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Im Wald breitete sich nun Ruhe aus; soweit die Natur überhaupt Ruhe kennt.

Ruhe und Flüstern.

Die Blätter, die jetzt massenhaft von den Bäumen und Sträuchern herabglitten, flüsterten im Niederfallen.

Sie deckten als eine Schicht den Boden. Zu Ende gelebtes Dasein. Vergangenheit.

Unter jedem Schritt raschelten sie. Das dürre Laub knisterte, wenn der leichteste Fuß darüberging.

Ein Anschleichen war unmöglich, ein Ueberfall ganz ausgeschlossen.

»Wir haben vorzügliche Wächter ... die behüten uns am besten«, sagte Geno vergnügt.

»Das ist der gute Dienst, den uns die toten Blätter zuletzt noch erweisen«, antwortete Faline.

»Arme Blätter ...« Gurri wurde ernst: »Ich wollte, sie wären noch lebendig. Ich wollte, sie würden noch jedes an seinem Platze sitzen. Dort haben sie uns besser beschützt.«

»Wieso denn besser?« Geno zweifelte.

»Sie haben uns Schatten gespendet«, erklärte Gurri, »sie haben uns versteckt und verborgen; sie sind den wirklichen Wächtern ein Obdach gewesen.«

Geno widersprach: »Jetzt sind sie die wirklichen Wächter .. die anderen brauchen wir kaum mehr, denn ...«

»Ich kann mir nicht helfen«, unterbrach ihn Gurri, »für mich hat nur das Lebendige Wert! Nur was lebt, was im Dasein wirkt!«

Geno wußte keine Antwort.

Schon ragten von den hohen Bäumen große Aeste kahl zum grauen Himmel.

Eines Morgens stand die alte Buche inmitten der Blöße völlig nackt da. Es war kein guter Anblick.

Rund um ihren Stamm lag das Laub, als hätte der Baum über Nacht sein Kleid abgestreift und fallen lassen.

Nebel erfüllte den Wald mit feuchten Schleiern.

Dann begann der Regen und rieselte, rauschte, plätscherte tagelang, nächtelang ohne Pause.

Am Boden die toten Blätter raschelten nicht mehr, sie wurden schmutzig-schwarz, wurden weich wie die Erde.

Die Rehe waren klatschnaß.

»Nun«, sagte Gurri, »ist es nicht wahr, daß uns die lebendigen Blätter zuverlässigeren Schutz boten als die toten?«

Geno schwieg. Er schüttelte sich, und die Tropfen, die von seinem Fell sprühten, bespritzten die Schwester.

»Danke ...«, lachte Gurri.

Auf der Wiese, auf den Blößen beklagte er sich: »Alles schmeckt sauer; alles schmeckt bitter.«

»Sei zufrieden, mein Kind«, tröstete Faline, »wir haben noch Ueberfluß.«

»Ueberfluß nennst du das Zeug, Mutter? Man kann ja nichts mehr essen.«

»Doch, mein Sohn, es ist Ueberfluß! Später wirst du daran denken.«

Gurri blieb munter. »Das Essen ist nicht so wichtig, Bruder, und das Wohlschmecken schon gar nicht! Aushalten heißt es nun, mein Lieber, aushalten!«

»Jawohl, aushalten!« bestätigte die Mutter, »wir sind erst am Anfang.«

Zum Regen gesellte sich der Sturm.

Bald hatte der Regen ein Ende; doch der Sturm peitschte den Wald mit kalten, wilden Atemzügen.

Die letzten Blätter wirbelten umher, als hätten sie eilige Geschäfte. Oder als wollten sie sich haschen.

»Mich friert«, jammerte Geno immer von neuem.

»Laß dich von dem bißchen Wind nicht einschüchtern«, redete ihm Gurri zu, »der trocknet uns wenigstens.«

»Du wirst nicht so bald warm haben, Geno«, sagte Faline.

»Mach ihm keine Angst, Mutter«, legte Gurri Fürbitte ein, »er muß sich daran gewöhnen.«

»Gewöhnen ...« Geno war sehr kleinlaut: »An so was gewöhnt man sich nicht.«

»Wenn du schon vorher den Mut verlierst, lieber Bruder, wird dir alles einfach unerträglich. Ein wenig guter Wille ... etwas Entschlossenheit ... dazu eine Spur Hoffnung, und du findest das Aergste nicht halb so arg. Du erwirbst Vertrauen zu dir, du hast Geduld, und eh' du noch viel überlegst oder vergeblich jammerst, bist du an das Schlimmste gewöhnt!«

»Kinder«, Faline wollte Geno stärken, »vergeßt nicht ... ihr habt ja auch euer Winterkleid.«

Jetzt nahm Geno an der Mutter, an der Schwester wahr, daß sie nicht mehr leuchtend rote Röcke trugen, sondern einen dicken, fahlgrauen Pelz, mit dem sie der nackten Erde glichen. Diese Aenderung hatte er bis nun ganz außer acht gelassen.

Er wendete das Haupt, befühlte seine Flanke, spürte die dichten Haare, sah deren Schollenfarbe, und ihm wurde leichter.

»Trotzdem friere ich«, meldete er eigensinnig; doch sein Ton war nicht mehr klagend.

Die Sonne kam wieder zum Vorschein. Ihr fehlte die sengende Glut, aber man trocknete rasch und wurde etwas erwärmt.

Der wolkenbefreite Himmel hatte nicht mehr das tiefe sommerliche Blau, sondern strahlte zarter und blasser. Wurde die Nahrung auch geringer, so war das Leben doch leichter.

Alles freute sich des angenehmen sonnigen Wetters.

»Nun«, sprach die hohe Eiche zu dem schmächtigen Baum, der den ganzen Sommer in ihrem Schatten stand, »nun gibt es für dich keine Ursache zur Beschwerde mehr, lieber Freund ...«

»Ich bin nicht dein Freund!« antwortete der Schmächtige.

»Noch immer kann ich nicht verstehen, warum du mir gram bist.«

»Gram ... ja, das ist richtig gesagt ...«

»Erkläre mir doch ...«

»Wozu erklären? Du kennst mein Leid! Und du verhöhnst mich nur!«

»Aber jetzt hast du ja Sonne .. hast Luft und Licht! Alles was du immer willst ...!«

Der Schmächtige knarrte: »Ich sag' ja, du verhöhnst mich!«

»Keine Rede«, widersprach die hohe Eiche, »alle Blätter hab ich abgeworfen, nur um deine Wünsche zu erfüllen ...«

»Nur meinethalben? Und das soll kein Spott sein? Du hast sie hergeben müssen, deine Blätter! Müssen! Jeder Baum ist jetzt entlaubt! Jeder! Freiwillig, aus Rücksicht für mich würdest du es nie tun, du Selbstsüchtiger!«

»Bist du denn frei von Selbstsucht, weil du sie mir vorwirfst?«

»Ob! Da ist ein großer Unterschied!« widersprach der Schmächtige, »ich verkümmere hier in deinem Schatten ...«

»Jetzt hast du Sonne! Ich wiederhol' es dir! Jetzt ist Gelegenheit für dich ...«

»Jetzt ... jetzt ...! Treib keinen Spaß mit mir! ... Jetzt! Was fang ich jetzt mit dieser blassen Sonne an? Befruchtet sie? Gibt diese Sonne Kraft? Kann sie mir helfen, so stark und so hoch zu werden wie du?«

»Meine Schuld ist das nicht.«

Heftig fuhr der Schmächtige los: »Wer denn hat Schuld? Wer denn? Nur du! Du allein: Schweig! Und laß mich meine Meinung sagen! Unter der Erde stehlen mir deine Wurzeln die nährenden Säfte, und dein üppiger Wipfel stiehlt mir das Licht, hemmt mein Gedeihen. Ueberall zehrst du an mir! Unterdrückst mich! Ohne Erbarmen! Ohne Scham!«

»Weil ich früher da war als du«, antwortete die hohe Eiche, »ich stehe, wo ich stehe ... und ich habe keine böse Absicht ... ich folge dem Gesetz der Natur!«

»Ein ungerechtes, ein grausames Gesetz!« rief der Schmächtige, »ich glaube nicht an solche Gesetze!«

»Du glaubst nicht daran? Nun, so ändere sie, wenn du's vermagst«, die hohe Eiche wiegte sich in stolzer Ruhe.

»Nicht ich werde diese Gesetze ändern, nicht ich!« erwiderte der andere, »doch eines Tages wird es sich zeigen, daß deine Gesetze gar nicht bestehen! Eines Tages werden alle Bäume des Waldes die gleiche Sonne, die gleiche freie Luft genießen!«

»Darauf bin ich neugierig!«

»Dann bist du längst gestorben und erledigt! Denk an die überhebliche Pappel! Was hat die für Albernheiten gepredigt ...«

»Es waren keine Albernheiten ...«, warf die Eiche ein.

»Gleich nachher ist sie vom Blitz getötet worden!« triumphierte der Kleine.

»Ein Zufall, der gar nichts beweist. Außer das eine, daß wir Großen große Sorgen, große Leiden dulden müssen. Wie oft sind mir kräftige Zweige vom Leib gebrochen worden! Wie oft fürchte ich mich vor dem Blitz!« Die hohe Eiche schlug einen milden Ton an: »... wir wollen Frieden halten miteinander, da es uns nun einmal bestimmt ist, so nahe beisammen zu leben. Wir sind doch alle Brüder! Vergiß das nicht!«

»Schön gesprochen, mein Bruder«, spottete der arme Baum, »ich würde vielleicht genau so denken, wäre ich groß und mächtig wie du! In mir ist jede Fähigkeit, dir zu gleichen! In mir wohnt das Streben, wohnt der Ehrgeiz, der Trieb, die Gabe zur herrlichsten Entfaltung! Aber du unterdrückst mich, ja du erstickst mich, du mit deiner Brüderlichkeit ...!«

»Ich antworte dir nicht mehr«, sagte die hohe Eiche.

Eine Zeitlang war Stille.

»Hör' auch mich einmal an«, meldete sich eine winzige Haselnuß, die ganz dicht am Stamme des Schmächtigen kümmerte. Sie reckte ein paar dürre Aestchen hilflos empor.

»Wen meinst du eigentlich?« fragte der Schmächtige.

»Dich!« entgegnete der Strauch, »keinen anderen! Du unterdrückst mich! Du bist weit schlimmer als dein großer Bruder, den du so anklagst! Du saugst mich aus! Du verbitterst mir das Dasein!«

»Was gehst du mich an?« maulte der Schmächtige, »du Knirps, du elender.«

»Selber Knirps!« gab der kleine Strauch zurück, »und selber ein Elender!«

»Unglaublich, diese Frechheit!« Der Schmächtige war empört: »Wie darfst du dir überhaupt gestatten, mit mir zu sprechen?«

»Hast du nicht auch mit der hohen Eiche geredet? Sie gab dir anständige Antwort. Sie hat dich nobel behandelt. Also sei auch du ...«

»Das ist ganz was anderes!« fiel ihr der Schmächtige ins Wort, »du bist ein Nichts!«

»Durch wessen Schuld bin ich ein Nichts? Nur durch deine! Du sagst, du bist ein Unterdrückter! Möglicherweise hast du recht. Ich bin ebenso, ich bin noch mehr unterdrückt! Wir müssen zusammenhalten, wir Benachteiligten!«

»Zusammenhalten? Ich mit dir? Ich müßte närrisch sein!«

Der Haselstrauch fuhr unbeirrt fort: »Es ist keine Verrücktheit, mit meiner Beschwerde Mitgefühl zu haben!«

»Deine Beschwerde!« höhnte der Schmächtige, »aus dir wäre nie ein Baum geworden, du Armseliger!«

»Ein Baum gewiß nicht! Ich will gar keiner sein! Aber als ein prachtvoller Busch könnte ich wachsen! Breit und dicht! Schau nur die anderen an, die glücklicher sind! Keine einzige Nuß reift an mir, weil mir die Sonne fehlt, die du mir nicht gönnst!«

»Jetzt hast du Sonne genug. Ich verdecke sie dir nicht mehr! Alle meine Blätter habe ich abgeworfen! Jetzt wachse, soviel du magst! Sonne, Licht und Luft sind dir frei!«

»Diesen Spruch kenne ich«, seufzte der winzige Strauch, »das ist der Spott, den diejenigen treiben, die etwas mehr erreicht haben als ich.«

»Schweig endlich!« rief der Schmächtige. »Füge dich in dein Schicksal! Es ist Gesetz der Natur!«

»Vorhin hast du dieses Gesetz geleugnet, hast es ungerecht und grausam genannt!«

»Es scheint doch gerecht zu sein, wenigstens dir gegenüber!«

»Fügst du dich in dein Schicksal?« fragte die Haselnuß.

»Das ist meine Sache! Nun schweig!« gebot der Schmächtige.

»Immer soll man schweigen ...«

»Dein Schwätzen ist umsonst!« war die Antwort, »wozu redest du überhaupt? Ich verachte dich!«

»Immer verachtet der Stärkere den Schwächeren«, murrte der kleine Strauch, »so kann, so wird es nie besser werden.«

Dann sagte er nichts mehr.

Am Boden lispelte das Moos: »Ich bin zufrieden. Meine Ansprüche sind bescheiden. Selbst auf hartem Stein kann ich gedeihen. Alle treten mich mit Füßen, aber das tut mir nicht weh. Haben sie Not, dann naschen sie von mir. Es ist ihnen gegönnt. Mein kleines Dasein laß ich mir nicht vergällen. Ich freu' mich daran und bin zufrieden.«

Niemand hörte auf dieses Lispeln.

 

* * *

 


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