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»That is quite impossible, that has never been done before!« Dies ist der Satz, der mir fast jedesmal entgegengeschleudert wurde, als ich im Frühjahr 1929 zum ersten mal in England Anstalten machte, das für die Bildberichterstattung bis dahin noch unerschlossene Gebiet des englischen Klub- und Gesellschaftslebens, der Bankette mit ihrem mittelalterlichen Zeremonienmeister und ähnliche Dinge mit der Kamera zu durchleuchten.
Damit soll nun nicht etwa gesagt sein, daß das Festhalten an einer Tradition nur in England anzutreffen ist. Auch ein Jahr vorher, als ich in Deutschland meine Tätigkeit als Photojournalist begann, hatte ich mit einer ganzen Menge von Vorurteilen zu kämpfen. Diese Vorurteile waren ja auch erklärlich. Für jeden, der schon einmal einen Photographen im geschlossenen Raum – und um solche Aufnahmen handelt es sich bei mir fast immer – hat operieren sehen, verbindet sich zwangsläufig der Begriff der puffenden, schreckenerregenden, weißen Rauch hinterlassenden und feuergefährlichen Blitzlichtflamme mit dem Gedanken an eine Aufnahme im Hause. Es bedurfte häufig mehrfachen Hinweises darauf, daß die Erfindung der lichtstarken Kamera, die kurze Zeitaufnahmen und sogar Momentaufnahmen im geschlossenen Raum sowohl bei Tage als auch bei gewöhnlichem elektrischen Licht gestattet, die Benutzung des Blitzlichtes vollkommen überflüssig macht. Sehr häufig wurde auch diese Argumentation noch mit unbegrenztem Mißtrauen aufgenommen. Man fürchtete, daß doch im letzten Moment eine Blitzaufnahme gemacht werden würde, weil man sich einfach nicht erklären konnte, wie jemand bei gewöhnlichem elektrischen Licht photographieren könne. Aber auch wenn dieser Argwohn durch vorgelegte, bei früheren Gelegenheiten gemachte Bilder entkräftet wurde, so gab es doch öfters noch andere Widerstände zu überwinden, Widerstände, die teils erklärlich waren, wie die Befürchtung, daß das Publikum während einer Theateraufführung trotz Fehlens von Blitzlicht schon allein durch die bloße Anwesenheit eines Photographen gestört werden würde, teils aber auch Widerstände, die sich nur aus dem bürokratischen Festhalten an dem bisher Erlaubten und aus Furcht vor der Verantwortung im Falle einer Störung erklären ließen.
Ich werde nie vergessen, wie der Reichstagspräsident Löbe, als er mir einmal durch die Autorität seiner Persönlichkeit geholfen hatte und ich ihm einige Tage darauf die mit seiner Hilfe erlangten Bilder zeigte, mir zum Glückwunsch die Hand schüttelte und dazu sagte. »Ich freue mich, daß der in Ihnen verkörperte Fortschritt den Sieg über die Bürokratie davongetragen hat!«
Rein begrifflich müßte es so sein, daß bei allen Ereignissen, bei denen die Presse zur Berichterstattung zugelassen ist, auch das Photographieren gestattet sein müßte. Denn der Bildbericht ist nur eine Unterart des Berichts, und es ist nicht einzusehen, warum der Bildberichterstatter dem Textberichterstatter gegenüber benachteiligt werden soll. Trotzdem sind die Hindernisse, die häufig dem Bildberichterstatter im Gegensatz zum Textberichterstatter in den Weg gelegt werden, teils historisch, teils aus technischen Gründen erklärlich. Historisch insofern, als die Photographie erst Jahrtausende nach der Schreibkunst erfunden wurde. Die Folge davon ist, daß in Gerichtssälen, Parlamentsgebäuden, Auditorien für Kongresse und Versammlungen schon beim Bau auf eine bestimmte Anzahl von Pressevertretern Rücksicht genommen, aber nicht an die Photographien gedacht worden ist, so daß in vielen Fällen die Textberichterstatter ihren festen, mit dem Namen ihrer Zeitung bezeichneten Platz haben, während die Bildberichterstatter, trotzdem sie häufig direkt oder indirekt für dieselben Zeitungen arbeiten, nur geduldete Persönlichkeiten sind, die sich zaghaft, um ja niemanden zu stören, anzustoßen oder sonst zu belästigen, hinter Stuhllehnen hindurchzwängen müssen und an großen Tagen, wie bei der Eröffnung eines neugewählten Reichstags, überhaupt nur im Turnus, d.h. also für wenige Augenblicke auf die Pressetribüne gelassen werden.
Nun habe ich selbst allerdings den geringsten Grund zur Klage. An solchen großen Tagen liegt mir am wenigsten daran, als Einunddreißigster dieselbe Aufnahme aus derselben Ecke der Reichstagspressetribüne zu machen, die dreißig andere hintereinander auch gemacht haben. Ich beklage hier weniger mein eigenes Schicksal als das meiner Berufsgenossen, die auf Grund ihres Angestelltenverhältnisses genötigt sind, ihrem Arbeitgeber Rechenschaft darüber abzulegen, wenn und warum ihnen infolge technischer Schwierigkeiten eine Aufnahme nicht gelungen ist. Es kann auch niemandem ein Vorwurf daraus gemacht werden, denn die Erbauer der Parlamentsgebäude konnten vor sechzig Jahren noch nicht wissen, daß um das Jahr 1927 herum eine Kamera erfunden werden würde, die das Photographieren ohne Blitzlicht ermöglicht, und daß die Vervollkommnung der Reproduktionstechnik und die Hast des Großstadtlebens, die dem Zeitungsleser die Zeit nimmt, in Ruhe lange Artikel zu lesen, das Bild zu einem der wichtigsten Faktoren des Nachrichtendienstes machen würde.
Es muß ja auch zugegeben werden, daß der Federhalter eines Gerichts- oder Parlamentsberichtserstatters bedeutend weniger Platz wegnimmt und weniger auffällt, als das Stativ eines Photographen, das in vielen Fällen bei solchen Aufnahmen unerläßlich ist, da bei Belichtung von einer halben bis zu einer ganzen Sekunde irgendein Stützpunkt für die Kamera gebraucht wird, der häufig hinter den Reihen der Textberichterstatter nicht vorhanden ist. Dazu kommt noch, daß in deutschen Gerichtssälen die Aufstellung eines Stativs – anders, als in Frankreich, wo seit Jahr und Tag Blitzlichtaufnahmen bei Prozessen gemacht werden – wegen der damit verbundenen Störung der Verhandlung nicht gestattet werden würde. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß das Photographieren im Gerichtssaal mit unsichtbarem Stativ und verborgener Kamera nun auch ohne weiteres in jedem Prozeß zugelassen wird. Die Zulassung des Photographierens ist als zur Ausübung der Sitzungspolizei gehörig in das Belieben der Gerichtsvorsitzenden gestellt. Manche Verhandlungsleiter verhalten sich ablehnend, da sie Beschwerden von Angeklagten und Zeugen befürchten. Auch Gründe, an die man so leicht gar nicht denkt, können bei einer solchen Ablehnung mitspielen. So hat die Anwaltskammer vor drei Jahren eine Eingabe an den Kammergerichtspräsidenten gerichtet, in der verlangt wurde, daß das Photographieren im Gerichtssaal verboten werde. Der Grund: Die Zivilanwälte hatten sich darüber beschwert, daß durch die Veröffentlichung von Bildern aus Strafprozessen, bei denen häufig neben den Angeklagten die Verteidiger zu sehen seien und mit Namen genannt würden, eine durch nichts zu rechtfertigende Reklame für die Strafanwälte zum Nachteil der Zivilanwälte gemacht würde.
Die Furcht vor Reklame bildet auch ein gewaltiges Bollwerk gegen die Tätigkeit der Bildberichterstatter, sobald es sich um Ärzte, insbesondere um Chirurgen, handelt. Nach Ansicht der Ärzte ist jegliche Art von Reklame als unvereinbar mit ihren Standessitten zu verwerfen.
Ich hatte einmal in dem Kolleg eines berühmten Chirurgen bei Operationen Aufnahmen gemacht, die nachher mit einem Artikel von mir in der Münchner Illustrierten veröffentlicht wurden. Die Folge davon war, daß ein junger Arzt, der von der Ärztekammer einen Verweis erhalten hatte, weil sein Namensschild an der Haustür einige Zentimeter zu groß war, sich nun in einem geharnischten Artikel in der Ärztezeitung darüber beschwerte, wobei er darauf hinwies daß man anscheinend nur die kleinen Ärzte mit Vorschriften behellige, während die »großen Kanonen« soviel Reklame für sich machen dürften, wie sie wollten.
Der damit gemeinte Chirurg erwiderte in derselben Zeitung auf diesen Vorwurf, indem er ein Schreiben veröffentlichte, das er sofort nach Erscheinen meines Bilderartikels an die Münchner Illustrierte gerichtet hatte, worin er dagegen protestierte, daß die Bilder ohne sein Wissen, sogar gegen sein ausdrückliches Verbot, erschienen waren. In seiner Empörung ging er soweit, meinen Artikel, den die Redaktion besonders schön gefunden hatte, gewaltig herunterzureißen. Dabei muß ich zu meiner Verteidigung anführen, daß einer seiner Assistenten hinsichtlich der Veröffentlichungsfrage zu mir gesagt hatte. »Wer viel fragt, kriegt viel Antworten.« Als ich den Geheimrat ein Jahr später während seiner Rede beim Festbankett des Chirurgen-Kongresses photographierte, hatte ich zum ersten mal bei dieser Tätigkeit Herzklopfen. Denn ich fürchtete, daß er beim Wiedererkennen meines Gesichts aus dem Konzept kommen könnte. Es ging aber alles glatt ab. Das Bedauerliche bei dieser meiner Meinung nach übertriebenen Reklamefurcht der Ärzte ist, daß der Anspruch des Lesers dabei zu kurz kommt. Der Abonnent einer Zeitschrift möchte gern über alles Wissenswerte informiert, über vieles, was er nicht kennt oder nicht zu sehen bekommt, belehrt werden, und zum Wissenswerten gehört auch die chirurgische Behandlung, und das Gebiet der Medizin überhaupt.
Es gibt aber noch andere psychologische Gründe, die angeführt werden, wenn es sich darum handelt, das Photographieren bei bestimmten Gelegenheiten nicht zuzulassen. Obgleich das Bild in vielen Fällen nur dasjenige für das körperliche Auge darstellt, was der begleitende Text für das geistige Auge zum Ausdruck bringt, hat es doch häufig eine ganz andere Wirkung als der nackte Text. Zunächst »fällt es mehr ins Auge«. Ein Bericht, der an sich nur Tatsachen mitteilt, kann durch die Ausschmückung mit Bildern sensationell werden. Mit anderen Worten. eine Angelegenheit, die es an und für sich nicht verdient, kann dadurch aufgebauscht werden. Das kann in zahlreichen Fällen unerwünscht sein. Ein Beispiel hierfür ist der Kürtenprozeß. Man hat bei diesem Prozeß die Öffentlichkeit nur in ganz wenigen Fällen und dann nur beschränkt ausgeschlossen, und zwar in der Form, daß man einem Teil der Pressevertreter erlaubt hat, im Saale zu verbleiben. Aber das Photographieren war strikt verboten. Man wollte nicht, daß die grauenerregende Materie der Verbrechen des Mordsadisten unnötig sensationell in der Öffentlichkeit verbreitet würde, weil dieser Stoff auf pervers veranlagte Menschen ansteckend wirken kann, und auch weil die Stadt Düsseldorf, in der eine ganze Reihe der zur Verhandlung gebrachten Straftaten Kürtens begangen wurden, eine schädliche Wirkung für ihren Ruf und insbesondere für ihren Fremdenverkehr von einer sensationellen Aufmachung des Prozesses befürchtete.
Aber nicht nur bei Prozessen, sondern auch bei anderen Gelegenheiten kann das Photographieren unerwünscht sein. Ein Bericht über ein Bankett, an dem Regierungs- und Behördenvertreter als Ehrengäste zum Empfang eines Ozeanfliegers oder eines zurückgekehrten Expeditionsleiters teilnehmen, kann an sich kaum auf irgendjemanden aufreizend wirken. Im allgemeinen werden dabei nur ein paar Namen genannt und einige Brocken aus den Tischreden wiedergegeben. Über das Menu wird dabei gewöhnlich nichts geschrieben, da ja für den Außenstehenden sehr gleichgültig ist, was bei der Gelegenheit gegessen und getrunken wurde. Ein Bild dagegen, auf dem man Minister und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vor gefüllten Sekt- oder Weingläsern, oder neben riesenhaften holländischen Horsd'œuvre-Schüsseln sieht, wirkt zwar auf den normal denkenden Menschen auch nicht aufreizend – denn er weiß, daß die Minister, deren Tageszeit nach Minuten eingeteilt ist, sich nur ungern diesen Repräsentationspflichten unterziehen – wohl aber kann ein solches Bild, indem es von radikalen Zeitungen mit einer tendenziösen Unterschrift versehen wird, in Zeiten der Wirtschaftsnot und der Arbeitslosigkeit zu demagogischen Zwecken mißbraucht werden. Da dies nicht nur möglich, sondern auch geschehen ist, so entstand in Kreisen von Persönlichkeiten, die auf exponierten Posten stehen, ein gewisses Mißbehagen gegen das Photographieren bei Banketten und ähnlichen Gelegenheiten. Das Bedauerliche dabei ist, daß die Parteien, die an und für sich die Arbeitslosigkeit bekämpfen, durch die Ausnutzung solcher Bilder zu demagogischen Zwecken einen Teil der Pressephotographen arbeitslos gemacht haben. Beim letzten Presseball hat sogar die Ball-Leitung gebeten, die Herren von der Regierung nicht zu photographieren. Die »ungezogenen« Photographen, die es doch taten, konnten aber ihre Bilder bei allen Redaktionen gut unterbringen, und die »artigen« Bildberichterstatter, die gehorsam gewesen waren, hatten das Nachsehen.
Ich will keineswegs behaupten, daß Bankettbilder das Ideal der Bildberichterstattung sind. Sie sind nicht das Mittel, um eine manchmal bestehende Kluft zwischen Regierenden und Regierten zu überbrücken, mit anderen Worten, um den in früheren Zeiten mangelnden Kontakt zwischen Staatsmännern und der Bevölkerung herzustellen und zu fördern. Für diesen sehr begrüßenswerten Zweck würden natürlich Bilder viel nützlicher sein, auf denen man Minister und Staatssekretäre oder Parlamentsmitglieder bei der Arbeit, d.h. bei Besprechungen, Konferenzen, beim Aktenstudium und bei politischen Reden sieht. Aber es ist natürlich viel leichter, einen wie alle Minister viel beschäftigten Staatsmann während eines Bankettes oder kurz danach zu photographieren, als in seinem Ministerium, wo man seiner schwer oder gar nicht habhaft werden kann. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß eine Aufnahme während der Dienststunden in einem Ministerium, selbst wenn sie noch so unauffällig gemacht wird, doch unter Umständen die Zeit des Ministers, wenn auch nur für Minuten in Anspruch nehmen kann, während bei einer Bankettaufnahme, bei der der betreffende Minister sowieso nicht im Dienste ist, durch die photographische Aufnahme seine Arbeitskraft dem Staat in keiner Weise entzogen wird. Erwähnt mag noch werden, daß die soviel geschmähten Bankette nicht nur dem Essen und Trinken dienen, sondern häufig Staatsmännern und Diplomaten Gelegenheit zu gegenseitiger Aussprache und zu bedeutsamen Reden geben, die manchmal besser ihren Zweck erfüllen, als lange Verhandlungen am grünen Tisch. In richtiger Erkenntnis dieser Tatsache haben schon öfter Zeitungen bei Bankettbildern von internationalen Konferenzen die Unterschrift »Am weißen Tisch in …« gewählt. Gerade das Neue in den diplomatischen Beziehungen der Nationen, die früher nur auf dem Wege von Akten und Verbalnoten miteinander zu verkehren pflegten, jetzt aber insbesondere durch die Gründung des Völkerbundes die Möglichkeit zu intimen Aussprachen ihrer diplomatischen Vertreter gewonnen haben, kommt in solchen Bildern von gemeinsamen Frühstück- und Abendmahlzeiten der Außenminister, von Presse-Banketten und ähnlichen Veranstaltungen deutlich zum Ausdruck. Vielfach handelt es sich dabei noch außerdem um Bilder von Begebenheiten, deren historische Bedeutung erst später erkannt werden wird, und es ist deshalb um so mehr zu bedauern, daß durch mißbräuchliche Benutzung von Bankettbildern zu demagogischen Zwecken und durch sensationelle Aufmachung von an sich lustig wirkenden Zufallsbildern, eine Stimmung erzeugt worden ist, die den um die Festhaltung der Wahrheit bemühten Bildberichterstattern die Arbeit außerordentlich erschwert.
Schon manches lustige Bild hat zu Zeiten, in denen nervöse Spannungen bei Konferenzen den Fortschritt der Verhandlungen hemmten, eine versöhnliche Stimmung erzeugt. So erinnere ich mich, daß Graf Bernstorff, der ehemalige deutsche Botschafter in Washington und Vorsitzende der deutschen vorbereitenden Abrüstungskommission, als ich ihn bei einem lebhaften Disput mit seinem damaligen Gegenspieler, dem Vorsitzenden der französischen Abrüstungskommission, Paul-Boncour, heimlich photographiert hatte, dieses Bild, von dessen Existenz man ihm erzählt hatte, nicht schnell genug von mir bekommen konnte, weil er es bei einem gemeinsamen Frühstück mit Paul-Boncour diesem zeigen wollte (siehe Bild 19). Es gelang ihm dann auch, mit Hilfe dieses Bildes eine seinen Plänen günstige Stimmung auf der anderen Seite zu erzeugen.
Ein ähnlich gelagerter Fall ereignete sich einmal während einer schwierigen Besprechung betreffend die Räumung des Rheinlandes. Briand versteifte sich darauf, vor der endgültigen Räumung eine »Commission de Constatation« in die Rheinprovinz zu entsenden. Stresemann meinte darauf, es müsse ihm doch genügen, wenn er mich mit meiner Geheimkamera dorthin schicken würde. Dann würde ich ihm alles »konstatieren«, was er brauchte. Durch diesen Witz wurde die Stimmung so versöhnlich, daß man um die »Commission de Constatation« herumkam.
Die psychologischen Schwierigkeiten, die vor 3 Jahren noch einer Aufnahme entgegenstehen konnten, lassen sich am besten an folgendem Beispiel erläutern. Ich wollte bei der Wiedereröffnung der Berliner Staatsoper eine Aufnahme von der Loge machen, in der der Reichspräsident von Hindenburg, der preußische Ministerpräsident Dr. Braun, Dr. Stresemann und andere Minister saßen. Ich besuchte deshalb den Generalintendanten Tietjen. Er sagte, er könne in dieser Angelegenheit nichts tun, da die Preußische Staatsregierung zu der Eröffnungsveranstaltung eingeladen habe, ich müßte mich also an das Preußische Staatsministerium wenden. Dort verwies man mich an das Kulturministerium, das mich seinerseits zum Preußischen Innenministerium schickte. Hier wurde mir gesagt, daß sämtliche Ministerien im Irrtum seien. Nur der Generalintendant habe darüber zu bestimmen. Der Kreis war nun geschlossen. Aber an diesem Tage war nichts mehr zu machen, da der Generalintendant inzwischen sein Büro verlassen hatte. Viel Zeit war nicht mehr zu verlieren, denn die Eröffnungsvorstellung sollte schon am nächsten Tage stattfinden. Ich grübelte die ganze Nacht darüber nach, bis mir plötzlich einfiel, daß ich von meiner Kindheit her jemanden kannte, der jetzt Regierungsrat im Preußischen Innenministerium war. Ich rief ihn an, erreichte auf diesem Wege, daß das Innenministerium sich bei der Generalintendanz für mich verbürgte, und erhielt dann dort einen Ausweis, der mich zum Betreten des Opernhauses durch den Bühneneingang berechtigte. Allerdings war der Ausweis so verklausuliert, daß ich bei strikter Befolgung der darin enthaltenen Vorschriften nicht ein einziges brauchbares Bild hätte machen können. Aber ein Ausweis hat ja seinen Zweck bereits dann erfüllt, wenn man mit seiner Hilfe die äußere Umfassungsmauer passiert hat. Alles weitere ergibt sich dann von selbst. Denn die Natur hat die Kontrollbeamten so eingerichtet, daß sie unter dem Eindruck des großen Ereignisses selbst und der damit verbunden Aufregung sich durch den amtlichen Stempel und die Schriftzüge des unterzeichneten Vorgesetzten faszinieren lassen und sich eine genaue Lektüre des Schriftstückes, schon aus Gründen der Zeitersparnis, schenken. Im übrigen hat mir ein harmloser Witz, den ich ein mal in einer Zeitung gelesen habe, schon in vielen Fällen über Schwierigkeiten hinweggeholfen. Zwei junge Mädchen verließen die Straßenbahn, die eine sagte. »Der Schaffner hat mich die ganze Zeit so angesehen, als wenn ich nicht bezahlt hätte.« – »Und was hast du getan?« fragte die andere. »Ich habe ihn so angesehen, als wenn ich bezahlt hätte!« Wenn man ohne formelle Erlaubnis irgendwo photographiert, kann man voraussetzen, daß jeder, der nichts damit zu tun hat, sich nicht im geringsten darum kümmern wird und daß diejenigen, die an sich befugt wären, sich darum zu kümmern, es in den meisten Fällen nicht tun werden, da sie aus der Tatsache, daß photographiert wird, schließen zu müssen glauben, daß es auch irgendjemand erlaubt haben muß. Für den Engländer ist der Gedanke, daß jemand, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, bei irgendeiner Gelegenheit photographieren sollte, so absurd, daß er es für selbstverständlich hält, daß die Erlaubnis erteilt worden ist.
So erging es mir vor zwei Jahren bei dem Bankett der Royal Academy, dem exklusivsten Ereignis der Londoner Season. Eine Redaktion hatte mich am Sonnabend mittags um 1 Uhr telephonisch gebeten, bei diesem Bankett Aufnahmen zu machen. Ich regte zunächst an, mir einen Einheimischen mitzugeben, der mir die Prominenten zeigen sollte, da ich erst seit kurzer Zeit in London war. Man sagte aber, das sei nicht nötig, bei diesem Diner gebe es nur Prominente (»At this banquet everyone is important«). Ich erklärte mich nun bereit, allein hinzugehen, und bat, mir eine Karte zu senden. Nun hieß es, man habe keine Karte, aber ich würde es schon so schaffen. Da ich Verhandlungen mit dem secretary der Akademie für gänzlich aussichtslos hielt, wobei noch hinzukam, daß man am Sonnabendnachmittag in England überhaupt keinen Menschen sprechen kann, so wartete ich ruhig bis zum Abend, zog meinen Frack an und ging hin, wobei ich meinen höchsten Grundsatz, eine Stunde zu spät zu kommen, genau befolgte. Er beruht auf der Erfahrung, daß Kontrollbeamte, wenn man zu spät kommt, schon abgekämpft und daher milde gestimmt sind. Es kam auch wie erwartet. Niemand fragte nach meiner Einladungskarte. Man nahm mir meine Garderobe ab, gab mir eine Nummer dafür, ich ging die Treppe hinauf und stieß oben auf eine Staffelei mit der Tischordnung. Beim genauen Studium dieser Orientierungskarte entdeckte ich einen Namen, den ich schon kannte, den Innenminister Sir Joynson Hix (in ganz England nur »Jix« genannt). Ich beschloß also, zunächst den legalen Weg zu beschreiten und ging in den von fünfhundert important people besetzten Bankettsaal, was niemandem auffiel. So gelangte ich unbehelligt bis zu Jix, sagte ihm »Guten Tag« und bat ihn um seine Hilfe. Wie erwartet, hatte er Bedenken, erklärte sich aber bereit, ein steinaltes Akademiemitglied, das neben ihm saß, nach seiner Meinung zu fragen. Dessen Antwort fiel, seinem Gesicht entsprechend, aus, und Sir Jix drehte sich bekümmert zu mir um und sagte: »He says, that is quite impossible, that has never been done before.«
Dieser mir nun schon längst im Ohr verankerte lapidare Satz war für mich das Signal zum sofortigen Beschreiten des illegalen Weges, der diesmal um den Ehrentisch herum bis zu dem Saalausgang führte, durch den die Kellner ein- und ausströmten. Neben diesem Ausgang hatte ich eine vollkommen unmotivierte Doppelgardine entdeckt, hinter der ein Podium stand, wie es von Bildhauern für ihre Modelle benutzt wird. Dies war die gegebene Operationsbasis. Ich verließ nun den Saal, holte meine Kamera mit Stativ herauf und brauchte ihn gar nicht erst wieder zu betreten, da die Gardine direkt an die Windschutzwand des Kellnerausganges anschloß. Nun machte ich durch die Gardinenspalte hindurch eine Anzahl Aufnahmen während der Rede des Akademiepräsidenten, Sir William Llewellyn, von dem Prinzen George und einigen anderen und verschob dann meine weitere Tätigkeit bis zum Schluß des Diners, da ich annahm, daß dann die geladenen Gäste von den Akademieprofessoren durch die Säle der neueröffneten Kunstausstellung geführt werden würden. Dies trat auch ein, und ich konnte dabei eine ganze Anzahl netter Aufnahmen machen. Nachdem ich mir schon wenigstens zwölf verschiedene Bilder gesichert hatte, trat ein Herr auf mich zu und fragte, was ich eigentlich da täte. Ich sagte, daß ich photographierte. »Yes, but for whom are you taking these photographs?« fragte er mich. Auf diese Frage war ich eigentlich gar nicht gefaßt, und, um irgend etwas zu antworten, sagte ich: »For the weekly Graphic!« – »But they haven't asked for!«, worauf ich mit waschechtem Erstaunen »O, haven't they?« hervorbrachte. Der Herr ließ mich nun einige Zeit in Ruhe, kehrte aber dann wieder und sagte: »The secretary of the Academy says, that that has never been done before« – – »That is just, why I am doing it«, entgegnete ich mit der natürlichsten Harmlosigkeit, die mir zur Verfügung stand. Der Herr konnte sich dieser Logik anscheinend nicht verschließen und verließ mich zum zweiten mal. Nach einiger Zeit kam er wieder und sagte. »Are you Dr. Erich Salomon?« Ich hatte nämlich am Tage vorher bei der Vorbesichtigung der Kunstausstellung Geheimaufnahmen gemacht, von denen bereits eine am Morgen dieses Tages ganz groß und mit meinem vollen Namen im »Daily Mirror« erschienen war. Ich bestritt nicht, der Gesuchte zu sein, worauf der Herr mir sagte, der Sekretär habe nichts dagegen, daß ich noch weiter photographierte, aber ich dürfte niemanden bitten, für mich zu posieren. Ich sagte lachend. »That's what I never do«, aber in diesem Augenblick kam Prinz George, der vierte Sohn des Königs, in Begleitung des Akademiepräsidenten in den Saal, und beide Herren pflanzten sich aufnahmeheischend gerade im richtigen Abstand vor meiner Kamera auf. Ich blickte meinen Interviewer vielsagend an, aber er machte kurz kehrt und überließ mir meine Opfer. Am nächsten Tage war ich bereits bei dem Präsidenten, einem äußerst liebenswürdigen und netten Herrn, zum Five o'clock Tea eingeladen.
Zu den allgemein psychologischen Schwierigkeiten, die sich einer Aufnahme entgegenstellen können, kommen dann noch besondere Hindernisse, die es nur in einzelnen Ländern gibt. Z. B. wurde ich einmal zu einer großen Hochzeit in Hollywood von der Braut eingeladen mit der bei mir selbstverständlichen Unterstellung, daß ich bei der Festlichkeit Aufnahmen machen würde. Als ich dann aber zur Tat schritt, protestierte der Bräutigam. Und wie ich mir nachher auch selbst sagte, nicht zu Unrecht. Die Braut hatte nämlich nicht daran gedacht, daß die zahlreichen Sektflaschen und Cocktails mit aufs Bild kommen würden, und daß die Prohibitionsbehörden sich diese Bilder im Falle der Veröffentlichung eventuell mit der Lupe ansehen würden.
Andere psychologische impedimenta camerae sind die schon erwähnten nervösen Stimmungen, die häufig bei internationalen Konferenzen eintreten, wenn der Fortgang der Verhandlungen nicht den erwarteten Verlauf nimmt. Als bei der ersten Haager Konferenz die Engländer behaupteten, daß sie bei der Verteilung der Reparationen im Vergleich zu ihren früheren Bundesgenossen benachteiligt worden seien und Snowden an diesem Standpunkt unentwegt und tagelang mit äußerster Hartnäckigkeit festhielt, war die Stimmung so schwül, daß mit den Engländern über Aufnahmemöglichkeiten überhaupt nicht zu verhandeln war. An sich ganz verständlich, denn im kleinen ist es ja ebenso: wenn Eheleute vor der Scheidung stehen, lassen sie sich auch nicht gern zusammen photographieren, wohl aber, wenn sie sich wieder versöhnt haben.
Auch die Furcht vor Anzapfungen der Parteifreunde, kann ein Hinderungsgrund für die passive Aufnahmebereitwilligkeit sein. Ich ging einmal vollkommen harmlos durch einen Wandelgang des Reichstags, als ich den Führer der sozialdemokratischen Partei, Dr. Breitscheid, im Gespräch mit dem kommunistischen Geschäftsordnungsredner Torgler bemerkte. Die beiden Abgeordneten bemerkten mich gleichzeitig und stoben mit dem Ruf »Jetzt wird's gefährlich!« fluchtartig auseinander.
Das Nationalgefühl kann in diesen Fragen eine ausschlaggebende Bedeutung erlangen. Am Tage der Unterzeichnung des Kellogg-Pakts in Paris, besuchte Dr. Stresemann noch vor der Unterzeichnung den damaligen französischen Ministerpräsidenten Poincaré. Es war mir geglückt, in das französische Finanzministerium, in dem die Besprechung stattfand, hineinzugelangen, und ich wartete bereits dreiviertel Stunden mit aufnahmebereiter Kamera vor der Tür des Besprechungszimmers, aus der die beiden Staatsmänner herauskommen mußten. Zwei Minuten vor Schluß der Besprechung wurde ich auf Grund eines telephonischen Anrufs ersucht, wieder in das Treppenhaus hinunterzugehen. Als Grund wurde angegeben, da sämtliche französische Photographen draußen auf der Straße warten müßten, könne man nicht einem deutschen Photographen einen Vorzug einräumen. Auf der Treppe war natürlich nichts mehr zu machen, denn Poincaré hatte sich bereits oben von Stresemann verabschiedet, und außerdem war das Treppenhaus viel zu dunkel.
Gesetzliche Bestimmungen können der Zulassung des Photographierens im Wege stehen. So darf im Königlichen Schloß in London nicht photographiert werden. Ich besuchte einmal den dortigen Pressereferenten, um mit ihm über Aufnahmemöglichkeiten zu verhandeln. Er sagte zunächst: »It is a rule that no photos may be taken in the Buckingham Palace.« Dann fügte er hinzu, es sei nur möglich, wenn der König mich dazu kommen lassen würde. »But therefore you need the Royal warrant.« Ich war im Moment nicht ganz im Bilde, was damit gemeint sei, hielt es für irgendeine Bescheinigung und sagte harmlos: »Where can I get it?« Worauf Mr. Mitchell verächtlich sagte. »You will never get it.« Darauf wurde mir klar, daß Inhaber des »royal warrant« ungefähr soviel bedeuten mußte wie bei uns früher »Hoflieferant«.
Immerhin hatte diese ergebnislose Verhandlung für mich noch einen komischen Abschluß. Gerade als Mr. Mitchell die Worte gesprochen hatte: »It is a rule, that no photos may be taken in the Buckingham Palace«, klingelte sein Schreibtischtelephon, und während er telephonierte, nahm ich ihn natürlich heimlich auf. Eine Stunde später schickte ich ihm dann sein Bild, um ihm zu beweisen, daß man doch im Buckingham Palace photographieren könne.
Die Verhandlungen über Aufnahmemöglichkeiten können sich manchmal wochenlang, ja sogar monatelang hinziehen. Als ich 1928 in Genf den sogenannten »Rat der Sechs«, der sich mit der Frage der Räumung der Rheinlande befaßte, photographieren wollte, gelang dies erst nach achttägigen Verhandlungen mit dem englischen Pressechef, Mr. Stewart, und nach zwei vergeblichen Versuchen, die noch vor der Tür des Verhandlungszimmers gescheitert waren. Ein anderes Mal brauchte ich ein halbes Jahr, bis ich Scheidemann, der damals Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Reichstags war, überredet hatte, mich in einer Sitzung dieses stets vertraulich verhandelnden Ausschusses Aufnahmen machen zu lassen. Jedesmal wenn ich davon sprach, standen irgendwelche politischen Gründe der Sache im Wege. Als Entschädigung für meine zähe Ausdauer hatte ich dann später auch einen kleinen Triumph, denn die Drucksache, mit der die Ausschußmitglieder zu der Sitzung eingeladen waren, erschien mit der Anmerkung: »Herr Dr. Salomon wünscht vor Beginn der Sitzung eine photographische Aufnahme zu machen, deshalb wird um pünktliches Erscheinen gebeten.«
Zu den Mißhelligkeiten meines Berufes gehört es, daß viele Unternehmungen, die sich zuerst vielversprechend anlassen, plötzlich, meist kurz vor Erreichung des Zieles, doch noch an irgend etwas scheitern. An das vorhin erwähnte Beispiel mit Stresemann und Poincaré lassen sich noch viele andere anreihen. Einmal kam ich während der Völkerbundsratstagung in Lugano in Briands Hotel, weil dort eine Besprechung mit Chamberlain und Stresemann stattfinden sollte. Briands Zimmer stand offen, sein Kabinettschef, Monsieur Peycelon, stand vor der Türe, und da er nichts dagegen einwandte, ging ich in Briands Zimmer und machte meine Kamera hinter einem Wandschirm aufnahmefertig, um wenigstens den Beginn der Konferenz auf die Platte bringen zu können. Nachdem ich zehn Minuten gewartet hatte, kam Monsieur Peycelon hinein und stellte sich vor einem Spiegel auf. Er schien nicht abgeneigt zu sein, von mir photographiert zu werden, und freute sich sehr, als ich es dann tat. Aber kaum hatte ich die Aufnahme gemacht, sagte er: »So, jetzt müssen Sie aber das Zimmer verlassen.« Auf der Türschwelle stieß ich mit Briand zusammen, konnte jedoch nicht wieder hinein kommen.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich eine andere Erfahrungstatsache aus meiner Praxis erwähnen, die zwar nicht in diesem Fall, aber in vielen anderen offenbar wurde. Ich meine die Macht des »fait accompli«. Wenn man vor der Tür eines Verhandlungszimmers steht und die dafür zuständige Persönlichkeit darum bittet, hineingelassen zu werden, so fällt es dieser nicht schwer, die Bitte mit der erforderlichen Begründung abzulehnen. Ist man aber schon vor Beginn der Verhandlung in dem betreffenden Raum, so bedeutet die Aufforderung, den Raum wieder zu verlassen, für die dafür zuständige Person einen viel größeren psychologischen Kraftaufwand.
Noch größer ist die Macht des »fait accompli«, wenn es in einem Augenblick zutage tritt, in dem es nach menschlichem Ermessen überhaupt nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Dieses Verfahren habe ich einmal mit Erfolg angewandt. Ich hatte Anfang Mai 1928 meine ersten Aufnahmen unten im Reichstagsplenarsaal gemacht. Präsident Löbe hatte mir gestattet, mich auf einen der meist leeren Stühle der Reichsratsmitglieder, deren Platz links vom Präsidentenpult ist, zu setzen, und von dort aus hatte ich mehrere Tage unauffällig operiert. Schließlich fiel es aber doch einer sozialdemokratischen Abgeordneten auf, die durch einen Zwischenruf gegen das Photographieren protestierte. Ein Abgeordneter rief nun: »Wenn se hübsch wär', hätte se nischt dagegen!« Dies erzeugte zwar Heiterkeit, stimmte aber doch den Präsidenten bedenklich, und er sandte mir durch einen Diener einen Zettel mit der Mitteilung, daß er leider die bereits erteilte Genehmigung wieder rückgängig machen müßte. Einige Tage später sollte sich das neugebildete Kabinett Hermann Müller dem Reichstag vorstellen, und es lag mir sehr viel daran, eine gute Aufnahme des neuen Reichskanzlers während seiner Regierungserklärung im Reichstag zu machen. Ich besuchte deshalb den Präsidenten Löbe und bat ihn, mir für diese wichtige Begebenheit noch einmal einen Platz auf der Reichsratsestrade einzuräumen. Der Präsident war auch nicht abgeneigt, aber er meinte, bei einer Regierungserklärung sei die ganze Reichsratsestrade voll besetzt, und die Herren würden sogar stehend zuhören und mir damit jede freie Sicht verdecken. Da war nun guter Rat teuer. Ich fragte deshalb einen der Reichstagsdiener, ob nicht irgendein Abgeordneter krank oder beurlaubt sei, auf dessen Platz ich mich dann setzen könne. »Das is doch janz einfach, Herr Doktor«, sagte dieser, »der Abgeordnetenplatz von Herrn Reichskanzler Müller is doch jetzt frei.« Das leuchtete mir sogleich ein, vor allem schon deshalb, weil dieser Platz sich gerade in der günstigsten Entfernung von viereinhalb Metern vom Rednerpult befand. Ich hatte nun das ziemlich bestimmte Gefühl, daß ich achtkantig hinausgeworfen werden würde, wenn ich mich vor Beginn der Sitzung auf diesen Platz begäbe, mußte also eine andere Taktik wählen. Ich wartete, bis Präsident Löbe dem Reichskanzler Müller das Wort erteilt hatte, weil ich damit rechnen konnte, daß er nicht den Reichskanzler unterbrechen würde, um mich von dessen Platz zu verjagen, und daß andererseits der Reichskanzler, falls er mich überhaupt bemerkte, sich nicht aus dem Konzept bringen lassen würde wegen einer Angelegenheit, für die er nicht verantwortlich war. Die einzige Gefahr für mich blieben die umsitzenden Abgeordneten. Aber auch für diesen Fall hatte ich mich gerüstet. Nachdem also der Reichskanzler einige Worte gesprochen hatte, ging ich, weder rechts noch links blickend – auch das ist wichtig, um nicht die bei allen solchen Sachen unerläßliche Ruhe zu verlieren – auf den leeren Platz des Reichskanzlers zu. Kaum hatte ich mich gesetzt, so drehte sich der schräg vor mir sitzende Abgeordnete Dittmann zu mir um und sagte, da er mich anscheinend für einen neugewählten Abgeordneten hielt: »Aber Sie sind doch gar nicht Sozialdemokrat, Sie können sich doch nicht hierher setzen!« Ich flüsterte ihm zu, daß ich nur die Absicht hätte, für einige Augenblicke dort zu verweilen, und reichte ihm ein Bild hinüber, auf dem er selbst sehr deutlich zu erkennen war. Wie zu erwarten, vertiefte er sich derartig in dieses Bild, daß ich inzwischen meine Aufnahme machen konnte. Und da ein Wiederverlassen des Platzes gestört hätte, während mein Verweilen dort niemanden weiter behelligte, so zog ich es vor, bis zum Schluß der Kanzlerrede sitzen zu bleiben, und nahm auch noch die gespannt zuhörenden Reichsratsmitglieder auf. Als ich nach der Sitzung Präsident Löbe im Wandelgang traf, sagte er: »Aber, Herr Doktor, das war doch nicht verabredet! Das ist ja in der ganzen Geschichte des Reichstages noch nicht vorgekommen, daß ein Nichtabgeordneter zwischen den Abgeordneten saß!«
Wo psychologische Hindernisse im Wege stehen, kann man manchmal durch Überwindung technischer Schwierigkeiten dem Ziel näherkommen. Als ich im Sommer 1929 zur ersten Haager Konferenz kam, erfuhr ich, daß die sogenannten Räumungsminister: Henderson, Stresemann, Briand, Wirth und der belgische Außenminister Hymans jeden Nachmittag um 4 Uhr auf Hendersons Balkon auf der Rückseite des Grand Hotels Scheveningen zusammenzukommen pflegten. Verhandlungen mit Hendersons Pressechef Mr. Stewart führten nicht zum Ziel wegen der schon oben erwähnten nervösen Spannung, die damals gerade herrschte. Da ich also den Balkon nicht von innen photographieren konnte, blieb nur übrig, die Aufnahme von außen zu machen. Der Balkon lag aber sechzehn Meter über einem Autoparkplatz, dann kam der Strand und dahinter die Nordsee, also kein gegenüberliegendes Haus. Ich mietete deshalb eine neunzehn Meter höher, auf Rädern montierte Feuerleiter und ließ mir von der vier Mann starken Begleitmannschaft einen Malerkittel, einen Eimer und einen Pinsel mitbringen, um der holländischen Polizei gegenüber die Auffrischung einer Reklamefläche vorzutäuschen. Es klappte auch zunächst alles sehr schön, aber an diesem Tage erschienen die Minister nicht auf dem Balkon, weil am Tage vorher mehrere neugierige Journalisten unter dem Balkon auf- und abpatrouilliert waren, um einige Brocken der Unterhaltung aufzufangen. Mein Plan war nun gewesen, mich mit der Leiter hochwinden zu lassen, aus einem Abstand von zwölf Metern schnell eine Aufnahme des historischen Balkons mit seinen Insassen zu machen und dann wieder in der Versenkung zu verschwinden. Zu meiner größten Enttäuschung erklärte mir aber der Chef der Begleitmannschaft, daß die Leiter erst hochgedreht und dann durch Stricke gesichert werden müsse, bevor ich hinaufsteigen könne. Als sie dann aufgerichtet war stand sie lotrecht da, so daß ich hinuntergefallen wäre, wenn ich beide Hände zum Photographieren benutzt hätte. Ich mußte sie daher erst noch neigen lassen, und das sah wohl so bedrohlich aus, daß es Henderson durchs Fenster auffiel. Gerade als ich die ersten Sprossen erklommen hatte, erschien Mr. Stewart in Begleitung eines englischen Kriminalbeamten und verlangte kategorisch die sofortige Entfernung der Leiter. Juristisch war die Sache nicht ganz klar, denn auf einem privaten Parkplatz konnte ich, nachdem mir der Parkplatzbesitzer die Genehmigung dazu erteilt hatte, soviel Feuerleitern aufstellen, wie ich wollte. Um aber einen diplomatischen Zwischenfall zu vermeiden, fügte ich mich natürlich schweren Herzens. Es blieb mir nur noch übrig, die Feuerleiter selbst zu photographieren und den holländischen Schutzmann in dem Augenblick, als er mich der Ordnung halber aufschrieb. Die holländische Polizei hat auch nachher keinen Grund zum Einschreiten gefunden. Als ich abends ins Oranje-Hotel kam, waren innerhalb der deutschen Delegation die wildesten Gerüchte über mich verbreitet. Ich wäre erst jetzt aus dem Gefängnis wieder entlassen worden und so weiter. Eine Version lautete sogar, der englische Pressechef habe mich von der Leiter heruntergeschossen. Allerdings waren die Engländer eine Zeitlang auf mich böse. Snowdens Privatsekretär sagte später einmal zu mir: »Es ist nicht fair, mit einer Feuerleiter gegen Minister vorzugehen!« Die bekannte Sängerin Eva Liebenberg bat mich am nächsten Tage, etwas in ihr Gedenkbuch einzuschreiben. Ich machte ein kleines Gedicht, das in die Worte ausklang:
»Da räumten die Räumungsminister
Terminlos die Leiter hinweg!«