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Die Seuche nahm wieder ab in der freien Reichsstadt Lübeck, und alles atmete auf. Von neuem aber trat jetzt der Rat mit seinen Forderungen hervor, da er in sehr arger Geldverlegenheit war. Schon Ende August des Jahres 1529 knüpfte er die Unterhandlungen in der frühern Weise wieder an, und da er wenig Entgegenkommen bei den Bürgern fand, berief er am Sonnabend nach dem Fest der Geburt Mariä Den 11. September. die ganze Bürgerschaft auf das Rathaus und übergab, um endlich zum Schlusse zu kommen, schriftlich seine Vorschläge, wie am besten die Türkensteuer, welche Kaiserliche Majestät auch von der guten Stadt Lübeck verlangte, verteilt werden könne. Er drohte auch, wenn solche »Taxe« nicht zu stande komme, mit des Kaisers Acht und Aberacht.
Die Bürger traten ab, um sich weiter zu beraten, aber an einen Beschluß war nicht zu denken. Stürmisch verlangten sie, ehe sie irgend etwas zugeständen, nach freier Predigt des Evangeliums. Endlich nach vielem Hin- und Herreden brachten sie dem Rate nur den Bescheid, daß man noch keine Antwort gefunden habe, aber daß ein Bürgerausschuß zusammentreten solle, der die Sache weiter verhandle. Also wurden vierundzwanzig von den Ämtern und vierundzwanzig von den Junkern und Kaufleuten gewählt und als rechtmäßig Bevollmächtigte anerkannt. Die Bürger schärften ihnen nochmals ein, sie sollten nichts bewilligen, bis sie nicht Einsicht in die Rechnungen der Kämmerei erhielten, und vor allen Dingen, bis ihnen nicht versprochen sei, daß die vertriebenen Prediger zurückberufen und die luthersche Lehre freigegeben würde.
Als dieser Beschluß am folgenden Tage dem Bürgermeister vorgetragen wurde, that er sehr erstaunt. Er verwarf die eine wie die andere Bedingung und drohte mit dem Zorn des Kaisers und des Papstes. Jedoch die Achtundvierziger, größtenteils eifrige Anhänger des Luthertums, wichen nicht von ihren Forderungen, der Rat aber sprach immer nur von der ersten, die Glaubenssache berührte er garnicht.
Am 27. September ließ nun Bürgermeister Bröms angesehene Junker und Kaufleute, die seiner Partei angehörten, auf das Rathaus bescheiden und ihnen die bestimmte Frage vorlegen, ob sie nach dem Luthertum verlangten. Sie antworteten »nein«, ja, sie rieten sogar zur Strenge und versprachen dem Rat ihren Beistand. Dieser bewilligte den Achtundvierzigern gern die Einsicht in die Stadtrechnung und meinte, nun sei alles zum guten Ende geführt.
Aber ein ehrsamer Rat täuschte sich. Lauter denn je riefen alle: »Wir wollen luthersche Prediger; gebt uns die vertriebenen wieder!« Und so oft man von den Geldern anfing zu reden, hieß es: »Erst wenigstens vier evangelische Prediger berufen!« Rat und Kirchherren verdoppelten ihre Strenge; mancher Bürger wurde in Haft genommen, mancher der Stadt verwiesen; aber es schaffte keine Furcht, sondern nur Erbitterung.
Es war zu Ende des Novembers 1529. Der Abend war früh hereingebrochen, da ging Meister Andreas Schunemann durch die Gassen seiner Vaterstadt. Er trat an manches Fenster oder diesen und jenen schon geschlossenen Laden und horchte. Wo Handwerker wohnten, schollen ihm luthersche Lieder entgegen; Meister und Gesellen sangen gemeinsam. Dann nickte der Schneider zufrieden und triumphierte: »Recht so, wir behalten das Feld.«
Als er bei dem Altflicker eintrat, rief er: »Hinrich, da sitzet Ihr nun und blickt in die spärliche Glut; Ihr solltet mit mir durch die Stadt gekommen sein. Man könnte sich einbilden, alles wäre luthersch, so singt und klingt es in deutschen Psalmen und Liedern, so sitzen die Leute über Luthers Neuem Testament und seiner Postille. Wisset Ihr auch schon, was der Kirchherr Johann Rode von der Kanzel herab gesagt hat? Eine Kaufmannsseele könne wohl eher zwanzig Rechenexempel durchschauen als ein Wort der Schrift.«
Hinrich Malenbeke schüttelte den Kopf, aber noch ehe er etwas erwidern konnte, stimmte draußen ein Bettler, der an den Thüren sang, das Lied an:
Nun bitten wir den heiligen Geist
Um den rechten Glauben allermeist,
Daß er uns behüte
An unserm Ende,
Wenn wir heimfahren
Aus diesem Elende. Kyrieleis.
Andächtig falteten die beiden Freunde die Hände und hörten zu, bis das Lied aus war, darauf öffnete der Schneider die Thür und nötigte: »Herein, Ihr werter Sänger! Ist auch Euer Stimmlein nur gebrechlich, so ist das Lied desto kräftiger!«
Der Bettler trat in das Gemach, und Hinrich Malenbeke schob ihm einen Holzschemel ans Feuer. Dankbar nahm dieser die Letzung an und sagte: »Des Lutherus Lieder sind ein doppelter Segen für mich, einmal für die eigene Seele, dann aber auch für mein leiblich Leben. Das Ave Maria und Agnus Dei hat mir seinerzeit nicht halb so viel eingebracht an Almosen, wie jetzt die Lieder und Psalmen des Martinus. Ich weiß wohl, wer sie liebet allhier, und komme ich da vor die Thür, so feiern Meister und Gesellen und stimmen mit ein in den Sang; der Kaufherr sucht einen stattlichen Pfennig hervor, und die Kinder des Hauses bringen ihn jubelnd herzu samt einem Stück Brot von der Frau Mutter. Dazu erbitten sie das Lied von mir, und ich sitze in ihrer Mitte und lehre es sie.«
Der Flickschuster lächelte und entgegnete: »Ihr seid einer der wenigen, dem die heilige Sache Vorteil bringt; alle anderen müssen darum leiden.«
»Ich habe auch schon im Gefängnis gesessen,« erwiderte der Bettler.
»Wir auch,« fiel Meister Andreas ein, »und das beste dabei ist, daß wir wieder herausgekommen sind.«
Der Bettler erhob sich, der Schneider holte eine kleine Münze aus seinem Wams und reichte sie ihm, indem er bat: »Sitzt noch einmal nieder, wir wollen gemeinsam anstimmen,« und gleich darauf klang's von den alten Stimmen:
Es wollt uns Gott gnädig sein
Und seinen Segen geben.
Als sie geendet hatten, ging der Bettler fort; Meister Andreas aber sagte: »Ich will nächsten Sonntag in die Frühpredigt nach St. Jakobi gehen, der Kaplan Hildebrand soll arg herfahren über die, so dem Neuen zugethan sind, und alldieweil ich zu denen gehöre, muß ich's hören.«
Er hielt Wort. Am 5. Dezember saß er unter den Zuhörern in St. Jakobi. Der Kaplan fiel scharf über Luthers Lehre und Anhänger her und ob sich gleich großer Unwille darüber erhob, doch blieb noch alles still. Als er aber an die Fürbitte für die Seelen im Fegefeuer kam, fingen zwei Knaben mit lauter Stimme an zu singen:
Ach Gott, vom Himmel sieh darin
Und laß dich des erbarmen.
Und als das erste kurze, schreckhafte Staunen vorüber war, fiel die ganze Gemeinde mit solcher Kraft ein, daß der Kaplan verstummte und die Kanzel verließ.
»Meister,« berichtete der Schneider, als er aus der Kirche kam, »jetzt haben wir ein Mittel, uns des Scheltens und Dräuens der Widersacher zu erwehren. Zwei Knäblein haben es uns gelehrt,« und er erzählte, was sich in St. Jakobi zugetragen hatte.
Der Freund sah ihn freundlich an und entgegnete: »Und Ihr glaubt, das sei wohlgethan? Gott ist ein Gott der Ordnung, und was Ihr gethan habt, kommt der Gemeinde nicht zu.«
»Hinrich, das versteht Ihr nicht; man nimmt eben die erste beste Waffe zur Hand, wenn man bedrängt wird.«
Der Flickschuster schüttelte den Kopf. »Nein, das gefällt mir nicht.«
»Ihr verderbt mir den ganzen Spaß,« rief der Schneider unmutig.
»Ein Spaß ist überhaupt nicht bei einer so ernsten Sache,« antwortete Hinrich Malenbeke.
»Ihr meint also, ich solle nicht wieder einstimmen?«
»Ja, das meine ich.«
»Schade,« sagte Meister Andreas kleinlaut, »es war so erbaulich. Aber Ihr mögt einmal recht haben. Also, fortan wird nicht mitgesungen.«
Allein wenn auch der Schneider aus dem Häuschen im Rosengarten sein Versprechen hielt, so war doch anderen die Sache eitel Lust gewesen, und oft kam es seitdem vor, daß eine unliebsame Predigt durch Gesänge unterbrochen wurde. Die Katholischen merkten wohl, wie ihre Stellung immer unsicherer wurde, sie trösteten sich aber damit, daß der Rat zu ihnen hielt und halten mußte.
Die Zeit war bedenklich und drohend. Kaiser und Reich hatten nichts entschieden über das Recht der Evangelischen, und jeder Reichsstand, der also die luthersche Lehre einführte, sah sich im Bruch mit der bestehenden Gewalt und in eine größere Gefahr verwickelt, als der damals Lübeck gewachsen war. Kaiser Karl V. hatte noch von Spanien aus unter Androhung der Reichsacht auf die Befolgung des Wormser Ediktes bestanden; er hatte auch den Herzog Heinrich von Braunschweig, seinen erprobten Freund, dazu bestellt, genau auf die Stände der sächsischen Kreise acht zu haben, und stets zur Hülfe der katholischen Kirche bereit zu sein. Wenn also der Rat sich der neuen Lehre so hartnäckig entgegensetzte, so geschah das wohl teils aus eigener Überzeugung, teils aber auch aus kluger Politik. Bis dahin, abgesehen von der Störung in St. Jakobi, hatten die Bürger nichts gegen das Gesetz versucht, und die öffentliche Ruhe und Ordnung war nicht gestört worden. Jetzt aber merkte ein ehrsamer Rat wohl, daß die Erbitterung der Gemüter höher und höher stieg, und daß die Entscheidung nicht mehr lange hinausgeschoben werden konnte, ohne daß ein Aufruhr zu befürchten war.
Der Bürgerausschuß hatte unterdessen mit den Deputierten des Rates die sogenannten Geldartikel durchgenommen, und alles wartete auf den Tag, wo wieder sämtliche Bürger zusammengerufen werden würden. Es wurde dazu der 10. Dezember angesetzt. Kaum graute der Morgen, so strömte alles zum Rathause. Unten waren die Junker und Kaufleute, oben im Löwensaale die Handwerker versammelt.
Zuerst legten die Achtundvierziger den Bürgern Rechenschaft ab von ihren Unterhandlungen mit dem Rate, auch die Junker und Kaufleute wurden dazu auf den Löwensaal gerufen. Der Brauer Joachim Sandow, auch ein Achtundvierziger, stieg auf die Bank vor dem damaligen Weddezimmer und hielt eine heftige Rede. Er sagte, man habe sich überzeugt, daß die Geldnot der Stadt sehr groß sei, aber man hoffe die Abgaben so zu verteilen, daß sie den Bürgern nicht zu drückend würden. Was aber die Einführung der lutherschen Lehre anbelange, so habe man den Rat jetzt in Händen, und kein Pfennig sollte bewilligt werden, ehe nicht Walhoff und Wilms zurückgerufen und die Predigt des Evangeliums freigegeben sei. Es war eine lange Rede, die Joachim Sandow that. Alle waren mit ihm einverstanden. Sie wählten noch acht zu den Achtundvierzig, so daß der Bürgerausschuß jetzt aus sechsundfünfzig bestand. Also verstärkt, trat er vor den Rat, und der Sprecher that den Beschluß kund, man werde niemals die Geldforderungen bewilligen, bevor evangelische Prediger berufen seien.
Der Bürgermeister protestierte und hieß den Ausschuß in die Hörkammer abtreten.
Da blieb einer von den Sechsundfünfzigern, der Kaufmann Johann Stolterfoth, etwas zurück und flüsterte dem Bürgermeister zu, der Rat solle sich nicht irre machen lassen, es wären nur vier oder fünf, die um die neue Lehre so großes Geschrei machten. Dieser unzeitige Zuspruch ließ den Rat fest glauben, daß die Junker und Kaufleute auf seiner Seite wären. Man ließ diese vor den Ratstuhl kommen, um sich ihrer zu versichern.
Kaum aber kam solches vor die Handwerker, so eilten sie hinab und drängten in die Ratsstube. Als die aus der Hörkammer wieder vor den Rat gerufen wurden, sahen sie bereits die Hälfte der Bürgerschaft hier versammelt, und der Bürgermeister Falke sprach in langer Rede vor der immer wachsenden Menge von der Gefahr der Stadt, wenn man durch Berufung lutherscher Prediger die Ungnade des Kaisers auf sich lüde; er rühmte die Predigt der katholischen Geistlichen und den frommen Eifer des Kapitels und schloß mit den alten Ermahnungen, sich zu fügen.
Die Ausschuß-Bürger merkten wohl, wohinaus die Sache wolle. Das Getümmel ward immer größer, nur das eine Wort klang stets wieder hervor: »Gebt uns luthersche Prädikanten und wir geben das Geld!« Der Bürgermeister Bröms sah, wie jetzt schon viele Kaufleute, die sonst zum Rat gestanden hatten, von der Menge mit fortgerissen wurden, da erfaßte ihn ein heftiger Ingrimm, und er schrie unter den lärmenden Haufen: »Wollt Ihr alle untreu werden Euerm Rat und mit den Lutherschen verfallen in des Kaisers Acht? Wer des Rates Freund ist, der bleibe stehen und weiche nicht von der Stelle, wohin wir ihn berufen!«
Für einen Augenblick wurde es still in der Ratsstube, und die geschäftigen Hausdiener verschlossen alsbald die Thüren.
Oben auf dem langen Hause dagegen tobten und schalten die Bürger auf die Kleinmütigen, die sich also in des Rats Gefangenschaft gegeben hatten, und sprachen sich Mut zu, dann öffneten sie die Luken und Fenster, die auf den Markt hinausgingen, und forderten das Volk zum Beistand auf.
Dieses stand, Kopf an Kopf gedrängt, auf dem großen Platze, und als ein Bürger hinunterrief: »Wer mit uns leben und sterben will bei Gottes reinem Wort, der hebe die Hand auf!« streckten sich tausend und aber tausend Hände in die Höhe und laut schallte es zurück: »Wir leben und sterben beim Evangelio! Wir stehen mit Euch! Gott mit uns allen!«
Jetzt drängte sich Joachim Sandow ans Fenster, ermahnte die tobende Menge noch einmal, fest aneinander zu halten, aber ruhig zu bleiben und keine Gewaltthat zu üben, damit sie nicht der Vorwurf des Aufruhrs treffe. Da wurde es ganz still auf dem weiten Marktplatz.
Im Ratszimmer unten war's ebenso still. Die Bürger bereuten, daß sie sich durch Herrn Nikolaus Bröms Zuruf also hatten schrecken lassen; die Bürgermeister besprachen sich heimlich. Endlich sandten sie zwei Ratmänner als Deputierte auf das lange Haus, die Bürger dort wieder hinunter in die Ratsstube zu laden. Aber diese gaben den kurzen Bescheid, sie würden nicht von der Stelle weichen, bis man ihre Forderungen erfülle, und dazwischen scholl es in wildem Aufruhr: »Gebt uns den Wilms! den Walhoff gebt uns wieder! das Evangelium und luthersche Prädikanten!«
Dem Rat blieb nun nichts Anderes übrig, als die in der Ratsstube in Haft gehaltenen Bürger los zu geben mit dem Bedeuten, sie möchten die Gemüter beruhigen und den Frieden vermitteln. Dazu sandte er von neuem seine eigenen Deputierten auf das lange Haus. Neue Ermahnungen des Rats, neuer Widerspruch der Bürger, neues Geschrei unten im Volk!
So war es fünf Uhr geworden, und der Abend hereingebrochen. Beide Parteien waren müde und matt, und man verglich sich dahin, daß die beiden vertriebenen Geistlichen zurückberufen würden. Geschehe das, so wolle die Bürgerschaft einwilligen, daß die Zeremonien der katholischen Kirche, Kapitel und Klöster unverändert bestehen blieben bis zur Entscheidung der nächsten allgemeinen Kirchenversammlung. Die Geldangelegenheiten wurden davon abhängig gemacht, wie der Rat sein Versprechen halten würde.
Spät am Abend des 10. Dezember trat der Bürgermeister Bröms bei dem Ratmann Johann Salige ein. Dieser saß mißvergnügt im spärlich erleuchteten Gemach. Er verhehlte sich nicht, daß der Rat sich keines Sieges rühmen konnte, dazu war die Hauptsache unerörtert geblieben; die Bewilligung der Geldartikel war nicht ausgesprochen. Es war ihm lieb, daß der Bürgermeister zu ihm kam; nach einem so wichtigen Tage that es gut, das Vorgefallene noch einmal zu besprechen.
Ernst reichte der Eintretende ihm die Hand und sagte fast unmutig: »Unser Sieg hätte anders ausfallen müssen.«
»Laßt uns nicht von Sieg reden,« erwiderte der Ratmann; »es ist in Wahrheit eher eine Niederlage. Habt Ihr nicht gehört, was für ein Jubel durch die Straßen hallte? Habt Ihr nicht vernommen, wie dieser und jener dreiste Worte führte wider die Pfaffen? Und die Namen Wilms und Walhoff sind auf aller Lippen.«
»Nehmt die Sache nicht zu schwer, Herr Johann. Glaubt Ihr, es sei uns ernst, unser Wort zu halten? Mit nichten; wir suchen Ausflüchte wegen der Prädikanten, die Geldartikel müssen dennoch bewilligt werden.«
Der Ratmann schüttelte ungläubig das Haupt, und als nach langer und eifriger Besprechung der Bürgermeister das Haus verließ, war ihm das Herz nicht leichter.
Es waren aber nicht allein des Rates Angelegenheiten, die ihn bedrückten, es war ebensowohl die Sache seines eigenen Hauses. Noch wußte er allein, wie es um Frau Eva stand, daß sie unbeugsam zu der neuen Lehre hielt, und wenn es gefordert würde, ein offenes Bekenntnis nicht scheuen würde. O, wie hatte er sich in dem Charakter seines Weibes getäuscht! Er hatte nichts unversucht gelassen, nicht Milde, nicht Strenge, nicht Bitten, nicht Drohen; sie stand felsenfest. Und nun, da die Sache eine solche Wendung nahm und – er sagte sich das unverhohlen – das Luthertum früher oder später den Sieg davontragen würde, stand sie unbeugsamer denn je. Und Raimar, fast noch ein Knabe, hielt zu ihr, fest wie ein Mann.
Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. Wo war die Ehre seines Hauses? Wo war sein Stolz, sein Selbstbewußtsein? Alles in den Staub getreten, und er mit seinen schnell ergrauten Haaren mußte thatenlos zusehen.
Noch lange ging er auf und ab, aber er kam zu keinem tröstlichen Ende. Es war dunkel draußen und dunkel in ihm.
Er war nicht der einzige, der in dieser Nacht wachte. In Frau Evas Gemach brannte noch das Lämpchen; ihr Kind war krank, und in banger Sorge blickte sie auf das kleine, fieberheiße Antlitz. Wohl lobte sie Gott über dem, was heute geschehen war, und der heilige Mut, den sie in den Tagen der Trübsal und des Kampfes errungen hatte, strahlte auch jetzt aus den milden Augen; dennoch war ihr das Herz schwer.
Frau Eva faltete die Hände und betete inbrünstig, und fast erschrocken blickte sie auf, als die Thür sich öffnete und Raimar eintrat. Behutsam näherte er sich der Wiege und flüsterte: »Wie ist es mit dem Schwesterlein? Ich kann nicht schlafen. Darf ich bei Euch bleiben?«
Die junge Mutter reichte ihm zustimmend die Hand, dann entgegnete sie mit gepreßter Stimme: »Ich fürchte, es steht nicht gut, und wir müssen unser Herz stillen, daß wir des Herrn Joch geduldig tragen.«
Raimar sah sie erschrocken an, dann, als sie ihrer Thränen nicht mehr Herr bleiben konnte, umfing er sie liebreich. Sie lehnte das Haupt an seine Schulter und weinte leise.
Als sie wieder ruhiger geworden, holte der Junker das neue Testament aus dem Verstecke und setzte sich neben sie. Er las mit gedämpfter Stimme Seite auf Seite. Wenn das Kindlein unruhig wurde, reichte er ihm Wasser oder glättete ihm das Kissen; dann wieder erfaßte er Frau Evas Hand und tröstete: »Ich denke, Gott läßt uns Edeltraud, sie soll es auch gut haben im Leben.« Er bat Frau Eva, sich zur Ruhe zu legen, er wolle weiter wachen. Sie that es, und nun hielt er einsam die Krankenwacht bei dem geliebten Mägdlein. Er konnte nicht aufhören zu hoffen; ach, Jugend ist glücklich in freudiger Hoffnungskraft. Dazu hatten ihn die Ereignisse des heutigen Tages mit Lobpreis erfüllt.
Auch in Meister Andreas' Stübchen war's hell bis nach Mitternacht. Zuerst war Bruder Benedikt bei ihm gewesen, jetzt saß Hinrich Malenbeke allein neben ihm am Feuer. Der Schneider legte neues Holz auf die Glut und sprach: »Meister, mir ist noch nicht nach Schlafen zu Mute, lasset uns ein Lied singen.«
Hinrich Malenbeke nickte, und die beiden Alten stimmten an:
Nun freut euch, liebe Christengemein',
Und laßt uns fröhlich springen,
Daß wir getrost und allinein
Mit Lust und Liebe singen,
Was Gott an uns gewendet hat,
Und seine süße Wunderthat;
Gar teu'r hat er's erworben.
Sie sangen das ganze Lied, und als das Ende kam:
Und hüt' dich vor der Menschen Satz,
Davon verdirbt der edle Schatz,
Das laß ich dir zuletze –
da holte Meister Andreas noch einmal kräftig aus. Das war nach seinem Sinn und gleichsam eine Mahnung am Schluß dieses Tages. »Hinrich,« meinte er, »diesmal ist es kein vergeblich Viktoria. Oder glaubst Du auch heute nicht an unsern Sieg?«
»Ja, Meister Andreas, heute ist mir's so, wie geschrieben stehet: Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht.«
»Richtig, Hinrich! Die Sache ist jetzt nicht mehr innerhalb der Thore, man kümmert sich auch auswärts um uns. Würde der Braunschweiger seine Späher schicken, wenn er nicht Furcht hätte? Er ist des Kaisers Freund, will und muß wissen, was vorgeht, und dem Evangelium wehren.«
»Ja,« erwiderte der Altflicker, »wir haben seine heimlich Abgesandten in der Stadt, aber wir haben auch anderer Großen Leute allhier.«
»Wie meint Ihr das, Hinrich?«
»Nun, mir ist ein Mann begegnet, den ich wohl kenne – –«
»Und das sagt Ihr jetzt erst? Wer war's? Ihr kennt mich, ich bin nicht neugierig, nein, aber dieses muß ich wissen. Wem könntet Ihr begegnet sein?«
»Er wollte unerkannt sein, aber Euch kann ich's wohl sagen.«
»Natürlich könnt Ihr's.«
»Also, bei St. Marien kommt mir ein Mann entgegen, stattlich, mit großem Bart, aber seine Augen hatten solch ein Leuchten, daß ich still stand und dachte, den kennst du.«
»Nun? Eilt Euch doch Meister!«
»Auch er stutzte, dann reichte er mir die Hand und sprach leise: Ihr kennt mich! Ich bin Joachim Salige. Wie geht es Euerm Sohne?«
»Herr Joachim? und hatte er einen Auftrag?«
»Er bog mit mir in die Alfstraße ein und sagte hastig: Es darf mich niemand erkennen, ich bin im Auftrag des Herzogs Friedrich von Holstein, meines Herrn, hier. Er will wissen, wie es in der freien Reichsstadt steht; da er aber kein Recht dazu hat, wie der Braunschweiger, so muß es heimlich geschehen. Dann fragte er mich nach allen, die ihm befreundet sind, und nahm Abschied. In wenigen Tagen zieht er wieder von dannen.«
»Oh!« stieß Meister Andreas gedehnt hervor, »also Herr Joachim hier. Seht, Meister, so ist es recht. Wenn etwas aus einer Sache werden soll, muß Leben hineinkommen. Bis jetzt war es nur Rumor des Pöbels, nun kommen die Großen der Welt dazwischen, nun wird's Sieg werden. Es ist nichts mehr im Wege.«
So ganz recht hatte indessen Meister Andreas nicht. Schon die nächsten Tage zeigten, wie wenig die Brömssche Partei geneigt war, das gegebene Wort zu halten. Die Sechsundfünfzig wurden wieder vor den Rat geladen, und man erklärte ihnen, daß es mit der Zurückberufung der vertriebenen Prediger nichts sei. Von Wilms, der in Rostock lebe, verlaute, daß er ganz von Sinnen gekommen sei, und den Walhoff werde der Magistrat in Kiel, der ihm ein Amt gegeben, nicht wieder ziehen lassen.
Aber die Sechsundfünfzig ließen sich nicht einschüchtern, sie widersprachen beidem und warnten nachdrücklich, keinen Aufruhr durch solch Gebaren zu erregen. Es war viel Hin- und Herredens, viel Beratens; endlich bei einer dritten Zusammenkunft willigte die Mehrzahl im Rate darein, einen Sekretarius nach Kiel zu schicken wegen des Walhoff; einer der Ausschuß-Bürger aber solle den Wilms von Rostock zurückholen.
So war denn endlich das Volk zu seinem Rechte gekommen und der erste Schritt vorwärts gethan. Dessen aber war sich wohl jeder bewußt, daß noch mancher Kampf dazu gehören werde, und jeder war gewappnet. So fröhlich das Volk die Zugeständnisse begrüßte, so mißgestimmt war der Rat. Man hatte ihm, dem sonst so mächtigen, abgetrotzt, was er verweigerte. Wo war sein Ansehen, seine absolute Macht? Was nützten ihm Herzog Heinrich von Braunschweig und seine Hülfserbietungen? Die Stadt mußte ihre eigene Sache allein durchringen, das fühlte jeder, und keiner der Herren sah hoffnungsvoll auf das Ende des Kampfes.