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Ich fand die Kranke schon im Gärtchen. Man hatte ihr den alten Lehnstuhl unter einen breitästigen Apfelbaum getragen, in dessen Schatten sie den herrlichen Nachmittag genoß. Neben ihr auf einer in der Erde festgerammten Bank saß Ludmilla. Diese sprang, als ich eintrat, hastig auf, wobei ihrem Schoße ein buntes Chaos von Wiesenblumen entglitt.
Die Frau machte einen Versuch, sich zu erheben, sank aber alsbald kraftlos in den Stuhl zurück. So begnügte sie sich, mir ihre welke, abgemagerte Hand entgegenzustrecken. ›Wie schön, hochwürdiger Herr‹, sagte sie, ›daß Sie heute herüberkommen, wo ich zum erstenmal wieder die freie Gottesluft atme.‹
›Es freut mich, Sie schon so wohl zu sehen‹, erwiderte ich mit gepreßter Stimme; denn ich bemerkte, daß mich Ludmilla mit ängstlicher Freude betrachtete.
›Gerade haben wir von Ihnen gesprochen, nicht wahr, Mutter?‹ sagte sie. ›Wir fürchteten schon, Sie wären krank. Sie sahen, als Sie das letzte Mal bei uns waren, gar so blaß und leidend aus.‹
Ich fühlte, wie ich bei diesen Worten noch bleicher wurde, als ich es vielleicht schon war.
›Und Sie waren auch gewiß krank‹, fuhr Ludmilla fort. ›Man sieht es Ihnen an, daß Sie sich selbst jetzt noch nicht ganz wohl fühlen.‹
›Wahrlich,‹ bekräftigte die Mutter, ›jetzt merk' ich es erst, wie übel Sie aussehen. Was fehlt Ihnen, geistlicher Herr? Reden Sie, um Gottes willen!‹
Ich drohte umzusinken. Bei dieser ängstlichen Musterung kam mir in den Sinn, wie verstört ich aussehen mußte; ich empfand deutlich, wie mir das Haar wirr um die Schläfen hing, wie meine Augen eine düstere Fieberglut ausstrahlten. Dennoch faßte ich mich und erwiderte, indem ich mich zu lächeln zwang: ›Mir fehlt nichts; ich fühle mich ganz wohl.‹
›Wirklich? Wirklich?‹ forschten die Frauen. ›Sie wollen es nur verheimlichen‹, setzte Ludmilla hinzu.
›Warum sollt' ich das‹, sagte ich, das Zittern meiner Stimme gewaltsam unterdrückend. ›Beruhigen Sie sich, es ist nichts. Die Tage sind jetzt nur so unerträglich schwül‹, fuhr ich fort, indem ich unwillkürlich meinen Empfindungen nachgab und mit der Hand über die Stirn strich.
›So setzen Sie sich doch hierher in den Schatten!‹ rief das Mädchen und zwang mich mit sanfter Gewalt auf die Bank nieder. ›Prokop!‹ rief sie dann dem Knaben zu, der, ohne mein Kommen bemerkt zu haben, weiter rückwärts im Gärtchen herumsprang. ›Prokop, siehst du denn nicht, daß der geistliche Herr da ist?‹ Alsbald kam der Kleine auf mich zugelaufen. Froh, die Verwirrung meiner Seele hinter einem Gespräch mit dem Kinde verbergen zu können, streichelte ich ihm das erhitzte Gesicht und das lichtblonde, kurzgeschnittene Haar, während ich hastig hintereinander eine Menge Fragen an ihn stellte, die er alle bescheiden und aufgeweckt beantwortete.
Ludmilla hatte inzwischen langsam die Blumen vom Boden aufgelesen und machte jetzt Miene, sich neben mir auf die Bank niederzulassen. Ich erhob mich unwillkürlich. ›Wie, Sie wollen schon wieder fort?‹ hieß es. ›Ich muß‹, stammelte ich, obgleich es sich wie unsichtbare Bande um mich legte.
›Oh, nur einen Augenblick!‹ bat Ludmilla, ›bis ich den Strauß hier fertig habe. Sie können sich ihn zu Hause ins Wasser stellen.‹
Ich machte verwirrt eine ablehnende Gebärde.
›Geh mit diesen Blumen!‹ sagte die Mutter. ›Da gibst du dem geistlichen Herrn was Rechtes.‹
›Also wollen Sie sie nicht?‹ fragte Ludmilla kleinlaut. ›Sie duften doch ganz frisch.‹
Mir wollte das Herz darüber zerspringen, daß ich ihr weh getan. ›So war es nicht gemeint‹, sagte ich. ›Ich liebe ja die Blumen, die draußen frei und ungepflegt sprießen, gar sehr. Ich wollte nur nicht, daß Sie sich meinetwegen mühten.‹
›Mühten?‹ fragte sie. ›Mein Gott, wie gerne tät ich's! Aber was ist es denn, einen Strauß zu binden.‹ Und indem sie die Blumen auf die Bank legte und rasch wieder eine nach der anderen aufnahm, fuhr sie fort: ›Die Schanzen sehen jetzt gar so schön aus. Alles steht bunt von Stern- und Glockenblumen, von Gelbveiglein und Hahnenfuß. Da pflück' ich nun, so viel ich kann. Denn hier haben wir auch gar zu wenig Raum, um Blumen zu halten. Mein Rosenbäumchen dort ist außer den Äpfeln und Bohnen das einzige, was bei uns blüht.‹ Sie deutete darauf hin. Es war wirklich die alleinige Zierde des Gärtchens, wo jedes Fleckchen Erde mit einem nützlichen Gewächse bepflanzt war, und stand bis auf eine halbaufgeblühte Rose noch in Knospen.
Sie hatte den Strauß fertig und hielt ihn in der gebräunten, aber wohlgeformten Hand prüfend vor sich hin. ›Es sind doch gar zu unscheinbare Blumen,‹ sagte sie niedergeschlagen, ›sie nehmen sich im Rasen zerstreut viel besser aus als so. Aber warten Sie, ich will noch etwas hinzutun!‹ rief sie, wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, und eilte auf das Bäumchen los. Dort pflückte sie die Rose und steckte dieselbe in die Mitte des Straußes, wo sie, von weißzackigen Sternblumen umgeben, gar lieblich aussah. ›So‹, sagte Ludmilla, indem sie zurückkehrte und mir anmutig den Strauß überreichte. ›Es war die einzige. In ein paar Tagen aber werden alle Knospen aufgegangen sein, und dann sollen Sie die schönsten Rosen haben.‹
Ich stammelte einige unzusammenhängende Worte und verabschiedete mich; Ludmilla ging noch mit mir bis zu dem Pförtchen im Zaune.
Draußen atmete ich tief auf. Ein schmerzlichsüßes Weh hatte mir drinnen das Herz zusammengepreßt und eine dumpfe Hitze ins Antlitz getrieben. Nun suchte ich Luft, Kühlung. Aber die Sonne schien heiß auf meinen Scheitel nieder; kein Blatt, kein Halm regte sich. Unwillkürlich brachte ich den Strauß, um mich zu erfrischen, vors Antlitz. Dadurch wurde ich mir erst des duftigen Geschenkes bewußt, und eine seltsame Verwirrung und Beängstigung überkam mich. Es war mir, als hefteten sich rings tausend Augen auf mich und die Blumen in meiner Hand. Und da fingen die Stengel zwischen meinen Fingern zu glühen an, und aus jedem Kelche schien eine Flamme zu schlagen. Scheu blickte ich umher; es war niemand zu sehen, außer einer Schildwache, die hoch oben auf dem Wall, ohne mich zu beachten, träg auf und nieder ging. Ich nahm den Strauß unter mein Skapulier und eilte zu mir hinüber. Geräuschlos, mit hochklopfendem Herzen, huschte ich über den Flur und die Treppe hinauf und schloß die Tür hinter mir ab. Hier im kühlen einsamen Zimmer drückte ich den Strauß an die Brust, an die Augen, an den Mund. Ich gab ihm die zärtlichsten Schmeichelnamen, wühlte mit zitternden Fingern darin und bedeckte die Stengel mit zahllosen Küssen. Plötzlich aber zuckte wieder das ganze fürchterliche Bewußtsein meiner Lage in mir auf; entsetzt schleuderte ich den Strauß vor mich auf den Tisch hin, schlug mir die Hände vors Gesicht und sank laut stöhnend in einen Stuhl.
Ich weiß nicht, wie lange ich so, eine Beute der widerstreitendsten Gefühle, mochte dagesessen haben, als es an der Tür klopfte. Erschreckt fuhr ich empor, warf ein Tuch über den Strauß und öffnete.
Es war der Kirchendiener in Begleitung eines Mannes, der einige Papiere in der Hand hatte. ›Der Sakristan von Sankt Carl wünscht Euer Hochwürden im Auftrage seines Herrn Pfarrers zu sprechen‹, sagte der Kirchendiener. ›Wir haben morgen eine Leiche.‹
›Eine Leiche?‹ fragte ich mechanisch.
›Eine vornehme Leiche‹, bekräftigte der Kirchendiener mit einem gewissen Behagen. ›Die Tochter des reichen Großhändlers Friedheim. Ich habe sie gut gekannt, denn sie kam fast jeden Sonntag in unsere Kirche herauf. Ein schönes schlankes Fräulein mit blonden Haaren. Sie müssen sie ja auch schon gesehen haben. Sie saß immer im ersten Betstuhle rechts, wo ich jedesmal für sie und die alte Dame, die sie begleitete, Plätze bereithielt.‹
›Ich entsinne mich nicht‹, sagte ich, ohne daß ich dabei nur etwas gedacht hätte, und wandte mich an den Sakristan mit der Frage, warum die Tote nicht bei Sankt Carl, wohin sie doch eigentlich zu gehören scheine, begraben würde.
›Damit hat es ein eigenes Bewenden‹, antwortete der Mann. ›Die ganze Stadt ist voll davon. Das Fräulein war mit einem jungen Rechtsgelehrten verlobt, und die Trauung sollte schon in der nächsten Zeit stattfinden. Wie es heißt, hatte man sich kein ungleicheres Paar denken können als die beiden. Er – heiter, lebenslustig, zuweilen ausgelassen, wenn auch nicht mehr, als es jungen Leuten eben wohl ansteht. Sie hingegen still, nachdenklich, fast schwermütig. Dennoch sollen sie sterbensverliebt ineinander gewesen sein. Als das Fräulein zum letztenmal die Kirche hier oben besuchte, war auch der Bräutigam mit. Nach der Messe kommt es ihr in den Sinn, in den Friedhof hineinzugehen. Der Bräutigam will anfangs nicht; endlich gibt er nach. Wie sie so Arm in Arm langsam zwischen den Hügeln und Kreuzen hingehen, sagt sie: 'Wie still, wie schön es hier ist! Wenn ich einmal sterbe, möcht' ich hier begraben sein.' – 'Ei,' erwiderte der Bräutigam scherzend, 'bis dahin ist kein Platz mehr. Siehst du denn nicht, wie jetzt schon die Gräber dicht aneinandergedrängt sind. Sie werden bald zu einem einzigen großen Blumenhügel zusammenwachsen.' – Aber nach vierzehn Tagen war sie tot. Eine entzündliche Krankheit, die sie sich bei einem Ausfluge geholt haben soll, raffte sie so schnell dahin. Der junge Rechtsgelehrte ist aus Schmerz darüber fast wahnsinnig. Nun will man sie, wie es ihr Wunsch war, hier oben begraben lassen.‹ Er hatte mir bei diesen letzten Worten die Papiere überreicht und setzte hinzu, der Pfarrer von Sankt Carl ließe mich bitten, ich möchte alles Nötige veranlassen und mich morgen nachmittags zur Begräbnisstunde im Hause des Großhändlers einfinden. Er selbst würde auch dort sein, da die Leiche vorher bei Sankt Carl eingesegnet werden müsse.
Als ich wieder allein war, legte ich die Hand auf die Stirn. Es war mir, als erwache ich aus einem schweren Traum. Wie Schatten löste es sich nach und nach von allen Dingen im Zimmer, das mir schon ganz fremd geworden war. Jeder Stuhl, jeder Schrank, jedes Buch auf den Gestellen schien mich vertraut anzublicken, und über dem Tische dort am Fenster lag es wie ein Sonnenstrahl aus früheren, glücklichen Tagen.
Ich überlas aufmerksam die Sterbedokumente und dachte, während ich auf und ab schritt, den Fall in seiner Besonderheit durch. Und je mehr mir dessen volle Bedeutung klar wurde, desto leichter und freier fühlte ich mich, ich wußte selbst nicht warum. Ich bemühte mich jetzt, mich auf die Verstorbene zu besinnen, mir nach den Andeutungen des Kirchendieners ein Bild von ihr zu entwerfen: aber seltsam, es floß mir immer mit jenem Ludmillas zusammen. Ein leiser Duft, der sich im Zimmer verbreitet hatte, mahnte mich endlich wieder an den Strauß. Ich nahm das Tuch davon, füllte ein Glas und stellte ihn hinein. Draußen lagerte eine dumpfe Schwüle, die sich still zu schweren Wolken zusammenballte. Eine süße Müdigkeit überkam mich; ich hatte so viele Nächte bloß in wüstem, entnervendem Halbschlummer zugebracht. Nun gab ich der Schläfrigkeit, die sich wohltuend auf meine Augenlider senkte, nach und ging zu Bette, während draußen die Donner zu rollen anfingen und ein erquickender Regen über die Erde niederging. –
Der folgende Tag ließ sich recht unfreundlich an und blieb es. Ich aber fühlte mich nach einem langen und tiefen Schlafe wunderbar gestärkt und ging zum Friedhof hinab, wo ich dem Kirchendiener, der hier zugleich Totengräber ist, zusah, wie er für die Verstorbene ein Grab aufwarf. Zur bestimmten Stunde fand ich mich in dem Hause des Großhändlers ein. Dort wurde ich in einen schwarzausgeschlagenen Empfangssaal geführt, wo bereits eine Menge von Leidtragenden versammelt war. In der Mitte des Saales, vom Scheine leis flackernder Wachskerzen beleuchtet, lag die Tote in einem offenen Sarge, weißgekleidet, den Brautkranz im Haar. Ein junger Mann hatte sich mit verstörten Mienen über sie geworfen und benetzte ihr bleiches Antlitz und ihre starren Hände mit Tränen und Küssen. Als man jetzt Anstalten traf, den Sarg zu schließen, wollte er dies durchaus nicht zugeben. Er wehrte die Männer, die mit dem Deckel nahten, ab und rief mit herzzerreißender Stimme: ›Nein! Ich lasse sie nicht forttragen! Ich lasse sie nicht in die kalte, finstere Erde versenken!‹ Umsonst beschworen ihn seine Angehörigen und Freunde, sich zu fassen; umsonst sprach ihm der Pfarrer von Sankt Carl, ein kleiner, wohlbeleibter Herr, in salbungsvollen Worten Trost zu: er wollte nichts hören und mußte endlich mit Gewalt von der Leiche entfernt werden. Wahrend dieser erschütternden Szene stand ich abseits mit gesenktem Haupte da. War es eine zufällige Ähnlichkeit, war es ein Spiel meiner Phantasie – ich glaubte Ludmilla dort im Sarge zu sehen. Das waren dieselben feingeschnittenen Züge, war dasselbe blonde, schlichtgescheitelte Haar, dieselbe schlanke, zartbusige Gestalt; nur der entstellende Hauch des Todes lag darüber und der fremdartige Prunk und Schimmer der kostbaren Sterbegewänder. Ich verstand den Schmerz des Jünglings, als wär' er mein eigener – und doch war es wiederum nur eine stille, süße Wehmut, was mich durchzitterte.
Jetzt ertönten schaurig dumpf die Schläge des Hammers. Die Träger hoben den Sarg, und unter den Klängen eines Chorals wurde die Leiche zur Einsegnung in die Carlskirche gebracht. Von dort aus bewegte sich der Zug, dem eine lange Wagenreihe folgte, gegen den Wyschehrad. Ein kalter Wind jagte dabei graues, zerrissenes Gewölk mit flüchtigen Regenschauern am Himmel hin und her und löschte fast die qualmenden Leichenfackeln aus.
Endlich waren wir auf dem Friedhof angelangt, und die nächsten Angehörigen traten laut schluchzend an den Rand des Grabes. Nur der Bräutigam schien schon alle seine Tränen verweint zu haben, denn er starrte jetzt mit trockenem Auge in die modrige Grube. Als man aber den Sarg hineinsenkte, da machte er eine Bewegung, als wollte er sich mit den dumpf niederpolternden Schollen nachstürzen, so daß ihn ein alter Herr, augenscheinlich sein Vater, erschreckt beim Arme faßte. Man konnte ihn jedoch nicht daran hindern, daß er sich, als das Grab geschlossen war, auf den frischen Hügel niederwarf, wo er sich, ohne auf die Umstehenden zu achten, ganz einem stummen, verzweiflungsvollen Schmerze überließ. So verweilte er lange.
Allmählich entfernten sich die Anwesenden, indem sie sich noch öfter mit bedauernden Blicken nach ihm umwandten. Nur sein Vater und ein junger Mann blieben bei ihm zurück.
›Artur,‹ sagte endlich der erstere, ›laß es jetzt genug sein. Bedenke, wie mir beim Anblick eines solchen, alles Maß überschreitenden Schmerzes zumute sein muß. Ich bitte dich, mein Kind, steh' auf!‹
Der Jüngling hörte nicht oder wollte nicht hören.
›Wahrlich, Artur,‹ nahm jetzt der andere das Wort, indem er dem alten Herrn einen bedeutungsvollen Blick zuwarf, ›wahrlich, ich hätte nicht gedacht, daß du so wenig Seelenstärke besäßest. Du schwelgst in deinem Schmerze wie ein nervöses Weib. Ich kenne dich gar nicht mehr.‹
Artur schnellte mit halbem Leib empor und sah ihn mit wilden Blicken an. ›So sprichst du, Richard? Du, mein Freund, von dem ich glaubte, er sei der einzige, der meinen Verlust in seiner ganzen Größe ermessen und mitempfinden könnte!? Ich möchte dich an meiner Stelle sehen! Aber freilich,‹ fuhr er mit grellem Hohngelächter fort, ›deine Elise lebt ja noch! O pfui über den Egoismus, über die Teilnahmslosigkeit der Welt!‹ Und er warf sich wieder aufs Antlitz.
Betroffen über das Mißlingen seiner List, schlug Richard die Augen zu Boden.
›Ich bitte Sie, hochwürdiger Herr,‹ wandte sich der Vater an mich, ›helfen Sie uns doch den Unseligen trösten, auf daß er diesen Ort verlasse, der seiner verzweiflungsvollen Stimmung nur immer neue Nahrung gibt.‹
Artur erhob abwehrend die Hand. ›Ich brauche keine leeren Worte. Der geistliche Herr soll sich keine Mühe geben. Seine Vertröstungen auf ein Wiedersehen im Jenseits erinnern mich nur daran, daß ich hier auf Erden alles verloren und daß mir nichts anderes übrigbleibt, als auf diesem Grabe zu sterben!‹
›Artur, du versündigst dich!‹ rief der alte Herr und warf mir einen Blick zu, der für die Worte des Sohnes um Entschuldigung bat.
›Lassen Sie ihn‹, sagte ich. ›Ich fühle es ja nur zu gut, daß ihm jeder Trost leer und ungenügend erscheinen muß.‹
Diese Worte, die mir aus der tiefsten Seele kamen, schien der Jüngling nicht erwartet zu haben. Er richtete sich allmählich empor und betrachtete mich lange und schweigend. ›Das sagen Sie,‹ sprach er endlich, › Sie, der Sie nie geliebt?‹
›Warum verneinen Sie dies so bestimmt?‹ erwiderte ich. ›Ich bin ein Mensch wie Sie. Aber‹, fuhr ich fort, indem ich mir mit diesen Worten gleichsam selber Mut zusprach, ›fassen Sie sich jetzt. Gedenken Sie der Pflichten, die Ihnen das Leben noch auferlegt, und es wird Ihnen freier und leichter zumute werden.‹
›O nichts davon!‹ entgegnete er hastig. ›Ich habe jetzt keine Pflichten mehr. Und wenn auch, wie vermöcht' ich es, sie zu erfüllen! Die Tatkraft, die noch vor kurzem meine Brust geschwellt, ist erloschen, und der Flug meines Geistes auf immer gelähmt.‹
›Das scheint Ihnen jetzt so‹, sagte ich ruhig. ›Ich bin überzeugt, daß alles, was an edlen Kräften in Ihrem Wesen liegt, sich über kurz oder lang wieder regen und sich reiner und herrlicher entfalten wird, als dies vielleicht bei dem Besitze Ihrer Geliebten der Fall gewesen wäre. Denn‹, setzte ich hinzu und fühlte mich durch die Zuversicht meiner Rede selbst wunderbar getröstet und erhoben, ›ein großer Schmerz läutert, indem er die Seele zwingt, ihr Tiefstes zu sammeln. Er reift in uns die Erkenntnis, daß nur jenes Glück, welches wir ganz in uns selbst finden, Dauer verspricht und jedes andere, so schön es auch sei, vor einem Hauche in nichts zerstieben kann.‹
Artur blickte vor sich hin. ›Aus Ihnen spricht der Geist der Entsagung‹, erwiderte er endlich. ›Es ward Ihnen schon von jeher nahegelegt, so zu denken und den Blick auf die Kehrseiten aller irdischen Freuden zu richten. Wie hätten Sie auch sonst stark genug sein können, Ihr Gelübde zu tragen.‹ Er bemerkte nicht, wie ich im Innersten zusammenzuckte, und fuhr fort: ›Ich aber war stets ein Kind des Lebens. Ich freute mich der Blüten, ohne zu bedenken, wie rasch sie welken sollen, und genoß in vollen Zügen die Gaben der Stunde, ohne mich darum zu kümmern, was die nächste mir rauben könne. Und dann – mich hatte, was auch finstere Asketen dawider sagen mögen, schon die höchste Erdenseligkeit verheißend gestreift! O, Sie wissen nicht, was es ist, eine geliebte Braut ans Herz zu drücken!‹ setzte er, von der Erinnerung überwältigt, hinzu. ›Diesen Boden, in dem sie jetzt modern soll, betrat ich noch vor kurzem an ihrer Seite. Wie reizend erschien sie mir damals in ihrer milden Schönheit und aufknospenden Lebensfülle! Wie weich lag ihr Arm in dem meinen, wie lind schmiegte sich ihr Haupt an meine Schulter, als sie die verhängnisvollen, ahnungsreichen Worte sprach! – Sie werden vielleicht davon gehört haben?‹
Ich bejahte es schweigend.
›Wie hätt' ich mir träumen lassen, daß diese Worte sich so bald erfüllen würden!‹ Und plötzlich um sich blickend, fragte er: ›Von wo aus sieht man hier auf die Moldau hinab?‹
›Gleich von jener Bastei aus‹, erwiderte ich. ›Aber warum fragen Sie?‹ fuhr ich fort, da ich bemerkte, daß der alte Herr und Richard einander ängstlich ansahen. ›Sie sollen es erfahren. Kommen Sie!‹ Und er ergriff mich, da ich zögerte, beim Arme und eilte mit mir, während die andern uns auf dem Fuße folgten, nach der Bastei. Dort stützte er sich mit beiden Händen auf die Brustwehr und sah schweigend hinab. ›Wie trüb und schlammig heute der Fluß vorüberzieht, als verschmäh' er es, den grauen, unfreundlichen Himmel zu spiegeln‹, sagte er endlich tonlos. ›Es ist noch nicht lange her, daß dort unten in einer duftigen Mondnacht ein Kahn voll heiterer, lebensfroher Menschen vorüberfuhr. Mein Vater, mein Freund waren darunter – und ich und meine Braut.‹
›Wozu dieses beständige Wühlen in deiner Wunde‹, fiel ihm der Vater ins Wort, während ich atemlos aufhorchte.
Artur warf ihm einen beschwichtigenden Blick zu und fuhr fort: ›Wir kehrten von Podol zurück, wo wir uns unter Scherzen, anmutigen Spielen und frohen Wechselgesängen bis tief in die Nacht hinein aufgehalten hatten. Alles war von den Geistern der Laune und des Weines erregt; selbst meine sonst so stille Friederike wurde heiter, beinahe übermütig. Als wir in diese Nähe kamen und das alte Fort mit düsteren Umrissen still im Mondlichte aufragen sahen, rief einer von der Gesellschaft: 'Laßt uns doch den alten Wyschehrad mit einem Lied begrüßen!' Dieser Vorschlag fand lebhaften Anklang, und man drängte mich von allen Seiten, einen Gesang anzustimmen. 'Gut,' erwiderte ich, 'wir wollen die Schläfer hinter den Wällen wachsingen.' Und rasch mich besinnend, hob ich mit einem Liede an, dessen Worte mir der Augenblick eingab und welche ich einer bekannten Melodie unterschob.‹
› Sie sangen das Lied?‹ fragte ich.
›Ja, ich‹; erwiderte er, mein Erstaunen nicht in seiner eigentlichen Bedeutung fassend. ›Jetzt ist es mir, ich hätte mich damit versündigt. Es war ein echtes Lebenslied, begann weich und schmelzend, schwoll aber rasch zum Ausdrucke des frohesten Übermutes an. In welchem Vollgefühle des Glückes, wie zukunftstrunken sang ich es. Mir war, es müsse durch die Stille der Nacht über die ganze Erde erklingen und in jeder Brust einen Widerhall meiner Seligkeit wachrufen.‹
›Ich habe Sie singen hören und den Kahn vorüberfahren sehen‹, sagte ich.
Artur sah mich überrascht an.
›Erinnerst du dich nicht mehr,‹ bemerkte Richard, ›daß uns jemand auf eine dunkle Gestalt aufmerksam machte, die er hinter dem äußersten Mauervorsprung der Zitadelle zu erkennen glaubte. Vielleicht war es der geistliche Herr.‹
›Ich war es‹, entgegnete ich. ›Und vielleicht‹, fuhr ich gegen Artur fort, ›kann es etwas zu Ihrem Troste beitragen, wenn ich Ihnen bekenne, daß mir damals Ihr Lied sehr weh getan. Während Sie dort unten an der Seite Ihrer Geliebten und von froher Gesellschaft umringt vorüberfuhren, stand ich hier oben allein, einsam, die Brust voll namenloser Sehnsucht nach den Freuden, davon Sie sangen und die mir verwehrt waren, ewig verwehrt bleiben müssen. Wenn Sie der Schmerz über Ihren Verlust wieder mit seiner ganzen Wucht befällt und Sie zu überwältigen droht, dann denken Sie derer, die an den schönsten Verheißungen, an den holdesten Genüssen dieser Welt bebenden Herzens und mit dem Entsagungsworte auf den Lippen vorüberschreiten müssen.‹ Ich hatte bei diesen Worten die Hand des Jünglings ergriffen, der sich willig und fügsam von mir fortführen ließ. Als wir an dem Friedhofe vorbeikamen, wollte er nochmals hineingehen. ›Nicht doch‹, bat der alte Herr, der schon froh war, seinen Sohn gefaßter zu sehen, und stellte sich ihm in den Weg. ›Nur noch den letzten Abschied, Vater‹, sagte Artur, indem er ihn sanft beiseite schob und durch das Gitter trat. Wir anderen folgten. Er blickte eine Zeitlang mit gesenktem Haupte schweigend auf den Hügel nieder, dann nahm er den Arm seines Vaters und ging. Ich begleitete sie noch bis an ihren Wagen, der in der Nähe hielt. Beim Abschiede sagte der Jüngling: ›Leben Sie wohl, ich werde Sie und Ihre Worte niemals vergessen.‹ Die beiden anderen drückten mir mit stummem Danke die Hand.
Ich sah eine Weile dem fortrollenden Wagen nach; dann kehrte ich langsam zurück. Eine geheimnisvolle Macht trieb mich noch einmal in den Friedhof. Da stand ich nun allein inmitten der Gräber. Wie still war es um mich her! Nur manchmal rauschte ein kühler, feuchter Windstoß in den Trauerweiden und Zypressen und strich mit leisem Klingen durch die metallenen Kreuze. Die Schauer der Vergänglichkeit quollen und rieselten durch die Luft, und aus allen Hügeln schwieg mich das große Rätsel des Todes an. Ein tiefes, wohltuendes Gefühl von der Nichtigkeit des Daseins überkam mich, und eine hehre Freude zitterte in meiner Brust auf. ›Ja‹, rief ich und breitete die Arme aus, ›zweifach wird die Welt überwunden: entweder grausam durch den Tod, der alles Irdische des gleißenden Schimmers entkleidet und Moder und Verwesung bloßlegt, oder schön und herrlich durch den Mut der Entsagung, den Christus gepredigt und auf Golgatha besiegelt.‹ Und immer freier, immer leichter wurde mir; wie stückweis fiel es von mir ab, und gleich Flügeln fühlt' ich es an den Schultern. Als ich mich später, einem inneren Drange folgend, an die Orgel setzte, da stimmten die rauschenden, langgezogenen Töne wieder ganz zu dem feierlichen Ernste, zu der tiefen Ruhe meiner Seele.« –
»Und so,« fuhr er fort, während sich noch der Nachglanz jener erhabenen Stunde in seinen Augen spiegelte, »so lebte ich wieder, mit dem stärkenden Bewußtsein meiner Pflicht, mein stilles Leben fort; mehr und mehr verblaßte und verflüchtigte in mir die Erinnerung an jene Nacht, und immer seltener und schwächer zuckte mein Herz beim Anblicke des Mädchens, dessen blondes Haar ich einst mit brennender Lippe gestreift.«
»Und welches nun schon lange eine glückliche Gattin und Mutter ist«, sagte ich leise.
»Ja,« erwiderte er; »ich habe sie getraut und ihre Kinder getauft. Und da fällt mir ein, daß es gerade die Schrecken des Krieges waren, was ihr Glück begründete oder doch beschleunigte. Sie hatte ihr Herz einem jungen Soldaten geschenkt. Jedoch konnte, wie dies meistens unter ähnlichen Umständen der Fall ist, an eine Verbindung um so weniger gedacht werden, als der Geliebte keine Aussicht hatte, bald vom Militär loszukommen und sich eine andere Lebensstellung zu erwerben. Da geschah es noch, daß er plötzlich versetzt wurde, und so brach nun auch über Ludmilla das Leid des Daseins herein. Man sah es, wie sie sich still härmte und die Tage ihrer schönsten Jugend in öder, hoffnungsloser Sehnsucht verlebte. Ich hatte inzwischen angefangen, von meinen geringen Ordensbezügen das Möglichste zurückzulegen, um den Liebenden doch wenigstens nach Jahren eine gewisse Summe zur ersten Beschaffung eines einfachen Hauswesens übergeben zu können. Da kam das Jahr Achtundvierzig mit seinen Revolutionsstürmen, und der Entfernte zeichnete sich auf dem italienischen Schlachtfelde derart aus, daß er dekoriert und zu einer Beförderung in Vorschlag gebracht wurde. Da er aber einige schwere Verwundungen erlitten hatte, die ihn, wie sich später erwies, zum aktiven Dienst untauglich machten, so willigte man um so eher in seine Bitte, ihn als Zeugwart auf dem Wyschehrad anzustellen, als der Vater Ludmillas mit zunehmenden Jahren zu kränkeln begonnen hatte. So bedurften die beiden meiner Hilfe nicht mehr, und meine kleinen Ersparnisse kamen Prokop zugute, dem sich damit unter meiner Anleitung eine wissenschaftliche Laufbahn erschloß. Die Alten lebten noch ein paar Jahre still und zufrieden bei den Neuvermählten; endlich starb der Vater – und bald darauf die Mutter.«
»Und was ist aus Artur geworden?« fragte ich.
»Erraten Sie es nicht?« antwortete er lächelnd. »Er ist wieder glücklich, im Besitz einer vortrefflichen Gattin und einer ganzen Reihe von allerliebsten Kindern. Und so bin nur ich, weil ich es eben mußte, einsam geblieben und werde es sein bis an mein Ende.« Er hatte bei diesen Worten, in deren Heiterkeit ein leiser, sanfter Schmerzenston wunderbar vibrierte, die Gläser gefüllt. »Auf Ihr Glück!« sagte er und trank. Dann legte er mir die Hand wie zum Segen aufs Haupt: »Der Himmel schütze Sie vor den feindlichen Kugeln.«
Es war spät geworden, und ich mußte fort. Er geleitete mich zum Doppeltor der Zitadelle, das mir der verschlafene Wachegefreite aufschloß. Wir umarmten uns und drückten einander zum letztenmal die Hand. Dann riß ich mich los, eilte durch die Halle und auf der Straße fort, die in einer scharfen Krümmung die Höhe hinab und der Stadt zuführt. Am Buge hielt ich an und blickte nach der Zitadelle zurück. Hoch oben auf der Plattform stand Innocens und winkte noch einmal zum Abschied. Sein Antlitz schimmerte im Strahl des Mondes, der durch das leichte Gewölk der Frühlingsnacht brach, wie verklärt.