint hatte; und wie verlorenes Gut, losgerissen von seinen Wurzeln auf den Wellen eines Stromes, der seine Ufer überschwemmt hat, trieb in dieser Tränenflut all ihr verlorenes Gut regellos dahin. Sie 74 weinte um die beiden jungen Menschen, die so schnell die Straße hinunter gerannt waren, sie weinte um ein junges Mädchen, um irgendeins, das verdorrt war, sie weinte um den Bruder und um seine Kinder, um die alte Frau, die man heute nachts hinausgetragen hatte, sie weinte um ihre Mutter, sah plötzlich das weiße Tuch, das man über das Gesicht der Mutter gebreitet hatte, als sie gestorben war, und der Schmerz blutete so heftig, als habe sie ihn jetzt eben erst erlitten.
Immer laufend, weinte sie. Ihr Weinen schlug um, stieg in die Höhe, sank in die Tiefe, wurde langgezogen, dann wieder schnappend, ward lauter und zuletzt ganz leise, und es war ein wundes Verlangen in ihr, sich hinzulegen, wo sie eben war, sich auszuruhen. Es zerrte an ihr, lockte sie zu Boden, drückte auf ihre Schultern, überredete sie, keinen Schritt mehr zu tun, sich niederfallen zu lassen; aber sie lief nur noch schneller durch den dunkelnden Garten, bis zur Kirche.
Als sie über den Korridor zur letzten Treppe hinaufbog, hörte sie schreien. Eine Türe stand auf, quer über die Schwelle war 75 die Tragbahre hingesetzt, und um sie her ein Tumult von Männern.
Auf der Bahre aber lag der kleine alte Mann und tobte um sich. Die Männer hielten ihn mit gewaltsamen Griffen nieder; schweigend alle, nur mit lautem Keuchen, mit Stöhnen und zornigem Knurren. Sie hatten jetzt seinen Leib mit den Gurten umwunden; er bäumte sich, aber sie schnallten ihn fest. Eben zogen sie die Gurten um seine zappelnden Beine, da fuhr sein nackter Knochenarm drein, vom zerrissenen Hemd umflattert, und hieb dem einen der Männer die Mütze vom Kopf, daß sie bis vor Johannas Füße flog. Aber nun warfen sie sich über ihn, packten ihn an den Schultern und Johanna sah, wie er liegend, von unten her mit ihnen rang, wie sie ihn bändigten. Sie sah, wie sein Antlitz, das sonst so glühend rot gewesen, jetzt weiß war, entfärbt und verzerrt, sie sah, wie sein blasser Schädel auf das Kissen schlug, wie seine Augen gekränkt, verwundet umhersuchten und suchten, – sie erkannte plötzlich eine flehende, rasendgewordene Liebe darin, eine verstoßene Güte. Ihr Verstehen öffnete sich wieder. Sie erkannte, daß niemand den alten Mann dort 76 begriff, daß er seine Kinder nur herbei wüten wollte, in seiner Sehnsucht, und weil er sich schämte, sie sanfter zu rufen. Sie floh treppaufwärts.
Dann zog sie oben bedächtig ihre Kleider aus. Eine Ruhe hatte sie ergriffen, die seltsam war wie keine je vorher; eine Ruhe, die sich wie ein kühles, nasses Linnen fest um ihre Glieder und um ihre Seele schmiegte.
Sie fühlte, daß sie nun Zeit habe. Sie fühlte, daß alles langsam gehen müsse und ordentlich. Es war auch alles so schwer, daß es nicht anders gehen konnte. Die Mantille, der Rock, die Schuhe; selbst ihre Finger waren schwer und hingen wie Gewichte an ihr.
Sorgfältig legte sie ihre Sachen zusammen, strich die Kleider, wie sie auf dem Stuhle hingen, noch einmal glatt; zog die Nachtjacke an, und knöpfte sie noch von oben bis unten fest zu.
Dann hob sie die Decke, legte sich gerade ins Bett, und wurde augenblicklich bewußtlos.
77 Sie erwachte von einem fernen Ruf des Glücks. Und es klopfte. Johanna wußte genau, woher das Klopfen kam. Ob es gleich so nahe schien, als poche es dicht an ihren Schläfen, war es doch in der Kirche unten. Hinter dem Stein. Dort schlug der Kaiser an die Wand. Sie hörte ihn jetzt ganz deutlich; hörte seine junge, klingende Stimme.
Sie vernahm durcheinanderrufende Stimmen von oben, und schaute auf. Da war jetzt kein Gemälde mehr. Die Bischöfe mit den goldenen Mützen traten hervor, regten sich, winkten mit den goldenen Stäben und deuteten ihr mit den guten, weißbärtigen Gesichtern, der Kaiser werde gleich kommen.
Zu ihr! Das wußte sie.
Die Frauen da oben mit den bloßen Schultern, mit den fließenden Seidengewändern, gingen aufgeregt hin und her, lachten zu ihr herunter und grüßten. Johanna lachte und grüßte wieder, mit den Händen; da freuten sich alle. »Ich muß warten, bis der Kaiser kommt . . .«, rief sie hinauf. Da stand plötzlich der Bruder droben und war ganz blaß. Er hatte seinen neuen schwarzen Leibrock an, hatte das Haupt entblößt, hielt den Zylinder 78 in der Hand, und er verbeugte sich fortwährend vor ihr.
Johanna lachte, daß es sie warf: wie er sich verbeugte!
Und da stand auch das Mädchen oben mit dem jungen Mann und auf einmal riefen alle mit schallender Stimme: Friedrich der Schöne . . ! Friedrich der Schöne . . !
Das Mädchen sagte hinterher allein: »Der muß es getrieben haben!«
Johanna sah das Gesicht des jungen Mannes. Das war er! Das! Sie sah seine stillen, glänzenden Augen, sah den gütigen Mund hinter dem Schnurbart, seine feinen Wangen.
Ein wunderbares Feuer entbrannte in ihr. Niemals hatte sie es empfunden, aber jetzt empfand sie es. Die Seligkeit einer grenzenlosen Hingabe wachte in ihr auf und wartete. Sie fühlte das Herannahen unendlicher Zärtlichkeiten, empfand die Nähe aller Wonnen und ihr Leib hob sich den Liebkosungen entgegen, die seiner harrten.
Johanna sang. Sie wußte, daß niemand so schön zu singen vermochte wie sie, so tief aus der Freude heraus.
Alle da oben lauschten. Dann trat der 79 junge Mann von dem Mädchen fort und sagte: »Mit Ihnen hab' ich nichts zu tun – ich bin Friedrich der Schöne . . .«
Johanna schrie vor Glück; und er verschwand.
Jetzt sah sie plötzlich den großen Engel über sich. Er neigte sich tief zu ihr herab und berührte sie an der Schulter. Neben ihm drängten sich freilich noch einige von den Männern heran, die vorhin den kleinen Alten an die Bahre geschnallt hatten, beugten sich über Johanna und berührten sie an der Schulter; aber sie kümmerte sich nicht darum. Da schwang der Engel sich auf, hing wieder wie sonst über ihr, lächelte zauberhaft und nickte ihr zu.
Jetzt aber brach an den Wänden der Orgelklang aus, viele Glocken läuteten, daß unter dem gewaltigen Dröhnen alles Denken zerfloß. Jetzt setzte der Engel die Posaune an den Mund und blies hinein, und es schmetterte so stark, daß die Luft davon zu flimmern begann. Aber Johanna konnte mitsingen, was er blies. Ganz langsam: Wenn's – Mailüfterl – weht –«
Jetzt barst das Gewölbe, die Bischöfe und die Damen drängten zur Seite, bildeten eine 80 Gasse, und auf Sonnenflammen kam Einer geschritten, im silbernen Harnisch. Johanna seufzte tief. Ihre Augen waren geblendet. Und sie brachen.