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23. Oktober.
Ich hatte geglaubt, ich würde den Tag meiner Ankunft in München rot einschreiben in mein Tagebuch; ich bin nicht dazu gekommen. Über sechs Wochen bin ich nun hier, und erst heut habe ich es über mich gebracht, das vernachlässigte Buch aus meinem Koffer hervorzuholen.
Auch zu dichterischer Produktion hat mich München bis jetzt nicht angeregt.
Einige Kritiken, die über meine »Judith« erschienen sind, haben mich etwas niedergedrückt, fast mutlos gemacht. Sie finden alle meine Tragödie unreif und dilettantisch. Einer der Herren ist so gnädig, mehrere Genie-Blitze, wie er sich ausdrückt, darin zu konstatieren, daneben aber wimmele es von Geschmacklosigkeiten, und manchmal sei man geradzu versucht, an dem gesunden Verstand der Verfasserin zu zweifeln ...
Wie artig.
Auch die Aufnahme der Dichtung bei den Meinigen hat mich schmerzlich enttäuscht. Hildegard hat mir nicht ein Wort darüber geschrieben; sie hat für nichts Sinn als für ihre Farbenklexe.
Botho schreibt, daß ihn vieles in dem Stück geradezu unangenehm berührt habe. Es stünden Stellen darin, die eine vornehme Dame niemals schreiben, geschweige denn unter ihrem Namen veröffentlichen dürfe; er habe nicht geglaubt, daß ich die Taktlosigkeit so weit treiben würde.
Der gute Junge – ich habe es dem Brief angemerkt – war ganz aus dem Konzept.
Er ist Soldat; von dem Standpunkt des Künstlers, hoch über den Konventionen, begreift er nichts.
Schon mehr hätte ich Mama zugetraut. Sie kann so vorurteilslos sein; aber auch sie wird mir nicht gerecht. Da stünden ja Dinge darin, die eine reine Jungfrau nicht einmal denken dürfe ...
Wie hätt ich dann aber, bei einer so beschränkten Auffassung meines Berufs, das Thema der »Judith« behandeln sollen?
Meine ganze Familie hat eben nie etwas Modernes gelesen. Sie reden und denken von den Modernen, wie von Sodom und Gomorrha. Ich werde da einen schweren Stand haben.
Geradezu beleidigend war wieder Bernhard. Er habe es ja immer gesagt, hat er sich Mama gegenüber ausgedrückt, daß ich Tollheiten begehen würde, sobald man mir die Zügel schießen ließe.
Wenn die erst wüßten, wie manches in der »Judith« mir selber aus der Seele geschrieben ist.
*
26. Oktober.
Die Kritik ist unverschämt gegen mich; aber die produktiven Schriftsteller, die ich hier nach und nach kennen lerne, behandeln mich alle als Kollegen. Das gibt ein eigenes Gefühl.
*
30. Oktober.
Ein ernster strebsamer Mensch dieser Ernst Wehrmüller. Walter denkt sehr hoch von ihm als Künstler und schätzt und liebt ihn als Kameraden.
Das kleine, rothaarige Männlein ist nicht wenig stolz auf die vornehme Freundschaft. Er ist Walter außerordentlich ergeben, besonders, seitdem er bei Walters Hochzeit die Ehre hatte, mit Bernhard zusammen der zweite Brautzeuge zu sein.
Sie war recht würdig, diese Hochzeit, und Bernhard war diesmal tadellos. Er hat in seiner Tischrede nicht verfehlt, die Braut besonders feierlich anzureden und sie darauf aufmerksam zu machen, daß sie durch diese Ehe Mitglied werde und eintrete in eine der ersten Familien des Königreichs.
Die Worte haben auf Franziska einen großen Eindruck hervorgebracht.
*
Allerheiligen.
Mich heut endlich aufgerafft, die Baronin von Rödern zu besuchen. Hat die sich verändert! Ich würde sie auf der Straße nicht wieder erkannt haben. Ganz kümmerlich ist sie geworden in ihrem Aussehen.
Von Hildegard sagte sie: Die bringt's zu was, die hat ebensoviel Energie wie Talent.
Sie selber macht einen ziemlich mutlosen und resignierten Eindruck.
Wir saßen ungefähr ein Viertelstündchen beieinander, als es plötzlich anklopfte, worauf ein hochstämmiger, breitschultriger, schwarzlockiger Herr in die Stube trat, den mir die Baronin als Doktor Schönemann vorstellte.
Ich hatte schon viel von ihm gehört, auch von seiner imponierenden Erscheinung; aber so als Hüne mit duftigen Zeuslocken über der hohen Stirn hatte ich ihn mir doch nicht gedacht.
Er begrüßte mich herzlich als Kollege.
Er hatte die »Judith« gelesen. »Sie sind ja ein Teufelsmädchen,« rief er plötzlich aus. »Aber ...
»Ja, es hat einige ›Aber‹;. Nun, wir müssen darüber reden, über ihre ›Judith‹;; warum kommen Sie denn nicht zu mir? – Was, über anderthalb Monate sind Sie schon in München und haben sich noch nicht blicken lassen? Das müßt ich Ihnen übel nehmen!«
Ich benahm mich, glaub ich, ziemlich schüchtern. Als ich mich zum Fortgehen erhob, schüttelte er mir kordial die Hand: »Also auf recht baldiges Wiedersehen.«
Von der Baronin weg ging ich zu Ernst Wehrmüller, den ich manchmal auf seinem Atelier besuche. Ich erzählte ihm meine Begegnung. »Sie haben ihn also kennen gelernt, den großen Mann,« sagte er, und sein rothaariges Alräunchengesicht verzog sich zur Grimasse.
Er kennt den Doktor Schönemann persönlich, und ich habe ihn weidlich ausgefragt. Auch was er über das Verhältnis des Doktors zur Baronin denkt; er hat aber nur die Achsel gezuckt. »Der Doktor protegiert sie, voila tout.« Und wieder die Grimasse in seinem Gesicht. »Er muß immer eine protegieren, oder auch mehrere, das ist sein eigentlicher Beruf. Wenn es übrigens keine Mädchen sein können, nimmt er auch mit Büblein vorlieb. Er päppelt sie auf, bis sie größer werden; wenn sie auf eigenen Füßen stehen können, laufen sie ihm davon und drehen ihm eine Nase. Aber er hat immer noch den Geschmack am Aufpäppeln nicht verloren, und wahrlich, man wird ihm den Ehrentitel einer Amme der deutschen Literatur nicht versagen können.«
Ich wurde ernstlich bös über seine Reden. »Sie sind die giftigste Kröte, die ich je kennen gelernt habe,« sagte ich ihm geradezu ins Gesicht; aber er schüttelte sich vor Lachen über meine Entrüstung. »Lassen Sie's gut sein,« sagte er; »die nächste an der Reihe sind Sie. Ich rate Ihnen, recht bald zu ihm zu gehen; es ist nicht klug, den Unwillen der Götter herauszufordern.«
Gewiß werde ich zu ihm gehen. Von ihm werde ich endlich ein vernünftiges Wort über meine »Judith« hören.
Ich begreife übrigens, was den gnomenhaften Wehrmüller so giftig gemacht hat: weil ich ganz begeistert war von der Kraftgestalt des Doktors.
Ein gescheiter Mensch ist er, der Kleine. Er sprüht nur so vor Witz – und Bosheit; dennoch kann er manchmal auch recht bedäppt sein. Er malt gegenwärtig an einer Eva; aber das Bild will nicht recht vorrücken. »Ja, wenn ich das rechte Modell dazu bekommen könnte,« sagte er neulich in ziemlich mutloser Stimmung und sah mich dabei seltsam an.
Er scheint sehr arm zu sein.
*
St. Martini.
Ein reizendes Häuschen, das Walter sich da gekauft hat; ein wahrhaft poetisches Künstlerheim und ein wundervolles Nest für ein junges, verliebtes Paar. Parva sed mea hat mein Bruder sinnvoll über den Eingang geschrieben.
Nur für drei ist es fast etwas zu eng; es ist auch auffallend leicht gebaut, und beide Umstände haben doch einiges Unangenehme im Gefolge. Mein Schlafzimmer liegt unter dem der Geschwister; ich höre durch die Decke fast jedes Wort, und – warum soll ich es nicht schreiben? – dieses allzu enge und nahe Zusammensein mit den beiden Liebesleuten (denn als solche gebärden sie sich mehr denn als Eheleute) ist mir manchmal recht peinlich – sie nehmen auch nicht die geringste Rücksicht auf mich.
Meine Schwägerin ist mir überhaupt manchmal unverständlich. Sie fängt oft von Sachen an zu reden, die man doch wahrlich einem jungen Mädchen gegenüber – wenn ich auch siebenundzwanzig vorüber bin – nicht zu erwähnen pflegt, wenigstens in unseren Kreisen nicht.
Es kommt mir manchmal vor, als ob sie mich förmlich reizen wolle.
Sollte sie doch nicht das sein, was mein Bruder so fest von ihr glaubt? Wenn er sich in ihr getäuscht hätte ...
*
Freitag, 13.
Atelierbesuch bei Wehrmüller. Wir verkehren ganz kameradschaftlich: er neckt mich viel, aber im Grunde hat er einen ungeheuren Respekt vor mir. Mir wieder geklagt, daß er kein genügendes Modell für seine Eva bekommen kann.
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Samstag.
»Ah, endlich! Es ist aber höchste Zeit, daß Sie kommen.« Mit diesen Worten empfing mich der Doktor.
Mir war vor allem wichtig, was er mir über meine »Judith« sagen werde. »Ja, ja, da haben Sie was Schönes angestellt,« begann er.
Um es kurz zu machen: Die »Judith« hätte so, wie sie ist, niemals gedruckt werden sollen. Warum ich denn nicht vorher mit dem Manuskript zu ihm gekommen wäre, da hätte alles gut werden können.
»Von Dummheiten und Ungeschicklichkeiten,« sagte er, »wimmeln ja alle Erstlingswerke; aber das muß seine Grenzen haben, wenn man ernst genommen sein will. So viel Unerfahrenheit und Naivität wie Sie, darf man niemals öffentlich preisgeben. Ja, Sie haben was angestellt.«
Ich hörte aus allem, daß der Mann sehr empfindlich war, weil ich mit meinem Besuch so lange gezögert hatte.
*
16. November.
Franziska hat heute wieder recht unpassende Dinge gegen mich erwähnt. Ich habe gefühlt, wie ich einen roten Kopf bekam; ich bin aufgestanden und habe ihr ziemlich streng gesagt, daß ich von ihr erwartet hätte, sie werde die Schwester ihres Mannes zu respektieren wissen. Ganz empört habe ich das Zimmer verlassen.
Ich habe jetzt einen Verdacht: es scheint, sie glaubt nicht an meine Unberührtheit und Reinheit; sie sucht mich zu sondieren. Es ist abscheulich von ihr.
Wahrscheinlich denkt sie an gewisse Stellen in der »Judith« und zieht daraus falsche Schlüsse. Wie ekelhaft.
*
17. November.
Den Nachmittag bei Doktor Schönemann.
Er hat den vierten Akt meiner »Judith« vorgelesen. »Wie Sie es nur fertig brachten,« sagte er, »so was zu schreiben. Sie hielten das wohl für sehr stark? Es ist aber nur geschmacklos. Man hört aus jeder Zeile, daß Sie noch ein Mädchen sind und von Dingen reden, die Sie nicht kennen. Wir auch, in unseren naturalistischen Flegeljahren, haben uns vielfach geschmacklos ausgedrückt; wir hatten aber wenigstens Sachkenntnis.«
Dazu lachte er zynisch und sah mich auf eine Art an, daß ich rot wurde.
Es ist, als ob alles sich gegen mich verschworen hätte, mich jeden Augenblick verlegen zu machen. Sie merken, daß ich an ihren Ton noch nicht gewöhnt bin, und lassen mich's fühlen bei jeder Gelegenheit.
Der Doktor hat mir heute seine Frau vorgestellt, und wir haben Tee zusammen getrunken.
Sie ist auch Schriftstellerin, schreibt für Familienblätter.
Ob der Doktor wohl mit der Baronin ein richtiges Verhältnis hat?
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Dienstag, 21. November.
Ärgerlicher Brief von Bernhard; wieder die ewigen Geldgeschichten. Der Pächter dringt auf umfangreiche bauliche Reparaturen, und Bernhard kann das Geld dazu nicht bekommen, wenn wir, Botho, Hildegard und ich, unsere Hypotheken nicht gegen die neu zu errichtende Hypothek zurückstellen lassen. Ich habe Walter um seine Ansicht gefragt – er selber hat, weil er Geld brauchte, seine eigene Hypothek auf das Gut längst zurückgezogen – und wie ich mir's gleich dachte, hat er mir abgeraten, meine Zustimmung zu erteilen. Wir Geschwister könnten, wenn das so weiter geht, leicht unsere Sicherstellung einbüßen.
Ihm wär's natürlich am liebsten, wenn Bernhard verkaufte.
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Donnerstag.
Hildegard ist wütig über das neue Ansinnen Bernhards. Sie will dennoch ihre Einwilligung nicht versagen, wenn ich die meinige gebe. – Botho hat ohne weiteres zugestimmt.
Ich werde morgen früh zum Notar gehen; wir dürfen nicht kleinlich sein, wo es sich um Erhaltung des Gutes handelt und das Ansehen der ganzen Familie auf dem Spiel steht.
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Erster Adventsonntag.
Wer mir das vor drei Jahren gesagt hätte! Ach, noch vor vier Monaten ... Ob sich das überhaupt in Dresden jemand denken kann? Ich meine, jemand aus unsern Kreisen!
Aber München umhüllt uns sofort mit einer ganz andern Atmosphäre. Wir treten wie in einen neuen Bannkreis. Der Genius der Kunst umweht uns mit seinem geheimnisvollen Flügelschlag.
Hat Mama nun recht, wenn sie befürchtete, wenn sie immer wieder befürchtet, München werde von schlimmem Einfluß auf mich sein?
Mama ist doch auch in hohem Grad philiströs; wir sind es allesamt. Die vornehmen Damen zur Zeit des großen Titian haben anders empfunden. Auch die Wienerinnen zur Zeit Makarts.
Und sollte ich mich schämen müssen, etwas getan zu haben, worin hohe Damen mein Vorbild waren?
Ich habe mit geholfen an der Vollendung eines hohen Kunstwerks. Nie wäre die »Eva« geworden ohne mich.
Der häßliche Gnom hat ordentlich gezittert vor meiner Schönheit, und ich muß sagen, mein Bild, wie ich es zur Seite in einem hohen Spiegel sehen konnte, hat mich selber bezaubert.
Zum zweitenmal war's, daß ich sah, ich sei schön. Und ich wunderte mich nicht über Ernst Wehrmüller, der zehn Minuten lang nicht malen konnte, weil ihm die Hand so zitterte. Aber der kleine Kerl hat sich auf die Zähne gebissen, und es ging.
Es wäre freilich nicht gegangen, ohne den ungeheuren Respekt, den er vor mir hat.
Mein Blick war unerbittlich streng, und nicht ein Wort durfte zwischen uns fallen. Die drei Male, die sich's wiederholt hat, sind nicht ein einziges Mal unsere Augen sich begegnet.
*
7. Dezember.
Gestern mit den Geschwistern und Wehrmüller in Ebenhausen beim Rodeln. Dieses Vergnügen treiben bei uns nur die kleinen Kinder, aber hier in München ist alles willkommen, was nur irgendwie Lust und Ausgelassenheit zuläßt.
Es ging denn auch toll zu ... Nein, diese Münchener Künstlerinnen! Daß sie nicht in Unterhosen rodelten, war alles und ... ja und! Und böse Gesellschaften verderben gute Sitten. Daß ich je das Wort Unterhosen in die Feder bekommen würde, hätte ich auch nicht geglaubt.
Wie das zeitweilig, besonders, als es anfing zu dunkeln, durcheinanderpurzelte und kollerte, Männlein und Weiblein; in Dresden würde man so was einfach skandalös finden.
Die Schwägerin Franziska betrug sich gegen einige bekannte Künstler mit solcher Freiheit, daß ich nicht begreife, wie Walter das dulden mag. Unangenehm war's ihm freilich manchmal.
Wenn es so bei einem kalten unschuldigen Kindervergnügen zugeht, wie wird es da erst mit den vielbeschriehenen Redouten werden, wovon sie schon jetzt alle schwärmen. Das muß ich doch sehen. Ich werde mich, wenn es Walter nicht über sich nehmen will, von Wehrmüller einmal hinführen lassen.
*
Sonntag, 13. Dezember.
Da habe ich nun die Bescherung. Noch vor Weihnachten!
Und wahrlich, er hätte nicht schlimmer toben können, wenn ich ihm das Schlimmste gestanden hätte, was sich nur denken läßt. »Ob ich denn ganz das Gefühl meiner Würde verloren hätte, schrie er; ob ich ihn unmöglich machen wolle in München durch meine Aufführung; ob ich nicht wüßte, was ich der Familie schuldig sei. Unerhört sei mein Betragen, ganz unerhört. Und dieser schuftige Hund, der dich überredet hat, der das von dir angenommen hat, ins Gesicht will ich's ihm sagen, daß er ein Bube ist.«
Und in unbeschreiblicher Wut stürmte er davon.
Wie Walter nur auf den Verdacht kam? Natürlich habe ich nicht gelogen, als er mich ins Gesicht fragte, sondern habe es ihm trotzig herausgesagt: Ja, ich habe ihm gestanden, dreimal sogar, und ohne daß er mich darum gebeten hat; er würde das nie gewagt haben. Ich hab's ihm angeboten aus freien Stücken, weil ich ihn für einen ernsten und bedeutenden Künstler halte.
*
Montag.
Ich habe mich geweigert, das Abendbrot mit den Geschwistern einzunehmen; ich blieb in mein Zimmer eingeschlossen und sagte Franziska, als sie mich rufen wollte, der Hunger sei mir gründlich vergangen.
Walter war gerade zurückgekommen, und ich hörte ihn ins Eßzimmer stürmen. Er schien von meiner Abwesenheit gar keine Notiz zu nehmen. »Dieser feige Hund,« schrie er; »er wollte zuerst alles leugnen; dann, als mich der Zorn übermannte, wurde er blaß, wie eine gekalkte Wand. Ich hieß ihn einen Buben, der Lump hat das Schimpfwort ruhig eingesteckt.«
Das hätte ich Wehrmüller nicht zugetraut, daß er sich von Walter so behandeln ließe. Der ist ja wirklich feig; nun reut mich's fast, daß ich ihm etwas zuliebe getan.
Wie kann nur ein Mann sich von einem andern derart beschimpfen lassen, ohne Genugtuung zu verlangen? Da muß doch die Rasse, die Abstammung viel machen.
Ich glaube, ich hätte den Wehrmüller lieben können mit der Zeit bei all seiner Häßlichkeit. Nun ist er mir verächtlich, trotz seiner außerordentlichen Intelligenz, die ich bewundere, trotz seiner Kunst, die ich schätze. Er hat sich von Walter einen Buben heißen lassen und hat nicht mit einer Ohrfeige geantwortet. Leicht wäre das freilich nicht gewesen; das Männlein ist so gnomenhaft.
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17. Dezember.
Von Wehrmüller ein Brief an Walter. Furchtbar ernst, furchtbar würdevoll. Er sei jederzeit bereit, um meine Hand anzuhalten, wenn mein Bruder meine, daß er irgendwie meiner Ehre zu nahe getreten sei.
Da könnte ich ja noch Frau Wehrmüller werden.
Walter hat den Brief mit einer unsäglichen Gebärde der Geringschätzung in den Papierkorb geworfen.
So sind meine Brüder. Bärbeißig gegen jeden, der ihnen nicht als ganz vollwertig gilt; aber ob es mir auch wirklich ein Vergnügen macht, als alte Jungfer sitzen zu bleiben, danach haben sie noch nicht gefragt.
Walter war eigentlich von empörender Ungerechtigkeit gegen Wehrmüller, und nicht viel gerechter ist er gegen mich. Ich habe ihm heute erklärt, daß ich mir ein Mietzimmer suchen und ausziehen werde.
»Geh,« hat er geschrien; »ich kann dich nicht halten. Geh, renne in dein Verhängnis.«
Ich war empört über diese Rede. »Spiel nur nicht so den würdigen Protektor,« habe ich ihm hingeworfen; »ich habe mehr wie einen Grund, hier auszuziehen, ich wollte dir's schon lange einmal sagen: Du und deine Frau betragt euch manchmal derart, daß ein unverdorbenes Mädchen gar nicht bei euch wohnen kann. Ihr habt auf mich nie die geringste Rücksicht genommen; getan habt ihr, als ob ich nicht da wäre ...«
Das saß. Wie sehr er auch den Entrüsteten spielte, heimlich fühlte er doch die Berechtigung meines Vorwurfs.
Fest steht, daß ich ausziehen werde. Am liebsten noch vor dem Fest, wenn es möglich wäre.
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4. Januar.
Bei einem Schuster hat Goethe in Dresden gewohnt; bei einem Schuster und seiner Frau habe ich, am Bavariaring, oben in einer Dachwohnung, ein entzückendes Zimmer gefunden, der Ruhmeshalle gerade gegenüber. Hier werde ich endlich wieder arbeiten können.
Besonders bei Nacht ist die Wirkung überwältigend. Eine solche weite lautlose Schneeebene fast inmitten einer Stadt, einer Großstadt, das gibt's nicht zum zweitenmal. Ich stehe oft stundenlang an meinem Fenster und schaue hinaus in die Schneewüste, wo dennoch Laternen brennen, ganze Milchstraßen von Laternen, wo die Bavaria mit hoher schwarzer Silhouette gegen den sternlichten Himmel steht.
Übrigens habe ich Historisches zu verzeichnen: ich war in Dresden; übers Fest, vier Tage. Die Meinigen waren sehr herzlich mit mir. Nur Hildegard fand mich ein »wenig verwildert«.
Mein Zerwürfnis mit Walter berührte ich nicht; er hatte auch nichts davon geschrieben, und Mama fand es ganz in der Ordnung, daß ich nicht mehr so nah mit den jungen Eheleuten zusammenwohne.
*
Dreikönigstag.
Im schneebedeckten Englischen Garten heute Ernst Wehrmüller begegnet. Ich war verlegen, ich wußte nicht recht, was ich sagen sollte. Dann fand ich es richtig, ihm mein Bedauern auszusprechen, daß Walter so unangenehm gegen ihn war. Ich sei auch ganz überworfen mit Walter, ich sei ausgezogen.
Wehrmüller war noch mehr in Verlegenheit gewesen wie ich, ich hatte ihn nie so bedäppt gesehen; auf meine letzte Mitteilung hin aber gewann er seine Fassung wieder.
Und da bekam ich dann seltsames Zeug zu hören. An allem sei die Franziska schuld. Die habe mir aufgelauert und dann ihrem Mann den ersten Floh in die Ohren gesetzt. Die Franziska habe einen grimmen Haß auf Wehrmüller und gehe schon lange darauf aus, Walter mit ihm zu entzweien. Und warum? Weil Wehrmüller seinen Freund Walter vor ihr gewarnt hatte. Weil Wehrmüller viel schlimme Dinge von ihr wußte. Viele Andere wüßten diese Dinge auch, aber sie waren ihr nicht so gefährlich; sie standen nicht so intim mit Walter. »Ganz München kennt sie übrigens. Und Walter selber kann genug gehört haben. Die Spatzen auf den Dächern pfiffen ihre Schande. Aber verliebte Männer wollen nichts wissen.«
So Wehrmüller.
Ich war furchtbar aufgeregt über seine Rede und drang darauf, daß er mir alles sage, aber alles. Er zuckte die Achsel: »Was ist da viel zu sagen, es konnte sie eben jeder haben, wer nur wollte, bevor Walter sie gekannt hat.«
Ist das nun die Wahrheit, oder sagt Wehrmüller die Dinge aus purer Rache?
Einigen Verdacht hatte ich ja selber schon, d. h. nein, Verdacht eigentlich nicht. Aber damals auf Plessenburg das schwarze Hemd, und später ihr Vergnügen, heikle Dinge mit mir zu berühren und sich an meiner Verlegenheit zu werden: da habe ich mir doch allerlei Gedanken gemacht.
Aber ich kann es noch nicht glauben, daß mein Bruder sich so weit sollte vergessen haben.
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Dienstag, 12. Januar.
Diesen Nachmittag zum erstenmal der Doktor zum Tee auf meinem kleinen Zimmerchen. »Ganz Poetenheim,« rief er aus, als er eintrat und die Aussicht durch das Fenster bemerkte. »Und sieh nur, die Bavaria reicht den Kranz ihrer jüngsten Tochter.« Er war erst famos gemütlich; aber nach und nach ...
Ob er nun wirklich in mich verliebt ist, oder ob er nur so tut aus Gewohnheit, und weil er meint, das gehöre dazu, und ich werde auch keine Ausnahme machen?
Er könnte sich doch irren. Und jetzt weiß ich allerdings sicher, daß das mit der Baronin auch nicht bloß pure Freundschaft ist.
Aber so sehr ich ihn verehre ...
Ich habe angefangen, von Franziska zu sprechen und von den schrecklichen Andeutungen Wehrmüllers.
»Diese Dame,« sagte er, »ist heute die Frau Ihres Bruders, lassen wir die alten Geschichten ruhen.«
Also scheint er's auch zu wissen. Also wär's Wahrheit, das Ungeheuerliche.
Ein Plessenberg hätte eine Dirne geheiratet? Eine Dirne dürfte sich zu unserer Familie zählen?
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