Lou Andreas-Salomé
Das Haus
Lou Andreas-Salomé

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XVI.

Nachdem Gitta bei den Eltern am Meeresstrande ausgeschlafen und sich gemästet hatte, erwachte sie auf einmal zu brennendem Anteil an allem rings um sie. Hochgeschürzt und barfuß im Wasser herumstreifend, fahndete sie emsig nach Seesternen, Taschenkrebsen, Muscheln – ja sogar simple Kiesel, von der Salznässe wunderbar umflimmert, taten es ihr an wie Geschmeide –, bis der nächste Morgen ihren ganzen Schatz, als binde das Meer ihn dennoch geheimnisvoll an sich, ins Unansehnlichste verwandelte – was sie jedoch nur begieriger machte nach des Meeres Zaubereien. Am zauberhaftesten blieb ihr der Quallen Wunderwerk, worin alle Farben- und Linienschönheit des Himmels und der Erden sich abzuspiegeln schien in unübersehbaren Verschlingungen zartblauer, purpurner, welkgrüner, tiefvioletter oder sonnenheller Töne. Wie man ins Theater geht oder von Schicksalsverhängnissen hört, so nahm Gitta teil am dramatischen Ergehen der Quallen auf dem Strandsand. Da gab's Tage für jede Art solcher Meeresbewohner: je nach Sturmlaune kamen die Seesterne dran, die Quallen oder auch die Fahlmuscheln. Dann bedeckten sie plötzlich, in Riesenkolonien, zu Hunderttausenden den Sand – und während sie, obgleich in der Wellenunendlichkeit verstreut, doch alle das gleiche gelebt, wandelte sich's ihnen gerade in dieser engen Gemeinschaft zu verschiedenartigster Tragik: ob das Meer sie barmherzig wieder hineinnahm in seinen Schoß, ob sie unter Menschentritt zergingen, ob der Strandsand sie langsam in sich eintrank, bis nur noch, buchstabenhaft, ein Rätselstempel auf ihm davon übrigblieb als geheimnisvolle Inschrift. Ganze Stunden konnte Gitta mit diesen Schicksalsgezeichneten verbringen.

Manchmal wohl lag sie auch irgendwo am Wasser, flach auf dem Leib, mit dem Vorsatz, einmal gründlich über ihre »Eheirrung« nachzudenken, wie sie ihre schwierige Angelegenheit nannte. Allein meistens wurde sie dann nach einer Zeitlang gewahr, daß sie statt dessen, die Hände aufgestützt, nichts anderes getan hatte als gespannt den bewunderungswürdigen Sprüngen der Strandflöhe zuzusehen oder allerhöchstens aus dem feuchten Sande die schönsten kleinen Kuchen zu backen – denen von Frau Lüdecke zum Verwechseln ähnlich.

Hatte Anneliese anfangs noch gemeint, es sei doch ein wenig eigene Herzenswundheit dabei, wenn Gitta über all diesen Kindereien immer seltener auf ihre Sache zu sprechen kam, so mußte sie sich's endlich bekümmert eingestehen: diese junge Frau war einfach dafür zu hingenommen von Erde, Luft und Wasser. Das einzige, was sie Anneliese noch mitteilte, war ziemlich symbolisch und beschränkte sich auf die Beobachtung, wie merkwürdig doch die Quallen – diese so wundervoll farbenleuchtenden und ebenso wunderrasch in nichts verdunstenden – den menschlichen Liebesschicksalen glichen.

Und von Markus war kein Bescheid gekommen: weder Wunsch noch Befehl. Branhardt, der sich entschieden hatte, die Sache vorläufig Markus anheimzustellen, zügelte nur schwer seine Ungeduld. Es sei nun, wie es wolle, meinte er, wenn ihm aber jemand sein Kind nähme, so habe er es so zu nehmen, daß es ihm nicht in Unarten verdürbe; wessen Hand nicht sicher genug dafür sei, der hätte seine Hand gefälligst ganz davon lassen sollen.

Nachdem er sich auf das kräftigste auf Seite seines Schwiegersohnes gegen Gitta geschlagen, trat ein Umschwung bei ihm ein, nicht eben zugunsten Markus', und das Wort »Schlapphans« fiel.

Auch von Balduin kamen keine Briefe: er verstieg sich nie höher als zu Ansichtspostkarten – mit weit mehr Ansicht als Nachricht darauf, und diese selbst nur als Bestätigung der Schönheit der Dolomitenfelsen, deren schönste, unter unnatürlich blauem Himmel, dem Beschauer bereits vom Kartenbild entgegenstarrten.

Den blauen Himmel, im tatsächlichen wie im figürlichen Sinne, las man jedoch heraus: auch schon aus der Handschrift, wenn man sie so kannte wie Anneliese. Und diese freute sich darüber für ihren Sohn – und auch für sich. Denn jetzt konnte sie sich nicht ganz leicht mehr in den Gemütszustand zurückversetzen, worin sie ihm, ohne Übereinstimmung mit ihrem Mann, die »Geheimbriefe« an sie gestattet hatte.

Ja, jetzt würde sie diese Übereinkunft hinterher zu bewerkstelligen gesucht haben, hätten des Sohnes inhaltleere, inhaltreiche Karten es nicht unnütz erscheinen lassen. Und das ersparte ihr jedenfalls ein schweres Stück: insofern – im Grunde – die eine Anneliese eine ziemlich andere Anneliese dabei hätte vertreten müssen. Diese beiden Anneliesen waren noch gar nicht wieder in volle Berührung miteinander geraten – als sei nur die zweite von ihnen Ferienreisende.

Allein dann kam doch ein Morgen, wo unter den Postsachen für Branhardt ein Brief von Balduin an die Mutter einlief. Anneliese erbrach ihn nicht sogleich; sie fuhr fort mit dem Abräumen des Frühstücksgeschirrs vom überlasteten, einzigen Tisch. Als jedoch Branhardt, der daneben stand, lebhaft danach griff, legte sie ihre Hand leicht auf seine.

»Frank – denk' dir: dieser Brief vom Balder ist nur für mich allein.«

»Oho!« machte Branhardt. Weniger die Worte verblüfften ihn als Anneliesens Miene. Die war so wunderlich ernsthaft. »Du hast ja selber noch nicht einmal nachgesehen.«

»Nein. Aber doch weiß ich es. Es galt für Briefe während dieser Reise, wenn er sie eigens an mich richten würde.«

»Weißt du, Lieselieb, dein Zustand entschuldigt manche Schrulle,« bemerkte er lachend, »der hat das nämlich so an sich.« Sie begriff: so, als Schrulle, ließe sich alles am leichtesten darstellen! Aber Anneliese war nicht der Mensch dafür: schon daß er es minutenlang falsch auffaßte, erschien ihr zu lang.

»Verzeih es mir: es war voreilig – unrecht gegen dich. Dem Balder zulieb – falls er es nötig haben würde – versprach ich es. Ohne es mit dir zu vereinbaren.«

»Du versprachst es ihm?«

Das klang erstaunt und verletzt, mehr aber doch erstaunt. Anneliese saß am Tisch, der zugleich den Mahlzeiten, der Schreibmappe, dem Nähzeug sowie Gittas Meeresausbeute dienen mußte, und rückte mechanisch die Gegenstände darauf in ihre schwierige Ordnung. Ihr Gesicht war dabei so gesammelt und nachdenklich, daß Branhardt es auf einmal mit den Händen umfaßte und zu sich emporhob:

»Nicht mehr ganz mein – Lieselieb?«

Da warf sie die Arme um den neben ihr Stehenden. Sie murmelte leidenschaftlich:

»Oh – deinen Willen tun! – Frank, ich bin ja nur noch du! Nichts bin ich außer dir.«

Er wollte nicht, daß sie sich aufrege. So sagte er mit gutem Humor, während er ihr das schwere Haar aus der Stirn strich:

»Sein Versprechen halten muß man freilich. Was ihr beiden Verbrecher euch da eingebrockt habt, will ich euch also ruhig allein auslöffeln lassen. Viel wird's für deinen mütterlichen Appetit ohnehin nicht mehr sein, denn der Junge in seinem Dolomitenrausch scheint nicht gerade üppig im Spenden von Episteln, und schon ist ja die Zeit ganz nahe, wo wir alle wieder beisammen sind. – Nun lies aber; wer weiß, welche Feinheiten, die er für mystische Geheimnisse hält, er der Landschaft abguckte und dir enthüllen will. Gitta und ich, wir halten uns ganz bescheiden zu den Profanen.«

Anneliese las jedoch erst geraume Zeit hinterher und ganz allein auf dem Rande des Dünenkessels. Und das war gut. Denn was der Balder schrieb, verwirrte ihr ganz den Kopf. Erstens: er wollte einstweilen überhaupt nicht wiederkommen; er fühlte zu bestimmt, die Entfernung vom Haus, jetzt insbesondere vom Vater, tue not, sollte alles wieder schön werden, wie es gewesen. Zweitens: er hatte mit einem Verleger, den ihm früher einmal Markus genannt, Unterhandlungen angeknüpft – oder richtiger, durch diesen Verlag, der ein wissenschaftlicher Vertrieb war, mit einem andern, Dichtern geneigtern. Ein paar ältere Arbeiten habe er dadurch schon bei Zeitschriften angebracht; nun käme es aber noch auf ein günstiges Abkommen mit Vorschüssen und Sicherheiten für neuere Arbeiten an. Gelänge es, so wolle er dem Vater schreiben, dem er ja nicht auf der Tasche zu liegen wünsche. Und in diesem Fall hoffe er auf Anneliese als Fürbitterin. Drittens aber und als Hauptsache, als unabweisliche Vorbedingung für alles: Anneliese schreiben dürfen, und nicht nur in »Notfällen« – nein, immer. Fernsein: das müsse für ihn bedeuten: bei ihr sein, immer – in der Heimat sein: überall.

Von den Manuskripten, auf denen nun alles stand, redete er einigermaßen merkwürdig: fast wie von Sachen, die man ins Pfandhaus trägt und unter denen man deshalb am liebsten die am wenigst geliebten auswählt – nicht die, mit denen man sogar entbehren möchte, um nur sie nicht zu entbehren.

Anneliese ging es nur noch wirr durch den Kopf: Der Verlag, das ist ja sicherlich nur Markus selber. Und in einem Atem trauerte sie und freute sich, schalt und herzte den Sohn.

*

Noch ehe Anneliese sich überhaupt schlüssig geworden war, wie Branhardt auf Balduins Nachricht wenigstens vorzubereiten, traf, ganz unerwartet schnell, diese selber schon ein.

Mutter und Tochter hatten an der Landspitze gesessen, wo die beiden Meere temperamentlos dalagen unter flauem Wind. Kaum im Quadrillenschritt, wie Gitta sagte, spritzten Skagerrak und Kattegatt sich entgegen, und nur draußen, weit, kaum noch erkennbar, erhob sich zwischen ihnen der ruhelose Kampf noch einmal, zu dem die unterirdischen Riffe steten Anstoß gaben wie ein heimlicher Bösewicht, der den friedlichen zwei Meeren Beine stellte noch in ihrer friedfertigsten Stimmung.

Man sprach schon so lange über die Riffe, fand Anneliese; Branhardt kam immer noch nicht. Endlich ging sie, Gitta zurücklassend, in ihrer Unruhe, die ihr selbst wunderlich vorkam, heim und suchte nach Branhardt.

Er saß, über ein Buch gebeugt, am Tisch mit den vielen Sachen – »Ausstellungstisch« betitelt von Gitta –, las und rauchte eifrig. Anneliesens Eintritt schien er nicht zu beachten, auch als sie an ihn herantrat, wandte er nur langsam den Kopf nach ihr um. In seinen Augen lag etwas Fremdes, Kühles, was sie so betroffen machte, daß ihr die Frage auf der Lippe blieb.

Branhardt aber antwortete, auch ohne die Frage erst abzuwarten, mit einem bestätigenden Kopfnicken:

»Jawohl – der Brief, der ist da – der an mich nämlich, denn wir dürfen ja jetzt beileibe Dein und Mein nicht mehr verwechseln. – Als Eilbrief kam er – deshalb zu dieser ungewöhnlichen Stunde. Ja, der hat's gewaltig eilig – hätte wohl am liebsten telegraphiert. Aber woher erzähl' ich dir das nur, du weißt ja jedenfalls viel besser Bescheid.«

»Ich wußte noch nicht, Frank.« Mit matten Fingern nestelte sich Anneliese den Schutzhut vom Kopf.

»Nicht? Daß er fortbleibt? – Siehst du, daß du's wußtest? Oder doch erwartetest. – Diesem Hirngespinst – diesem ganzen Plan, so fein ihr ihn auch eingefädelt habt, stehen natürlich noch genau dieselben Bedenken entgegen wie früher. Auch daß Balduin dafür – vielleicht vorzeitig, überhastet, unüberlegt, wie seine Art ist – allerlei Arbeiten abgesetzt hat, das gefährdet möglicherweise seine eigensten Zwecke mehr, als es sie fördern wird. Möglicherweise, sag' ich – denn wirklich beurteilen, übersehen kann ich freilich nichts mehr, so wie ihr es gemacht habt – das mußt du schon tun, die weiß

Er sprach fortgesetzt im ganz verhaltenen Ton von jemandem, der nicht über das Zimmer hinaus gehört zu werden wünscht. Und in langen, eingeschalteten Sätzen, deren Besonnenheit und Überlegtheit Anneliese folterten. Dennoch verriet seine Erregung die Hand, die den Brief aufgegriffen hatte und damit taktmäßig gegen die Tischkante schlug. Unwillkürlich dachte man sich in diese Hand einen Gegenstand hinein, den sie mit Wonne in Stücke schlagen könnte.

Anneliese griff beschwörend danach, hielt seinen Arm fest: »Frank – ach, nicht so. Hör' mich erst an – versteh doch.«

»Ich habe vollkommen verstanden. Nämlich dies, daß die Geschichte mit den Muttersohnbriefen nicht etwa eine übermütige Ferienidee war – sondern wohlbedacht und geplant für das, was ich nicht durchkreuzen sollte –, und überhaupt: eine grundsätzliche Angelegenheit.«

Anneliese raffte alle Inbrunst und Überzeugung zusammen: »Mein Eindruck war so stark, daß es ihm notwendig sei – daß er es haben mußte: seltsam, wie er ist, schwer, wie er sich zurechtfindet. Hätte ich denn jemals sonst – es war für jetzt –, ach, Frank, es wird ja nicht ewig –«

»Nein, ewig wäre ja auch ein wenig viel«, unterbrach er sie ruhig, schloß sein Buch und stand auf. »Mir will jedoch scheinen, auch so ist es schon ganz beträchtlich zuviel. Daß es mein Urteilen und Verstehen dem Jungen gegenüber einfach aus dem Sattel hebt, weißt du. Es enthebt mich mithin auch der weiteren Verantwortung. Du übernimmst sie jetzt. Immerhin ist das anständiger als hinter meinem Rücken – so hinterrücks –«

Anneliese hätte gedacht: nicht eine Minute – eine Sekunde nicht – könnte über diesen Worten vergehen, ohne daß die nächste sie zurücknähme.

Aber schon schloß sich hinter ihm die Tür. Gitta kam und ging; der enge Raum, der sie alle beherbergen mußte, so nah der steingepflasterten Küche, die man mit der Fischersfrau gemeinschaftlich benutzte, machte eine Begegnung unter vier Augen ganz von selbst unmöglich.

Branhardt schritt inmitten der Dünenkessel herum, hinauf bald und bald hinab.

Muttersohn! dachte er erregt. Nicht meiner. Und nach einer Weile: Sagt sie »der Balder«, so meint sie gewissermaßen Baldur, den Frühlingsgott, und behandelt ihn gläubig. Deshalb nämlich gefiel ihr der Name. Dabei erstand in ihm sonderbar deutlich, aufdringlich fast, zudringlich-überdeutlich, die Stunde von Balduins Heimkehr im Winter und sein Begrüßungsbesuch in den Klinikräumen. Er sah vor sich, wie sie einander am Frühstückstisch gegenübersaßen, einander zutranken, sah das sommersprossige Jungengesicht, das ihm nicht nur lieb war um der Ähnlichkeit der Mutter willen: es wurde lebhaft, rötete sich, Balduin wurde offen, sprach wie von Freund zu Freund. Man fühlte, daß es ihn nach dem Vater, dem Mann, verlangt hatte, daß er ungeduldig zu ihm hingelaufen war, hinkenden Fußes, von Mutter und Schwester fort.

Es hätte möglich sein müssen, ihn in dieser Stunde zu fassen, zu halten. Branhardt ertappte sich darauf, daß er mit Anstrengung – als hülfe das – jene kurze Zeitspanne wiederzuerleben versuchte, um sie anders zu wenden.

Da stutzte er doch ein wenig vor sich selbst. Hielt inne mit Grübeln und Phantasieren. Was hieß das nur – konnte kindische, verletzte Eitelkeit von ihm dahinter sein oder tiefe Kränkung, daß er sich so kindisch behalf?

Nein; er brauchte sich ja nur darauf zu besinnen, wie es ihm mit Gitta ergangen war. Leicht war es ihm da auch nicht gefallen, sie abzutreten – mit andern Worten: sehr hochgradig begriff er, daß Markus sich in sie verliebte. Dies Stückchen Mitverliebtheit in die Tochter aber, dies jedermann als typisch bekannte, hatte ihn selbst lächeln und eigentlich nur froh gemacht. Mit Recht lebt ja schließlich der gesunde Mensch so liebereich er kann, umfaßt die Welt seines Besitzes nach jeder Richtung und ohne Ängstlichkeit oder Sparsamkeit; nichts mag ihn so sicher bewahren vor Stehltrieb an Fremdem, vor Irrwegen, Abwegen als diese blutvolle, glückvolle Besitzeslust.

Plötzlich gruben Branhardts Füße sich am Dünenhang in den rollenden Sand. Wenn es sich so verhielt, warum machte er dann eigentlich seiner Frau einen Vorwurf aus einer etwas weitgehenden, etwas ausschließenden Liebe zum Sohn? Ihr, die doch so viel mehr Gefühlsaufwand verbrauchte? Nein – das alles sollte sie natürlich dürfen. Es damit halten dürfen, wie sie wollte und mußte.

In der Tat war ihm der unedle Ärger darüber kaum mehr spürbar: und das war keine Selbsttäuschung. Beinahe wurde er stolz auf diese aufrichtige Duldsamkeit.

Eine ganz andere Frage blieb: wie sich Balduin nun zu ihm stellte.

Und wieder wandte er sich dem Sohne zu, und da kam der Schmerz wieder. Er trug diesen Schmerz wie ein weinendes Kind, das man zur Ruhe wiegen will. So schritt er auf und ab in den rieselnden Sandhängen, bis er nicht mehr den Schmerz, bis er wirklich nur noch ein Kind mit sich trug – den Jungen, so wie er ihm einst auf dem Arm gesessen; ganz klein machte er ihn noch einmal – und ganz groß auch, und zu seinem besten Freunde fürs Leben.

Kurz vor dem Abendtee, den man in einer etwas dürftigen, kleinen Laube hinter dem Hause einzunehmen pflegte, und den zu bereiten Gitta schon vorausgegangen war, trat Branhardt in der Schlafstube auf seine Frau zu.

Er sagte: »Ich ließ mich von der Erregung törichterweise hinreißen vorhin; verzeih! Die Ursache lag wohl an uns beiden – nicht erst vorhin: nein, in allen diesen Wochen schon.«

Anneliese verschlug ihm fast das Wort. Sie eilte auf ihn zu, und, außer sich, umfaßte sie seine Schultern.

Branhardt blickte sie wie erstaunt an: Er wartete einige Sekunden, dann nahm er sanft ihre Hände von seinen Schultern herab.

»Ja, ja, Kind.«

»Frank!« sagte Anneliese tief entsetzt.

Vor ihr stand in blitzender Schärfe der Augenblick, wo kürzlich, nach Balduins erstem Brief, sie ihre Arme um Branhardt geworfen hatte – und seine Frage – und ihre Antwort, die leidenschaftliche Antwort.

Er sagte gütig: »Wir haben uns in zuviel Überschwang verbohrt – uns damit übernommen. Da kommt es dann, daß man zuviel ineinander voraussetzt, lauter Süßigkeiten erwartet. Ich fehlte damit – aber auch du: weniger wäre auch hier vielleicht mehr gewesen: besser.«

Sie sah ihn starr an: wie er das meine? bemüht, ihn zu begreifen. Er sprach so ruhig und ernst, ohne jeden Unterton von Ironie. Es war auch keinerlei Heftigkeit mehr hinter seinen Worten.

»Frank! Aber Frank! Wie Schreckliches redest du nur! Schrecklicheres – als vorhin. Wie sollte man das ertragen!«

»Warum? Es ist nicht unerträglich. Die Jahre lehren es von selbst wie so vieles. Lehren auch wohl, einander was nachsehen, was zugestehen: anspruchsloser sich gut sein.«

Sein Gesicht, obwohl so ernst, blickte gar nicht hart, freundlich war es. Und machte ihr doch so beklemmende Angst, dieses Gesicht. Dieser Ausdruck, unendlich beschäftigt von etwas, wie wenn jedes Wort ihm selber noch mehr zu sagen hätte als ihr und er drauf horche.

Er schien erst jetzt Anneliesens verstörten Ausdruck ganz zu gewahren und fügte hinzu:

»Sei nun auch du wieder ruhig. – Alle Einsicht kostet etwas – kostet viel. Gerecht und wohlwollend kann man aber immer füreinander bleiben.« Und er blickte ihr prüfend – ärztlich gewissermaßen – in das Gesicht, das, obwohl sie nicht geweint hatte, sich rot fleckte wie von vergossenen Tränen. Mühsam, abwehrend bewegte sie den Kopf.

Da erst war er ganz bei ihr. Er umspannte für einige Augenblicke ihr Handgelenk mit eindringlichem Drucke. »Nimm dich fest zusammen – besser, besser! Laß das Kind dich keine Minute ohne Haltung sehen.«

Und erst, als er annahm, daß sie sich in der Gewalt habe, ließ er sie aus seiner Hand, seinem Blick frei, öffnete, da sie eine Bewegung zur Tür machte, diese für sie. Anneliese ging über die steinerne Diele, nur eben aus dem Haus, und blieb stehen.

Sie hörte, wie Gitta von hinten her in den Küchenflur lief, ins Wohnzimmerchen, nach der Mumme, dem Vater rufend; hörte, wie er mit einem Scherzwort antwortete und sie zusammen wieder hinten hinausgingen, zur Laube hin, wo jetzt an den frühen, langen Abenden schon die Lampe brannte.

Anneliese stand noch an der Hausmauer. Was war ihr geschehen?! Ein Fremder, Zuschauender hätte denken können: Streit – Stimmungssache! Sie wußte, daß es das nicht war. Sie wußte es aus der zitternden Kühle, die ihr den Nacken hinunterstrich, lähmend, bleiern in jedes Glied fiel.

Keine Stimmungsangelegenheit – eine Wendung. Sie kannte ja solche in seinem Leben. Wie nichts anders hatten sie sie ihn kennen gelehrt.

Nie vergaß sie, wie sie es einst erlebt, daß der junge Mensch – der daherstürmende, alles Leben in sich trinken wollende, der zunächst auch sie selber nur weiterstürmend an sich nahm – zum zielbewußten Menschen wurde. Wie plötzlich und unbeirrbar. An einer eignen Erfahrung, im Berufsleben, wurde ihm einmal fühlbar, warum sogar wohl der Größte bloßes Splitterwerk bleiben müßte, würde er nicht ein Ganzes gerade durch die Kraft zur Beschränkung.

Jahre vergingen darüber, aber die neue Wurzel all seiner Entschlüsse blieb. Selbst sein Einfluß auf Balduin erwuchs ja noch aus diesem Boden, aus dieser einmaligen inneren Handlung, die da war wie eine endgültige äußere Tatsache: und einfach weiterwirkte.

So wies er auch jetzt auf einen solchen erledigten Vollzug hin: »Nimm es, wie es ist.«

Anneliese, in der Furcht, von Gittas Stimme gerufen zu werden, war langsam hinuntergegangen bis an den Strand.

Sie suchte sich zu sammeln, einzugehen auf Branhardts Worte. Sagten sie nicht im Grunde nur das, was sie selber schon angestrebt, gewünscht hatte – im vorigen Monat noch, im Streit um den Balder? Ein wenig Freiheit im Handeln – persönlichen Spielraum – Gewährenlassen – Selbstbestimmung. Sie rang, sich klarzumachen: was sie gewollt hatte, wurde nun durch ihn zur Wirklichkeit. Wollte sie es denn nicht mehr?

Schwarz, mit unbewegter Fläche, lag vor ihr das Meer, unerhellt: herbstkühler Atem strich von ihm herüber.

Hatte Branhardt nicht gut und gerecht zu denken versucht – gerechter als damals, da sie zuerst um Balduin gestritten – und nun nicht mehr im Unmut, nicht im Zorn.

Ja: indem er ihre Hände von seinen Schultern löste. Immerfort – immerfort empfand sie noch dies eine: wie er ihr die Hände hinwegnahm von seinen Schultern.

Da stieg ein Jammer in ihr auf – unvernünftig, sinnberaubend –, Jammer der Sehnsucht nach seiner Ungerechtigkeit, nach seiner Unbesonnenheit, nach seinem Zorn selbst – dem Zorn, den er so ganz, so rasch überwunden.

Sie sah die Hand vor sich, wie sie das Briefblatt gegen die Tischkante schlug – und wußte plötzlich, daß sie lieber noch sich hätte niederschlagen lassen von einer Faust, als ihn auf immer so kalt gewährend vor sich zu sehen – so tot – so, als sei er ihr längst gestorben.

Ein Schauer vor sich selber rann über Anneliese hin. Den Kopf in die Hände gebückt, saß sie am Strand, den Blick auf der Fläche vor ihr, die gar nicht einem Meere glich.

Bisweilen fuhr wie Peitschenknall ein Windstoß vom Lande her in die trocknenden Badetücher am Strick vor den zwei Kabinen, so daß sie knatternd durcheinanderflatterten. Und wieder wurde es so bedrückend still in der Herbstnacht, wie es allein am Meere sein kann, wenn das Wasser schläft.

In Anneliesens aufgewühlte Gedanken schlich sich Renate ein: und was diese behauptet hatte von einem Glück des »gekreuzigten Stolzes« – dem Glück, das süßeste Ausnahme gerade dem Freiesten sei. Zum erstenmal glaubte sie Renate zu verstehen. Und die Vergeblichkeit des Kampfes gegen das, was Renate doch immer begriffen hatte als ihren eigenen Untergang.

Das Weib, das frei sein wollte wie jeder Mensch, als Mensch, als Mutter – wußte es davon nichts als Weib?

Hatte sie sich selbst noch nie bis auf den Grund gesehen?

War es der Keim dieser Erbsünde auch in ihr, der sie nicht froh werden ließ selbsterstrebter, selbstgehoffter Freiheit, nicht sicher zuschreiten ließ der neuen Gemeinsamkeit, in der sie fortan zueinander stehen wollten und zu den Kindern?

Wenn es so war: dann wollte sie es wie erstickendes Unkraut reißen aus ihrem Garten, damit ihr Herbst hell sei und Früchte trüge und nicht nur welke Blüten.

So sprach Anneliese tapfer zu einem zitternden Herzen, denn in dieser Stunde ging sie hinaus aus ihrer Jugend, und sie weinte dabei.


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