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Kindertanzstunde

Da ist ein ganz kleines Mäderl ,... o, wirklich, es ist noch so klein, daß es von seinem Sessel richtig herunterturnen muß, um auf den Boden zu gelangen. Und da kommt ein kleines Buberl herzu, auch ein ganz kleines. Das macht eine kurze Verbeugung, eine sehr nette Verbeugung, die nur ein bißchen mürrisch aussieht. Das Mäderl antwortet darauf mit einem zierlichen Knicks; und dann tanzen die beiden zusammen. Mit etwas mühsam hopsenden Schritten und mit ernsten Gesichtern. Es ist kein Spaß für die zwei; vorläufig noch nicht. Sondern eher eine kleine Arbeit: das Kompliment, das Schritthalten, kurz der Walzer.

Viele andere Kinder sind da, knicksen, umschlingen sich, tanzen, oder springen ganz einfach herum. Die einen lachend, die anderen ernst, die einen schüchtern, die anderen keck. Der Lehrer ist unter ihnen, und er hat eine reizende Art, die Kinder zutraulich zu machen, mit ihnen zu scherzen und sie langsam draufzubringen, daß ja das Tanzen eigentlich ein Vergnügen ist. Er sieht vornehm aus, er bewegt sich anmutig, und obwohl er schon ein alter Herr ist, hat sein geübter Körper immer noch sehr viel Geschmeidigkeit. Man möchte ihn einmal im Rokokokostüm sehen, in Eskarpins und mit einem Spitzenjabot, das glatte, süß lächelnde Abbategesicht von einer weißen Puderperücke überwölbt, und eine Geige in der Hand, völlig wie die Tanzmeister auf den Bildern des Ancien Régime. Er spricht zu den Kindern weder überlegen noch ironisch, nicht ernst und auch nicht mit jener scherzhaften Herablassung, die Erwachsene manchmal gegen Kinder annehmen. Er redet mit ihnen wie jemand, der gern mit ihnen spielt, und der nun wirklich für eine Stunde ihr Kamerad ist. In all seiner vertraulichen Munterkeit aber bleibt er doch immer höflich; er wird nicht ungeduldig, und er vergißt sich auch in der besten Laune nicht. Immer hat er diese schönen, runden Manieren, diese ein wenig abgezirkelte, ein wenig feierliche Höflichkeit, hält sie den Kindern vor, zeigt sie ihnen unaufhörlich, prägt sie ihnen ein, ohne daß sie's merken. Es ist hübsch, was für feinen Takt und was für sichere Instinkte die Kinder haben, wie sie alle diese sanften, höflichen Manieren empfinden, wie sich alle nett und artig betragen, wenn der Tanzlehrer da ist, wie sie mit ihren kleinen Rüpeleien an sich halten und sich gegenseitig behutsamer anfassen. Man sollte meinen, daß sie späterhin doch nicht ganz verflegeln können, und daß der zierliche alte Herr ihnen für immer so eine Art von Grundakkord an guten Formen mitgibt, für künftige Zeiten. Aber bei Kindern kann man ja niemals wissen ,...

Da drehen sich nun die kleinen Paare im Walzer; ein helles, bewegliches Getümmel schleift zum Klang der Musik übers Parkett, und es ist wie ein richtiger Ball. Das Abbild unserer Geselligkeit im kleinen, denkt man. Aber man sollte das nicht denken. Denn es ist in Wahrheit ganz was anderes, das Tanzen der Kinder. »Mama,« sagt ein Buberl neben mir, »voriges Mal haben wir einen Ball gehabt, nicht wahr?« Die Mama nickt Ja dazu. »Und heute«, fährt der Junge fort, »haben wir Tanzstunde ,...?« Die Mama nickt wieder. »Ja, aber, Mama, die Tanzstunde ist wie der Ball, und der Ball wie die Tanzstunde ,... warum heißt es denn verschieden?« Die Mama denkt eine Weile scharf nach, dann antwortet sie: »Aber ,... vorige Woche habt ihr doch Schokolade getrunken und Krapfen gegessen.« Der Bub ist nun vollständig aufgeklärt.

Das Tanzen der Kinder ,... es hat die Gebärde unseres erwachsenen Tanzens, es hat denselben Rhythmus, dieselben Walzer werden dazu aufgespielt, und diese kleinen Händchen legen sich ineinander, wie unsere Hände sich beim Walzer ineinanderlegen. Dennoch ist es eine andere Welt, ist nicht das Abbild, nicht die Miniatur, kaum der Reflex der unseren; ist eine verschlossene Welt, wie uns die ganze Kindheit verschlossen und für immer zugeriegelt ist. Aus den Melodien, die hier erklingen, hören die Kinder noch gar nichts anderes als eine schimmernde, durchsichtig lachende Fröhlichkeit, und es ist keine andere als die schimmernde, durchsichtig lächelnde Fröhlichkeit ihrer eigenen Kinderherzen. Sie hören keine Sehnsucht aus diesen Melodien, denn in ihrem Kindergemüt ist noch keine Sehnsucht erwacht. Keine Wünsche hören sie und keine Begierden, keine Zärtlichkeit und keine Schwermut. Denn gesunde Kinder wissen nicht, was Schwermut ist, Zärtlichkeit bedeutet bei ihnen was ganz anderes, etwas, das weiß und weich und flüchtig ist und leise duftend wie die kleinen Blätter von Erdbeerblüten. Ihre Wünsche und Begierden aber sind: Schokolade. Ihr Tanzen ist ungelenk und ein wenig hopsend oft. Es ist ohne Erhitzung und hat noch nicht dies Wiegen, dies Gleiten, das wir so gut kennen, weil es uns mit all unseren Träumen dahinträgt. Sondern ihr Tanzen ist eher kühl und sachlich, es ist von einer wundervollen Herbheit, es erinnert irgendwie an kahle Äste im Vorfrühling, die noch nichts von glühenderen Sonnen wissen, nichts vom knospenden Grün des Laubes und vom Schwellen der treibenden Säfte. Eine wundervolle Bewußtlosigkeit ist in diesem Tanzen der Kinder, zu der wir hinüberschauen wie zu einem fernen Ufer. Es bedeutet ihnen noch gar nichts, die Arme ineinanderzuschlingen, die Hände ineinanderzulegen und eins zu werden im Überströmtsein von Musik, Rhythmus, Berührung und Licht. Noch ist nicht einmal die Schüchternheit in ihnen, die aus der leise aufwachenden Ahnung des Lebensfrühlings hervorsteigt; noch ist um ihre klaren Augen der leichte Nebelschleier nicht, der dem heißer werdenden Blut entdampft. Sie könnten zu all der Musik ebensogut Ringel-ringel-reihe tanzen oder »Blauer, blauer Fingerhut« spielen oder »Häschen in der Grube ,...« -- ihnen wäre es gleich.

»Mama,« fragt der Junge neben mir, »warum dürfen denn die Buben nicht miteinander tanzen ,...?« Die Mama denkt wieder nach, doch es fällt ihr diesmal nichts ein. »Weil ,... weil sich das nicht schickt ,...« Der kleine Junge aber ist jetzt gar nicht aufgeklärt. Die Schokolade vorhin hat ihn überzeugt, das »schickt sich nicht ,...« nimmt er nur geduldig hin, wie ja die Kinder alles von uns hinnehmen, und wie sie oft mit uns Geduld haben müssen.

»Aber die Mädeln ,... schau' nur ,..., die Mädeln tanzen doch miteinander ,... dürfen die das?« bedrängt er seine Mama. Und diese antwortet ohne Überlegung: »Das tun sie nur, weil nicht genug Buben da sind.« Der kleine Junge nickt dazu. Aber ich weiß leider nicht, was er sich dabei denkt.

Hier ist ein kleines Mäderl, das zierlich und fleißig seinen Sechsschritt tanzt. Noch ist keine Mädchengrazie in ihm, sondern nur die einfache, liebe Kinderanmut. Aber doch kann man schon merken, wie sie einmal wird. Tüchtig und anstellig und hilfreich wie eine Mutter, und anschmiegsam und arbeitsfroh. Sie achtet auf jeden ihrer Schritte, sie achtet auf ihre Haltung, und sie macht ein aufmerksames Studiergesicht dazu. Sie nimmt sich der Kleineren an und tanzt mit ihnen und hat keinen Spaß daran, wenn sie ungeschickt sind, sondern sie gibt sich Mühe, ihnen zu zeigen, wie es eigentlich sein muß. Und da ist eine, die macht sich nichts draus, ob es gut oder schlecht geht. Sie unterhält sich ganz einfach. Wenn sie's im Menuett trifft und ihr kein Fehler passiert, lacht sie erstaunt auf und klascht in die Hände, und wenn sie auf einmal im Lancier wieder gar nichts kann, lacht sie geradeso erstaunt auf und klascht ebenso fröhlich in die Hände. Und da ist ein kleiner, kugelrunder Junge mit großen, etwas hervorquellenden Augen, mit dicken, roten Backen und mit einem desperaten Lockenkopf. Der hat keine blasse Ahnung, was hier eigentlich geschieht. Er weiß nicht, wie man tanzt, er weiß nicht, wie man sich dreht, er weiß nicht einmal recht, wann die Musik aufhört, und wann sie anfängt ,... Er ist nur fest entschlossen, mitzutun. Und er springt wie ein kleiner Teufel herum. Manchmal kommt er auf die Idee, das Tanzen sei eine Art musikalischer Rauferei. Dann fällt er über ein anderes Kind her und reißt und zerrt es hin und her, ist voll Eifer und voll Zufriedenheit. Da ist wieder ein anderer Junge, der wird vom Tanzen aus seiner Schüchternheit hervorgezwungen. Jedesmal, wenn die Musik einsetzt, muß er gewaltsam seine Scham überwinden, und jedesmal, wenn der Tanz zu Ende ist, versinkt er sofort wieder in seine Scheu. Er fürchtet sich vor den anderen Kindern, er hat Angst vor ihnen, und er ist ihnen böse, weil sie ihn nötigen, gesellig zu sein. Da ist noch ein anderer, ein Knirps von einem Buben, blaß und gar nicht hübsch, wie ja manche Kinder gar nicht hübsch sind, weil in ihrer Larve schon das Antlitz des Erwachsenen steckt. Aber schöne schwarze Augen hat der Bub, und er tanzt mit so einer Beharrlichkeit, mit einem Ernst, beinahe könnte man sagen: erbittert. Er ist so sehr klein, und er tanzt nur mit den größten Mädeln. Denen reicht er knapp bis zum Magen, und wenn er sie so umherschwenkt, sieht er aus, als ob er eine Arbeit verrichten würde. Die Mädel haben offenes Haar, und das weht ihm beim Tanzen in die Augen. Er blinzelt nur. Er blinzelt wie ein kleiner, schläfriger Jagdhund, aber er nimmt sich nicht die Zeit, seiner Tänzerin das Haar in den Rücken zu streifen. Er duldet, blinzelt und tanzt.

Merkwürdig, wie man all diesen Kindern ihr Daheim ansieht. Hier sind ja die glücklichen Kinder, diejenigen, die sorgfältig zu künftiger Lebensfreude vorbereitet werden. Manchmal kommt es im Leben freilich anders, und sie können dann ihre heitere Wissenschaft nicht verwerten. Jetzt aber sind es glückliche Kinder. Und allen sieht man ihr Daheim an, sieht ihnen an, wie es zu Hause bei ihnen bestellt ist. Man merkt bei den einen, daß sie unbedachte, vielleicht auch häßliche Worte zu hören kriegen, daß sie heftige, unbeherrschte Szenen mit anschauen, und daß ihnen hier alles wie ein Fest der Sanftmut erscheint. Bei den anderen merkt man, daß sie zu Hause unumschränkt gebieten, daß sie bedingungslos angebetet werden, und daß der leichte Zwang, der hier über ihnen waltet, die feste Hand, die sie hier spüren, ihnen neu und lockend und ,... angenehm erscheint. Wieder bei anderen, daß ihr Daheim vor allem auf äußeren Glanz, auf allerlei snobhafte Flausen gestellt ist; bei anderen, daß sie es besser haben, als es einst die Eltern hatten, und daß sie in wenigen Jahren draufkommen werden, wie ungebildet und wie unerzogen Vater und Mutter doch eigentlich sind. Aber Gegensätze gibt es hier dennoch keine. Denn alle miteinander sind Kinder.

Ein hübscher, frischer Junge im weißen Matrosenanzug hat eben mit einem schönen, kleinen Mädchen getanzt. Sie ist ein wenig geziert, und sie hat eine offenbare Freude an dem zierlichen Zeremoniell des Tanzes. Jetzt macht der Junge seine Verbeugung, das Mädchen hebt ihr Röckchen mit den Fingerspitzen und vollführt ein ausgezirkelt feines Kompliment. Kaum aber ist diese Förmlichkeit erfüllt, packt der Junge das Mädchen plötzlich an beiden Armen, drängt sie gegen die Wand, pufft sie, zerrt sie an den Zöpfen, beutelt sie. Dann geht er beruhigt von ihr fort.

Ein anderes Mädel steht neben mir und redet zu ihrer Mama, der keine Antwort einfällt. Es ist ein hageres Mädel mit einem stolzen, kleinen, unfertigen Gesicht, mit einer herben Klarheit in den hellen Augen und reizend unbeholfen in ihren eckigen, trotzigen Bewegungen. »Mama ,...,« flüstert sie, »... immer wollen die Buben mit mir tanzen, ,... immer nur die Buben ,...« Sie ist ganz entrüstet darüber, und noch leiser fügt sie hinzu: »Mir scheint, das tun sie absichtlich ,...«

Jawohl, sie tun es absichtlich. Aber sie wissen das selber noch nicht.

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