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Fest verschlossen ruhten die Gehöfte des einsamen Hochgebirgsdorfes. Senkrecht über ihnen, hinter den aufragenden grünen Matten und Wäldern, wuchsen die abenteuerlichen Gestalten zerklüfteter Steinkolosse in den wolkenlosen Himmel empor. Heiße Luft brütete in den verödeten Wegen des Dorfes. Nur das Niederplätschern des glitzernden Brunnenwassers in die schlammerfüllten Tröge vor den weißen Häusern mit braunen Holzgiebeln und Altanen unterbrach die schwere Stille.

Der ganze Ort schien von der brennenden Sonne in den Schlaf gelullt und träumte zwischen dichten Obstbäumen und wuchernden Gebüschen.

Zwei sanfte, grünbewachsene Hügel ragten daraus hervor. Der eine trug das alte Kirchlein mit der niedern Friedhofsmauer und dem hart angrenzenden Pfarrhause, der andere die neuerbaute, mit roten Ziegeln gedeckte Schule. Weiter zurück in der Hochwiese, die sich wellenförmig zu den Bergen hinaufzog, lag zwischen verstreuten, hohen Tannenbäumen das mit wildem Wein umwachsene Forsthaus in grellstem Sonnenglanz.

Auch hier wie unten im langsam ansteigenden Dorfe die gleiche Ruhe und Verlassenheit, die bleierne Unbeweglichkeit der brodelnden Luft.

Da – plötzlich, der langgezogene, schrille Laut einer Posaune, jäh hervorbrechend, doch gleich darauf von verschiedenen, ziellos durcheinander wirbelnden Instrumenten kreischend übertönt, bis sich allmählich durch die häßlichen Dissonanzen eine breite, getragene Weise herausarbeitete, die traurig hinter der Kirchhofsmauer hervorkam, in abgemessenem Takte, feierlich und ernst. Manchmal überschrie sich eine Trompete mit schmerzzerrissenem Tone, der jedesmal scharf aus der Melodie drang und weithin scholl über die todesstarre Einsamkeit des schweigenden Hochtals. Mit seltsamem Echo antworteten dann die grauen Felsen, die massig und schwer auf den kleinen Gottesacker herabschauten.

Dort, inmitten vergoldeter und moosumrankter Kreuze, bewegte sich ein langer Zug zu einer offenen, engen Grube. Ein weißer Marmorstein, der einzige des ärmlichen Kirchhofs, krönte sie und leuchtete hell in der Sonne über dem dunklen Grabe.

Unsicher gehend kamen die blasenden Musikanten heran. Sie hielten die Notenblätter empor und wichen nach der Seite aus, um einer schwarzen Fahne Platz zu machen, die pausbackigen Schulkindern vorangetragen wurde. Die sonntäglich gekleideten Kleinen befanden sich offenbar in großer, fast freudiger Erregung über das seltene Ereignis einer Beerdigung; hastig kletterten sie auf das ausgeworfene Erdreich der braunen Grube und blickten mit erwartungsvollen Augen auf die Nachkommenden. Langsam, im Takte der Musik, brachten vier graubärtige Männer in blauen Radmänteln den mit einem Bahrtuch bedeckten Sarg heran, den sie sorgfältig zu Boden setzten.

Wie sie begonnen hatte, so brach die Musik jetzt ab, kreischend und mißtönig, während die beiden Glöckchen im niederen Kirchturme mit harten Klängen noch eine Weile weiterbimmelten.

Die Männer zogen die schwarze Hülle ab, legten grüne Papierkränze mit Totenblumen auf den Sarg und ließen ihn unter atemloser Stille der versammelten Menge, die sich inzwischen schwerfällig um die Begräbnisstätte gruppiert hatte, in die Grube hinab. Ächzend schnitt die Last in die Seile ein und verschwand langsam in die Tiefe.

Krampfhaftes Schluchzen tönt aus der Versammlung. Ein junges Mädchen lehnt sich, ihr Antlitz verbergend, an die breite Brust eines starken, hochgewachsenen Mannes, der in grauer Hose und Joppe mit grünem, goldverziertem Kragen aufrecht dasteht, den hohen Filzhut mit dunklem Seidenbande in der zusammengekrampften Rechten, während er mit dem linken Arm sein weinendes Kind umfängt. An der gebräunten, wetterharten Haut der hageren Wangen sieht man die vertrockneten Spuren von zwei dicken Tränen, die in den mächtigen, graubraunen Vollbart hinabgeronnen sind, aber das blaue Auge blickt sicher und fest auf den Geistlichen, der im schwarzen Trauerornate an das Grab tritt und lateinische Worte aus einem silberbeschlagenen Buche abmurmelt. Ein furchtsam dreinschauender Junge als Ministrant antwortet ihm laut und stoßweise.

Jetzt waren die Gebete beendet. Der Priester klappte das Buch zu, hob die goldbesetzte Brille von der kleinen, scharf linierten Nase leicht in die Höhe und ließ sie wieder fallen. Dann räusperte er sich und begann mit scharfer Stimme die Leichenrede.

Zuerst zählte er die sehr einfachen Lebensdaten der geschiedenen Frau Förster Balder auf, dann stockte er eine Weile und sprach endlich von ihrem schweren Leiden, das er als eine Gnade Gottes pries, weil es vielleicht der Dahingegangenen Vergebung im Jenseits erwirken werde, Vergebung für alles, was sie auf Erden gefehlt habe. Den Anwesenden aber möge dieser Todesfall wieder eine ernste Mahnung sein, zu beten und des sicheren Endes zu gedenken, auf das sich der Mensch alle Tage und alle Stunden vorbereiten solle, weil es jeden zu dem ewigen Richterstuhle zerre, vor dem nur jener Barmherzigkeit zu hoffen habe, der auf Erden ein Gott wohlgefälliges Leben führte.

Wie aus starrem Fels gehauen stand der Förster während dieser kurzen Ansprache am Rand des Grabes. Die leis zitternde Hand, mit der er sein Kind etwas fester an die Brust drückte, verriet allein die Erregung, die in dem schweren Manne vorging. Er ließ den Geistlichen, der sich ihm nur halb zugewendet hatte und beim Sprechen niemals zu ihm aufsah, nicht aus den Augen und verfolgte ihn auch jetzt noch, wo der Priester alle Anwesenden für die arme Seele der Verstorbenen zu einem andächtigen Vaterunser aufforderte.

Mit tiefen Tönen fielen die Bauern in das vorgesprochene Gebet ein und die plärrenden Frauenstimmen kreischten dazwischen.

»Der Herr geb ihr die ewige Ruh, und das ewige Licht leuchte ihr. Amen, Amen, Amen.«

So summte es, dreimal wiederholt, in der Runde.

Mechanisch gingen die Lippen der Betenden auf und nieder. Die Hände der Weiber hielten den Rosenkranz, die der Männer den runden Filzhut empor, aller Andächtigen Augen aber irrten dabei neugierig über die offene Grube zum Förster hinüber, der schwer atmend nach oben sah.

Ein Meer von grellem Lichte flutete ihm entgegen und traf seine geröteten Augen. Langsam senkte er den geblendeten Blick hinab in die Begräbnisstätte, wo sich vom gelben Sargdeckel ein silberfarbenes Kruzifix zwischen den zerknitterten Blättern der Kränze heraushob. Starr und nachdenklich betrachtete es der Förster.

Das letzte Amen war verklungen. Hastig warf der Geistliche drei Schaufeln Erde hinunter. Dann trat er zu dem Förster, machte ihm eine ungelenke, steife Verbeugung und lispelte mit vorgeneigtem Kopfe: »Gelobt sei Jesus Christus!«

Der Angeredete erwiderte nichts und hielt seine Blicke fest auf die Grube gebannt, aber das Mädchen an seiner Seite rief schluchzend »in Ewigkeit! Amen!« und gab dem Priester die Hand, ehe er mit den Fahnenträgern und dem Ministranten aufbrach, um nach der Sakristei zu gehen.

Alles wich vor ihm auseinander und drängte zum Grabe heran. Dort gab der Förster, der den Kopf herabsenkte, daß sich der lange Bart in der Mitte abbog, das wurmstichige Grabscheit wie geistesabwesend einem Manne, der während der Begräbnisfeier gleich hinter ihm gestanden hatte.

Es war ein Mensch mit dichtem, hellbraunem Haar, mit kurzgeschnittenem Backenbart, groß und breitschultrig, in einem städtischen, schwarzen Salonanzug. Aber das Feste und Massive der ganzen Erscheinung wurde beeinträchtigt durch eine nervöse Unruhe, die den starken Körper fortwährend in allen Gliedern bewegte. Am merkwürdigsten war das häufige, gewaltsame Aufreißen der Augendeckel, wodurch die niedere Stirne immer in schwere Falten gezogen wurde. Fast sah es aus, als wollte er sich durch die zuckende Bewegung vor übermannender Müdigkeit schützen, die aus den verschwommenen, hellbraunen Augen sprach.

Als er nun den Spaten ergriff, um der Toten den letzten Gruß zu geben, fing er so heftig zu weinen an, daß es ihn schüttelte. Die Schaufel in der Rechten, das weiße Tuch vor den Augen, blieb er dann vor der Grube stehen und schluchzte unaufhörlich fort.

Eine peinliche Stockung in der allgemeinen Beileidsbezeugung trat ein; alles blickte auf den sonderbaren Mann. Der starke Schmerz schien ganz impulsivisch zum Ausbruch gekommen zu sein, und er gab sich ihm beim Abschied von dem Sarge haltlos hin, wie ein kleines Kind.

»Gelobt sei Jesus Christus! Herr Lehrer!« tönte es neben ihm.

Der Wirt des Dorfes entwand, indem er sich andächtig bekreuzte, das Grabscheit mit sanftem Griffe der Hand des Schmerzvergessenen, warf wohlgemessen und abgewogen etwas Erde hinab, sprengte sich aus dem kupfernen Weihwasserkessel einige Tropfen ins Gesicht und blickte mit seinen ergebenen, wässerigen Augen gar kläglich den Förster an, zu dem sich jetzt durch die Menge ein kräftiger, untersetzter Mann Bahn brach. Er war mit der gleichen Uniform bekleidet, wie der Leidtragende, und versäumte nicht, ein Kreuz zu schlagen, das er nach jeder Richtung der Brust und Stirne scharf markierte, ehe er die dumpfaufschlagenden Steine hinunterschleuderte.

Sein bartumrahmtes Gesicht mit den stark vorstehenden Backenknochen, der stumpfen, breiten Nase und den kleinen, geschlitzten Augen hatte einen ordinären, rohen Ausdruck und fügte sich schlecht in die wehmütige Trauermiene, die er zur Schau tragen wollte.

Als er dem Förster, der immer noch regungslos an seinem Platze stand und von der Seite tief traurig den weinenden Schullehrer betrachtete, die Hand gab, wandte er sein Gesicht ab und wischte sich die Augen. Dann wich er der heranströmenden Menge aus und schritt langsam zu der kleinen Friedhofstüre, wo er seinen Hut aufsetzte.

Wie im Zweifel, wohin er gehen sollte, machte er auf dem schmalen Wege des Kirchenbühels einige Schritte nach verschiedenen Seiten und blickte dabei über die abbröckelnde Mauer noch immer auf das Gewoge zurück, das dort um die Grabstätte wimmelte. Man konnte es ihm ansehen, daß er froh war, der Trauerversammlung entronnen zu sein, deren verstimmenden Eindruck er schnell zu verwischen suchte.

Er schüttelte den Kopf, als er gegen den Rand der kleinen Anhöhe trat, reckte die Schultern ein paarmal empor, spie aus und holte einen Kamm aus der Tasche. Sorgfältig durchfuhr er seinen rotbraunen, dichten Vollbart, der weit herabreichte und, unter dem Kinn ein wenig gestutzt, zwei stattliche Hälften aufwies.

Die stechenden Augen blinzelten wohlgefällig auf die gut gepflegte Haarmasse herab, die mit beiden Händen sorgsam glattgestrichen wurde. Auch die Uniform wurde besichtigt und verriet die peinlichste Sauberkeit bis hinab zu den blankgeputzten, viereckigen Stiefeln.

Der Mann schien von der Musterung befriedigt. Er setzte sich langsam in Bewegung und wanderte vom Bühel herab. Dabei hatte sein Schritt etwas Selbstbewußtes und Stolzes. Hoch emporgereckt trug er den derben Schädel und blickte herausfordernd um sich. An einigen Häusern des Dorfes kam er so vorüber und gelangte zum gelbgestrichenen Gasthaus, dessen Hauptfront scheckig gemalte Heiligenbilder und fromme Sprüche bedeckten.

»Wenn's erlaubt ist, Herr Förster?« tönte es flüsternd neben ihm. Es war der Wirt. Höflich hatte er den Hut abgenommen und sich mit tiefer Verbeugung an die linke Seite des Angeredeten begeben. Sein langes Gesicht steckte noch in den Falten der angelegten Traurigkeit und sah gar kummervoll drein.

»Ich glaub' gar, der Herr Förster schenken mir die Ehr'?«

Die Sprache des Wirtes stimmte mit dem Anzuge überein, der seinen hageren, langen Körper bedeckte. Sie war halb städtisch, halb ländlich, ein Umstand, auf den sich Herr Kreittmayer nicht wenig einbildete. Überragte er doch als ein Mann, der in der Welt schon weit herumgekommen war, mit seiner gebildeten, flötenden Redeweise alle seine Landsleute, die nichts als ihr Dorf kannten.

»Wenn's gefällig is, Herr Förster!«

Damit wies er höflich zum Eingang und entblößte sein Haupt. –

Vom Friedhof tönte ein feierlicher Choral ins Dorf herab. Das Begräbnis war beendet, die Menge zerstreute sich.

 

In der weißgetünchten Eckstube, die heute zu Ehren des Sonntags frisch gescheuert war, ließ sich der Förster unter einer schlecht geschnitzten Kreuzigungsgruppe behaglich nieder. Langsam stopfte er seine kleine Pfeife und nickte zu den Bauern hinüber, die nach und nach mit einem »Grüaß Gott, Herr Förster!« in die Stube polterten und an entfernteren Tischen Platz nahmen.

Der Wirt brachte frischen Anstich und kredenzte dem Förster die erste Maß. Mit breitem Fletschen der eberartigen, weißen Zähne hob dieser den Krug zum Munde und trank einen tüchtigen Schluck.

Schweigend saß ihm der Wirt gegenüber. Die devoten Augen hingen an den schwulstigen Lippen des Försters, der seine Pfeife anzündete und beide Arme zur blanken Tischplatte niederließ.

»A z'widre G'schicht, ha, Kreittmayer?«

»Der Herr Förster meinen den Todesfall? ... Ja, du lieber Gott, das is wohl a z'widre, traurige G'schicht. Man muß zwar Gott danken, daß die arme Frau Försterin erlöst is, aber 's is halt doch a harte Prüfung für den Herrn Förster und für die Fräul'n Anna!«

»Hm, hm«, nickte das Gegenüber, dichte Dampfwolken blasend. Der Wirt schüttelte nachdenklich den Kopf:

»De Verzweiflung, de Verzweiflung«, sagte er.

»Von wem?«

»Nun ... von der Fräul'n Anna halt! Ja, wenn Sie das g'seh'n hätt'n, Herr Förster! ... Sie machen sich kein' Begriff, wie's im Forsthaus droben zugegangen is.«

»No, aber er, der Balder, scheint mir eigentli doch ziemli kalt z'sein, er hat ja net amal g'woant.« Der Förster sprach dies mit etwas gedämpfter Stimme, weil die Bauern an den Nebentischen, ohne ein Wort zu reden, ununterbrochen zu ihm herüberstierten.

Verlegen hob der Wirt die magere Hand empor und blickte auf die Decke, wo dichte Fliegenschwärme saßen:

»Ja, mein«, sagte er, »unser Herr Förster des is halt a Mann, der ...«, er suchte nach dem passenden Ausdruck, »der sich net irr' machen laßt. Aber ...«, setzte er hastig hinzu, »es is ihm schon furchtbar nah' 'gangen, ich weiß, wie er an der Frau g'hängt hat.«

»No ja«, stieß der Förster mit seiner rauhen Stimme hervor, »davon red't ja koa Mensch, i mein' halt bloß, bei am Begräbnis da soll ma an 'm Menschen do a bissel mehr Trauer anmerken, als ma bei ihm g'seh'n hat, g'rad weil er halt so an der Frau g'hängt hat, wie Sie sagen!«

»Freili, freili!« wisperte der Wirt und strich mit der flachen Hand über seine Glatze, die zwischen den dünnen, grauen Haarbüscheln hervorglänzte. »Freili! Glauben sollt' man's schon, daß man bei einer solchen Gelegenheit dem Menschen eine Trauer anmerken müßt'. Hab' ich 's ja selber g'sehen, wie Sie sich die Augen g'wischt haben, Herr Förster, wo Sie doch die Verstorbene weiter nix an'gangen hat.«

Der Förster nahm auf einen Augenblick wieder seine Kirchhofsmiene an und verzog den Mund. Dann packte er den Maßkrug mit seiner braunen Rechten, an deren mittelstem Finger ein schmaler Goldreifen im fetten Fleische klebte, tat einen großen Zug und sagte:

»De Frau hat mir halt leid 'tan. Sie hat ihr Lebtaglang nix Guat's g'habt.«

»Ja, ja, das Leiden, das schwere Leiden, und dann hinterher noch die trostlose G'schicht mit der Anna und dem Lehrer! Daß sie das noch hat erleben müssen!«

Flüsternd hatte der Wirt gesprochen. Als er fertig war, schlug er die dürren Hände klatschend zusammen. »Das hat ihr noch den Rest 'geben, Herr Förster«, fügte er bei und wackelte mit dem Zeigefinger, wie drohend, in der Luft herum.

»Kann scho sei, kann scho sei«, sagte der Förster trotzig und biß mehrmals nacheinander in das Mundstück seiner Pfeife hinein.

In der Stube war es voll geworden. Bierdunst und Zigarrenqualm vermengten sich mit dem fettigen Geruch der Lederstiefel und Kleider. Seltener sahen die Bauern, die jetzt langsam zu reden begannen, auf den Tisch herüber, wo der Wirt in gebückter Stellung saß und zu warten schien, ob der Förster noch etwas sagen wolle. Dieser aber schwieg und paffte große Wolken in das Zimmer hinein. Lange blickte er den bläulichen Dunstringen nach, bis sie sich allmählich an den Köpfen der Bauern auflösten. Offenbar beschäftigte ihn etwas, über das er nachdenken wollte.

Endlich aber setzte er die Pfeife ab und sagte anscheinend ganz gleichgültig:

»Das dauert jetzt scho lang mit dem Lehrer?«

»O mein! In die vier bis fünf Jahr!«

»Und 's Madel wird alleweil no net g'scheidter?«

Der Wirt zuckte verlegen mit den Achseln.

»No ja«, fuhr der Förster fort, »nachher können's halt alle zwoa zeitlebens de ewigen Hochzeiter bleiben, denn aus der Heirat wird nix, gar nix!«

»Geltens, Herr Förster? Wir glauben's bald selber scho, i und mei Frau.«

»Wie soll denn dös was werd'n? Von nix kann der Mensch net leb'n, von der Luft a net guat, und a Hilfslehrer kann koa Familie ernähr'n, so viel woaß der alte Balder scho selber no mit sei'm eigensinnigen Schädel.«

»Ja, und trotzdem will halt unser Herr Förster net nachgeb'n, wie mir's scheint, er hängt viel z' viel an dem narrischen Lehrer.«

Mehrmals nacheinander schlug der Förster leicht auf den Tisch:

»Weil er halt a verbissener, alter ..., ach was! I mag mi nimmer ärgern. I hab's ja kommen seh'n, wie's kommen is. A ganz a jung's Madel und so a herg'laufener, verhungerter Lehrerg'sell' ohne an Pfennig Geld! Aber natürli! Verlobt wird glei, weil der notige Kerl ihr Lehrer war, der ihr 'n Schädel verdraht hat. So bal alle anfangen wollten in der Welt, nachher gang's schief!«

»Freili, freili«, lachte der Wirt.

»Aber so san die jungen Leut' von heutzutag alle miteinander«, fuhr aufgeregt der Förster fort, »früher war dös scho besser.«

»Ja, g'wiß, so wie jetzt war's wenigstens ganz sicher net«, bestätigte hastig der Wirt.

Der Förster strich über seinen Bart und sagte bedeutsam: »Wenn i denk, wie i und mei' Frau selig ang'fangt haben, grad jetzt vor dreizehn Jahr. Sie war zweiunddreißig und i dreißig Jahr alt; i hab warten müassen, bis s' mi schön langsam zum Forstwart g'macht haben, und nachher hab i erst amal ans Heiraten denk'n können.«

»Ja, mein«, sagte der Wirt sehr feierlich, »und a Frau, wie die Frau Försterin, Ihre Frau Gemahlin, Gott hab sie selig! Was war das für a Frau! Alleweil hab'n wir uns g'freut, wenn's amal von Wallberg 'rüber kommen is mit de zwoa netten Mäderln auf B'such in unser Forsthaus.«

Was ihm da von seiner schon sechs Jahre toten Frau vorgeschwärmt wurde, schien der Förster vollständig zu überhören. Er schwang die Pfeife in der Luft und neigte sich näher zu dem runzeligen Gesichte des Wirtes heran:

»Und nix wird aus der ganzen G'schicht, gar nix! I garantier' enk dafür: der Gattl kriagt koa Anstellung sei Lebtag net!«

»Meinen S' wirkli net, Herr Förster?« fragte der Wirt mit einem Schafsgesicht, aus dem die ausdruckslosen Augen stier zu beiden Seiten der langen Nase hervorlugten.

»Er steht sich ja absolut net mit dem Benefiziaten, und wie der alte Balder mit der Geistlichkeit steht, no, des wißt's Ihr alle eh am allerbesten, moan i?«

»Ja, mei«, sagte der Wirt und blickte seufzend zu den Fliegen empor, »des wissen wir freili, darunter leidet ja unser ganzes Dorf.«

»No, also?«

»Ja, ja, Sie hab'n nur zu sehr recht, Herr Förster, 's is jammerschad! Und is der Herr Benefiziat so a seelenguter Mann, von dem man meinen sollt', daß nur das beste Auskommen mit ihm möglich wär. Wirkli, so a prächtiger, ruhiger Mann.«

Der Förster brummte einige unverständliche Laute.

»Ja, das is a groß' Kreuz«, fuhr der Wirt vorsichtig fort, »von unserm Herrn Förster will i noch gar net amal red'n, obwohl ja sein Vorgehen auch a schwere Versündigung is, aber der Lehrer ... der Lehrer! Wie er halt an alle Plätz, wo er bis jetzt scho war, net gut 'tan hat, so is halt a hier ganz dieselbe Leier: keine Ruh', kein' Gehorsam, überall rabiat.«

Er wartete geduldig, ob man nichts zu erwidern wünsche. Da aber keine Antwort erfolgte, sah er sich erst ängstlich um und flüsterte dann geheimnisvoll zum Förster hinüber:

»De G'schicht von der letzten Reichstagswahl werden der Herr Förster schon wissen?«

Der Förster verneinte.

Verlegen fuhr sich der Wirt über das Gesicht und erzählte erst stotternd, dann aber immer hastiger:

»Das war also ... so zirka ... vor a drei Wochen, wo die Frau Försterin noch g'lebt hat. Der Herr Benefiziat war Vorstand am Wahltag, der Lehrer Schriftführer und i und no a paar andere wir war'n Beisitzer. Schon um zehn Uhr in der Früh, als die Sach' an'gangen is, hat der Herr Benefiziat, wie's halt so der Brauch is und alleweil bis jetzt bei uns war, an jeden von uns sein Wahlzettel geben. Wie er aber dem Gattl, dem Lehrer, den sein' hinstrecken will, da fahrt der auf und schreit: »Ich hab' mein Zettel schon selber – Hochwürden.« Natürli verbitt' sich der Herr Benefiziat so ein'n Ton, aber der Lehrer wird alleweil gröber, er schreit wie b'sessen, bis schließli der Herr Benefiziat – ja, i hab' seine Ruhe bewundert – nachgeb'n hat und nix mehr g'sagt hat. No, is gut also! Der Lehrer wirft seinen Zettel ein, den er selber mitbracht hat, wie er so großspurig g'sagt hat, und auf d' Nacht, wie die Stimmen gezählt werd'n, da hab'n dreiundzwanzig den Herrn Dekan von Mariakirchen, unseren langjährigen Vertreter, g'wählt und eine einzige Stimme is auf den liberalen Gegenkandidaten g'fall'n, den s' in der Stadt d'rin aufg'stellt hab'n, von dem aber unsere Leut' glücklicherweise noch nie 'was g'hört hab'n. Von wem war die Stimm'? Vom Lehrer natürli! Unser Herr Förster hat ja net g'wählt, und außerdem hat's ja auch der Herr Benefiziat an der Schrift glei g'merkt, wie er mir nacher erzählt hat.«

»Und is de G'schicht nacher ausg'wesen?« fragte der Förster, der mit sichtlichem Interesse zugehört hatte.

»O, beileib net! der Herr Benefiziat hat sich beim Herrn Dekan über das ungebührliche Benehmen vom Lehrer b'schwert, der Lehrer hat um Verzeihung bitt'n müssen, und das hat unsern Herrn Förster so g'wurmt, daß er wegen Wahlbeeinflussung oder, was weiß i, eine Anzeig' hat machen wollen. Aber 's is glücklicherweis' net so weit gekommen, denn mittendrin is nacher die arme Frau g'storb'n.«

Der Förster schüttelte heftig den Kopf: »Koa Sinn und koa Verstand in der ganzen G'sellschaft«, murmelte er. »I begreif' den Balder net, wie er überhaupt das Verlöbnis hat zugeb'n können, aber meinetwegen, mir kann's wurscht sein, i hab' koa Int'resse d'ran.«

Mit einer lebhaften Handbewegung wehrte der Wirt ab:

»O nein, Herr Förster, erlauben Sie gütigst, da haben Sie schon ein Int'resse d'ran.«

Ein mißtrauischer Blick traf den Wirt, der sich vom Stuhle erhoben hatte. Gleich darauf aber legten sich des Försters Züge in ihre gewohnte, trotzige Selbstgefälligkeit zurück, als der Sprecher mit erhobener Stimme betonte, daß diese Verlobung und ihre Mißstände bereits das allgemeine Interesse beanspruchten.

Man hatte von außen nach dem Wirte gerufen, er empfahl sich mit vielen Entschuldigungen und versprach, bald wieder zu kommen.

Der Förster kauerte allein in seiner Ecke und bestellte sich einen neuen Krug Bier. Was ihm der Wirt erzählt hatte, schien ihn lebhaft zu beschäftigen, denn manchmal verschob er hastig den Kopf und riß die Mundwinkel schief. Angenehme Gefühle waren es daher wohl nicht, die ihn bewegten.

Eine gute Weile mochte er so gesessen haben, als die Türe plötzlich auf- und unmittelbar nachher krachend zuflog. Hastigen Schrittes eilte ein Mann herein. Ohne sich lange zu besinnen, ging er auf den Ecktisch zu und nahm geräuschvoll Platz.

Auf den ersten Blick hatte der Förster den Lehrer erkannt, dessen Nähe ihm sehr peinlich zu sein schien, denn er verlor angesichts dieser völligen Nichtbeachtung seiner Person die wohlgefällige Ruhe, die er erst vor dem Wirte und den Bauern zur Schau getragen hatte. Ärgerlich rückte er auf der Bank hin und her, oftmals griff er zum Kruge, nur um sich zu beschäftigen, und dann sah er auf den staubigen Weg hinaus, den verkrüppelte Obstbäume zwischen grauen Holzplanken umgaben. Für den Lehrer, der ihn nur beim Eintritt flüchtig fixiert hatte, schien er nicht zu existieren.

Man stellte eine Weißwurst und ein Glas Bier vor den neuen Gast, der alles mit nervösen Bewegungen zum Munde führte und eilig hinunterwürgte, als bange er, daß man ihm etwas wegnehmen könne.

Vom Fenster aus schielte der Förster zu dem Aufgeregten herüber. Als aber dieser das schnell ausgetrunkene Glas der bedienenden Dirne zur nochmaligen Füllung gab und somit seinen Aufenthalt verlängerte, da litt es den Mißachteten nicht mehr an seinem Platze, und er verlangte mit unwirscher Stimme zu zahlen.

Statt der Kellnerin kam eilfertig die Frau Wirtin, eine dicke, rotbackige Person mit blauschwarzen Zigeunerhaaren, stumpfer Nase und unverschämt blickenden Augen, zum Tische geeilt und faßte den Förster beim Arme:

»Ja, um Gotteswillen! Nehmen Sie's mir nur net in Übel, Herr Förster, ich hab' net Zeit g'habt. Na, na, i leid's net, daß Sie jetzt scho fort woll'n, Herr Förster, bitt gar schön, bleiben S' nur no a bissel da ...«

Und mit einem Schwulst von Fragen und Redensarten bestürmte sie den Bärtigen, der gereizt auf den Lehrer blickte, sich aber doch ganz gern überreden ließ und bei einem Kruge Bier der schwatzenden Wirtin zuhörte. Das unförmige Frauenzimmer sprach mit schnatterndem, frechem Tonfall, und hatte die Gewohnheit, mitten in den Sätzen ohne alle Ursache ordinär und schreiend zu lachen, daß es laut durch die Stube scholl.

In der Unterhaltung mit ihr hatte sich der Förster wieder gesammelt und schrie dabei absichtlich immer lauter. Aufmerksam betrachtete er den Lehrer, der kleine Kugeln aus der Mull seiner Semmel drehte und den Kopf in den rechten Arm gestützt hatte. Er schien für alles teilnahmslos zu sein, und als der Förster anzügliche Bemerkungen machte, die von der Wirtin mit frechem Gekicher begleitet wurden, da überhörte er auch das, bis ihn plötzlich ein Name, der jäh an sein Ohr geklungen war, aus den Träumereien weckte.

Er senkte den Arm zum Tische hernieder, schaute den Förster mit weit aufgerissenen Augen an und fragte scharf und kurz:

»Was haben Sie da gesagt?«

»Geht Sie vielleicht das 'was an?« gab patzig der Gefragte zurück, der so tat, als bemerke er jetzt erst den ungeladenen Gast am Tische.

»Wenn Sie über die Anna und über mich reden, dann geht's mich wohl 'was an!« fuhr Gattl heftig heraus.

»Möcht' wissen«, lachte gereizt sein Gegenüber, »i red, was i mag.«

»So lang Sie allein sind, können Sie das tun, wenn ich aber am Tisch bin, verbitt' ich mir solche Bemerkungen.«

»Hab' bis jetzt net g'merkt, daß sich jemand herg'setzt hätt'.«

»Dann wissen Sie 's jetzt!«, schrie der Lehrer und schlug mit der Hand auf den Tisch, daß die Krüge zu tanzen begannen, »so, und jetzt verbitt' ich mir jedes weitere Wort über uns, Herr Förster Göpfert.«

»Aber, Herr Lehrer, Herr Lehrer!« mischte sich die Wirtin hinein, »ich bitt' Ihna! Was fallt Ihna denn ein.«

An den Nebentischen waren die Bauern wieder aufmerksam geworden. Sie blickten mit ihren geröteten Gesichtern durch den blauen Zigarrenrauch neugierig auf den Förster, der mit weit aufgerissenem Munde den Lehrer anstarrte und erst nach und nach seine Fassung gewann. Als er zu sprechen anfing, zitterte seine Stimme, aber statt des von allen Anwesenden erwarteten Heftigkeitsausbruchs kam es fast schüchtern heraus, als er, noch ganz überwältigt von Staunen, die Antwort stotterte:

»Sie ... Sie, gelt? Reden S' Ihna net so leicht ... i bin a königlicher Beamter.«

»Ach, was! Königlich hin, königlich her, ich verlang von Ihnen a anständiges Betragen!«

Diese Worte klangen sehr fest und bestimmt und schienen jede Erwiderung abzuschneiden. Der Förster befand sich auch in sichtlicher Verlegenheit und begann heiter zu lachen:

»I werd' mi streiten, könnt' mer einfall'n«, brachte er endlich hervor und grinste zur Wirtin hin, die nicht wußte, was sie sagen sollte. »Könnt mir einfall'n«, wiederholte er, »mit so am Mensch'n streit i mi net.«

Brummig knurrte er weiter wie ein bissiger Hofhund, und je mehr er vor sich hinredete, um so trotziger wurde er. Bei einem zweiten Anprall ließe er sich nicht wieder so überrumpeln, das nahm er sich fest vor, und als er nun mit einem Gesichte, auf dem der Ärger über die erlittene Niederlage deutlich geschrieben stand, höhnisch zum Lehrer hinübernickte, da war er willens, mit äußerster Brutalität vorzugehen.

Seine Stimme wurde wieder lauter und nun, wo Gattl auf eine neue Bemerkung wütend vom Stuhle emporsprang, um ihn zur Rede zu stellen, da antwortete er herausfordernd und beleidigend. Er durfte sich doch vor den Bauern nichts vergeben!

Erst blieb ihm der Lehrer nichts schuldig, er entgegnete mit großer Heftigkeit, aber der Förster geriet in immer stärkere Wut, und sein fester Vorsatz, sich nicht mehr übertrumpfen zu lassen, riß ihn noch weiter hin.

Abermals betonte er selbstgefällig seine Stellung als königlicher Beamter, worauf ihm der Lehrer, und zwar diesmal ganz gelassen, erklärte, man könne zwar königlicher Beamter, aber auch gleichzeitig ein königliches Kamel sein.

Schallendes Gelächter von den Tischen der Bauern folgte dieser Äußerung. Die Anwesenden bogen sich nach allen Seiten, schlugen mit den Fäusten auf die Tischplatten.

Da kamen sie aber beim Förster schön an. Bleich vor Wut war er aufgesprungen und schrie mit bebender Stimme in die Stube: »Bauernluder, verfluchte!«

Totenstille folgte diesem Ausbruch. Die Männer steckten die Köpfe zusammen und wiesen einen jungen Burschen eilig zurecht, der hinter dem Rücken der anderen noch weiter kichern wollte.

Befriedigt wandte sich Göpfert wieder zu dem Lehrer und sah verächtlich auf ihn herab:

»Eh' man andre beleidigt oder sich drüber lustig machen möcht', muaß ma selber was sein. Versteh'n Sie mich? Übrigens können Sie mich gar net verletz'n, denn was san Sie denn? A Hilfslehrer, der scho dreißig Jahr alt is, der nix war, nix is und nix werd!«

Wuchtig ließ er sich auf die Bank fallen und blies krampfhaft einigen Staub von seiner ausgegangenen Pfeife empor.

Der Lehrer sagte nichts mehr. Er warf den Rest der aufgerissenen Semmel beiseite, zog seine Börse und legte einige Münzen auf den Tisch. Dann trank er aus und rüstete sich zum Fortgehen, indem er den Gehrock zuknöpfte und nach seinem Hut griff. Als er aber die Klinke der Türe in der Hand hatte, drehte er sich um und wollte dem Förster, auf den er mit zwinkernden Augen hinblickte, eben noch etwas zurufen. Da wurde die Türe sanft gegen ihn geschoben und der Wirt schlich mit verdutztem Gesichte an ihm vorüber ins Zimmer, wo er sich mit fragenden Blicken neben dem Förster niederließ.

Fester packte der Lehrer die Klinke.

»Herr Göpfert!« sagte er laut, »daß ich a elender Hilfslehrer bin und net mehr, des verdank i nur meiner Überzeugung, mit der ich nie hinter'm Berg g'halten hab, und die ich jedermann offen ins G'sicht sag, wie grad Ihnen. Wär' ich a Kerl wie and're, ging ich der Geistlichkeit hübsch brav um'n Bart und kröch den ganzen Tag um die schwarzen Brüder herum als elender Heuchler, der allen hinterher a lange Nasen dreht, so könnt' i scho lang im Trockenen sitzen. Aber dann müßt' ich auch vor mir selber ausspucken, und bis dahin laß ich's net kommen, drum gib i net nach, net um's Verrecken!«

Er hatte sich gewaltig in Aufregung geredet und manche Worte mit krachendem Fußstampfen begleitet. Jetzt ließ er die Klinke wieder los und schritt den freien Gang zwischen den Stühlen auf und nieder.

»Dann wird eben des g'scheh'n, was i scho g'sagt hab«, rief der Förster ihm nach, »Sie werd'n nix, Ihr Lebtag net.«

»I will nix werd'n, was i mit meiner Überzeugung erkaufen muß.«

»A was, Überzeugung! I gib Ihna keine zehn Pfenning für die sogenannte Überzeugung! A Vernunft muaß ma hab'n, vertrag'n und brav duck'n muaß ma sich im Leben, mit seine Vorg'setzten muaß ma auskommen – sonst – no ja, Sie wissen scho, was sonst geschieht!«

Verächtlich lachte der Lehrer zu diesen Worten und setzte seine Wanderung durch das Zimmer fort. Sein ganzes Wesen zeugte von starker Erregung, die Augendeckel flogen auf und nieder und die Hände betasteten zitternd den starken Leib.

Nun erlaubte sich der Wirt, der aufmerksam den Streit verfolgte und dabei fortwährend an seinem verkümmerten, dürftigen Backenbart zupfte, eine schüchterne Bemerkung:

»Der Herr Förster hat scho recht, Herr Lehrer«, sagte er in weisem Tone. »Wer sich gut vertragt, der kommt immer durch's Leben, und wenn der Herr Lehrer sich nur a bissel besser zum Herrn Benefiziaten stehen wollt, dann ...«

»Kreittmayer! Schwatzen S' kein' solchen Mist daher!« sagte heftig der Lehrer.

Der Wirt nahm eine beleidigte Miene an.

»Ich bin ein einfacher Mann«, bemerkte er spitzig, »ich sag' meine Meinung auch offen heraus, grad so wie der Herr Lehrer, weil ich mich frag, wohin das alles noch führen soll. Schön ist's nicht, wie's jetzt bei uns is, und ich meine im allgemeinen Interesse zu handeln, wenn ich dem Herrn Lehrer rate, er soll der Kirche geben, was der Kirche ist, es geht halt a mal net anders, net wahr, Herr Förster?«

Lebhaft stimmte der Gefragte bei, indem er mit lautem Schlage den Krug zum Tische niedersetzte und sich mit dem Ärmel den nassen Mund wischte.

»Natürli«, sagte er breit, »der Mensch muß a Religion hab'n, glauben muaß er was. Wo kam er denn sonst hin?«

»Ja, des möcht' ich auch wissen«, wisperte noch immer sehr gereizt der angefahrene Kreittmayer.

»Auf solche Redensarten«, sagte Gattl, »da geb' ich keine Antwort. Jeder Mensch wird selber wissen, wie er's mit der wahren Religion z'halten hat. Jeder muaß sich auch amal im Jenseits selber dafür verantworten und deswegen braucht man mir net zu sagen, wie viel Pfund Heiligkeit ich für drüben notwendig hab! Das eine aber dürft's mir glauben, daß weder Sie«, er deutete auf den Förster, »noch Sie, Kreittmayer, eine Ahnung haben, was ein Mensch durchmachen muß, der das Unglück hat, a Hilfslehrer z'sein, der net mit jedem Atemzug ins Horn von der Geistlichkeit stoßt.«

»O mein«, lachte der Förster, »so schlimm is a net!«

»O, g'wiß net«, bestätigte der Wirt.

»Ja, ja, Ihr müßt's ja wissen! Halts einer nur zehn Jahr aus wie ich, dann kann er a Lied davon singa.«

»Warum geben S' denn dann net nach, wenn's wirkli gar so schlimm is?« lachte Göpfert höhnisch.

»Das hab ich Ihnen ja g'sagt, weil ich dann vor mir selber kei' Achtung mehr hab'n könnt!«

»All's recht schön«, sagte der Förster wieder. »Jeder kann tun und treiben, was er will, bal er allein steht und auf neamd Rücksicht z'nehmen braucht, aber i moan halt do, daß für oan, der ... no ja ..., der gern Bräutigam sein und also wohl amal heiraten möcht, solche Ideen net die richtigen san.«

Hastig kehrte der Lehrer zum Tische zurück. Mit beiden Händen stützte er sich fest auf die eichene Platte und faßte den Förster energisch ins Auge.

»Was geht Sie das an? Sie mischen sich da in Dinge, über die Ihnen zuletzt ein Urteil zusteht.«

»Oho, oho! ma wird wohl no red'n derfen, wenn Sie da laut 'rumschimpfen.«

»Und wenn Sie in meinem Haus, wo man glücklicherweis unsern Herrgott noch verehrt, auf die Geistlichkeit schimpfen«, rief der Wirt.

»Was i hier g'sagt hab, kann i aufrecht halten! Aber des hat alles nix mit der Anna zu tun und drum verbitt ich mir Ihre Anspielungen, Herr Göpfert, die sich so wie so in Ihrem Mund sonderbar g'nug ausnehmen.«

»Wieso?« fragte der Angeredete, jedoch klang seine Stimme etwas unsicher.

»Wieso? Weil Sie der Fuchs sind, dem die Trauben zu hoch hängen, weil Sie nur aus Gift und Wut so daher reden, denn Sie können's der Anna net vergessen, daß Sie bei ihr elend abg'fahrn sind, als Sie ihr den berühmten Heiratsantrag g'macht hab'n. Ha, ha, ha.«

Alle Farbe war aus dem Gesichte des Försters gewichen.

»G'log'n, nix wie g'log'n«, schrie er wütend.

Der Wirt war zur Türe geeilt, wo Gattl stand, der mit rollenden Augen auf seinen Gegner blickte.

»Herr Lehrer! Jetzt muß ich Sie aber ...«

Gattl stieß ihn von sich.

»Natürlich«, rief er zu dem Förster hin, »jetzt möchten Sie Ihre damalige Blamage vor den Leuten hier wegleugnen.«

Endlich kam Kreittmayer zu Worte:

»Herr Lehrer, ich bitt' Sie! So an Skandal, und noch dazu heut' am Begräbnistag von der Frau Försterin!«

Eilig erfaßte der vor Wut bebende Göpfert diese willkommene Gelegenheit, dem fatalen Gespräche eine Wendung zu geben:

»Jawohl«, schrie er entrüstet, »sogar den Tag hab'n Sie durch Ihr Betragen g'schändet. Schämen's Ihna!«

Den Lehrer zuckte es, die Hand zu erheben und sich auf den Förster zu stürzen. Aber vor ihm sprang plötzlich die dicke Wirtin wie eine Besessene auf und eilte in die Mitte des Zimmers hinein, wo sie mit den Armen herumfuchtelte und befehlend »'s Gebetläuten!« schrie.

Gleich darauf machte sie ein großes Kreuz und verkrampfte die Hände über ihrem breiten Sammetmieder.

Hell und scharf drangen die Glockenklänge in die rauchgeschwängerte Gaststube, wo es mit einem Schlage mäuschenstill geworden war.

Der Förster hatte die Pfeife zwischen die leicht gefalteten Hände auf den Tisch gelegt; seine Gedanken waren aber, nach seinem erhitzten Gesichte zu urteilen, keineswegs bei der frommen Übung, die er diesmal nur gezwungen mitmachte, um kein Aufsehen zu erregen. In Wirklichkeit wäre er am liebsten losgeplatzt und hätte dem Lehrer einen Maßkrug auf den Kopf gehauen.

Um so eifriger betete dafür der Wirt neben ihm, der sehr andächtig nach oben blickte und die gefalteten Hände dicht unter die Nase hielt.

In die tiefe Stille polterten plötzlich schwere Schritte. Der Lehrer wankte zu dem großen Kachelofen der Stube und warf sich dort auf die Bank nieder, während er beide Hände vor's Gesicht schlug. So saß er zwischen einigen Bauern, die ihre Hüte abgenommen hatten und gleichgültig vor sich hinstarrten. Ein dumpfes Stöhnen, das sonderbar durch die Stube drang, kam aus seiner Brust, und nun hörte man ihn unter der bergenden Hülle seiner Hände laut weinen.

Dieses Geräusch nistete sich mit bangen Lauten, wie beängstigend, in die unheimliche Ruhe der leis verrichteten Andacht, und es war, als ginge ein Aufatmen über die Anwesenden, als mit dem kreischenden »Gelobt sei Jesus Christus« der Wirtin auch wieder die Zungen gelöst wurden.

Frieden hatte die Mittagsglocke in die Gaststube geläutet, denn der Streit wurde von keiner Partei mehr aufgenommen. Der Förster saß zwar noch ziemlich erregt in der Ecke, aber er ließ sich von dem Wirte beschwichtigen, der zischelnd in ihn hineinredete und nach einem scheuen Blicke auf den zusammengebrochenen Lehrer wie zur Entschuldigung nach der Stirne deutete.

Doch das richtige Behagen zum Weiterkneipen war dem Förster vergangen. Er trank aus, bezahlte und ging, nachdem er der Wirtin die Hand gereicht hatte, mit Kreittmayer ins Freie hinaus, wo er den höflich Grüßenden bei einem Westenknopfe näher zu sich heranzog.

»Kreittmayer! Was der Kerl, der Lehrer, von mir und der Balder Anna g'schwatzt hat, is Lug und Trug. Sagen Sie des no amal extra den Bauernviechern, damit mir nix weiter g'schwatzt wird, sonst – –«, er hob drohend den Zeigefinger.

»Aber, Herr Förster! Wie können S' nur denken ...?«

»'S is scho gut, i wollt enk des bloß g'sagt hab'n.«

»Du mein Gott! Wenn man auf alles hör'n wollt, was unser Lehrer den lieben, langen Tag z'samm red't. Tragen Sie's nur mir und 'm Wirtshaus net nach, Herr Förster, und schenken S' uns bald wieder die Ehr! Adje, adje! Herr Förster!«

Die letzten Worte hatte Kreittmayer dem Scheidenden nachgerufen, der jetzt in tiefen Gedanken den Weg zum Forsthaus betrat und nicht mehr umblickte.

 

Der Mittag lag schwer über dem Dorfe. Blaudunstig verschwommen der Berge Konturen in dem bleifarbenen Firmament und eine drückende Atmosphäre kochte in den dichten Gebüschen vor dem Forsthause. Dort ordnete Göpfert, neugierigen Blicken entzogen, wieder seinen Bart und kämmte sodann das Haupthaar. Er strich vom gebogenen Scheitel die Haare zu beiden Seiten kokett nach der Höhe, sodaß er eigentlich mehr die Frisur eines zum Tanz gehenden Ladenschwengels als die eines Gebirgsmenschen trug, aber so gefiel es ihm; er hielt diese Form für sehr elegant und auf patentes Auftreten gab der Förster von Wallberg sehr viel.

Zwei junge Jagdhunde umwedelten ihn, als er durch die offenstehende Haustüre des Forsthauses in den weiß getünchten Flur trat, wo er zögernd den Hut abnahm. Hier roch es wie in einer Kirche nach Blumen, Weihrauch und Wachskerzen. Göpfert sah sich um und horchte. Im ganzen Hause regte sich nichts. Der Förster ging aus die hinterste Türe am Ende des Flurs zu und klopfte zweimal nacheinander. Keine Antwort. – Nun wurde er ungeduldig. Er öffnete und sah in das Zimmer. Auch hier war niemand. Wohl aber herrschte eine Unordnung in dem schwarz ausgeschlagenen Raum, die der Förster kopfschüttelnd betrachtete. Ein Bahrtuch mit weißem Kreuze war quer über einen Holzschragen geworfen, Messingleuchter mit herabgebrannten Kerzen und Lebensbäume in irdenen Töpfen standen auf dem Boden herum, und dazwischen fluteten helle Sonnenflecken durch die transparenten Rebenblätter an den beiden Fenstern zur Stube herein.

Der Förster schloß das Zimmer und versuchte es nun an einer anderen Türe des Kreuzgangs, hier mit Erfolg, denn man rief ihn zum eintreten. Langsam schritt er über die Schwelle.

Er befand sich in einem behaglichen, niedern Raume, dessen grau tapezierte Wände mit Hirschgeweihen und Gemskrickeln bedeckt waren. An dem einzigen Fenster des Zimmers stand ein kleines Schreibpult, und hinter einem Tischchen, dem Eintretenden gerade gegenüber, war ein breites Sopha mit braunem Überzug unter zahlreichen Photographien verschiedener Größe aufgestellt.

Ein Mann in fadenscheiniger Hausjoppe, in grauer Tuchhose und leichten, buntgestickten Pantoffeln lag darauf. Er rauchte eine Zigarre und blickte überrascht auf den unerwarteten Besuch.

»Grüaß di Gott, Balder«, sagte der Eingetretene und bot ihm die Hand, während er, wie unter dem Eindruck einer tiefen Bewegung, zu Boden sah.

»Du wirst mi am Gottsacker scho g'sehn hab'n«, fuhr er fort mit einer Stimme, die vor Rührung zu zittern schien.

»Setz' di nieder!« Balder wies kurz mit der Hand nach einem Stuhle.

Göpfert holte sich sein Taschentuch heraus, schneuzte laut und fuhr flüchtig über die Augen.

»Wi is jetzt des nur so g'schwind gang'n mit der armen Toni?« fragte er, indem er sich vor dem Sopha niederließ.

Balder rauchte einen leichten Zug und blickte unverwandt in die Ecke des Zimmers.

»Wie schlecht mei Frau dran war«, begann er sehr ruhig, »des weißt du ja ... Hoffnung war bei dem Leiden scho lang keine mehr ... es hat sich immer verschlimmert ... Die Doktoren bei uns und in der Stadt drin, die hab'n auch nimmer helfen können, und da hat der rapide Verfall sich nimmer aufhalten lass'n.«

»Hm, hm. War denn gar nix mehr z'macha?«

Balder holte tief Atem und strich mit der breiten Hand über die Stirn.

»Scheint net.«

»Schreckli, ganz schreckli is so was.«

Der andre rauchte ruhig weiter und sagte nichts. Aus einer neben der Tür hängenden Schwarzwälder Uhr schrie der Kuckuck einmal heraus und verschwand sofort hinter der zufallenden Holzklappe. Das Zimmer sank wieder in seine tiefe Stille zurück, die der Besuch unangenehm zu empfinden schien. Er räusperte vernehmlich, rückte die überschlagenen Füße bald vor, bald hinter die Stuhlbeine und sagte endlich, als Balder gar keine Miene machte, zu reden, mit unsicherer Stimme:

»Ja, i will di nimmer aufhalt'n. Du wirst heut 'n Kopf scho voll g'nug hab'n ... also nochmals mein Beileid, und wenn d' die Anna siehst, dann sag' ihr a ...«

Balder reichte dem Aufstehenden die Hand:

»I dank' dir für deine Teilnahme.«

Zögernd wandte sich Göpfert ab.

»Willst no was?« fragte Balder, als er ihn so unentschlossen an der Tür stehen sah.

Göpfert drehte sich um und suchte nach dem beginnenden Worte:

»Na ... i hab' ... ach, mein! I sag dir's a andersmal. Heut mag i net davon reden, 's wär was wegen der Anna.«

»Wegen der Anna?«

»Ja!"

»Dann kannst du mir's heut grad so gut sag'n.«

»Ja, wenn's dir recht is! Sonst hätt' i aber a warten können, denn ...«

»Setz' di no amal nieder«, unterbrach ihn Balder.

»Wenn du's net anders willst! Aber du darfst mir nix in Übel nehmen, Balder ...?«

Da dieser keine Antwort gab, begann Göpfert in weitschweifiger Weise den Streit zu erzählen, den er eben mit dem Lehrer gehabt hatte. Alle Schuld schob er auf Gattl, der ohne jede Ursache die Gemütlichkeit gestört und ihn schwer beleidigt habe durch eine unflätige Bemerkung über das ganze königliche Beamtentum. Am meisten aber beschwerte er sich über Gattls vorlaute Äußerung, die den mißglückten Heiratsantrag betraf, weil er dadurch vor allen Bauern kompromittiert sei.

Balder verzog während dieser Rede keine Miene. Er blies kleine Wolken aus seiner Zigarre und hörte den Beteuerungen Göpferts zu, der nach jedem Satze Ehre und Seligkeit, dann wieder den Kreittmayer als Zeugen der Wahrheit ins Treffen führte.

»Und was soll mich das alles angehen?« fragte Balder, als sein Kollege endlich fertig zu sein schien.

Das hatte Göpfert nicht erwartet. Sein zinnoberrotes Gesicht sah sehr verdutzt drein, und er stotterte:

»Was dich des angeht? Ja, is der Gattl net dei künftiger Schwiegersohn? Kannst du eahm net sag'n, daß sich so a Benehmen net paßt, und daß er mit solche ... Lüagen ...«

»Lügen?«

»No ja, mit solche Redereien halt hinterm Zaun halten soll.«

Balder stützte den rechten Arm auf die breite Sophalehne und legte sein Haupt darauf:

»Göpfert, i will dir was sagen«, fing er sehr ruhig an, »das sind Privatstreitereien, in die ich mich net einmisch! Ich kann nix dafür, daß dich die Anna damals net g'nommen hat, als du um sie ang'halt'n hast. Daß der Lehrer von der Sach Kenntnis bekommen hat, des hat sich net verhindern lassen: er is der Anna ihr Verlobter. Es is dumm von ihm, so was auszuschwatzen, aber in 'm Streit, da gibt oft ein Wort des andre.«

»Also nachher muaß i mir von dem saubern Herrn einfach all's g'fall'n lass'n?«

»Du werst ihm net gar so viel schuldi blieb'n sein, glaub' ich, denn ohne Grund beleidigt der Gattl net leicht an andern.«

»Versteht si.«

»Und deshalb«, fuhr Balder fort, »macht ihr am besten de G'schicht zu zweit aus. Ihr braucht's kein dritten. Seid's alt g'nug dazu.«

»Hast scho recht, Balder! alt g'nug san mir alle zwoa, besonders der Gattl, der Herr Hilfslehrer!«

Prüfend sah der Förster in Göpferts giftgeschwollenes Gesicht und klopfte dabei bedächtig die Asche seiner Zigarre auf den Fußboden.

»Mit solche Sprüch«, sagte er ohne jede Erregung, »sollst eigentli net 'rumschmeißen, Göpfert!«

»Bal mi der Mensch, der no nix is, infam beleidigt und hinstellt, als wie oan von seine Schulbuben?«

»Auch dann net, denn wenn der Gattl auch a rabiater Mensch is, so muß ma denken, daß er dazu g'macht word'n is. Du kennst sei Leben net, weißt net, was er durchg'macht hat. Z'erst haben's ihn von ein'm Ort zum andern g'schickt und versetzt, angeblich weil er zum Lehrer net taugen soll', und Zeugniss' haben's ihm ausg'stellt, daß an a Anstellung nie z'denken war. Warum? Weil er's absolut net verstanden hat, sei Meinung übers Leben und über politische Ansichten g'heim z'halten, und weil er eb'n mit'n Kopf durch die Wand will. Des is freili net schlau von ihm, denn man hat ihm daraufhin g'hörig zug'setzt, so daß man jetzt, wo s' ihn volle fünf Jahr in unserm Nest hocken lass'n, gar nix mehr mit ihm anfangen kann, wenn man ihn unrichtig behandelt.«

»Also derf mer den Herrn bloß noch mit Glacéhandschuh anfassen?« fragte Göpfert, und bleckte seine kolossalen Zähne.

»Wenn d' mi net verstehen magst, na is 's besser, mir hör'n den Dischkurs auf.«

»No ja, i hab ja bloß g'moant! Ma derf wohl no was sag'n?«

»O ja, aber du sollst net blind auf'n Menschen loshauen, der von Haus aus a prächtiger, guter Kerl is, und der heut längst sei wohlverdiente Anstellung hält', wenn er von vornherein in die richtigen Händ' 'kommen wär und net glei zu wüste Hetzapostel, die'n weg'n seiner groben Ehrlichkeit furchtbar ang'feind't hab'n.«

Der etwas schwermütige Ton, in dem Balder geredet hatte, war seinem Kollegen nicht entgangen. Also zwickte und wurmte sie den alten Starrkopf doch, die niedere und lächerliche Stellung, die der erbärmliche, alte Hilfslehrer einnahm! Das war wenigstens eine gewisse Genugtuung, wenn auch nur eine geringe! Aber man mußte damit zufrieden sein, denn gegen die unnahbare Ruhe und Sicherheit des alten Försters, der breitspurig auf dem Sopha lag, war jetzt nichts zu machen; mit Heftigkeit drang man da nicht durch. Das wußte der ärgerliche Göpfert recht gut. Waren doch schon Vorgesetzte vom Forstamt und von der Regierung bei Balder gar übel angekommen, als sie grob auftreten wollten. Ein erstaunter Blick oder eine ganz ruhige Frage pflegte jeden zu entwaffnen, der ihm ohne Ursache nahe trat.

Abgeblitzt und blamiert! dachte Göpfert, als er jetzt aufstand und seinen Stuhl in die Ecke setzte.

»Also, nacher is nix?« fragte er, indem er Balder die Hand hinstreckte.

»Was is nix?«

»No ja, es bleibt dabei: der Gattl darf dein Kollegen insultieren und von oaner Abbitt' is koa Red?«

»Wenn ich auch mit 'm Lehrer sprechen wollt – ich kann ihm unmöglich zumut'n, daß er um Verzeihung bitten soll.«

Lauernd sah Göpfert zu dem Sopha hinunter:

»Dann blieb mir also nix anders übri, als eine Beschwerd' beim Gattl seine Vorg'setzt'n?«

Balder nickte zustimmend und legte den Zigarrenstummel bei Seite.

»Aber sei do g'scheid, alter Freund«, rief Göpfert eifrig, »des möcht i ja wegen dir und deiner Familie net. Enk möcht' i ja all's Z'widre fernhalten.«

»Laß di net abhalten von dem, was dir's Richtige scheint.«

»Net abhalten soll i mi lass'n? Is scho guat! Aber was moanst, was dem Gattl geschieht, wenn i die Anzeig' erstatt' und wenn i all's, all's erzähl', was er g'red't hat?«

Balder holte ein Feuerzeug aus der Tasche und brannte eine neue Zigarre an:

»Des is net schwer z'sag'n«, meinte er. »Mit deiner Klag', da machst du dir den Benefiziaten zum dicksten Freund, und dem Lehrer wird wieder a Prügel zwischen d' Füß g'worf'n. Dem Kreisschulinspektor, der jetzt in allernächster Zeit zur Revision kommen und 'n Gattl sei Schul' prüfen soll, dem erzählt man die schrecklichsten G'schichten, der Lehrer kriegt wieder kei Anstellung, er derf als Hilfslehrer weiter vegetieren – der Himmel weiß, wie lang – und am härt'sten trifft's mei Anna ... So geht's, Göpfert«, fuhr er fort, und sah dem Verblüfften voll ins Gesicht. »So, wenn du's durchaus wissen willst.«

»Aber des möcht' ich ja eb'n net. Nimm doch an Verstand an, Balder, und red' mit dem Lehrer ...«

»Gieb dir kei Müh' mehr und tu, was d' für guat hältst.«

Damit griff der Förster unter das Sopha und holte die plumpen, rindsledernen Nagelschuhe hervor. Er vertauschte sie mit den Pantoffeln, ohne sich mehr um den wütenden Göpfert zu bekümmern, der jetzt wohl oder übel seine Drohung ausführen mußte, wenn er nicht als verlachter Großsprecher dastehen wollte. Er wußte zwar, Balder pflegte nicht auszuplaudern, was unter vier Augen gesprochen wurde, und gerne hätte er sich auch diesmal auf die Anständigkeit des Försters verlassen. Ja! Wenn ihm dieser sein Ehrenwort gegeben hätte, dann wollte er am liebsten die ganze Geschichte, die schwer verrannt war, begraben, aber darum konnte er ihn jetzt doch nicht mehr bitten.

»No, für heut' adje, Balder!« rief er daher und schlug, ohne eine Antwort abzuwarten, krachend hinter sich die Türe zu.

Unwillkürlich fuhr er zurück, als er sich beim Hinaustreten vor Anna gewahrte. Er wollte ihr die Hand geben, aber sie nahm sie nicht an und wich mit Zeichen des Abscheus an die Wand zurück.

»I wollt' dir bloß mei Beileid aussprechen ...«

Sie wehrte ihm ab:

»Von dir will i kein' Trost.«

»So? Warum denn net, wenn i frag'n derf?«

»Weil i jetz' weiß, was du für a Mensch bist.«

»Was i für a ... ja so! Du hast g'horcht, ha! ha! ha! No ja, de Anna an da Wand hört 'm Gattl sei Schand!«

Sie blieb unbeweglich an ihrem Platze und sah finster ins Freie hinaus.

Da glaubte sich Göpfert von einem guten Einfall beglückt. Vielleicht war hier noch ein Rückzug möglich!

»Du«, sagte er, und zwang seine Stimme zur möglichsten Weichheit, »du, Anna, sei vernünftiger wie dei Vater und red 'm Gattl zu, daß er mi um Verzeihung bitt', nacher meld' i nix.«

Sie hob ihre blaue Schürze über ihr Gesicht, und Göpfert merkte, wie ihre Brust arbeitete.

Ein zärtliches Gefühl erfaßte ihn bei diesem Anblick. Er beugte sich ganz nahe zu ihr hin, so daß sie seinen Atem spüren konnte:

»No amal sag' ich's, Anna! Bring 'n Gattl 'rum, dann kann vielleicht überhaupt no manches andre a no guat wer'n.«

Jetzt wollte er nach ihren Händen fassen, aber sie schlug ihn mit geballter Faust heftig auf den Arm und stürzte eilends an ihm vorüber in das Zimmer ihres Vaters.

Nun gab es für Göpfert, der ihr grimmig nachblickte, kein Rückwärts mehr – er mußte handeln.

Eilig verließ er das Forsthaus und schritt die Anhöhe herab. Vorerst gings 'mal zu Kreittmayer.

 

Tiefer sland die Sonne. Durch das Dickicht des aufsteigenden Tannenwaldes brachen leuchtende Streifen und zeichneten sich mit phantastischen Umrissen auf Moos und Farnkraut. Käfer summten, Ameisen krabbelten in dem erdigen, nadelbedeckten Pfade herum, den Balder bedächtig Schritt für Schritt emporwanderte. Dürre Reiser und Ästchen knisterten unter den schweren Tritten des starken Mannes, der gleichmäßig weiter ging, einen Bergstock in der Linken, die Flinte und den verschlissenen Rucksack übergehängt.

Steiler wird der Weg, lichter der Wald; Felsblöcke wachsen klotzig aus dem dunkelgrünen Boden heraus und dazwischen streckt mächtiges Krummholz seine weitverzweigten Äste wie haschende Polypenarme nach allen Richtungen. Der Blick fängt an, sich zu weiten, und frischer weht die herbe Luft der Höhe.

Da und dort noch eine riesige, verwitterte Tanne mit siechem Leibe, mit klaffender Rinde und hinter ihr, von grauem Moos umsponnen, träumerische Lärchenstämme, deren herabhängendes, lichtgrünes Haar golden in der scheidenden Sonne glänzt.

Vor einer gewaltigen Fichte, die der Blitz mit klaffendem Hiebe entzwei gespalten hatte, hielt der Förster ein und trocknete sich die Stirne. Er war schon so dicht unter den grauen Felsen, die sich hier aus einem Labyrint von Schluchten und Türmen vor ihm aufbauten, daß er die zerissenen Gipfel nicht mehr erblicken konnte. Ein breiter Geröllstrom ergoß sich wie eine versteinerte Sintflut aus den Klüften herab in die treibende Vegetation, starr und tot, als wäre ihm mitten im Vernichtungswerke Einhalt geboten worden.

Gleichgültig legte Balder seine Büchse beiseite und setzte sich auf einen Baumstumpf. Weit über sein Ziel, den Wechsel des Hirsches, war er hinausgeraten. Schwere Gedanken hatten ihn immer höher hinaufgetrieben, und nun saß er da, den Kopf in die Hand gestützt, an der Grenze des steilen Hochwalds, der sich wie ein sanft verwobener Schleier vom lachenden Tal heraufzog.

Über dem kleinen Dorfe blitzt ein greller Schein in der Sonne. Balder sah genauer hin und erkannte das vergoldete Turmkreuz der Kirche. Dort hat man heute sein Weib begraben! Fester richtete er den Blick nach dem Friedhof und düstere Bilder traten da vor seine Seele.

Das vieljährige Leiden der Armen, das den Körper zerwühlte und wie ein finsteres Gespenst unsichtbar schleichend alles freie Atmen im Forsthause erdrückte – langsam verfolgte er's bis zur letzten Stunde, wo er die feuchte, wächserne Hand der Sterbenden umfaßte und in ihr gläsernes Auge sah. Nur dem Arzte hatte er Zutritt zu der Leidenden gewährt, vor geistlichem Troste, der die noch immer Hoffende bei der bloßen Ankündigung in namenlose Angst und Erregung versetzte, schloß er zum Entsetzen des Geistlichen und des gesamten Dorfes energisch den Riegel und keine Bitten, keine Drohungen vermochten ihn von diesem unbeugsamen Entschlusse abzubringen.

Als er aber aus dem Zimmer trat, in dem er Abschied von der Toten genommen hatte, als er sein stöhnendes Kind wegführte, da drängte sich alles gewaltsam Zurückgehaltene mit um so frecherer Begehrlichkeit an die Leiche. Bettelvolk ging ein und aus mit hängenden Rosenkränzen und ausgestreckten Händen, von den umliegenden Ortschaften rannten Menschen herbei, die man Jahre lang nicht mehr gesehen hatte, und spät abends in seiner Stube hörte der Förster die endlosen, monotonen Gebete, die vor der Toten abgeleiert wurden.

Kam dann Anna aufgelöst und laut weinend zu ihm, so schloß er sie fest in seine Arme und drückte dem finster danebenstehenden Lehrer die Rechte.

Armer Teufel!

Abgehetzt und müde war er einst in sein Haus gekommen, wo der halb Verzweifelte neuen Glauben zum Leben und in Annas erwachender Neigung einen Halt zu weiterem Ausharren fand. Unbekümmert um alles Kopfschütteln hatte der Förster seine Zustimmung zur Verlobung erteilt, aber den wenigen lichten Tagen folgten bald dunkle. Die Beförderung blieb aus, und der Lehrer, den erhöhte Spannkraft die Lasten seines Berufes ertragen ließ, wurde wieder unruhiger, seine Stellung zu dem Geistlichen, der dem Förster nicht gut gesinnt war, wurde immer schlechter, oftmals kam es sogar zu bösen Streitigkeiten, und wenn Gattl auch für manche bittere Erfahrung reichliche Entschädigung im Forsthause fand, so warfen doch solche Ereignisse düstere Schatten in das tägliche Beisammensein und in den immer länger sich hinziehenden Brautstand. Jetzt sollte endlich das gehoffte Ziel nahen, eine neue Eingabe an die Regierung wurde freundlich beantwortet, man wollte die Anstellung von einer weiteren Inspektion abhängig machen, die man täglich erwartete.

Ob's noch wird?

Der Förster seufzte und blickte auf den Weg hinab zwischen Forsthaus und Schule. So kurz! Und doch hatte ihn dies schmale Band eine Ewigkeit gedünkt, als er dort am Morgen hinter dem Sarge einherschritt, wobei der Lehrer nach einer klagenden Melodie das: Miserere – me – i – – De – us mit einem entstellten Gesichte sang.

Ob's noch wird?

Wie er ihn da und gleich darauf vor der offenen Grube gesehen hatte, in der schon zwei Kinder Balders seit Jahren ruhten, da wollte er's fast bezweifeln.

Arme Anna! Armer Teufel!

Zerrüttet, verfahren kam er ihm vor; vielleicht war's schon zu spät. An ihn und an sein Kind hatte er einzig denken müssen, als man den Sarg hinabließ und mit kreischendem Gebete das Grab umringte.

Seltsam, daß er dabei kaum die Tote vor sich sah! Was man da unter umständlichen Zeremonien und fremden Sprüchen mit Weihrauch und geheiligtem Wasser der Stätte der Verwesung übergab, das war für ihn etwas Fremdes und gänzlich Erstorbenes. Das Bild seiner Frau stand wo anders, nicht in der spitzfindigen Leichenrede des Geistlichen, nicht in dem Gedanken einer verklärten Seligkeit und einstigen Wiedervereinigung: es war im Forsthause, wohin er die frische Toni mit den fröhlichen, blauen Augen einst als sein Weib geführt hatte, wo sie ihm die Kinder geboren hatte, wo ihr beglückendes Lachen das ganze Haus erfüllte, bis es allmählich unter den quälenden Leiden erstarb, während die Blicke der Kranken ängstlich um Hilfe spähten und die abgemagerten Hände nach den Verlobten tasteten, deren Zukunft ihre letzte Sorge war.

Erlöst!

Fast freudig kam es jetzt halblaut von Balders Lippen. Er hob den Kopf und blickte hinaus in die strahlende Landschaft. Kein Dunstwölkchen zog über das reine, tiefblaue Firmament. Die Sonne stieg langsam herab zu den grünen Vorbergen und warf einen gewaltigen Feuerstrom zur Höhe hinauf. In weicheren Farben schimmern die Steinmassen, alle Starrheit ist von ihnen gewichen, und tief in den Klüften und Rissen der Felsen tönt es manchmal von losgehenden, zur Tiefe stürzenden Trümmern geheimnisvoll in die majestätische Ruhe des Abends herein.

Wie schwerer, dunkler Samt liegt der Hochwald zu Füßen des Försters gebreitet; in scharfen Biegungen zieht er sich den Steilwänden der weitgestreckten Bergkette entlang bis zu den äußersten, zackigen Riffen, die als trotziger Grenzwall wie lodernde Scheiterhaufen aus dem Glutstrom der Sonne emporwachsen.

Das war Balders Revier, das war sein Wald! Wie er ihn jetzt in der ganzen Ausdehnung liegen sah, da dachte er daran, wie oft und mit wie verschiedenen Gefühlen und Stimmungen er ihn durchwandert, was er ihm schon alles anvertraut hatte, diesem liebsten Freunde, der ihn stets gastlich aufnahm, ernst und schweigsam, teilnahmsvoll an Freud und Leid, das der Förster ins tief Innerste hineintrug, wo größte Stille oder gedämpftes Rauschen eine so gewaltige Sprache redeten: die Sprache der Natur und der Wahrheit.

Sie war dem starken, verschlossenen Manne der beste Trost, sie war ihm unentbehrlich geworden, denn durch sie hatte er schon in jungen Jahren die Zweifelsqualen einer kirchlich fanatischen Erziehung überwunden, sie hatte ihn beruhigt, wenn ihn die Menschheit mit alltäglichen Erbärmlichkeiten ins Waldesdunkel hineintrieb, und sie war es auch gewesen, die ihn für die Heimkehr und für den Abend im Forsthaus wieder aufrichtete, wenn er sein krankes Weib jammernd auf dem Schmerzenslager vorfand.

In allen Tönen hatte er sie vernommen, diese Sprache, im zartesten Frühling, wenn von der gebärenden Erde der warme Hauch erwachenden Lebens ausging und der schmelzende Schnee dampfend vom Boden stieg, im Gewittersturm, wenn blaßblaue Blitze auf den Höhen flammten und die Bäume ächzend ihre Wipfel bogen, in kühlen Herbsttagen, wenn goldumränderte Nebelsireifen über den dunkeln Tannen dahinkrochen, aber auch im Winter, wenn der festgefrorene Schnee bis zu den Zweigen der Stämme emporreichte und die dürren Nadeln auf die glitzernde Fläche wie feiner Sprühregen herunterprasselten.

Auch jetzt glaubte er sie wieder zu hören, wo er den Wald in der anbrechenden Dämmerung wie einen auf und nieder gehenden Schatten zwischen die Berge gezwängt sah. Der Friede des scheidenden Tages überkam ihn, und die Gewißheit, daß der feurige, rote Klumpen, der jetzt immer tiefer hinabsank, morgen wieder als strahlendes Licht im Osten emporkommen werde, ließ sein Kind vor ihm auftauchen als den jungen, verheißungsvollen Tag, der dem abgestorbenen folgen muß.

Anna stand vor ihm, wie er sie vor einigen Stunden im Forsthause verlassen hatte. Mit sanftem Griffe zog er des Mädchens Hand, die jetzt so oft das feuchte Tuch vor das liebe Gesicht hielt, herunter. Und da war es ihm, als sähe ihn sein Kind an mit so ernsthaften, frommen Augen, wie an jenem lichten Maientage, wo es, von der Mutter geleitet, zwischen den zartgrünen Birken zum Kirchlein hinüberging, eine mattgelbe Wachskerze mit großer Atlasschleife und ein rotsamtenes Gebetbuch in der Hand. Die aufgelösten, dunkelblonden Haare fielen über das weiße Mullkleidchen herab, und die Wangen waren leicht gerötet. So war sie zur ersten Kommunion gegangen. Und wie sie an jenem Tage einherschritt, ein Bild rührender Unschuld, so erwuchs sie auch mit tiefer Gläubigkeit an den, den sie damals zum erstenmal empfangen sollte.

Niemals fragte sie, warum ihr Vater keine Kirche besuche, aber um so eifriger betete sie für ihn.

Als sie einmal von der Beichte sehr ernst und gedrückt heimgekehrt war, nahm sie der Förster bei der Hand und sah ihr fragend ins Auge. Unaufrichtigkeit war ihr fremd. Sie fing zu weinen an und barg sich an die Brust des Vaters, der ihr freundlich die Haare strich. Da sah sie auf und lächelte zu ihm empor. Er aber küßte sie lang und innig ...

Leise zuckte der Förster zusammen. Er rieb sich die Augen und blickte zu den Felsen. Grau und leblos ragten sie empor, ein letzter, verschwimmender Schein vibrierte noch um ihre Häupter, aber in dem breiten Schuttfeld hinter den Lärchen, lagen die Riesenwürfel und Klötze wie von Spinnen umzogene Trümmer eines zerstörten Weltenbaus. Unten im Tale huschten violette Schatten und finster wie eine Sarghülle ruhte der Wald.

Balder erhob sich und ergriff seine Büchse. Dabei blickte er nach Norden zum Eingang des Tals, wo ihm ein Lichterschein entgegenfunkelte. Dort lag der Bezirkssitz Mariakirchen, sein Geburtsort. Die Lokomotive hatte sich bereits in den einstmals so stillen Flecken gebohrt, der ein lärmender Tummelplatz für Sommerfrischler geworden war.

Ein letzter Rundblick noch – und der Förster schritt bedächtig zum Wald hinab, wo er in dem tiefen Dunkel dahinwanderte. Jede Biegung des Weges beachtete er, jeder Baumwurzel wich er mechanisch aus: so gut kannte er den Weg durch die ungeheuren Irrgänge der Stämme und Gebüsche. Unter dem mächtigen Dache der Baumkronen wogte noch die harzgeschwängerte, heiße Luft des Mittags. Alles Leben war in der unendlichen Öde der Nacht verloren gegangen und nur selten blitzte durch eine schwache Lichtung der schützenden Decke ein heller Stern in die gähnende Finsternis des schweigenden Waldes.

Endlich schimmerten Lichter vom Dorfe herauf. Eine Hochwiese netzte mit taufeuchtem Grase die Schuhe des Försters und führte ihn rasch ins Dorf hinab, wo er an dunkeln Gehöften vorüber wanderte, achtlos der Menschen, die dort pfeifenschmauchend am Eingang saßen und sich bei seinem Anblick heimlich anstießen.

Als er sich zum Forsthause wandte, holte ihn ein barfüßiger Knabe ein, der hastig hinter ihm hergelaufen war.

»Hansl!«

»Gut'n Abend, Herr Förster.«

»Wo gehst hin?«

»I muaß ins Forsthaus und soll'n Herrn Lehrer hol'n zum Herrn Benefiziaten.«

»Was gibt's denn?«

»I woaß net, der Herr Benefiziat hat bloß g'sagt, daß der Lehrer glei kommen soll.«

Sie gelangten in den finsteren Flur, wo Balder seine Büchse aufhing und langsam in sein Zimmer trat.

»Gattl!« rief er unsicher in das Dunkel hinein.

»Grüaß Gott, Vater,« tönte es von der Ecke.

Zwei schwarze Gestalten kamen auf den Eintretenden zu. Der Förster küßte seine Tochter, deren nasse Wangen ihm zeigten, daß wieder Tränen geflossen waren. Dann suchte er des Lehrers Hand:

»Du sollst ins Pfarrhaus 'nüber!«

»Jetzt?«

»Ja, glei, der Poiten Hansl steht draußen.«

Der Lehrer holte seinen Hut, während Balder Licht schlug. In der baumelnden Hängelampe erfüllte es mit trübem Schimmer den dämmerigen Raum.

»Ach Gott! Es wird doch net der Göpfert ..?« sagte Anna mit ängstlichem Blicke auf Gattl.

»Hansl, komm her«, rief der Lehrer.

Der Junge trat ein und sah sich mit seinen lebhaften Augen in der Stube um. Er war seit zwei Jahren Ministrant, versah aber diesen Dienst nicht immer zur Zufriedenheit des Geistlichen, der ihn oft als zerstreuten, unaufmerksamen Burschen zurechtwies. In der Schule dagegen zeigte Hansl eine Gewandtheit und Lernbegierde, die ihn zum Lieblingsschüler des Lehrers gemacht hatten.

»Is was los?« fragte ihn jetzt Gattl.

»I woaß net. G'sagt hat er nix, aber ...«

»Aber?«

»Der Herr Förster Göpfert un der Wirt, de war'n drob'n im Pfarrhaus ...«

»Also deswegen!« lachte höhnisch der Lehrer.

Anna sah furchtsam bald auf ihn, bald auf ihren Vater.

»Geh' halt amal zu,« sagte dieser und geleitete ihn zur Türe. »I bleib' auf, bis d' wieder kommst, Gattl, und jetzt kalt Blut!«

»Gut Nacht, Vater.«

Damit verschwanden der Lehrer und Hansl aus der Stube.

Balder aber setzte sich auf das Sopha und zog Anna zu sich. Er streckte den Arm aus und umfing sie schweigend, während das Mädchen das Haupt fest an seine Brust vergrub. Mit herabgeneigtem Kopfe lauschte er ihren Atemzügen, die erst hastig auf- und niedergingen, bis sie, allmählich sanfter und langsamer, dem Vater zeigten, daß die vor Erregung und Kummer Erschöpfte leise eingeschlummert war.

Gleichmäßig ging der Perpendickel der Uhr, manchmal schrie der Kuckuck heraus, aber nichts mehr störte die Schlafende an der Seite des Försters. Er zog sie fester an sich, als wollte er sein Kind beschützen, das jetzt sein Alles auf der Welt war. Doppelt empfand er dies in der breiten Ruhe der Nacht, die ihm gar deutlich zeigte, was man heute, wo keine Gebete mehr durch das Sterbehaus hallten, auf immer hinweggetragen hatte. Ein Gefühl schwerster Bitterkeit zuckte durch sein Herz. Noch tiefer senkte er den Kopf herab und weinte die Tränen, die der Förster von Wallberg beim Begräbnis so ungern an ihm vermißt hatte.

 

Als Gattl in die Erdgeschoßstube des Pfarrhauses eintrat, traf er den Benefiziaten in dem gut erhellten, freundlichen Raume spazieren gehend.

In der Mitte des Zimmers stand ein weißgedeckter Tisch. Eine grünbeschirmte Studierlampe brannte darauf. Neben ihr befand sich ein gefülltes Glas mit abgeschäumtem Bier. Ein blanker Teller mit gerollter Serviette, über die Messer und Gabel gekreuzt waren und eine kleine Schüssel mit kalten Speisen standen daneben.

Der Priester drehte sich nach dem Eintretenden um und erwiderte seinen Gruß durch leichtes Kopfnicken, Während er die Hände auf dem Rücken zusammenhielt.

»Sie kommen so spät? Ihr Essen steht schon seit zwei Stunden da.«

Es klang gerade nicht unfreundlich, wie er das gesagt hatte.

»Ich war im Forsthaus, Herr Benefiziat.«

»So?« sagte der Geistliche und nahm seine Wanderung längs der gelbgetünchten Zimmerwand wieder auf, wo in schwarzpoliertem Rahmen ein großer Kupferstich hing, der den Papst Pius IX. darstellte.

»Sie essen ja gar nicht?« fuhr er fort, als er den Lehrer unbeweglich am Tische sitzen sah.

»Ich kann heut' nicht essen, mir steht der Sinn net darnach.«

»Nun gut, dann kann ich gleich mit Ihnen darüber sprechen, weshalb ich Sie kommen ließ.«

Gattl sah rasch auf und suchte das Gesicht des Geistlichen.

»Der Förster Göpfert war bei mir. Sie können sich denken, warum. Sie haben ihn im Gasthaus öffentlich beleidigt.«

»Weil er den Anlaß dazu 'geben hat.«

»Man behauptet das Gegenteil.«

Gattl zuckte die Achseln.

»Außerdem haben Sie, wie mir der Förster erzählte, das ganze Beamtentum in gröblicher Weise beschimpft und ...«

»Das ist net wahr, das lügt der Göpfert!«

»– Und haben obendrein, was die Hauptsache ist, im Wirtshaus irreligiöse Äußerungen getan.«

Der Ton der Rede war ein scharfer geworden, es sprach der Vorgesetzte zum Untergebenen.

Mühsam bezwang sich der Lehrer:

»Das behauptet all's der Göpfert?«

»Nicht er allein, auch der Wirt bestätigt es.«

»Und was soll ich g'sagt hab'n?«

Näher trat der Priester in den Lichtkreis der Lampe. Seine dunkeln Augen blickten strenge aus den Gläsern hervor und das kahle Gesicht des jugendlichen Mannes, das tiefe Falten von den Mundwinkeln über das glattrasierte Kinn hinabzog, hatte jetzt den Ausdruck völliger Unbeugsamkeit.

»Sie haben sich über den heiligen Stand lustig gemacht, haben verächtlich über die Kirche und über die Seligkeit gesprochen ... Lassen Sie mich nur ausreden! Ich weiß schon, was Sie sagen wollen – und weil Sie solche Gotteslästerungen begangen haben, erkläre ich Ihnen, als Ihr Lokalschulinspektor, daß ich so etwas in meinem Benefizium nimmermehr dulde und deshalb entsprechende Maßnahmen treffen werde.«

Ohne Übereilung hatte der Geistliche gesprochen, keine Gestikulationen begleiteten die Worte, die er unter besonderer Betonung einiger Endsilben mit der Zungenspitze förmlich herauswarf. Dadurch bekam die Sprache etwas abgehackt Pedantisches, was durch die schneidende, scharfe Stimme noch erhöht wurde.

Der Lehrer sah aufgeregt in das Gesicht des zornigen Mannes, das sich beim Sprechen nicht im geringsten verändert hatte, als ob es gar nicht zur Sache gehörte.

»Was soll ich Ihnen darauf antworten, Hochwürden?«

»Sie sollen mir sagen, wie Sie dazu kommen, solche Reden zu führen?«

Jetzt erhob sich der Lehrer. Fast um Haupteslänge überragte er des Priesters gedrungene Gestalt. Klein und unscheinbar, aber trotzig und sicher stand der Geistliche, mit jeder Faser in die Kirche verflochten, die er gegen alle Beleidigung zu schützen verpflichtet war.

Noch einmal bezwang sich Gattl:

»Ich kann Ihnen nur antworten, Hochwürden, daß ich weder das Beamtentum noch die Kirche verletzt hab'.«

»Dann erklären Sie rundweg die Äußerungen von zwei unbescholtenen Männern für Lügen.«

»Wenn diese beiden unbescholtenen Ehrenmänner so schwindeln, ganz gewiß!«

»Es steht Ihnen übel an, in solchem Ton über Leute zu reden, die keinen Grund gehabt hätten, Sie ohne genügende Ursache bei mir anzuzeigen! Auch schaffen Sie mit so leichtfertigen Beschimpfungen nicht die Tatsache aus der Welt, daß Sie eben doch das geäußert haben, was die beiden erzählten.«

»Sie glauben also ohne weiteres diesen Menschen, ohne mich ihnen gegenüberzustellen?«

»Nach Ihrem ganzen seitherigen Verhalten bin ich hierzu berechtigt. Sie stecken den ganzen Tag im Forsthaus, wo keine Gottesfurcht, keine Achtung vor dem geistlichen Stande herrscht, Sie vernachlässigen Ihren Dienst – unterbrechen Sie mich nicht wieder! Soll ich Ihnen Beispiele, wie den schlechten Kirchengesang und Ihre Unaufmerksamkeit, vorhalten?«

»Und meine Schul', meine Schul'?« schrie jetzt wütend der Lehrer.

»Mäßigen Sie sich, wenn Sie mit mir reden!«

»Sie können mir nix über meine Schul' sagen«, betonte Gattl noch heftiger.

»Über Ihre Schule? Seit wann ist das Ihre Schule? Kaben Sie ein Recht, so zu reden? Die Schule geht mich an, das heißt die Kirche. Ich bin Ihr Vorgesetzter und habe zuerst zu urteilen, was sich über die Schule sagen läßt.«

Gattl dachte an Anna, er dachte an seine Zukunft und schluckte gewaltsam hinunter, was er schon auf den Lippen hatte.

»Ich wiederhole es«, fuhr der Priester fort, »Ihre Pflichterfüllung läßt in allem zu wünschen übrig, und wenn Sie so fortfahren, durch Ihren Verkehr im Forsthaus Ihren Dienst zu versäumen, dann werde ich Ihnen verbieten, jemals wieder dorthin zu gehen.«

»Das können Sie nicht«, sagte Gattl bestimmt.

»Machen Sie mich nicht auf das aufmerksam, was ich kann oder nicht kann. Die Folgen Ihres dortigen Verkehrs treten deutlich zu Tage an solchen Vorfällen, wie sie sich heute im Wirtshaus abgespielt haben.«

»Ich sag' Ihnen nochmal: man hat Sie belogen! Es war ein Streit, der ...«

»Sparen Sie sich Ihre Erklärungen und gehen Sie jetzt zu Bett, es ist spät genug. Für heute sage ich Ihnen nur noch folgendes: Wegen Ihres unpassenden Benehmens gegen den Herrn Förster Göpsert erteile ich Ihnen hiermit einen Verweis, und was Ihre Worte über die Kirche betrifft, so wird Ihnen darüber eine andere Instanz Bescheid geben. Gute Nacht!«

Eiskalt durchlief es den Lehrer. Wenn diese Drohung verwirklicht würde, so konnten Folgen eintreten, die er sich kaum auszudenken wagte, und es gab abermals zertrümmerte Hoffnungen auf wer weiß wie lange. Der Geistliche pflegte mit solchen Worten auch nicht zu spähen und Gattl, der wie ein Träumender aus dem Zimmer taumelte und zur Treppe steuerte, zweifelte keinen Augenblick, daß diese Ankündigungen baldigst ausgeführt würden. Er ging in furchtbarer Erregung zu seiner Stube.

Gebückt trat er ein und zündete eine Kerze an. Dann sah er stier um sich. Ein Bett, ein Schrank, ein Stuhl und ein Tisch mit einigen Büchem, das war die ganze Einrichtung. An der kahlen Wand hing in geschnitztem Holzrahmen eine kleine Photographie Annas neben mehreren Heiligenbildern.

Lange stand der Lehrer in finsterem Brüten auf gleicher Stelle. Er hörte den Geistlichen die morsche Stiege heraufkommen und zu Bette gehen. Unwillkürlich machte er dabei einen Schritt näher an das Fenster. Dann zogen unten im Dorfe betrunkene Burschen mit lautem Gejohle durch die Straße, langsam verloren sie sich in der Ferne. Wieder regte sich's nirgends im ganzen Hause und im grabesstillen Zimmer, das den Träumenden wie ein enger Sarg umschloß.

Plötzlich aber riß es den Lehrer aus seiner Betäubung empor. Er fuhr sich über die Augen, blies das Licht aus und drehte sich mit einem Satze zur Türe. Mit lautem Gepolter sprang er über die knarrende Treppe zum Vorplatz hinab und eilte durch das Haustor, das er eilig wieder verschloß, in die Nacht hinaus.

Hastig stürmte er an der Friedhofsmauer hinab. Die schiefstehenden Grabkreuze im matten Lichte der Mondsichel wuchsen wie sturmbewegtes Schilf daraus hervor. Vom Kirchturm hämmerte die Uhr zehn schwerfällige Schläge, die das alte Gebäude ganz rebellisch machten. Im Gebälk ächzte und stöhnte es unter dem aufschlagenden Klöppel, Staub und Mörtelstückchen lösten sich knisternd von den Wänden. Als Gattl unten im Dorfe ging, verklang der letzte Schlag mit zuckenden Tonwellen in der reinen Luft.

Zum Forsthaus zurück eilte der Lehrer. Eine fieberhafte Erregung hatte ihn gepackt. Was er heute erleben mußte, das wollte er hinausschreien in alle Welt als grausames Unrecht, das man ihm zugefügt hatte. War er bis jetzt überall der Gemaßregelte und Unterdrückte gewesen, diesmal wollte er's darauf ankommen lassen und trotzig die Stirne bieten. Er wollte nicht länger die Duldsamkeit des geprügelten Hundes zur Schau tragen, er wollte losschlagen mit aller Gewalt. Wie und wann, das sollte ihm der Förster raten, den er jetzt aufsuchte.

Als er aber vor dem erleuchteten Fenster einhielt und, hinter Rebenblättern versteckt, die schlummernde Anna im Arm ihres Vaters gewahrte, da gewann er's nicht über sich, die beiden zu stören. Er betrachtete mit bitteren Gefühlen dies Bild häuslichen Friedens und ballte wütend die Fäuste gegen das Pfarrhaus. Dann schlich er um die Försterei und wanderte ziellos über die Hochwiese hinan. Wuchtig bauten sich vor ihm die Felswände auf, die im letzten Schimmer der verschwindenden Mondsichel gespenstig beleuchtet waren. Gattl wäre am liebsten tief in die Klüfte auf dem schmalen Jagdsteig hineingewandert, aber ein frischer Luftzug wehte vom Tale herauf und trug am Ohre des Wanderers ein Geräusch vorbei, das ihn wie ein Ruf vom Leben berührte. Musik und lautes Gelächter rauschten seltsam vermengt für einen Augenblick aus der Tiefe empor.

Eilig floh das Geräusch in die gewaltige Schlucht hinein, die sich als schwarzer Rachen zwischen zwei klotzige Berge gesprengt hatte. Dort verschwand es in dem dumpfen Brausen des gewaltigen Sturzbaches, des Gaifs, wie man ihn in der Gegend nannte.

Betreten blickte der Lehrer zurück. Er hatte erst etwas Gleichmut beim Hinaufwandern gefunden, als er diese starre Gebirgswelt vor sich sah, die nichts von der Niedertracht der unter ihm liegenden Menschheit wußte, jetzt aber rissen ihn diese sonderbaren Laute, die so geheimnisvoll an ihm vorbeigezogen waren, wieder gewaltsam ins Tal seiner Sorgen hinab.

Er sah das Wirtshaus erleuchtet. Von dort war also der Lärm gekommen, man tanzte und sang noch. Wie? Wenn er jetzt hinunterginge und einige der Bauern aufsuchte, die Zeugen des heutigen Vorfalls gewesen waren. Das wäre kein übler Gedanke! Gattl erwog ihn nach allen Seiten, während er seine Augen fest auf das Licht in die Tiefe heftete. Endlich aber kam er nach langem Grübeln zu einem Entschlusse und jagte von dem Eingang der brausenden Schlucht hinweg, eilig den Weg hinunter, den er gekommen war.

 

In der Gaststube des Wirtshauses ging es lustig zu. Graue Staubwolken flogen zu den schmutzigen Zylindern der Petroleumlampen hinauf und unter ihnen bewegte sich ein dunkler Knäuel tanzender Paare beim Klange zweier Zithern juchzend und brüllend durch den vollgepfropften Raum. An den breiten Wandbänken, den geöffneten Fenstern entlang, saßen ältere Bauern in festtäglichen Kleidern und unterhielten sich. Einige rauchten Pfeifen, die anderen hielten abgeschnullte, zersetzte Zigarrenstummel, die längst keinen Dampf mehr gaben, zwischen den Fingern und redeten dabei zu den Nachbarn hinüber, wieder andere saßen da, die Hände in den Hosentaschen und blickten teilnamslos an allem in die Tanzenden hinein oder zum Ecktisch hinüber, wo der Förster Göpfert mit den Wirtsleuten am selben Platze weilte, den er schon am Morgen eingenommen hatte.

Auf seiner Stirne waren mittlerweile rote Flecken hervorgetreten und die verschwommenen Augen sahen wie verglast drein. Trotzdem hielt er sich noch recht gut aufrecht und interessierte sich für alles, was in der Stube vorging.

Ein junges Mädchen, das am Ofen neben einem alten Bauern saß und eifrig auf die Notenblätter der Zitherspieler herabblickte, schien ihn besonders zu fesseln. Schon lange hatte er hinübergeblickt und jetzt fragte er den Wirt, wer die Kleine sei.

»Des is ja de Poiten Kathi, Herr Förster.«

»Warum tanzt denn de net?«

»Ja, die geht halt noch in die Christenlehr'. S' is ja erst siebzehn Jahr.«

»De is dem Poiten sei oanzigs Kind, net?«

»Ja, mei«, brummte verlegen der Wirt, »wie man's halt nimmt, Herr Förster, der Poiten hat ja den Hansl a no von der Gerhammer Mari, die später nach Wallberg g'heiratet hat.«

»So? Hat er den Buab'n b'halt'n?«

»Ja freili! Den hat er nach dem Tod von seiner Frau glei ins Haus g'nommen. Denn der gilt alles, aus dem soll ja amal noch etwas B'sonderes werden, meint er, der Poiten.«

»O, Jessas!« rief der Förster verächtlich.

Der Wirt stimmte ihm bei:

»Des hat nämlich dem Poiten der Lehrer in den Kopf g'setzt, der möcht' ihn alleweil 'rumbringen, daß er den Buab'n – ja man muß lachen – 'n Maler werden lassen soll.«

Göpfert lachte unbändig und schlug auf den Tisch:

»Ha, ha! 'n Maler, 'n Maler! So an Bauernbuab'n? Hat ma scho so was Dummes g'hört auf der Welt? Der Lehrer macht enk ja no das ganze Dorf verrückt. Seid's froh, wenn er bald 'nausg'schmissen werd'.«

»Ja, 's is schon so,« kicherte der Wirt, der zutraulicher geworden war.

»Und der alte Esel, der Poiten, glaubt an den Schwindel, den eahm der Lehrer vormacht?«

Nun mischte sich die Wirtin ins Gespräch:

»Man möcht 's fast meinen, Herr Förster«, sagte sie und rückte näher heran, »der Poiten ist eben unser reichster Bauer. Er hat sechz'g Stück Vieh, drei Almen.«

»Zwoa Häuser,« nickte der Wirt. –

»No und da könnt' er sich scho was erlauben und den Buab'n in d' Stadt 'neischicken, weil er so wie so 'm Herrn Benefiziaten sei'm Rat net folgen will.«

»Was möcht' denn der Herr Benefiziat?« fragte der Förster neugierig.

Der Wirt faßte seine Frau, weil sie schon wieder reden wollte, beim Arm und sagte mit gedämpfter Stimme und mit jenem weichen Tonfall, den er stets annahm, wenn er vom Pfarrhause sprach:

»Der Herr Benefiziat hat aus dem Buab'n 'n Geistlichen machen wollen, damit die schwere Sünd' von der unehelichen Geburt wieder einigermaßen gut g'macht wird, aber der Poiten is gar a trotziger Mensch, der 's überhaupt, leider Gottes, mit unserer Religion gar nicht genau nimmt, und hat erklärt, daß er sich auf so 'was net einlaßt. Jetzt bitt' ich Sie, Herr Förster!«

»Aber auf de Flunkereien von dem Lehrer, da laßt er sich scho ein, ha?« betonte Göpfert gewichtig.

»Ja, des is ja, des is ja!« jammerten Wirt und Wirtin im Chore.

Göpfert nahm einen großen Schluck und widmete wieder seine Aufmerksamkeit der Kleinen. Sie hatte die Arme überschlagen und saß noch immer an der Kachelwand, wo sie aufmerksam das Zitherspiel verfolgte. Unbefangen sah sie d'rein mit übermütigen Augen, die das volle, runde Gesicht angenehm belebten und ihm mit der kleinen, kecken Stumpfnase etwas Schnippisches gaben. Die üppigen Brüste und kräftigen Hüften der Frühentwickelten verrieten derbe Gesundheit und fügten sich widerwillig in die beengende Gebirgstracht, in das schwarzsamtene Mieder und den steifen, braunen Rock. Ein weißseidenes Tuch, mit lilafarbenen Blumen besetzt, schlang sich um den Hals und die Büste.

Verstohlen betrachtete die Wirtin den Förster. Er ließ seine Blicke mit offenkundigem Behagen auf dem drallen Mädel ruhen.

»Sie is net üb'l, de Kathi, net wahr, Herr Förster?«

Göpfert lachte roh:

»O na, de gab a ganz guate Bettunterlag.«

Mit lautem Gewieher begleitete Frau Kreittmayer diesen gemeinen Witz, auch der Wirt lachte, aber gemessener und breiter, indem er listig mit den Augen zwinkerte und ein bischen die Zunge vorstreckte. Bald aber nahm er wieder seine würdige Miene an und sagte sehr wichtig:

»Es g'hört sich eigentlich net, Herr Förster, daß man so a jung's Ding bis in die späte Nacht ins Wirtshaus mitnimmt.«

Da wurde der Förster aber sehr patzig und grob:

»A, was! Dummheit! Möcht' wissen, warum net? Soll so a Madel am End' dahoam versauern?«

»O bewahre!« begütigte Herr Kreittmayer nicht wenig erschrocken, »i hab' ja bloß g'moant, weil der alte Poiten alleweil mit dem Eitzenberger beisammenhockt und mit dem verkommenen Lumpen, der ein ganz miserabler Sozialdemokrat is, oft gotteslästerliche Reden führt. Sehen S', Herr Förster«, fügte er bei und drehte sich um, »da hockt er scho wieder bei ihm!«

Es schien Göpfert sehr gleichgültig zu sein, welchen Verkehr der Poitenbauer pflegte, denn er gab dem Wirt keine Antwort und sah mit sonderbarem Ausdruck zu dem Mädchen hinüber. Er fragte so nebenbei in wegwerfendem Tone, wie viel Verehrer sie schon besitze, und als ihm entgegnet wurde, daß man noch von keinem gehört habe, da wurden des Försters Züge noch freundlicher.

Zur nicht geringen Freude der Wirtsleute verschob er den Aufbruch in sein Forsthaus, zu dem er drei Stunden zu gehen hatte, noch einmal und bestellte frisches Bier. Ein neuer Tanz begann, aber der Förster verließ seinen Posten nicht, von dem er unausgesetzt zu dem Mädchen hinüberschielte. Jetzt trat ein Bauer auf sie zu und redete mit ihr und dem Poiten. Eitzenberger, ein Mensch mit brennrotem Gesicht ohne jeden Bart, mengte sich neugierig in die Unterhaltung und stieß Poiten an. Dieser erhob sich und ging kopfschüttelnd zur Türe hinaus. Bald folgte ihm der andre, und nun glaubte Göpfert, daß ein passender Augenblick gekommen sei, das alleinsitzende Mädchen anzureden. Er schob sich hinter seinem Tische hervor und ging auf sie zu. –

Inzwischen war Poiten ins Freie gelangt.

»Ja, Herr Lehrer«, rief er, als er sich Gattl gegenüber sah, »der Straßner hat g'sagt, i soll glei 'rauskomma zu Eahna, Sie woll'n mi sprecha. Ja, was gibt's denn?«

Der Lehrer zog ihn am Arme vom Eingang hinweg und führte ihn in den stockfinsteren Wirtsgarten, wo er im entlegensten Winkel Platz nahm und Poiten an seine Seite drängte.

Jetzt kamen noch zwei Männer aus der Dunkelheit an den Tisch getappt, es waren Eitzenberger und der hagere Straßner.

Gattl holte Atem:

»I will enk net lang aufhalten«, sagte er, »damit 's net auffallt in der Stuben drin.«

»Was gibt's denn nur, Herr Lehrer?« fragte hastig der dickköpfige Eitzenberger.

»Nur langsam! Ihr wißt's, daß i heut' früh mit dem Göpfert 'n Spektakel g'habt hab'?«

»Natürli«, nickte Poiten, »wir war'n ja dabei.«

»Gut. Der Göpfert hat mi da d'rauf hin beim Benefiziaten verklagt.«

»Was? Verklagt?« fragte Poiten ganz entsetzt.

»Der Sauhund!« schrie Eitzenberger.

»I bitt' euch, redt's ruhiger«, mahnte Gattl und fuhr über die schweißbedeckte Stirne.

»Da hört si aber do all's auf«, brummte Poiten. »No, und was is nacha?«

»Paßt's auf. Der Herr Benefiziat will mi, soviel i vermut', weiter melden, damit i wieder net ang'stellt werd'. Und des all's, weil mir der Förster und der Wirt nachg'sagt hab'n, i hätt' gotteslästerliche Reden g'führt und das Beamtentum beleidigt. Jetzt frag' i euch? Habt's ihr g'hört, daß ich so was g'sagt hab'?«

»Warum net gar«, rief Poiten.

»A, was! Dumm's G'schwatz von so 'm schuftigen Wirt«, warf Eitzenberger ein. »Auf Gott g'schimpft! Was hoaßt denn des all's? A jeder kann reden was er mog. I glaub' überhaupts nix und so a herg'laufener Jaga soll si net um unsern Ort kümmern! Scho den ganzen Tag lackelt der Kerl da 'rum, und jetzt – da schaug her, Poiten, und bild' dir wos ein, jetzt steht er gar bei dein' Madel dort!«

Alle blickten durch den Garten in die Stube hinein, wo Göpfert neben Kathi am Ofen lehnte. Er hatte die linke Hand lässig in die Tasche gesteckt und plauderte lachend mit der Dirne, wobei er mit der Rechten zwischen zwei Fingern die Zigarre auf- und niederhob und behäbig dreinsah.

Poiten brummte etwas Unverständliches und wandte sich wieder zu dem Lehrer.

»Also, ihr könnt mir alle bezeugen, daß ihr nix g'hört habt?«

»Ja wohl, das können wir«, sagte Poiten sehr entschieden.

»Alle Tag', wann S' es wollen«, ergänzte Straßner, der wie ein Gespenst im Dunkeln aufragte.

»Herr Lehrer! Herr Lehrer! Passen's auf. I will Eahna was sag'n«, kam eifrig der hitzige Eitzenberger heran. »Wissen S', Herr Lehrer, bal i dem Benefiziaten was auswischen kann, da bin i am Platz, d'rum sag' i extra all's, was S' hab'n woll'n.«

»Ich verlang' von Ihnen bloß, daß Sie die einfache Wahrheit sag'n, falls ich Sie zu einer Vernehmung bei der Distriktsschulinspektion oder auf dem Bezirksamt brauchen sollt.«

»Wo 's is, das is mir ganz gleich. I sag' alle Leut' ins Gesicht, daß der Göpfert g'logen hat und bal's not tut, nacher sag' i a no ganz and're Gschichten und sag' dene Ochsen am Bezirksamt drob'n ganz kalt, daß i überhaupts so meine eig'ne Ansichten hab' über die hohe Obrigkeit und über die Kirch'.«

»Dazu brauch' ich Sie nicht«, sagte der Lehrer unwillig und schob den Angetrunkenen, der ihm schon förmlich auf dem Halse saß, energisch von sich.

»An euch zwei wend' ich mich noch einmal«, sprach er Poiten und Straßner an. »Ihr könnt mir d'Hand d'rauf geb'n, daß ihr nix von dem g'hört habt, wessen man mich anklagt?«

»Ja wohl, Herr Lehrer.«

Straßner reichte ihm langsam die Rechte hin.

»Natürli«, sagte Poiten, der eben nachdenklich in das Zimmer geblickt hatte, um Göpfert und Kathi zu beobachten. »Natürli«, wiederholte er. Seine Hand gab er aber nicht.

Um so eifriger streckte Eitzenberger die seine dem Lehrer entgegen:

»Da, da, Herr Lehrer, verlassen S' Eahna ganz auf mi, wenn am End der Poiten wieder net dabei g'wesen sein möcht. Bleib nur sitzen!« lachte er höhnisch, als der Gereizte auffahren wollte. »Bleib nur sitzen, hast's dem Schuften, dem Göpfert, wahrscheinli scho wieder vergessen, daß er uns Bauernluder, verfluchte, g'hoaßen hat? Ha? Woaßt 's nimma?«

»Kümma di net so viel! I woaß scho selba.«

»Also?«

»Ja, ja, des vergiß i a dem Lackl, dem hochmütigen, net.«

»Recht hast, Poiten«, bemerkte Straßner trocken.

»Wart nur, wir zahlen 's eahm heim, aber g'höri«, schrie Eitzenberger.

»Freili! Von so am Jaga laß i mi no net z'sammstell'n«, brummte Poiten wieder, »der moant er is mehra, wie unseroans. Ha, ha, nix da! Da, Herr Lehrer, hab'n S' mei Hand.«

Zufrieden erhob sich Gattl. Daß sich der Eitzenberger Seppl, den er nicht gerufen hatte, so sonderbar aufgedrängt hatte, war ihm zwar nicht sehr angenehm, denn dieser jähzornige, rohe Mensch stand nirgends gut angeschrieben, die beiden anderen dagegen waren die angesehensten Bauern vom Dorfe. Besonders auf Poiten, dessen Kindern der Lehrer stets die größte Beachtung beim Unterrichte geschenkt hatte, durfte er sicher rechnen, denn er stand vortrefflich mit ihm, und der Wirt hatte ganz recht, wenn er dem Förster sagte, daß Hansl alle Aussicht hatte, auf Gattls Rat bald in die Stadt zu kommen, um sein wirklich auffallendes Zeichentalent in einer richtigen Schule weiter zu erproben.

»Also gut, ich dank' euch, und wohlgemerkt: Vorerst ja nix drüber reden.«

Er wollte gehen, aber Straßner hielt ihn noch einmal zurück:

»Wann moanen S', Herr Lehrer, daß ma wieder was hört über de G'schicht?«

»Das kann i selbst no net sag'n, i muß morgen erst mit 'm Balder reden und das Weitere laß i enk noch wissen.«

»Is scho gut, Herr Lehrer«, lachte Eitzenberger, und stolperte mit Poiten und Straßner in die Gaststube zurück. –

Dort stand der Förster immer noch mit Kathi im eifrigen Gespräche, das er abbrach, als sich Poiten wieder auf seinem Platze niederließ.

»Du hast ja a saubers Madel«, sagte er und nickte dem Bauern zu.

Kathi lachte dumm und sah auf ihre Schürze herab.

»Hörst 's, Poiten, heut werst no globt a, weil'st dei Sach so guat g'macht hast«, schrie Eitzenberger und grinste dem Förster ins Gesicht.

Dieser tat, als hätte er nichts bemerkt und neigte sich zu dem Vater des Mädchens, der ärgerlich dreinsah. Er hielt Göpferts Worte für Sticheleien und griff verlegen in die ungekämmten Haare. Sein glattes Gesicht hatte dabei einen stupiden Ausdruck von Trotz und Unbeholfenheit.

»Du derfft's scho glauben, Poiten, de Kathi is wirkli gar net übel, es is mei voller Ernst«, lachte Göpfert.

Herr Kreittmayer trat an den Ofen:

»Sollst froh sein, Poiten, bal die Kathi 'm Herrn Förster g'fallt, des is ja a Ehr.«

»B'sonders bal ma 'n Vata von dem Madel a dummes Bauernluader g'hoaßen hat«, höhnte Eitzenberger.

»Geh, du! Mit deine frechen Redensarten«, sagte der Wirt.

Eitzenberger lachte wieder und holte seinen Krug unter der Bank hervor. Göpfert antwortete ihm nicht. Er rauchte ruhig weiter und hatte nur Augen für den alten Bauern und seine Tochter.

»I muaß jetzt endli hoam geh'n«, sagte er, »sonst hätt' i di eing'laden, du sollst di mit deim Madel zu mir 'rübersitzen, weil i mi alleweil freu, wenn i mit ehrenwerte Leut beinanda sitz.«

Poiten zog seine vorgestreckten Füße unter die Bank zurück und lüftete etwas seinen Hut. Kathi ergriff bescheiden die dargebotene Hand des Försters und wünschte ihm gute Heimkehr.

»Gut Nacht, Herr Förster«, »Gut Nacht«, »Gut Nacht«, tönte es in der ganzen Stube, die gleich darauf ein neuer Tanz durchwirbelte.

Eitzenberger stieß den Poiten in die Seite:

»Freu di, Kropfeter«, schrie er.

»A was! Laß mir mei Ruah!« sagte der Bauer. Eine Anspielung auf seinen enormen Satthals vernahm er ungern und er wandte sich deshalb ärgerlich nach der Türe. Dort stand Göpfert bei Kreittmayer. Er schrie noch einmal »Gute Nacht« in das Zimmer und ging vor das Haus, wo er in der frischen Nachtluft etwas zu wanken begann. Als er vom Dorfe in das weite Tal hinausschritt und in die Richtung seines Zieles einbog, sah er zurück und bemerkte oben im Forsthaus das Licht. Blitzschnell zog der vergangene Tag an ihm vorüber. Das Begräbnis, sein Streit, der dumme Lehrer fielen ihm ein, und als er sich diesen frechen Menschen vorstellte, wie er vom Benefiziaten gehörig abgekanzelt würde, da mußte er hellauf lachen. Da gibt's wieder Ärger genug im Forsthause, dachte er und freute sich diebisch über diese Gewißheit, denn er gönnte der eingebildeten Gesellschaft eine gehörige Demütigung.

»Werd'n scho no zahmer«, murmelt er giftig und wanderte weiter. Wie es da droben im Forsthaus ende, könnte man noch reichlich erleben, und daß Hochmut immer vor dem Fall kommt, das hatte man den Förster Göpfert schon in der Religionsstunde gelehrt. Er hatte sich diesen Spruch sehr gut eingeprägt und wollte ihn besonders auf die gnädige Prinzessin Anna, auf die zimperliche, flennende Person anwenden, die ihm jetzt ordentlich zuwider vorkam.

Dagegen war die frische Kathi halt doch was ganz anderes! Freilich eine Bauerntochter, aber ein sauberes Madel, diese Kathi! Hm, hm!

Äußerst unangenehm riß den Förster aus solchen Betrachtungen der jähe Sturz, den er, im Dunkeln dahintorkelnd, über einen kantigen Straßenstein tat. Breit war er hingeschlagen und mit ausgestreckten Vieren lag er auf der Erde.

Als er sich wieder emporrichtete und nach den schmerzenden Knieen griff, fluchte er wütend zum Himmel hinaus und schimpfte gotteslästerlich.

Erst nach und nach beruhigte er sich und dachte an den Heimweg. Langsam stellten sich auch wieder freundlichere Gedanken ein, Kathis runde Formen tauchten vor ihm auf und er murmelte, während er in die tiefe Nacht hinausschritt:

»A sauber's Madel, a bildsauber's Madel!«

 

Von der Bahnstation, wo ein langer Zug hielt und die Maschine dampfend verschnaufte, rollten aus der staubigen Straße die gefüllten Gasthofwagen nach Mariakirchen hinein. Schwerfällig polterten die buntangestrichenen Kasten mit den dürren Pferden zwischen den eleganten Villen und den Bauernhäusern des großen Marktes ihren Zielen zu. Hinter ihnen jagten Einspänner und vornehme Equipagen daher und ein Schwarm von Touristen zog durch die Straßen, wo in den aufgeputzten Läden allerlei Obst, Spezereien, Photographien und andere Waren für die Fremden feilgehalten wurden.

Das größte Getriebe entfaltete sich auf dem weiten Hauptplatze, der einen freien Ausblick auf tiefgrüne Waldberge bot. In seiner Mitte tronte eine frisch vergoldete Marienstatue zwischen schmiedeisernen Laternen mit roten Gläsern auf hohem Granitsockel. Alte Kastanienbäume säumten den Platz ein, der neben stattlichen, neuen Gebäuden auch ein wunderliches, altes Haus mit hohen Giebeln aufwies, das mit seiner Bauart an längst vergangene Zeiten gemahnte. Aus dem grauen Verputze sahen die kahlen Fenster, die von weißen Kalkstreifen umrändert waren, wie verliebte Augen einer alten Jungfer hervor und über der schweren eichenen Eingangstüre hing ein buntes Wappenschild, das die Überschrift trug:

Bezirksamt Mariakirchen.

Dem zopfigen Äußeren des sonderbaren Hauses entsprachen die inneren Räume. Im Erdgeschoß, wo sich die Amtslokalitäten befanden, führten von dem Vorplatz aus, der nur Licht bekam, wenn das Tor geöffnet wurde, drei niedere Türen nach verschiedenen Seiten und zu der ersten wies ein an die Wand gemalter schnurgerader Pfeil.

In dieser Stube saßen an breiten Tischen zwei Leute, ein Offiziant und ein Registrator, wie sie mit ihren offiziellen Titeln hießen. Beide tauchten eifrig die Federn in die großen, bleiernen Tintenfässer und schrieben.

Die Türe zum Nebenzimmer stand offen und von der blautapezierten Wand blickte das Bild des regierenden Landesherrn über ein freistehendes Pult in die Kanzlei heraus. An dem Pulte saß ein junger Mann, der in das Studium herumgestreuter Aktenstücke vertieft schien. Jetzt sah er auf, da die Wanduhr geschlagen hatte, und blickte zu den Schreibern.

»Grosch!« rief er kurz und befehlend.

Der Registrator, ein Mensch mit blassem, bartlosem Gesichte und stählerner Brille, erschien in dem Bureau.

»Herr Bezirksamtsassessor?«

»Bis elf Uhr sind die Leute bestellt?«

»Bis elf Uhr, Herr Bezirksamtsassessor, und zwar der Lehrer Gattl, der Herr Förster Göpfert, der ...«

»Ja, ja, ich weiß. Sollte auch der Herr Benefiziat Kleiser noch kommen, worum ich ihn gestern noch besonders gebeten habe, so führen Sie ihn gleich zu mir herein.«

»Jawohl, Herr Bezirksamtsassessor.«

»Und jetzt schließen Sie die Türe zu!«

Sobald der Assessor allein war, erhob er sich von dem bequemen Rohrstuhle und durchmaß die geräumige Stube. Hier herrschte sonst der Bezirksamtmann, dessen Vertretung er auf mehrere Tage übernommen hatte, da der Vorgesetzte in Urlaub war. Der junge Beamte schien es mit dieser Pflicht sehr genau und wichtig zu nehmen. Er ging in ernsten Gedanken herum und schlug sich mit einem Bleistift an die längliche Nase. Endlich blieb er zwischen den beiden Fenstern des Zimmers stehen und warf einen Blick in den dort angebrachten, ovalen Spiegel. Gemächlich drehte er die Ausläufer seines dunklen Schnurrbarts zur Höhe und schob den Hornkneifer näher an die grauen Augen.

Die blanke Quecksilberfläche gab den runden, kurzgeschorenen Schädel wieder. An den dicken Backen zog sich ein dünner Bart zum starken Kinn herab, den der Assessor zuspitzte. Dann warf er noch einen Blick auf den tadellosen Gehrock und auf das graue Beinkleid, das die kurzen Beine umschloß, und setzte seinen Bummel fort. Mehrmals zog er dabei ungeduldig den Chronometer aus der Tasche und verglich ihn mit der Bureauuhr. Nun stand er wieder an dem Schreibtisch, wo er ein blaues Aktenheft mit großer Überschrift hervorsuchte. Er blätterte eine Weile darin, legte es wieder säuberlich zusammen und ging zum Fenster, wo er die Straßenbummler betrachtete und verächtlich die Achseln zuckte.

Plötzlich kehrte er wieder zum Schreibtisch zurück, ergriff die blaue Mappe und streute einige weiße Bogen in loser Unordnung auf der Platte herum. Federhalter und Bleistift warf er quer darüber.

Lächelnd nahm er wieder seine Promenade auf, wobei er bald die eine, bald die andere Schulter vorschob, als wollte er seine gedrungene Figur etwas größer machen. Als der Zeiger der Uhr dreiviertel elf Uhr wies, läutete er mit einer Tischglocke zweimal scharf nacheinander.

Der Registrator kam herein und schloß hinter sich die Türe.

»Noch niemand da?« fragte der Assessor leise.

»Der Lehrer und die Bauern Straßner und Eitzenberger.«

»Schön.«

Grosch huschte lautlos hinaus. Bald nachher klopfte es bescheiden.

»Herrein«, rief der Assessor.

»Jetzt ist auch der Poiten mit dem Kreittmayer gekommen.«

Der Herr Assessor setzte sich an den Tisch und wühlte in den Akten.

»Ich habe noch zu tun, sollen nur warten.«

Er nahm die Feder und zeichnete Fratzen auf ein leeres Blättchen Papier, das er dann wieder zerriß und in den Papierkorb schleuderte. Trotzdem es inzwischen elf Uhr geschlagen hatte, ließ er noch zehn Minuten, die ihm selbst entsetzlich langweilig vorkamen, verstreichen, ehe er wieder zur Glocke griff. Diesmal befahl er, die Leute eintreten zu lassen.

Die Türe ging auf und Gattl trat zuerst in das Zimmer. Nach ihm kamen die Bauern stolpernd über die Schwelle und stellten sich verlegen vor den Tisch wo der Beamte, ohne aufzusehen, eifrig schrieb. Nur Kreittmayer machte ein linkisches Kompliment, dann sah er mit den anderen atemlos zu dem Pulte herab und nahm sich in acht, die feierliche Stille nicht zu unterbrechen.

Endlich warf der Beamte die Feder weg und überflog die Anwesenden, indem er sich weit in den Stuhl zurücklehnte.

»Sie sind der Hilfslehrer Gattl?« fragte er.

»Und ihr«, er nahm einen Zettel zur Hand und las die Namen ab. »Alle von der Gemeinde Oberkarbach?«

»Alle von Oberkarbach, Herr Bezirksamtsassessor«, sagte Kreittmayer für die anderen, die kein Lebenszeichen gaben.

»Sie sind wohl der Wirt Mathias Kreittmayer?«

»Zu dienen, Herr Bezirksamtsassessor, ich bin der Wirt vom weißen Roß.«

»Hm.« Der Assessor drehte die Spitze seines Vollbarts hervor und sagte mit eindringlicher Stimme zu den Versammelten:

»Das königliche Bezirksamt hat euch alle vorgeladen, weil ihr in einer Sache aussagen sollt, die von höchster Wichtigkeit ist. Wenn wir nun heute auch keine gerichtliche Vernehmung auf Eid, sondern nur ein einfaches Verhör zur Aufklärung gewisser Umstände haben, müßt ihr doch alle auf Pflicht und Gewissen die volle Wahrheit sagen, da ihr vielleicht später, wenn ein gerichtliches Nachspiel folgen sollte, jederzeit zum Eide herangezogen werden könntet und dort selbstredend nicht in Widerspruch mit euren heutigen Aussagen stehen dürft. Verstanden?«

Der Wirt nickte eifrig, die Bauern aber rührten sich nicht und glotzten im Zimmer herum.

Nun wendete sich der Assessor zum Lehrer;

»Also Sie haben geglaubt, sich über Ihren Lokalschulinspektor, den Kerrn Benefiziaten Kleiser, beschweren zu müssen?«

»Gewiß«, sagte Gattl und trat näher heran.

»Ehe ich nun ...« Der Assessor hielt im Sprechen ein und sprang auf, denn an der Türe erschien Göpfert mit dem Geistlichen. Lebhaft eilte ihnen der junge Mann entgegen und bot den Nachzüglern, die sich entschuldigten, die Hand. Dann zog er zwei Stühle zu seinem Tische heran und lud die beiden höflich ein, Platz zu nehmen.

Mit strengem Blicke drehte er sich dann wieder zu dem Lehrer:

»Ich fange also nochmals an. Der Hilfslehrer Gattl hat sich auf eine von dem Herrn Benefiziaten über ihn ergangene Beschwerde an das königliche Bezirksamt gewendet, und zwar mit der Bemerkung, daß er in der Lage sei, zu beweisen, die ihm zur Last gelegten, gotteslästernden Äußerungen gar nicht gemacht zu haben. Ehe nun das königliche Bezirksamt die Angelegenheit zur Entscheidung der königtichen Staatsregierung unterbreitet, soll recherchiert werden, wie sich die betreffenden Vorgänge abgespielt haben.«

Er machte eine Pause in der Rede, die er, wie auswendig gelernt, herunter sagte:

»Aus diesem Grunde sind Sie alle zur exakten Eruierung der effektiven Tatsachen vorgeladen und gebeten. Wir werden ja hören, was die vom Hilfslehrer Gattl vorgeschlagenen Zeugen auszusagen haben. Vorerst aber bitte ich den Herrn Förster Göpfert, den Hergang des eigentlichen Streites zu erzählen.«

Ungelenk erhob sich der Gerufene.

»Es ist leicht erzählt, Herr Bezirksamtsassessor. Der Herr Lehrer ist den selbigen Tag furchtbar aufg'regt ins Wirtshaus kommen und hat auf a ganz harmlose Bemerkung von mir 'n Skandal ang'fangt.«

»Wen betraf diese Bemerkung?«

»Mich und meine Verlobte, die Tochter vom Förster Balder«, warf der Lehrer ein.

»Ich habe Sie nicht gefragt«, fuhr ihn der Assessor an. »Bitte, Herr Förster.«

»Es war, wie g'sagt, ganz harmlos g'meint, aber der Herr Gattl is glei rabiat wor'n ..., er hat si absolut net beruhigt, so daß i eahm schließli g'sagt hab, daß i mir so was als königlicher Beamter verbitten müßt.«

Der Assessor machte eine beistimmende Bewegung zu dem Sprechenden.

»Ja,« lachte der Förster, »i bin aber schlecht g'fahr'n mit meiner Verteidigung, denn der Herr Lehrer hat g'moant, daß a königlicher Beamter und a königlichs Kamel alleweil 's Gleiche san.«

»So?« sagte der Assessor in tiefem Brustton und blickte ernst auf den Lehrer.

Göpfert lachte wieder:

»Ja, ja, des hat er scho g'sagt, und außerdem – i muß halt jetzt bei der Wahrheit bleib'n – hat er von seiner freien Überzeugung g'redt, von de verfluchten, schwarzen Brüder, und so weiter halt, bis 's mir gar zu dumm wor'n is. Da hab' i die Unterhaltung abbrochen und bin zum Herrn Benefiziaten 'nauf gangen, dem i die Sach verzählt hab', weil der Kreittmayer g'moant hat, daß solche Gotteslästerungen a Schand für's ganze Dorf wären. Mir tuat's leid, wie g'sagt, daß de G'schicht vorkemma is, denn i sag net gern gegen jemand aus, wenn er mi a no so beleidigt hat.«

Nun kam der Wirt an die Reihe, der sich jetzt berufen glaubte, eine wichtige Rolle zu spielen. Umständlich erzählte er den Hergang und setzte die irreligiösen Reden des Lehrers genauer auseinander, indem er einige passende Arabesken, die ihm zur Ausschmückung geeignet erschienen, in seine Rede einflocht.

»Haben Sie auch die den königlichen Beamtenstand so schwer verletzende Äußerung gehört?«

»Ja freili, freili«, sagte Kreittmayer und wollte noch einige Klagen über das trostlose Verhältnis zwischen dem Lehrer und dem Benefiziaten loslassen. Hier unterbrach ihn aber der Beamte und forderte den Lehrer auf, diesen Anschuldigungen zu erwidern.

Gattl tat es Punkt für Punkt. Er hatte zwar zu kämpfen, um sich zu beherrschen, weil ihn die schamlosen Lügen und Entstellungen stark erregten, gewann aber doch so viel Herrschaft über sich, daß er klar und deutlich reden konnte. Sein gereiztes Wesen am Tage des Streites gab er zu und begründete es mit der Beerdigung der Försterin, die anderen Anklagen aber wies er als nichtswürdige Verzerrungen seiner Worte zurück und berief sich auf seine Zeugen.

Während der Lehrer sprach, putzte der Assessor die Gläser des Kneifers und richtete seine Augen, die jetzt ganz matt und erloschen schienen, zu dem vor ihm stehenden, zitternden Manne empor. Er ließ ihn ausreden, ohne eine Zwischenfrage zu stellen, und winkte dann die Bauern herbei:

»Ihr wißt jetzt genau, um was es sich handelt. Nun sagen Sie mir einmal« – er deutete auf Poiten – »was können Sie über die Sache sagen?«

Poiten hob die Brust heraus und zupfte verlegen einige Filzfasern von seinem Hute herab:

»I moan halt, es werd net so g'fährli g'wen sein«, stotterte er.

Förster, Benefiziat und Assessor sahen sich erstaunt an.

»Was soll das heißen?« rief der Beamte, »reden Sie deutlicher und geben Sie Antwort auf meine Fragen. Haben Sie die Äußerungen des Hilfslehrers über die Geistlichkeit und über die Kirche gehört oder nicht?«

Noch stärker zerzauste der Bauer seinen Hut:

»Wissen S', Herr Assessor, es is halt scho zwölf Tag her ... so g'nau b'sinn' i mi a nimmer! G'stritten haben s' halt, der Lehrer und der Herr Förster ... und i moan, es hat a jeder sei Teil kriagt.«

»Sie müssen aber doch sagen können, ob von seiten des Lehrers Worte gefallen sind, die Ihr religiöses Gefühl verletzt haben?«

»Darf ich mir eine Bemerkung erlauben, Herr Assessor?« sagte der Benefiziat. »Dieser Mann hier ist leider einer jener Menschen in unserer Gemeinde, die ihre Pflichten gegen Gott in unverantwortlicher Weise vernachlässigen, darum wird er auf eine solche Frage nicht antworten können.«

»Ach so«, sagte der Assessor mit leichtem Stirnrunzeln und wandte sich nun wieder zu dem Bauern. Wörtlich wiederholte er ihm die Behauptungen des Wirtes. Poiten sollte ja oder nein sagen, ob er das im Wirtshause gehört habe.

Statt dessen kratzte sich der Bauer in den Haaren und sagte in gleichem Tone wie zuvor:

»I woaß nimma, es san halt scho zwölf Tag her.«

»Es ist gut«, schrie der Assessor wütend und nahm Straßner vor.

Hier war das Ergebnis noch schlechter. Der Zeuge brummte, man habe ihn holen lassen, damit er Aussagen machen solle, aber er wisse nichts, denn er hätte kaum zugehört, als sich der Lehrer und der Förster am Nebentische stritten.

Zuletzt kam Eitzenberger. Ihn nahm der Geistliche, der unbeweglich wie eine Wachsfigur auf seinem Stuhle saß, noch schärfer ins Auge als die zuerst Vernommenen. Auch der Assessor fixierte ihn mit strengen Blicken:

»Sie sind schon ein alter Bekannter des Bezirksamts und des Gerichts! Daß Sie mir unter allen Umständen bei der Wahrheit bleiben!«

Nach allen Seiten wiegte der Bauer seinen dicken Schädel und sah stumpfsinnig vor sich hin. Ein stechender Blick des Benefiziaten machte ihn noch verwirrter:

»I bin überhaupts so spät kommen«, begann er endlich, »daß i ..., daß ich gar nix mehr von dem Spektakel g'sehen hab ..., erst de andern hab'n mir nacher g'sagt, daß was zwischen 'm Lehrer und 'm Förster g'wesen is, aber i selber, i hab ...«

»Sie wissen also auch nichts?«

»Na, Herr Assessor.«

»Vielleicht wißt ihr auch alle drei nimmer, daß euch der Förster »Bauernluder, verfluchte« g'heißen hat,« rief der Lehrer, dem das Blut zu Kopfe stieg.

Die Bauern drehten sich gegenseitig ihre verdutzten Gesichter zu und sahen sich groß an.

»Ich mache Sie zum letztenmale aufmerksam, daß Sie ungefragt nichts zu reden haben,« fuhr der Assessor heraus. »Im übrigen gehörte eine solche Äußerung, wenn sie wirklich gefallen wäre, gar nicht zur Sache.«

»Wenn ich 'n Augenblick um's Wort bitten derft«, erhob sich der Förster. »I möcht' nämlich nur konstatieren,« fuhr er fort, als er die Zustimmung erhalten hatte, »daß meine Wort' ganz anders g'moant war'n und eigentli nur so 'n harmlos'n Scherz bedeut' hab'n. Der Kreittmayer werd's bezeugen. Es fallt mir net ein, an Bauern zu beleidigen, denn i halt sehr viel von dem Stand, weil i selber d'raus vorgangen bin. Darauf bin i stolz. Daß ma manch'smal an Witz macht, oder a weng rauh is, des is was anders, und übrigens« er hob die Stimme – »hab i so was ähnlich's a nur g'sagt, weil die Bauern im Wirtshaus alle g'lacht hab'n, als der Herr Lehrer de Beamten königliche Kameler g'hoaßen hat.«

»Das hat natürlich auch keiner von euch gehört?« fragte der Assessor vorwurfsvoll und schlug sich leicht auf den Oberschenkel.

»Ja. Des b'sinn i mi no«, stotterte Eitzenberger, »da bin i grad 'reinkomma in d' Gaststub'n.«

»So, so. Und ihr zwei andern?«

»I moan, des hätt' i a g'hört«, sagte Straßner.

Poiten hielt nach wie wie vor seinen Hut vor die Brust und murmelte:

»I woaß nimma, es san halt scho zwölf Tag her.«

Mit scharfer Wendung drehte sich der Assessor zu Gattl, der den Kopf herabhängen ließ und wie vernichtet in die Ecke starrte:

»Das sind also die Resultate Ihrer Gegenbeschwerde? Mit keinem Worte vermochten Sie die erhobenen Anklagen zu widerlegen und keiner Ihrer angeblichen Zeugen konnte zu Ihrer Entschuldigung das minbeste vorbringen! Ja, die Leute mußten sogar gegen Sie aussagen und die unerhörten Beleidigungen bestätigen, die Sie dem Beamtenstand in frivoler Weise ins Gesicht schleuderten. Was sagen Sie jetzt?«

»Nix, gar nix mehr, Herr Bezirksamtsassessor! Ich hab' heut g'sehen, daß ein Hilfslehrer im Leben und vor der hohen Gerechtigkeit verraten ist, und daß er nix ausrichten kann, wenn auch hundertmal das Recht auf seiner Seite steht. So ist's wenigstens bei uns im Land.«

Zornig sah ihn der Beamte an:

»Wie können Sie sich unterstehen, solche frivole Behauptungen aufzustellen? Wir leben in einem geordneten Staate, der jedem seiner Angehörigen sein Recht werden läßt. Weshalb sitzen wir denn also hier? Doch nur Ihretwegen und wegen Ihrer Beschwerde, der ich meine kostbare Zeit opfern muß! Ich möchte den Hilfslehrer sehen, dem nicht allemal sein Recht geworden wäre. So etwas mag in Ländern passieren, wo keine Zivilisation und keine geregelten Gesetze bestehen: bei uns ist's nicht so, Gott sei Dank!«

Diese mit stark erhobener Stimme und beigemischtem Pathos gesprochenen Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Der Benefiziat saß zwar noch regungslos wie zuvor und stützte beide Hände aus den Knopf seines Stockes, der Förster aber nickte ernst und gedankenerfüllt, was Kreittmayer, der es gesehen hatte, sofort nachmachte. Wie versteinert standen die Bauern an der geschlossenen Türe und blickten mit offenem Munde aus den Assessor. Der schien mit seinem Erfolge nicht unzufrieden. Er legte die Aktenstücke zusammen und trat lächelnd auf den Benefiziaten zu:

»Ich dächte, wir wären so weit fertig! Oder haben Hochwürden vielleicht noch irgend etwas zu bemerken?«

Der Angeredete erwiderte etwas, das die anderen nicht verstehen konnten.

»Brauchen Sie mich noch, Herr Assessor?« fragte der Lehrer, der zur Türe gegangen war, mit zitternder Stimme.

Flüchtig sah sich der Beamte um:

»Nein, Sie können für heute gehen, und mit euch bin ich ebenfalls fertig.«

Sein herablassender Wink hatte den Bauern gegolten. Die rührten sich aber nicht vom Flecke und sahen ratlos dem Lehrer nach, der wie ein Betrunkener hinausgewankt war. Der Förster erbarmte sich ihrer. Er verabschiedete sich leis und höflich von dem Assessor und dem Geistlichen, und trat zu den unbeholfenen Menschen. Diesen hatte sich inzwischen Herr Kreittmayer wieder zugesellt, der sich bei Beginn der Verhandlung in gewissem Abstand von ihnen gehalten hatte. Göpfert packte den Poiten beim Arm und schob ihn hinaus auf den Vorplatz, dabei sagte er:

»Wir trink'n no a Maß mit ananda. Gehen S' mit, Kreittmayer?«

Dankbar nahm der Wirt seinen Filz ab.

»Und 'n Straßner und 'n Eitzenberger nimm i a no mit, damit 's net hoaßt, i möcht' mit Bauernludern net umgeh'n.«

»O mei, Herr Förster«, lachte der Wirt und öffnete die Haustüre. Alle traten auf die Straße und bogen an der Muttergottesstatue vorbei, wo sie andächtig die Hüte abnahmen, zum Wirtshaus. Keiner von den Bauern redete ein Wort. Doch den Wirt litt es nicht länger: »Aber schön hat er g'redt, der Herr Assessor, sehr schön.«

»Is überhaupt a g'scheidter Mensch«, sagte der Förster.

»Ja, ja, a sehr g'scheidter Mensch, a großartiger Beamter! Solche bal wir überall hätten!«

Der Förster stimmte zu, er schien in sehr froher Laune und blinzelte Poiten an, der neben ihm über die vorstehenden Pflastersteine stolperte.

»Bist a dummes Luder«, lachte Göpfert und schlug den Bauern fest auf den Rücken.

»Wa-rum?«

»Weilst halt a dummes Luder bist! Verstehst mi scho. Frag nix mehr. Jetz trink'n wir oane und nacher geh i no mit enk in euer Nest 'naus.«

»Des is aber recht, Herr Förster«, fiel der Wirt ein, »no, des is aber recht!« –

In geringer Entfernung hinter ihnen schritten der Benefiziat und der Assessor, beide sehr langsam und bedächtig.

»Wie gesagt, Herr Assessor, wenn der Staat die Geistlichkeit nicht besser in Schutz nimmt und ihr nicht größere Gewalt und Autorität über diese Lehrer in die Hand gibt, dann muß die Kirche auch alle unliebsamen Konsequenzen ablehnen ...«

Ein vorbeisausendes Fuhrwerk übertönte den Redenden.

»Geht es in der Weise fort, wie bisher, dann werden Sie sehen, Kerr Assessor, daß eine Umsturzpartei großgezogen wird, von deren Schreckensherrschaft wir heute noch keine Ahnung haben.«

Mitten im Sprechen hielt der Geistliche ein und stellte sich vor seinen Begleiter:

»Betrachten Sie sich einen Menschen, wie diesen Gattl, meinen Schulgehilfen. Wo er noch war, bekam er die schlechtesten Zeugnisse, und bei mir tut er nicht besser. Was kann ich gegen ihn machen? Nichts. Er ist frech, ungläubig, versieht den Kirchendienst sehr nachlässig und verkehrt ausschließlich mit dem Förster Balder, einem Manne ohne jede Moral, der seine Frau ohne die Tröstungen unserer heiligen Kirche sterben ließ, der einen ganz bedenklichen Atheisten vorstellt und sich – das ist die Hauptsache – nicht einmal scheut, seine Gottlosigkeit dadurch sogar mit offener Stirne zu bekennen, daß er niemals eine Kirche besucht. Ja, wenn die Behörden selbst mit solchem Beispiel vorangehen, dann ... dann ...«

»Allerdings«, bestätigte entrüstet der Assessor, »Das ist stark! Wenn der Förster Balder wirklich so – ich muß schon sagen – verkommen ist, daß er an nichts glaubt, wie Hochwürden meinen, so wäre es doch wenigstens seine Pflicht, als erster Beamter des Dorfes regelmäßig die Kirche zu besuchen, und so mit gutem Beispiel voran zu gehen.«

»Er hat auch den Lehrer gänzlich verdorben, und was ich heute an dem Gattl gutmache, verdirbt mir der Mann am anderen Tage gewiß.«

»Es ist unerhört, Hochwürden,« sagte der Assessor nachdenklich. »Was aber den Lehrer betrifft«, rief er plötzlich und bewegte sich wieder einige Schritte, »so möchte ich den Menschen fast für verrückt halten.«

»O, glauben Sie das ja nicht, Herr Assessor!«

»Ich weiß nicht, der Bursche reißt immer so sonderbar die Augen auf und glotzt einen dabei an ... außerdem noch die fixe Idee, daß er sich einbildet, sein Recht haben zu wollen.«

»Ja, man könnte es wohl vermuten, aber es ist nicht so«, bemerkte eifrig der Geistliche.

»Meinen Sie nicht? Nun allerdings, Hochwürden kennen ihn bester.«

Der Benefiziat nickte lebhaft:

»Der Mensch gehört in eine strenge Zucht, und das größte Unglück für ihn und – ich spreche es offen aus – auch für den Staat wäre es, wenn man einem Manne mit derartigen Gesinnungen eine Schule zur selbständigen Verwaltung anvertrauen wollte.«

»Nun, daran ist wohl nach dem Falle, den wir heute erörtert haben, noch lange nicht zu denken, denn auf den Bericht, den das Bezirksamt an die Regierung abgeben wird, dürfte sich der Staat besinnen, den Kreisschulinspektor zur Prüfung zu senden und einen solchen Menschen anzustellen.«

»Das sollte man wenigstens hoffen! Doch ich muß jetzt noch den Herrn Dekan im Pfarrhofe aufsuchen, um ihm über den Verlauf der Verhandlung, der er leider nicht beiwohnen konnte, Bericht zu erstatten.«

»Dann empfehle ich mich bestens«, sagte der Assessor.

Die Scheidenden hoben einen Augenblick die Hüte in die Luft hinaus.

»Grüßen Sie die Frau Gemahlin, Herr Assessor.«

»Danke, danke, Hochwürden.«

Man verneigte sich nochmals und schied. Der Assessor ging hocherhobenen Hauptes durch die Straßen des Marktes, indem er wieder lebhaft die Schultern verschob und stolz aus seinem Hornkneifer hervorblickte.

Er hatte doch allen gewaltig imponiert!

 

Der Kreisschulinspektor kam nicht. Statt seiner zogen Enttäuschungen und neuer Kummer in Schule und Forsthaus ein. Am ruhigsten trug es der Förster. Er hatte dem vom Bezirksamt in wilder Verzweiflung heimkehrenden, Gott und die Welt anklagenden Lehrer ganz gelassen erklärt, daß er nichts anderes erwartet habe. Alles war so eingetroffen, wie er es seinem Schwiegersohne prophezeit hatte, als dieser mit trotzigem Vertrauen auf seine Zeugen und auf sein gutes Recht die Beschwerde absandte.

»Da verklagst du 'n Teufel bei seiner Großmutter«, hatte er achselzuckend geäußert, aber der Lehrer hörte nicht. Er verlachte die Warnungen vor den Bauern, deren Aussagen Balder von vorneherein mißtraute, und nun stand es schlimmer wie vorher: die Aussicht auf Anstellung war in weite Ferne gerückt und das elende Leben im streng überwachten Frohndienst dauerte fort.

Der Lehrer verrichtete seine Arbeit in stumpfer Gleichgültigkeit, alles mechanisch und genau zur bestimmten Stunde – es mußte so sein. Er zog die Früh-, die Mittag-, die Abendglocke, putzte den Kelch und kleidete den Geistlichen zur Messe an, er ging in die Schule, hörte die Kinder ab, flehte im Pfarrhaus um sein tägliches Brot in drei Vaterunsern, saß dann schweigend bei Tische dem Geistlichen gegenüber und sagte das vorgeschriebene Dankgebet herunter. Abends schlich er halbtot auf sein Zimmer und verfiel in einen dumpfen Schlaf, von dem er sich oft kein Erwachen mehr wünschte. Er merkte nicht, wie der Geistliche mit ihm verkehrte, jedem Tadel setzte er ein finsteres Schweigen entgegen.

Ins Forsthaus kam er nur selten. Annas ängstliche Augen hielten ihn davon ab, oft glaubte er sie des Nachts vorwurfsvoll auf sich gerichtet zu sehen mit einer stummen Frage, was nun wohl werden solle. Da griff er mit beiden Fäusten in die schweißtriefenden Haare und wollte sich den Schädel an der Wand zerschmettern. Stieg aber der Morgen herauf, so versank er wieder in seinen geduldigen Stumpfsinn zurück und tat seine Pflicht.

Wie das Erwachen aus einem Fiebertraum kam es ihm vor, als ihm der Benefiziat eines Tages bedeutete, daß in den nächsten Tagen die Schulferien begönnen. Dies Dasein sollte also auf einige Zeit wirklich ausgesetzt werden? Das begriff der Lehrer gar nicht. Besser schon, man vegetiert gleich in einem fort, dachte er, und reiste nicht, wie sonst zu dieser Zeit, in die Heimat, wo seine Schwester verheiratet war. Seine freie Zeit brachte er schlafend oder in dumpfen Gedanken auf seinem Zimmer zu, den Kirchendienst aber versah er weiter und ließ nur selten durch Hansl das Glockenläuten besorgen.

Mit wachsendem Erstaunen beobachtete der Geistliche dies veränderte Wesen seines Untergebenen. Er schrieb es der guten Wirkung des strengen Regierungsreskriptes zu, das bald nach der Vernehmung eingelaufen war und eine sehr scharfe Verwarnung des Hilfslehrers enthalten hatte. Gattl hörte zwar vollkommen gleichgültig zu, als ihm der Priester mit Aufwendung aller Lungenkraft das scharfe Schriftstück vorlas. Er hatte es hingenommen, wie alles andere, was ihm jetzt begegnete. Das hatte den Geistlichen damals sehr verletzt, nun aber glaubte er doch zu bemerken, daß der günstige Einfluß der darin ausgesprochenen Drohungen sich geltend mache und er zog etwas mildere Saiten auf.

Leider schien der Lehrer auch dafür keine Empfindung zu haben. Er tat so, als hörte er die freundlichen Bemerkungen überhaupt gar nicht, die bei Tische gelegentlich hingeworfen wurden, und die natürliche Folge war, daß man gar bald wieder auf den früheren Standpunkt kam, wo man nur noch dienstlich miteinander verkehrte. Denn als sich der Geistliche sagen mußte, daß alle Güte, die er nunmehr dem Hilfslehrer so reichlich entgegenbrachte, nur mit schnödem Undank erwidert wurde, da nahm er wieder seine frühere Strenge an und kümmerte sich sonst nicht weiter um Gattl. Das war dem Lehrer nur recht. Nun konnte er in dieser völligen Gefühllosigkeit weiter leben und niemand störte ihn mehr.

Wie stumpf er gegen alle Welt geworden war, das empfand er selbst in einer schwülen Gewitternacht, als man an seine Türe pochte und ihm bedeutete, daß er den Geistlichen zum Versorgen begleiten solle. Dieser Gang war ihm sonst immer ein Marter gewesen, diesmal war es ihm ganz gleichgültig, obwohl er unten auf dem Vorplatz Hansls jammernde Stimme gehört zu haben glaubte. Er fragte sich nicht, wem man die letzten Wegzehrungen zur himmlischen Reise geben wollte, sondern kleidete sich notdürftig an und eilte mit dem Benefiziaten nach der Sakristei, wo er die Traglaterne anzündete und den Chorrock überwarf. Flackernd huschte das Licht der Kerze durch die Gräberreihen dahin, als er die Kirche verließ. Am schwarzumsponnenen Firmaments zuckte in weiter Ferne ein bläulicher Schein auf und dumpfes Grollen zog durch die Luft.

Vorsichtig schritt der Priester hinter dem Lehrer. Er trug in beiden Händen das mit einem weißseidenen, goldumfransten Mäntelchen bedeckte Allerheiligste und tastete den Bühel ins Dorf hinab. Fortwährend schwang Gattl die Glocke, deren schriller Ton in die dunklen Gehöfte drang. An einigen Fenstern wurde Licht gemacht, man begegnete halbgekleideten Gestalten, die andächtig niederknieten und das Kreuz schlugen.

»Was fällt Ihnen denn ein?« stieß der Geistliche leise hervor, als sein Begleiter immer geradeaus wanderte. »Da nach links, zum Poiten hinüber!«

Auch das war dem Lehrer recht. Hätte ihn der Geistliche nicht gerufen, dann wäre er träumend so weiter gegangen, immer tiefer in die stockdunkle Nacht hinein, immer vor dem Sanktissimum und dem Diener der Kirche, immer leuchtend und läutend, ziellos und gehorsam.

Vor Poitens Hof, in dem ein mattes Licht schimmerte, standen viele Menschen. Sie wichen in ehrfurchtsvoller Scheu zurück und knieten nieder. Über die dunkle Treppe tappten die Ankommenden hinauf und traten in ein breites Zimmer. Hansl und Kathi, der Wirt und einige Bauern standen um die blauangestrichene Himmelbettstatt. Dort lag der Poiten, wie leblos, mit offenen Augen in den breiten Kissen. Der haltlose Jammer seiner Kinder kam in lautem Schreien zum Ausdruck und legte sich auch nicht, als ihnen der Wirt zuwinkte, weil der Geistliche eingetreten war.

»Ich hab 'n hochwürdigen Herrn Benefiziaten holen lassen«, flüsterte Kreittmayer, »weil i glaub, daß 's mit dem Poiten zu End' geht. Er is plötzli umg'fall'n und hat d' Sprach verlor'n. Wir wissen alle net, was wir mit ihm anfangen soll'n.«

»Ist nach dem Arzte geschickt worden?« fragte der Priester und trat an das Bett.

»Ja, scho lang.«

Eine furchtbare Angst sprach aus dem schweißbedeckten Gesichte des Kranken, als er den Geistlichen gewahrte. Man merkte es, er versuchte zu reden, aber nur ein leises Zucken der Lippen brachte er zustande. Dann stierte er verzweiflungsvoll in die Ölfunzel auf dem Tische, die sein verfallenes, gelbes Gesicht seltsam beleuchtete.

»Ihr tretet alle zurück und betet für den Sterbenden um Gottes Gnade«, befahl der Geistliche.

An der offenen Türe drängten sich die Neugierigen zusammen. Immer rumorte es auf dem Gange und auf der Treppe von polternden Menschen, die von der Straße heraufkamen. Jetzt fiel die zusammengestaute Menge auf die Knie, voran der Lehrer, der die Laterne neben sich stellte und mechanisch die Hände faltete. Finster sah er auf das Bett, über das sich der Priester mit sanftem Gemurmel herabneigte.

Der Wirt begann ein Gebet aufzusagen und die Anwesenden fielen im Chore ein, daß es schauerlich durch das rauchschwarze Gebälk des ganzen Hauses drang. Auch die Leute auf der Treppe beteten mit. Ihre Worte, die regelmäßig zu spät kamen, hallten in das dumpfe Zimmer, das jetzt von einem violetten Schein flüchtig erhellt wurde. Unmittelbar darauf folgte ein Donnerschlag, der auf das Dach des Hauses zu fallen schien. Das Gewitter war da! Lauter betete der Wirt, eindringlicher redete der Geistliche. Er hob den Finger zur Decke empor und redete in den Kranken hinein. Poitens Züge waren von einer fieberhaften Angst entstellt. Die stieren Augen blickten wie irrsinnig zu dem Priester und auf die kreischenden Menschen, die für seine Seele beteten.

Schrille Klagelaute, vermengt mit konvulsivischem Schluchzen, veranlaßten den Lehrer von dem düsteren Bilde wegzublicken und sich zu Hansl zu wenden, der neben ihm kniete. Ohne Bewegung sah er den Jungen an. Was war denn das so Besonderes? Man marterte einen Menschen, der sterben mußte, vollends zu Tode! Nun ja, das geschieht dem Hans und all den anderen, die jetzt hier beten, auch einmal, wenn sie nicht ein barmherziger Baumstamm im Walde niederschlägt und von diesem Leben auf immer erlöst. Noch ein paar Stunden, dann hat's der Bauer hinter sich und es ist ihm wohl!

Ein greller Feuerschein flammte um alle Fenster der Stube. Gleichzeitig hieb ein Schlag herab, der das ganze Haus durchzitterte. Der Geistliche enthüllte das Sanktissimum. Als er die Hostie in den zuckenden Mund des Bauern legte, leuchtete ein neuer Blitz auf; die Leute beteten nicht mehr. Da rasselte ein Wagen vor das Haus und nun kam wieder Bewegung in die starre Menge. Man hörte den Arzt die Treppe heraufkommen.

Gattl ergriff seine Laterne und stellte sich in die Fensternische, wo er geduldig wartete, bis ihm befohlen würde wieder voranzugehen. Er sah auf die Bettstatt hin, wo der Doktor die Untersuchung beendete und mit näselnder Stimme den Schlaganfall des Bauern nicht als direkt lebensgefährlich bezeichnete. Kalte Umschläge wurden verordnet und überdies empfahl der grämliche, alte Herr, während er sich ärgerlich nach allen Seiten umsah, die größte Ruhe für den Kranken.

Es ging also doch nicht so rasch mit dem Poiten, wie ihm der Lehrer gewünscht hatte, und er kann noch oft gemartert werden, bis er verschwinden darf. Mit solchen Gedanken leuchtete Gattl dem Priester ins Pfarrhaus zurück, wo er eilig sein Fenster schloß, weil der losbrechende Gewitterregen wie mit Peitschenhieben hereinklatschte.

 

In den folgenden Tagen hörte er überall zischeln von der wunderbaren Errettung Poitens, von seiner fortschreitenden Genesung und von der Bekehrung des reichen Bauern, den der Geistliche fleißig besuchte. Am nächsten Sonntag konnte das Kirchlein die zahllosen Menschen kaum fassen, die herbeigeströmt waren, um der vernichtenden Predigt zu lauschen. Alle Schrecken der ewigen Verdammnis wurden da auf die Gottlosen herabgewettert.

Nicht wenig befriedigt saß darauf der Priester mittags bei Tisch. Er hätte gerne mit dem Lehrer eine Unterhaltung angeknüpft, als er jetzt sein Messer wetzte und in den grellen Augusttag hinausblickte, das merkte Gattl recht gut, aber der Lehrer ging nicht darauf ein, sondern hielt die flache Hand vor die Augen, weil ihn die sengend herniederbrennende Sonne gar heftig blendete.

Eben hatte die Haushälterin des Benefiziaten, eine alte, mürrische Person, die Suppe abgetragen und die beiden saßen sich am gedeckten Tisch in gewohnter Schweigsamkeit gegenüber. Einige Minuten vergingen.

Plötzlich kam die Fräulein Minna, wie man die Pfarrersköchin allenthalben nannte, in großer Aufregung zur Türe herein und schob eine Bauerndirne vor sich her. Der Lehrer erkannte die Magd vom Forsthaus, die dicke Marie.

»So, da richt'st du's selber aus, was d' sagen sollst, i versteh di net!«

»Was gibt es denn?« fragte der Geistliche, und legte das Messer beiseite.

Das Mädchen tat sehr verlegen:

»Der Herr Förster hat g'sagt, der Herr Lehrer soll glei' rüber komma zu uns.«

»Jetzt? Zur Mittagszeit? Was soll er da?«

»Es is der Herr Minister da und der Herr ... Herr Erzbischof.«

Kopfschüttelnd blickte die Haushälterin auf den Benefiziaten, der sich erhoben hatte.

»Ein Minister?«

»Ja.«

»Und ein Erzbischof soll bei euch ... bei euch im Forsthause sein?«

»G'sagt hab'n sie's«, sagte Marie, der der Aufenthalt in diesem Zimmer entschieden nicht sehr behaglich war.

»Ja, dann gehen Sie halt hinüber«, sagte der Geistliche mit einer Stimme, die deutlich zeigte, daß er die Worte der Magd kaum begreifen konnte. Noch weniger faßte sie der Lehrer. Er hatte niemals von so hohen Bekanntschaften seiner Angehörigen vernommen und war deshalb nicht wenig überrascht, als er schon von weitem vor der Laube des Forsthauses zwei Herren stehen sah, die man dem vornehmen Äußern nach für das halten konnte, als was sie die Magd bezeichnet hatte. Beide unterhielten sich mit dem Förster, der in gewissem, respektvollem Abstand mit seiner Tochter vor ihnen stand und die gestellten Fragen beantwortete.

Der eine Herr, der einen grauen Sommeranzug trug, bemerkte den zögernd herantretenden Lehrer und wies den Förster auf ihn.

»So, das ist er also?« fragte er in ernstem, aber nicht unfreundlichem Tone.

»Ja wohl, Exzellenz«, antwortete Balder, der keinen Augenblick seine sichere Haltung verlor.

»Sie sind schon sehr lange Hilfslehrer?«

»Fast elf Jahre, Exzellenz«, erwiderte Gattl. Er konnte diesen Vorgang noch nicht begreifen und starrte in das auffallend junge Gesicht des Ministers, das ein leicht ergrauter Vollbart umrahmte, wie in eine überirdische Erscheinung hinein.

»Das ist freilich sehr lange, doch die Schuld wird aus Ihrer Seite zu suchen sein.«

Gattl biß sich auf die Lippen.

»Nehmen Sie sich künftig besser zusammen«, fuhr der Minister in ruhigem Tone fort, »dann werden Sie auch die Anstellung bekommen und heiraten können. Ich habe von fatalen Dingen hören müssen. Dergleichen wird zu vermeiden sein.«

Aufmerksam blickte der Begleiter des Ministers, der stattliche Herr im dunkeln Priestertalare, auf den Lehrer. Der Ausdruck des freundlichen, glattrasierten Gesichts war gewinnend und gütig. Schneeweiße Haare traten unter dem runden Hirtenhute hervor, um den eine lilaseidene Schnur gezogen war.

»Wenn es Exzellenz paßt, dann wollen wir wieder zu unserem Wagen gehen«, sagte der Minister.

Lächelnd verneigte sich der Bischof. Er reichte Balder und Anna die Hand und gab sie im Vorübergehen auch dem Lehrer, dem es sonderbar die Brust durchzog.

»So, und nun, mein lieber Herr Förster, leben Sie wohl, und lassen Sie sich nochmals sagen, wie leid mir der Tod Ihrer guten Frau getan hat.« Das sprach der Minister, dessen Wesen bei aller Freundlichkeit doch immer etwas Formelles und Herablassendes zeigte. Als ihn Gattl zur Gartentüre geleitete, reichte er ihm flüchtig die Hand und sagte eindringlich:

»Ich habe schon über Sie mit Ihrem künftigen Schwiegervater gesprochen, tun Sie jetzt Ihre Schuldigkeit, dann kann, was heuer nicht wurde, im kommenden Jahre geschehen.«

Leicht hob er den grauen, eleganten Filzhut und schritt mit dem greisen Kirchenfürsten langsam zum Fuße des Bühles hinab, wo eine gaffende Menge den ungewohnten Besuch anstaunte. –

Nun kam der Lehrer allmählich zu sich. Er drehte sich um und bestürmte den Förster:

»War das der ...«

»Der Unterrichtsminister Dr. von Schultz, ja, der war's!«

»Und der andere, unser Erzbischof?«

»Ja wohl.«

»Die kamen zu dir?«

Balder lächelte:

»Der Minister hat als junger Beamter oft bei mir gewohnt, wenn er im Herbst zur Jagd kommen is, aber des is scho viele Jahr her. Jetzt hat er halt den Tod von der Toni erfahr'n und da is er gelegentlich bei mir vorg'fahr'n. Des is alls.«

Je ruhiger der Förster dieses unerhörte Ereignis aufnahm, um so heftiger erhitzte es den Lehrer, bei dem die furchtbaren, letzten Wochen mit einem Schlage in Vergessenheit sanken:

»Aber, Balder, i bitt' dich«, rief er freudig, »wenn der so mit dir steht, da kann ja all's no gut wer'n!«

»Hoffen wir's. Allz'viel darf man so hohen Herrn net trauen, es is net immer gut Kirschen essen damit!«

Etwas Ungewohntes, was ihm lange nicht mehr geschehen war, passierte dem Lehrer. Er mußte lachen. Wie das die Brust erleichterte!

»Wer hat mi denn 'rüber holen lassen?« fragte er.

»Der Minister hat eigens nach dir verlangt, er hat di sehen woll'n.«

»Hat eigens nach mir g'schickt ... der Minister? No, nacha is gut ... is gut ... Tut's mi net verspotten, wenn i so narrisch bin und jetzt so verruckt lachen und wieder weinen muß, aba ... i hab' eine schreckliche Zeit verlebt bis zu dem heutigen Tag, wo i wieder aufschnaufen kann.«

Die dicken Tränen standen ihm in den Augen.

»I glaub's«, sagte der Förster, indem er ihn ernst anblickte.

»Und gelt«, begann der Lehrer wieder, »der Minister kommt ja jeden Sommer nach Mariakirchen zum Landaufenthalt hinaus?«

»Scho seit fünf Jahr.«

»Und du hast mir nie was g'sagt?«

»Er ist ja erst a Jahr Minister, und außerdem ... i weiß net, mir kommt er scho a bissel verändert vor gegen früher.«

»No ja, freili, aber trotzdem, Balder, trotzdem is des heut a großer Tag für uns alle.« Er war ganz außer sich vor Freude und Bewegung.

»Versprich dir net gar z'viel«, warnte Balder.

»A was, sei so gut und verdirb mir no mei bissel Humor«, lachte er übermütig, und zog seine Braut an sich. »Jetzt komm i wieder alle Tag ins Forsthaus und wir gehen mitanander, gelt Anna?«

Das Mädchen wurde von seiner Freude hingerissen und küßte ihn stürmisch. –

Unten im Dorfe stand der Benefiziat mit den Wirtsleuten und blickte sprachlos der gelben Staubwolke nach, die der nach Mariakirchen sausende Wagen des Ministers auf der Landstraße emporwirbelte. Kopfschüttelnd ging der Geistliche von dannen. Ehe er in den Pfarrhof zurückkehrte, wollte er noch Poiten aufsuchen, dessen Genesung schnellere Fortschritte machte, als der Arzt anfangs geglaubt hatte. Der Priester fand den Kranken am offenen Fenster in einem unförmlichen Großvaterstuhle mit zerrissenen Polstern sitzen. Eine buntgewürfelte Decke umgab die Füße. Bleich und elend sah der Bauer in dem weißen Leinenhemde aus. Mit matter Bewegung streckte er seinem Tröster die Hände entgegen. Kathi stand neben ihm, und als sich der Ankommende umdrehte, gewahrte er auch den Förster Göpfert, der eigens von Wallberg herüber gekommen war, um den Kranken zu besuchen.

Nach einer kurzen Ansprache an den Leidenden, der mit dankbarer Verklärung zu ihm aufblickte, empfahl sich der Geistliche wieder, weil ihn Göpferts Anwesenheit in seiner Seelsorge belästigte. Er ging in den Pfarrgarten, wo er, immer noch in Gedanken an den merkwürdigen Besuch im Forsthaus, herumwandelte und sein Brevier betete.

 

Mit neuem Eifer und angespornten Kräften war Gattl wieder in seine Schule gegangen, als es kühler im Tale wurde und die staubigen Blätter der Buchen und Ahornbäume sich golden färbten. Die Worte des Ministers hatten ihn förmlich elektrisiert und eine um so nachhaltigere Wirkung hervorgerufen, als der hohe Herr wenige Tage darauf dem ihm begegnenden Balder in Mariakirchen versicherte, er wolle Gattls Sache im Auge behalten. Nun glaubte der Lehrer, es könne ihm nicht mehr fehlen. Scherzend erzählte er Balder von dem Benefiziaten, dem der Besuch doch gehörig in die Nase gestiegen sein müßte, weil er kein Sterbenswörtchen mehr sagte, wenn Gattl häufiger ins Forsthaus ging. Auch sonst wurde der Lehrer etwas besser behandelt als gewöhnlich. So waren ihm die Ferien doch zu besseren Tagen geworden, als er anfangs geglaubt hatte. Balder fand glückliche Menschen, wenn er vom Walde heimkam, und freute sich dann am Abend mit ihnen, weil er wohl merkte, daß die angewachsene Verbitterung einer jahrelangen, ungestillten Zuneigung der Erwartung besserer Tage wich. Das immerwährende Beisammensein, das im Laufe der Zeit zu etwas Gewohntem und Selbstverständlichem geworden war, bot den beiden Liebenden neuen Reiz, wenn sie allein oder mit dem Vater die Spaziergänge durch Wald und Felder unternahmen. Lächelnd hörte dann Balder ihre Zukunftspläne an und wunderte sich, daß der Lehrer trotz aller trüben Erfahrungen immer wieder imstande war, neue Bilder sich auszumalen und kühne Hoffnungen an das Leben zu knüpfen. Was redete Gattl da nicht alles zusammen! Er sprach von einer weiteren Ausbildung seiner musikalischen Fähigkeiten und von allen möglichen, höheren Zielen, die sein Ehrgeiz noch erstreben wollte, wenn nur erst einmal die ersehnte Anstellung eingetroffen sein würde.

Wenn aber Balder auch noch so schwarz sah und mit dem Anfang der Schule auch den Wiederbeginn des alten Jammers befürchtete – die frohe Zuversicht der beiden konnte er nicht zerstören, als sie so glücklich neben ihm dahergingen. Gattl versäumte auf diesen Spaziergängen keine Gelegenheit seine einstige Schülerin noch weiter auszubilden und zu belehren. Das freute den Förster, und Anna empfand es gar dankbar; hielt sie sich doch, wie sie selbst oft genug lachend versicherte, »für a ganz dummes Ding«, das noch viel zu lernen hatte. So war der Lehrer eines Tages durch den weiten Stangenwald bei trübem Wetter in die Gaifschlucht hinaufgegangen. Am Wegrande hatte sich Anna violetten Enzian gepflückt, den sie in losem Gewinde um ihren schwarzen, runden Strohhut band. Ihr Gesicht war leicht gerötet von der Anstrengung des Steigens und die Haarlocken, die in die offene Stirne hereinhingen, waren zerzaust und verwirrt von der ausströmenden Körperwärme des jungen, frischen Geschöpfes. Gattl betrachtete sie mit innerer Freude. Sie war zwar heute ernster wie sonst, und hörte nur zerstreut dem Lehrer zu, der ihr einige Gedichte von Chamisso aus einem abgegriffenen Pergamentbändchen vorlas, aber ihre ganze Gestalt sprühte von Elastizität und Leben, als sie Arm in Arm mit ihm höher hinaufging und den schaurigen Wänden entlang in den gewaltigen Schrund wanderte. Jetzt standen sie auf der schwindligen Holzbrücke, die den finsteren Rachen zwischen zusammengekeilten, grotesken Felsenmauern in gewaltiger Höhe überspannte. Tief unten wälzte sich zischend der schaumbedeckte Sturzbach dahin. Weit herab kam er von dem zerrissenen Gletscher, der auf einem mächtigen Hochplateau gelagert war und durch die gähnenden Spalten der mit schwachem Grün überwachsenen Wände weißgrau in die tiefe Schlucht hereinschimmerte. Finsteres Gewölk ruhte regungslos über den zerklüfteten Eismassen.

Lange blickten die beiden von dem schwachen Gebälk auf die stürmenden Wassermengen hinab und harrten in schweigender Befangenheit vor der erdrückenden Größe dieser düstern Szenerie des Todes und der Abgeschiedenheit.

»Das is scho großartig«, sagte Gattl endlich leise. Das gewaltige Bild der tiefeinsamen Hochnatur regte ihn auf. Anna rückte an dem morschen Geländer näher zu ihm.

»Ja, ja«, fuhr der Lehrer fort und holte Atem, »unser Herrgott hat die Welt wunderbar g'schaffen. Sie wär' scho schön, wenn die Menschen net die Höll' draus machen wollten.«

Was er in letzter Zeit verlebt hatte, trat deutlich wieder vor seine Seele.

»Ist's am End' net so?« fragte er, als Anna noch immer schwieg. »Red' doch!« fuhr er heftiger heraus und neigte sich an den Geländerbalken.

Sie sah schüchtern zu ihm auf:

»San wirklich alle Menschen so schlecht, Franz?«

Gattl lachte:

»Du freili net, der Vater auch net, aber schau die andern an, die du kennst, schau das ganze Dorf an, 'n hochwürdigen Herrn und ...«

»Geh', Franz, fangen wir doch heut' net davon an«, bat sie flehentlich.

»Warum denn net?«

Sie errötete vor seinen Blicken.

»Aha!« rief er, jetzt versteh' i schon. Du warst ja erst kürzli wieder in der Beicht! Hat er dir wieder allerhand g'sagt, der ...«

»Franz, jetzt hörst auf.« Sie sprach sehr entschieden.

»Sei nur gut! Du mußt mir's net krumm nehmen, wenn i den Menschen, der uns schon so viel zug'fügt hat ...«

»Von ihm is jetzt gar kei Red', also hör'n wir auf, Franz, i bitt' dich drum!«

Er behielt für sich, was ihm ein Gefühl von Neid und Ärger auf die Lippen gelegt hatte. Annas religiösen Sinn kannte er wohl. Er schonte ihn ebenso ängstlich, wie ihr Vater und wäre der letzte gewesen, dem Mädchen gegen die Erfüllung ihrer kirchlichen Pflichten ein Wort zu sagen. Auch das ertrug er noch, daß sie immer den Diener des Heilands von dem Vorgesetzten des Lehrers zu trennen versuchte. Bei dem tiefen Glauben, von dem sie durchdrungen war, verstand sich das eigentlich von selbst. Daß sie aber demselben Menschen im Beichtstuhle ihr inneres Gewissen erschließen mußte, das war ihm bei aller Festigkeit ihrer reinen Seele doch ein peinigender Gedanke, der ihn oft tief verstimmte.

Kam sie doch an solchen Tagen jedesmal so niedergeschlagen von der Kirche nach Hause und redete lange kein Wort. Tage dauerte es oft, bis sie sich wieder aufraffte und mit ausgebreiteten Armen auf den Vater zuging, den sie küßte, als wollte sie ihn ersticken. Auch gegen Gattl war sie dann ängstlicher und zurückhaltender. Klagte er aber über eine neue Unbill und lief rasend und tobend durch das Zimmer, so umschloß sie ihn mit der alten Herzlichkeit, weinte bitterlich über seinen Kummer und suchte ihn zu trösten so gut es ging.

Wenn sie nur erst sein Weib wäre! Tausendmal hatte der Lehrer den Augenblick herbeigewünscht, da er sie wegführen konnte von dem Orte, wo ihm, er fühlte es instinktiv, die gleiche Macht, die über ihn selbst schrankenlos gebieten konnte, auch in dem Wesen feindlich gegenübertrat, das ihm das Teuerste war.

Jetzt, auf der einsamen Schluchtbrücke, bohrte sich diese nagende Ungewißheit wieder in sein Hirn und ließ ihn nicht mehr los. Was hatte er denn gesagt, daß ihn Anna gleich unterbrechen mußte? Vor einigen Tagen hätte sie keine Silbe erwidert und ihm stillschweigend recht gegeben. Heute aber stand sie natürlich wieder im Banne des Geistlichen, und was galt da der Verlobte? Der Gedanke quälte ihn immer mehr.

»Anna«, sagte er plötzlich und lehnte sich fester auf ihren vollen Arm. »Anna!« er deutete mit sonderbarem Blicke in die Tiefe hinab, »wenn ich jetzt zu dir sagen tät, du sollst mit mir da hinunterspringen?«

»Aber Franz! Was red'st du denn?« Ihre sanften Augen, die oft einen müden Ausdruck hatten, waren aufgeblitzt.

»Ich frag' dich ja nur? Heut ist's ja gottlob net notwendig, aber ich will annehmen, wir hätten auf der Welt nix mehr zu suchen, alles wär' für uns verloren und die Verzweiflung trieb uns von den Menschen weg, tät'st du's dann auch net?«

»Nein«, sagte sie fest, »das tät' ich net«.

»Warum?«

»Schon wegen mei'm armen Vater net.«

»Gut. Dann sag' ich der Vater wär' tot.«

»Dann tät' ich's auch net. Schäm' dich, Franz, daß d' solche Worte überhaupt in den Mund nimmst.«

»Warum schämen? Meiner Ansicht nach müssen zwei Menschen, die sich gern haben, auch freiwillig mit'nander sterben können, wenn s' auf der Welt nix mehr zu hoffen haben.«

»Franz, i bitt' di noch amal, hör' auf!«

»Warum soll i aufhören?« schrie er unwirsch und stampfte auf den Boden der Brücke. »Warum? Sag' mir's! Is dir des so was Schrecklich's, wenn i dich frag', ob du mir auch 's letzte Opfer noch bringen könnt'st?«

Sie gab ihm keine Antwort.

»Siehst, Anna«, fuhr er noch heftiger fort, »wenn du mich so lieb hätt'st, daß du nix anders wie mich auf der Welt kennen tät'st, dann sprängst auch mit mir da 'nunter, aber ich weiß scho, du hast mi net so lieb, du ...«

»Franz!« schrie sie auf und schlug die Hände vor's Gesicht. Ihr war es, als wankte die Brücke unter ihren Füßen, als müsse sich das verwitterte Gebälk jeden Augenblick von den Felsen lösen und in das tosende Gewässer hinunterschlagen. Ein jäher Schwindel erfaßte sie auf dem luftigen Stege und sie eilte, ohne umzusehen, zum Schluchtsteig hinaus. Als sie merkte, daß Franz hinter ihr ging, zuckte sie leise zusammen und bog den Kopf nach den Felsen, um ihn nicht sehen zu müssen.

So gelangten sie wieder vor den Stangenwald, wo die Steilwände zurücktraten und der Blick sich weitete über das mit langen Dunststreifen durchzogene Tal. Er versuchte sie am Arm zu fassen und zurückzuhalten, aber sie entwand sich ihm hastig und eilte den abschüssigen Weg hinunter. Schon war das Forsthaus nicht mehr fern.

»Anna«, keuchte er, »geh', Anna, was ist's denn?«

Sie drehte sich nicht um und fing zu laufen an. Da verletzte ihn ihr widerspenstiges Benehmen.

»Adje«, schrie er ihr wütend nach und ließ sie fortstürmen. Ein unbändiger Trotz raste in ihm empor. Er bog in eine andere Richtung und eilte ins Dorf. Als er am Wirtshaus vorüberkam, das er seit seinem Streite mit Göpfert nicht wieder betreten hatte, kam ihm der Gedanke einzutreten und seinen Ärger fortzutrinken. Er warf sich in eine Ecke der leeren Gaststube und ließ sich Bier bringen. Hastig stürzte er mehrere Gläser nacheinander hinab und rauchte dabei.

Kreittmayer erschien in Hemdärmeln und machte große Augen, als er den Lehrer gewahrte. Gattl bemerkte sein Erstaunen und sagte sich bitter, daß ihn Annas Starrsinn soweit trieb, daß er sogar das Haus dieses Schuften wieder betrat, den er seit der Vernehmung in Mariakirchen nicht mehr angesehen hatte. Er wunderte sich, daß er dem erbärmlichen Menschen, der jetzt höflich um ihn herumkroch und ihn freundlich willkommen hieß, nicht in die teigfarbene, devote Fratze spie.

»Gelt, Kreittmayer, da schaugst und machst wieder 'n Buckel, weil a Minister bei uns droben war?« rief er höhnisch.

Der Wirt fühlte sich gekränkt und zog die Augenbrauen in die Höhe:

»Ich hab' nie was g'habt gegen 'n Herrn Lehrer.«

»Natürlich net«, spottete Gattl, »wir zwei sind ja immer die besten Spezi gewesen! Gelt?«

Herr Kreittmayer war ein Freund der Ruhe und des Friedens. Als guter Bürger haßte er jeden Streit und ließ deshalb den Lehrer bald wieder in der Stube allein.

Gattl lachte dem Abziehenden nach und trank sein Bier weiter. Mit dem hereinbrechenden Abend, der von der Dorfstraße seine Nebel aufsteigen ließ, überkam ihn allmählich eine unsägliche Öde und Verlassenheit in dem muffigen Raume. Alles schien hier von Schmutz zu starren. Die klebrigen Bänke und Tische, von denen ein fader Geruch verschütteten Bieres ausging, der hölzerne, braune Wandschrank mit der offenen Glastüre und den umgestürzten Krügen und Seideln und der kupferne Spülkessel daneben, den trübes Wasser bis zum Rande füllte. Gattl ekelte es. Er warf seine Zigarre weg und schritt mißmutig durch die dämmerige Stube, um sich zu beruhigen. Aber, was ihn hier umgab, widerte ihn immer heftiger an, er hielt es nicht mehr aus in dem dumpfen Kasten, der ihm alle Luft zu nehmen schien. Darum bezahlte er rasch und begab sich vor die Türe.

Wohler ward ihm hier und er erwachte langsam aus seiner Betäubung. Als er aus der Hochwiese das Forsthaus im Halbdunkel liegen sah, packten ihn Reue und Scham über seine Grausamkeit gegen das Mädchen. Er faßte einen raschen Entschluß und sprang mit weiten Sätzen über den Bühel ins Forsthaus, wo er alle Türen aufriß und Annas Namen brüllte. Als er endlich die Gesuchte fand, umschlang er sie so leidenschaftlich, daß sie kaum zur Besinnung kam über sein unvermutetes Hereinstürmen und willenlos in seinen Armen ruhte.

»Sei gut, sei gut!« lispelte er.

Jetzt erwiderte sie seine Liebkosungen und lachte glückselig zu ihm hinauf. Er preßte sie noch fester an sich und sah erregt in ihre Augen.

»Ein Jahr nur noch ... dann ... dann g'hörst endlich mir!«

Anna nickte und entwand sich ihm nicht. Er atmete schwerer:

»Dann brauch' ich am Abend nimmer von dir wegz'gehen, gelt, Anna?« flüsterte er und neigte sich zu ihrem Ohr. Leicht errötete sie und ließ den Kopf hängen. Er neigte sich herab und herzte und küßte sie auf's neue, hastig arbeitete seine Brust. Da löste sie sich ängstlich los und trat zurück, indem sie ihr wirres Haar ordnete.

Beide sahen sich aufatmend an. Stürmische Wellen hatte ihre Leidenschaft geworfen, und Herz an Herz in mächtigen Schlägen pochen gemacht. Wie ein wilder Rausch war es über das Paar hinweggezogen, wie ein Wirbelwind, der beide Menschen für einige Momente so nahe brachte, daß sie sich fast bewußtlos umfingen und nichts anderes mehr fühlten, als das rasende Verlangen nach dem Besitze, das mit Glutströmen über sie hereingebrochen war und ihre Körper durchtobte.

Gattl fragte sich, warum er so leise und vorsichtig dahinschlich, als er gleich darauf nach einem zärtlichen Abschied das Haus verließ, um die Abendglocke zu ziehen. Er ging wie auf verbotenem Wege, schüchtern und ängstlich, als müßte er ein schweres Geheimnis bewahren, und freute sich diesmal wie ein Kind, als er beim Nachtmahl vom Geistlichen keinen Vorwurf bekam über das stark verspätete Gebetläuten.

Am anderen Morgen ging er in die wiederbeginnende Schule hinüber, mit einem eigentümlichen Lächeln auf den Lippen, und amüsierte sich über die neueintretenden Kleinen, die ihm noch niemals so viel Vergnügen bereitet hatten, wie in diesem Herbste. Die pausbäckigen, runden Geschöpfe standen an der Hand von Erwachsenen erwartungsvoll vor seinem Pulte und guckten befangen in diese neue Welt hinein, die sich heute vor ihnen auftat. Steif und unbeholfen bewegten sie sich, als sie der Lehrer in die Bänke schob und ihnen die Plätze anwies. Die Feierlichkeit des ungewohnten Ortes, dessen Wände mit Käfersammlungen und Landkarten bedeckt waren, schien ihnen völlig die Sprache geraubt zu haben, und staunend sahen sie zu dem großen Wandkruzifix empor. In den folgenden Wochen mußte Gattl bei diesen kleinen Wesen weniger das Amt des Unterrichtenden, als die Dienste einer Kindsmagd versehen. Es war keine kleine Arbeit, aus solchen Urwaldsgeschöpfen Menschen heranzubilden, die schreiben und lesen sollten. Aber der Lehrer unterzog sich gerne dieser Aufgabe, der er jetzt mit ganz besonderem Eifer oblag.

Seine Schule war sein Stolz auch in den härtesten Tagen seiner Laufbahn gewesen. Er hätte sie jeden Augenblick unvorbereitet zeigen können und selbst eine strenge Prüfung nicht zu scheuen brauchen. Freilich auch vor einem unparteiischen Richter, und ein solcher war der Benefiziat nicht, der nur Tadel, niemals ein Lob hatte. Der Distriktsschulinspektor von Mariakirchen, ein schwerhöriger, einfältiger Greis, pflegte ohne eigenes Urteil blindlings die Aussagen seines jüngeren Kollegen zu bestätigen, wenn er ins Dorf kam, und so hatte Gattl, weil der höchste Prüfungsbeamte durch die schlechten Zeugnisse des geistlichen Vorgesetzten immer fern gehalten blieb, nur ein einzigesmal seine Schule vor einer weltlichen Instanz zeigen können, vor dem Bezirksamtmann, der einer Schlußfeier beiwohnte und freundliche Anerkennung zollte, dann aber nie mehr etwas von sich hören ließ.

Gattl wunderte sich, daß der Benefiziat im neuen Schuljahre so selten in die Lehrstunden kam und ihm nur bei einer Gelegenheit dreinredete, als der Poiten Hansl an einem freien Nachmittage auf dem Pulte des Lehrers Zeichenunterricht erhielt. Das war als nutzlose Zeitverschwedung, im Schulzimmer wenigstens, ein für allemal verboten worden. Gattl sollte den Jungen lieber im Ministrantendienste unterweisen, der noch sehr viel zu wünschen übrig lasse, meinte der Geistliche.

Nun verlegte der Lehrer die Stunden ins Forsthaus, um die aufblühende Gabe des Kindes so weit zu fördern, als es sein eigenes Geschick erlaubte. Er mußte sich sagen, daß Hansl ihn bald überflügeln werde, solch frappante Fortschritte wies der fleißige Junge auf. Hier hatte schon bald eine geübtere Hand einzugreifen, die dieses urwüchsige Talent in die richtigen Bahnen leitete.

Aber vorerst war noch keine Aussicht dazu, dies zu erreichen. Poiten war noch immer hinfällig und kränklich, und man mußte um so mehr einen geeigneteren Zeitpunkt abwarten, als der schlimmste Gegner solcher Pläne, der Benefiziat, jeden freien Augenblick bei dem Kranken zubrachte.

Wie für sich und für Anna, so hoffte der Lehrer auch für seinen Schüler vom nächsten Jahre, wo ein Maler wieder ins Dorf kommen sollte, der vor zwei Jahren bei seiner kurzen Anwesenheit in Oberkarbach auf Gattls Bitte die damaligen Leistungen Hansls betrachtet und für ungewöhnlich talentvoll bezeichnet hatte. Durch ihn dachte es Gattl durchzusehen, daß die nötigen Schritte zur weiteren Ausbildung unternommen werden konnten.

Kaum vermochte der eifrige Junge diesen Zeitpunkt zu erwarten.

»Gelt, Herr Lehrer, da komm i in d' Stadt nein?« fragte er oft und lachte über das ganze Gesicht. »Ah, da muaß schön sein, de Wagen, de Roß und de hoch'n Kirchna, von dene hat mer der Vater scho alleweil verzählt, daß s' viel höher san wie de uns'rige. Is a so, Kerr Lehrer?«

Und als dieser lächelnd bejahte, fuhr er fort:

»Was mal i da nacher, wenn i a Maler bin, hans, Herr Lehrer?«

Das fände sich, meinte Gattl.

Der Junge machte pfiffige Augen:

»I woaß scho, was i mal. D' Muattergottes mal i, wia's mit zwoa goldne Roß in'n Himmel aufifahrt.«

»Warum grad mit zwoa goldene Roß?«

»Ja, des hat uns der Herr Benefiziat am Himmelfahrtstag verzählt, daß sie so 'naufg'fahr'n is.«

»Aha! Ja, dann mal's nur a so!«

Hansl kritzelte mit dem Bleistift auf der Tischdecke herum.

»I wüßt' scho no a was anders zum malen, Herr Lehrer.«

»Was denn?

»Zu Mariakirchen drin«, er lachte wieder schlau, »da hab i amal auf 'm Bildl an Buabn un a Deandl g'seh'n, wias' anander abbusseln. Grad so mal i de Kathi, mei Schwester, a.«

»Wen malst denn aber da dazu?« fragte scherzend der Lehrer.

»No ihren Schatz halt.«

»Wer is denn das?«

Hansl tat sehr wichtig.

»Ja, des sag i net.«

»Nacher laßt du's halt bleiben!«

Der Junge verbesserte sich eilig:

»Na, 'm Herrn Lehrer darf i's scho sagen! 's is der Lechner Toni von Untersteinau.«

»Der Toni, der Holzknecht?«

»Ja der is!"

»Aber was sagt denn da dei Vater dazu?«

»O, der spannt nix, es woaß's niemand außer mir.«

Der Lehrer sah den Jungen scharf an. Hansl errötete.

»Is denn da was Unrechts dabei?« stotterte er.

»Das hab' i net zu entscheiden«, sagte Gattl, der bald darauf die Stunde beendete. Die merkwürdigen Beobachtungen, die ihm der Junge ausgeplaudert hatte, spukten ihm noch eine Weile im Kopfe. Poitens Kathi und – ein Holzknecht, und noch dazu dieser nichtsnutzige Toni, der als schlimmster Dorf-Don-Juan allgemein verrufen war und abwechselnd bald mit der, bald mit jener Dirne nächtliche Spaziergänge veranstaltete, unter anderen auch mit der drallen Marie, der Magd des Forsthauses. Wenn das der alte, eigensinnige Poiten erfuhr! Wie schlau mußten die beiden zu Werke gegangen sein, daß außer dem Bruder noch niemand im Dorfe davon wußte, denn solche Verhältnisse wurden sonst sofort zum öffentlichen Gespräche. Gattl trug die Neuigkeit mehrere Tage mit sich herum. Sollte er den Poiten vielleicht? ... Ach, was ging's ihn an? Seine Schule war ihm jetzt wichtiger, als müßiger Klatsch über eine verliebte Bauerndirne.

In eifriger Tätigkeit vergaß er bald die ganze Erzählung und nistete sich in seine Lehrstube ein, um die der heranbrausende Winter ein undurchdringliches Flockenmeer vom schmutzigen Himmel hetzte.

 

Ununterbrochen schneite es fort, Tage und Nächte durch. Endlich nach Wochen zuckte in den dichten Nebelschleiern, die weit in das Tal über die Berge herabhingen, ein leiser, mattblauer Schein und es. regte sich wieder in der Höhe. Die Sonne arbeitete sich aus den leuchtenden Wolkenfetzen heraus und scheuchte die Dunstschleier am lachenden Himmel entlang um die verschneiten Felsenrippen der Berge. Wie gepuderte Haare sahen die dunklen Wälder hervor. Zu ihren Füßen erhob sich das Dorf lautlos aus der eisigen Hülle. Nur die blauen Rauchsäulen der Kamine zeugten von Leben unter den schneebedeckten, schwerbeladenen Dächern. Selten drang ein Laut in die tiefe Winterruhe, und dann kam er von einer jungen, frischen Kehle, von den Kindern, die zur Schule gingen, wie schwebende Geister, weil ihre Tritte von den tiefen Schneemassen verschlungen wurden. Im Walde schimmerten glitzernde Eiszapfen zwischen den Nadeln der Tannen und dem verkrüppelten, rotbraunen Laube der Buchen und Eichen, rings um das Dorf aber breitete sich eine pulverige, leuchtende Fläche, die allen Verkehr mit der Außenwelt abgesperrt zu haben schien.

Ein Tag verging wie der andere. Träge kroch das Licht durch stampfende Nebel am Morgen heraus, zeitig stieg es wieder hinab hinter die Berge, und da zogen tiefblaue Schatten durch das einsame Tal, die sich bald in die schwarze Nacht auflösten. Dann lag das Dorf wie ausgestorben und kein Lichtschimmer drang in das gähnende Dunkel.

Nur einmal, in einer sternhellen, klaren Nacht, flammte es auf hinter den eingeschneiten Bogenfenstern des Kirchleins. Sanfter Orgelklang und Kinderstimmen drangen aus der geöffneten Türe des Gotteshauses und eine schwarze Menge zog über die von hellen Lichtern bestrahlte Schwelle. Dann aber ward's wieder still, totenstill in der weiten Landschaft. Erst in grimmig kalten Januarnächten klangen manchmal aus der Schneedecke muntere Weisen hervor, die das einschläfernde Weitermurmeln der vereisten Dorfbrunnen übertönten und sich weiterpflanzten in die mondbeschienene, schimmemde Talfläche.

Und immer kälter wurde es. Die bepackten Holzschlitten entlockten den spiegelglatten Wegen schrille Mißklänge, halbverhungertes Wild kam aus den dickvereisten Nadel- und Laubwäldern ganz nahe zum Dorf herab und der eiserne Ofen der Schule spie Feuer, wie ein wütender Drache. Oftmals blickte der Lehrer sehnsüchtig zum Fenster hinaus und beobachtete die steigende Sonne. Jetzt kam sie schon jeden Tag ein bischen höher über die Berge und einmal mußte sie auch diesem Winter ein Ende machen, der in seiner andauernden Strenge doppelt lang erschien. In der stickigen Atmosphäre des überheizten Schulzimmers unterrichtete der Lehrer Tag für Tag. Trat er dann in die schneidende Kälte hinaus, so fühlte er eine Mattheit und Erschöpfung, die ihn für den Abend völlig stumpf und denkunfähig machten und ihn schon früh auf das Lager trieben. Ja, diese langen Abende, diese Gefangenschaft in Schnee und Eis! Selbst Anna konnte sie ihm nicht erleichtern, wenn sie stundenlang neben ihm saß. Er wünschte sich manchmal im Stillen sogar, von dem Mädchen getrennt zu sein, um sich nicht jeden Abend wieder von der warmen Brust losreißen und in eine Nacht hinaustreten zu müssen, die das ganze Hochtal volle sechzehn Stunden mit eisernem Griffe umklammerte. In seinem Zimmer, dessen niederes Fenster mit dicken Eisblumen bedeckt war, konnte er jedesmal in der grimmigen Kälte die wahnsinnige Glut eines leidenschaftlichen Abschieds kühlen. O, wenn Anna nur fort wäre! Er fühlte, wie ihre Küsse immer stürmischer wurden, wie ihr Wesen unter einer zunehmenden Unruhe litt, und er sagte sich, daß es für sie beide besser wäre, wenn sie getrennt wären, als hier unter dem verzehrenden Beisammensein des vierten entsetzlichen Winters, den er in dem Dorfe verlebte, noch lange zu leiden. Im Anfang hatte es sich der Lehrer für diesmal leichter gedacht, jetzt sah er wohl, daß die Zuversicht auf den kommenden Frühling alle Leidenschaft nur noch mehr anstachelte und die Zeit noch träger verstreichen ließ, wie in den vergangenen Jahren.

Außerdem litt alle Schaffens- und Arbeitsfreude unter der wachsenden Gereiztheit des Geistlichen. Dieser hatte den Besuch des Ministers schon lange vergessen und machte aus seiner Unzufriedenheit mit dem Lehrer kein Hehl. Ärger und Streit gab es wieder in Menge. Durch Hansls Vater hatte der Priester erfahren, daß der Lehrer seinen Schülern im Naturgeschichtsunterrichte von den Himmelskörpern, von ihren Entfernungen von der Erde, von ihrem Entstehen und Verschwinden zu erzählen pflegte, und strenge verbot er hierauf diese Lehren, die nur imstande waren, die Jugend zu verwirren und von Gott abzulenken. Apathisch warf Gattl das interessante Buch, aus dem er vorgelesen hatte, in die Ecke seines Zimmers und rührte es nicht mehr an.

»Hast g'ratscht, dummer Kerl«, fuhr er Hansl an, als dieser am folgenden Sonntag wieder ins Forsthaus kam.

Der Junge legte seine Mappe auf den Tisch und fing furchtbar zu weinen an.

»Heul' net«, schrie der Lehrer und wollte zu korrigieren beginnen. »Du hast ja nix g'arbeit', fauler Strick!«

Hansl hob die geröteten Augen:

»I derf nimmer zeichnen, Herr Lehrer!«

»Du ... derfst nimmer?«

»Na!«

»Wer hat dir's verboten?«

»Der Vater und der Herr Benifiziat, alle zwoa.«

Gattl fühlte einen Stich in seinem Herzen.

»Warum haben sie's dir verboten?«

Hansl stieß es auf und nieder vor weinen:

»Weil ... weil ... i a Geistlicher werd'n soll!"

Da litt es den Lehrer nicht mehr länger im Zimmer. Er mußte Gewißheit haben. Direkten Weges ging er zu Poiten. Der Bauer war immer noch kränklich und matt, die Spuren des schweren Anfalls standen deutlich auf dem pergamentenen Gesichte geschrieben. Als er aber dem Lehrer auf die gerade Frage antwortete, kamen eine Festigkeit und ein Trotz zum Vorschein, die Gattl nach wenigen Worten zeigte, daß es für Hansl nichts mehr zu hoffen gab.

Eine mächtigere Gewalt hatte den Boden bearbeitet, und zwar, wie er sich überzeugen konnte, mit dem besten Erfolge. Der Junge sollte im Sommer in ein Benediktinerkloster geschickt werden und dort studieren. Das war der Bescheid, den der Lehrer empfing. Er konnte es nicht über sich bringen, dem armen Buben, der draußen gewartet hatte, die volle Wahrheit zu sagen, als er das dumpfe Krankenzimmer verließ. Er machte Ausflüchte, zuckte die Achseln und vertröstete ihn auf den Maler, der vielleicht noch helfen könne.

In seinem Innern aber stieg ein furchtbarer Aufruhr empor. Es warf ihn zu Boden, daß man dieses hoffnungsvolle Kind mit verbohrter Grausamkeit in eine Zwangsjacke stecken wollte, in der die vortrefflichen Anlagen alle erstickt werden mußten. Ein junges Leben schien ihm vernichtet, das er mit wahrster Freude erziehend geleitet hatte, und dieser Gedanke hetzte ihn förmlich zur Raserei.

»Sie haben sich nicht um die Zukunft des Kindes zu bekümmern!« schrie ihm der Geistliche entgegen, als er ihm spät abends gegenüber trat. »Warum regen Sie einen armen, kranken Mann mit so überspannten Ideen auf? Schweigen Sie nur, ich weiß alles!«

Er wußte alles! Wie sollte er auch nicht? Der alte Bauer hatte ja nur als guter Christ gehandelt, indem er seinem Tröster mit aller Ehrlichkeit beichtete. So dachte der Lehrer, während der Geistliche mit heftigen Worten weiter redete. Ganz entschieden verbat er sich eine fernere Einmischung in seine Wirksamkeit als Seelsorger, ja er drohte sogar im Wiederholungsfalle mit einer neuen Klage an das Bezirksamt.

Gattl hörte ihn kaum. Immer und immer wieder trat das Bild des Knaben vor ihn: eine vernichtete Existenz! Gibt es denn keinen Ausweg, keine Hilfe mehr? Nein! Da war alles vorbei, die Zukunft lag schwarz und finster, hart und grausam, wie dort der Mann im engen Talare, der scheltend um ihn herumschlich, ein wütendes Raubtier, das sich die Beute nicht mehr entreißen ließ.

Wankend ging der Lehrer hinaus in das Dunkel der Nacht. Als er auf dem glattgefrorenen Bühel dahineilte, rutschte er aus und schlug kopfüber den abschüssigen Weg hinunter. Mit beiden Füßen fuhr er in eine aufgeschüttete Schneemasse hinein, wo er gleichgültig liegen blieb. Am liebsten hätte er sich gar nicht mehr erhoben, eine solche Verzweiflung war über ihn gekommen. Gellend lachte er auf, als vom Wirtshaus die schaukelnden Klänge des Donauwalzers herüberzogen, den das Dorforchester in schlechtem Tempo abdudelte. Richtig, heut' war ja Faschingssonntag! Karneval! Das war recht! Das paßte auf diese verrückte Welt und auf die Menschen, die zusammen ein einziges, großes Narrenhaus bildeten.

Ein seltsamer Übermut faßte den Lehrer. Es juckte ihn umzukehren, ins Pfarrhaus zu stürzen, dem Geistlichen und sich selber eine Schellenkappe aufzusetzen und mit ihm in rasendem Tanze um die ganze Erde zu hüpfen. Ha! ha! ha! Wie die dürren, hochwürdigen Knochen wohl krachten, wenn er seinen Peiniger wütend an sich preßte, so lange, bis der Geängstigte keinen Schnaufer mehr machen konnte, so lange, bis das abgefaulte Gerippe ihm in den Händen bliebe mit der roten Mütze und den bimmelnden Glöckchen auf dem grinsenden Totenschädel!

Keuchend kroch der Lehrer auf allen vieren aus dem Schnee hervor und blickte zur Höhe, während er hastig nach Atem rang. Die Nacht war hell und ausfallend mild. Im Westen wuchsen phantastische Wolken herauf, aber sie verdeckten noch nicht die reine Mondscheibe, die die gewaltigen Massive der Berge mit zauberhaftem Lichte übergoß. Auf den weißen, duftigen Schneemänteln der jetzt riesenhaft herausragenden Felsen blitzte es mit tausend Pünktchen in eigentümlichem Wechselglanz auf, und in den Klüften und Schluchten zuckten blauschwarze Schatten.

In weitem Bogen taumelte Gattl um das Dorf. Er hatte kein Ziel und wußte kein Ende dieser nächtlichen Wanderung. Seine Verbitterung wuchs mit jedem Schritte, den er vorwärts machte. Als er vor Poitens Haus kam und im ersten Stockwerk das matte Licht sah, durchzuckte es ihn mit einer Art barbarischer Wollust, daß der alte Bauer da oben seinem sicheren Ende haltlos entgegenvegetierte. »Wenigstens einer im Dorfe, dem heute nicht wohl ist", dachte er, und wollte weitergehen.

Da hielt er ein und blickte erschreckt um sich. Er stand vor einer kleinen Feldkapelle, die dem Anwesen des Bauern hart gegenüberlag. Rings um das weiße, verschneite Mauerwerk flutete das Mondlicht und spiegelte sich in der eisigen Schneefläche, deren grobkörnige Fasem wie leuchtende Schuppen einer Wassernixe glänzten. Gattl horchte gespannt in die Nacht hinaus. Er hatte von der anderen Seite her ein seltsames Tappen im Schnee vemommen und verbarg sich eilig in die Kapellennische, weil ihm eine Begegnung mit anderen Menschen zu dieser Stunde ganz schrecklich gewesen wäre. Nun wartete er und strengte sein Ohr an, aber er hörte nichts mehr als die Tanzmusik, die vom Wirtshaus ins freie Feld drang und eine Mazurka leierte. Schon wollte der Lehrer sein Versteck verlassen, als er ganz dicht an der Nische einen Menschen vorüberschleichen sah, den er sofort als den Lechner Toni erkannte. Blitzschnell fiel ihm da ein, was ihm Hansl vor Monaten ausgeplaudert hatte. Er beugte sich aus seinem Versteck heraus, um den Burschen zu verfolgen. Der wanderte bedächtig die kahlen Stauden hinab, die den Gartenzaun umgaben, und schwang sich an einer freien Stelle katzenartig über das hölzerne Geländer. Jetzt wagte sich Gattl auf das Feld. Er konnte den Toni gerade noch sehen. Der stämmige Mensch ging zu der Scheune, die an den Bauernhof grenzte, und verschwand dort hinter der Mauer so plötzlich, als ob ihn die Erde verschlungen hätte.

Gattls erstes Gefühl war Lärm zu schlagen und dem Bauern alles zu sagen. Die maßlose Frechheit des Holzknechtes und die Schamlosigkeit der Dirne, die mit ihrem Liebhaber im selben Hause buhlte, wo der schwerkranke Vater lag, empörten ihn so, daß er darüber das eigene Leid auf einen Augenblick vergaß. Doch gab er diesen Plan wieder auf und entschloß sich, noch heute den Förster aufzusuchen, um ihn erst zu fragen, was da zu tun sei.

Neun Uhr schlug's, als er vor dem Forsthause anlangte und mehrmals mit dem Metallklöppel Einlaß forderte. Bald schimmerte Licht durch die Spalten der Türe, man schob zwei Riegel zurück und Anna mit der Lampe in der Land begrüßte den späten Gast. Er trat in den Hausflur und fragte mit zitternder Stimme nach Balder. Der war fortgegangen noch spät abends, weil ihn der Forstmeister dringend nach Mariakirchen befohlen hatte. Vor morgen früh käme er nicht wieder. Gattl nickte gleichgültig und wollte wieder gehen.

»Is auch recht«, sagte er.

Sie schaute ihn erstaunt an:

»Was willst du denn vom Vater? Hat's wieder was geben drüben?«

Er erwiderte nichts und drückte unschlüssig seinen Hut in der Hand herum.

»Geh, komm 'rein« fuhr sie hastig fort.

Zögernd folgte er der Vorantretenden, er war nicht in der Stimmung, heute noch den Verliebten zu spielen.

»Du bist ja hing'fall'n«, sagte sie, als sie die Lampe auf den Tisch des Zimmers stellte und seinen schneebedeckten Mantel sah.

»Das kann schon sein«, murmelte er, und warf sich auf das Sopha. Dort ließ er beide Arme auf den Tisch nieder und legte seinen Kopf hinein. Das Mädchen betrachtete ihn mit wachsender Angst. Eilig setzte sie sich neben ihn und legte ihre Hand vor seine Stirne.

»Franz! Was hat's denn geben? Schau, sag's mir!«

Aber der Lehrer rührte sich nicht. Anna hörte seine schweren, stöhnenden Atemzüge und bemühte sich, seine Augen zu erhaschen. Als das nicht gelang, neigte sie sich näher zu ihm herab und küßte ihn leise auf die Wange.

Ruckweise hob er den Kopf empor und sah sie an. Das Mädchen erschrak furchtbar vor seinem Aussehen. Das Haar hing verwildert in das bleiche, abgespannte Gesicht, die halbgeöffneten Augen waren müd und ausdruckslos, und die Falten, die sich schon lange in die Stirne des Lehrers gegraben hatten, erschienen tiefer und dunkler wie jemals. Wie ein alter Mann saß er vor ihr.

Anna suchte ihre Erregung zu bemeistern und lehnte sich an seine Schulter. So hatte sie ihn noch nie gesehen, noch niemals solches Mitleid für ihn empfunden, wie jetzt, als er stockend und tonlos berichtete, was ihm im Pfarrhaus begegnet war. Dem Mädchen war seine unheimliche Ruhe entsetzlich. Wenn er nur toben und schreien wollte, sie ertrüge es leichter, als diese starre Verzweiflung über das Kind, das man aus seinen Händen reißen wollte, um es einzumauern auf Nimmerwiedersehen. Mit ganz anderen Augen sah Anna auf einmal zu ihm empor. Jetzt wußte sie. wie der Lehrer an den Jungen hing, wie er die Anleitung seines Schülers fürs künftige Leben als seinen Stolz und sein heiliges Recht betrachtete, das er nur mit brechendem Herzen verloren gab.

Fester schmiegte sie sich an ihn. Ihre eigene Schulzeit fiel ihr ein, während er so redete. Sie hatte den Unterricht als etwas Selbstverständliches hingenommen und nie darüber nachgedacht, daß noch andere Ziele und Bestrebungen den Lehrer leiten konnten, als das tägliche, mechanische Einbläuen der Lehrfächer in beschränkte, hilflose Geschöpfe, die eine zähe Geduld und Ausdauer verlangten. Wenn ihr Gattl auch tausendmal sagte, wie hoch er seinen Beruf auffaßte, was er wollte und zu erringen suchte – niemals noch hatte sie ihn so verstanden wie heute, wo er vernichtet vor ihr saß und über der Zukunft des Jungen seine eigene vergaß.

Sie schämte sich ihrer Blindheit und zuckte zusammen, als sie weiter bedachte, welchen Lohn der abgehetzte Mann für seine Menschenliebe empfing. Den Geistlichen glaubte sie zu sehen, zu dem sie nur mit geheimer Furcht aufzublicken vermochte, seitdem sie Gattls Verlobte war. Schrecklicher aber, als unter der vergoldeten Kanzeldecke, wenn er mit drohender Gebärde auf die lodernden Flammen der Hölle wies, schrecklicher als im Beichtstuhle, wo er Strafe und Buße verkündete, schien ihr der Priester am heutigen Tage, wo er mit unbarmherziger Strenge über ihren Verlobten die Fuchtel schwang und ihm sein schönstes Recht streitig machte.

»Fehlt dir was, Anna?« fragte jetzt der Lehrer. Zwei große Tränen schwammen in ihren Augen.

»Du ... du tust mir so leid.«

Nun schluchzte sie laut und schlang ihre Arme um seinen Hals. Er suchte sie zu besänftigen, aber es gelang ihm nicht. Sie verknüpfte die Hände noch fester und schüttelte heftig den Kopf.

»Sei vernünftig, Anna! Dich geht's ja nix an!«

»Oh«, stöhnte sie, und vergrub sich an seine Brust.

»Freilich geht's dich nix an«, fuhr er fort, »denn uns kann's ja weiter net schaden. I werd' dem Benefiziaten nimmer widersprechen und will still sein zu allem, damit's im Sommer fortgeht von hier. Aber, jetzt sei doch stad, was hast d' denn?«

»I bin a elendes Geschöpf, Franz.«

»Du? Warum denn?«

»Ja, ja«, rief sie, »i hab ganz schlecht an dir g'handelt.«

»Aber Anna! I versteh di net! Schau, mir tut's ja nur leid um den armen Buab'n ...«

Er konnte nicht mehr weiter reden und ließ die Faust schwer auf den Tisch herniederfallen. Sie hielt ihn noch immer fest umfangen.

»Anna!« sagte er, und hob ihren Kopf mit beiden Händen zurück. Als er sie küßte, antwortete sie stürmisch und glühend. Sie war ganz aufgelöst in Schmerz und Zärtlichkeit und riß ihn heftig an sich.

Im Zimmer war es unerträglich heiß und schwül. Die eiserne Ofentüre glühte und drinnen summten die flackernden Kohlen. Am Fenster tickte eine Weckuhr in heftigen, unruhigen Schlägen auf und ab.

Gattl strich sich die Haare aus der Stirne und blickte erregt um sich. Seine verzweifelte Ruhe war einer leidenschaftlichen Wallung gewichen, die sein ganzes Gesicht in zuckende Bewegung brachte. Mit beiden Händen fuhr er über Annas volle Arme und es war ihm dabei, als hörte er seine Pulse pochen. Endlich nahm er sich zusammen:

»Ich glaub ... es ist scho spät ... i muß fort, Anna!«

»Nein«, schrie sie, »nein! ich laß dich net fort!« Und noch wilder küßte sie ihn und zog sein Haupt an ihr tränenüberströmtes Gesicht. Wütend preßte er sie an sich, während sich seine Erregung mit jedem Schlage des vibrierenden Uhrenperpendikels erhöhte.

Da fuhr er plötzlich zusammen und lauschte mit angehaltenem Atem. Es war ihm mit einem Male, als ginge etwas Gräßliches um ihn vor, während das Mädchen voll hingebender Liebe an seinem Halse hing. Was war es denn? Nur langsam konnte sich Gattl zurecht finden und unterscheiden lernen. Aber jetzt erkannte er's, was so gedämpft in das Zimmer tönte, es war die gleiche Melodie, die er unten im Tale vernommen hatte, als der freche Bursche in die Kammer seiner Geliebten stieg.

Furchtbar zuckte der Lehrer zusammen. Was rief ihm denn dieser Ton ins Gedächtnis zurück? War er nicht hierhergekommen, um den Bauern warnen zu lassen, weil sich die Tochter unter dem Zimmer des schwerkranken Vaters in lüsterner Geilheit mit dem Liebhaber im Bette wälzte?

Und jetzt?

Jetzt saß er selbst da und hielt seine Braut im Arme, ein willenloses Opfer der durch schreckliche Jahre zum Wahnsinn gepeitschten Leidenschaft, das er wie fügsames Wachs in seinen Händen hatte, während der vertrauensselige Vater auf Stunden entfernt war, die Mutter drüben im Kirchhof vermoderte und die Dienstmagd bis in den grauenden Morgen im Wirtshause tanzte.

Entsetzlich war ihm dieser Gedanke. Weg mußte er und zwar gleich, auf der Stelle, denn einen Augenblick war es ihm, als sähe er den offenen Sarg mit der Leiche der Försterin im Zimmer.

Hastig griff er nach Annas Händen und wollte sie vom Halse lösen – umsonst!

»Anna!« ächzte er, »laß mich los, um Gotteswillen.«

Sie legte den Kopf ein wenig zurück und sah ihn an.

Wie eine sanfte Beruhigung überströmte ihn ihr zärtlicher Blick. Nein, nein, er konnte nicht gehen, er mußte hier bleiben bei dem zitternden Geschöpfe, das mit jedem Atemzug und Herzschlag sein eigen war.

Langsam traten die schrecklichen Bilder zurück, langsam verstummte die Musik ...

* * *

Draußen wetterte und stürmte es. Mitternacht war angebrochen und ein tobender Föhn hetzte mit lauwarmen Wogen über das Tal hinweg. In wuchtigem Anprall zersprengte er das Eis und stampfte den Schnee in den Boden. Von den Dächern begann es zu plätschern und heller schwammen die Schläge der Kirchenuhr, vom Winde getragen, in die feuchte Luft hinaus.

Tod und Vernichtung war dem Winter verkündigt vom ersten Frühlingssturm, der jauchzend über die Erde rauschte.

 

Auf der Landstraße, die von Norden nach Oberkarbach führte, schritt der Förster Johann Baptist Göpfert von Wallberg bedächtig dahin. Er trug seine beste Uniform und wippte in dem schmutzdurchsickerten Schneewasser der aufgeweichten Straße sehr vorsichtig nach allen Seiten, um nicht bespritzt zu werden. Am Vormittag war er von seiner Einöde, dem Forsthause, aufgebrochen, das sich in einem ausgeschnittenen Viereck des großen Wallberger Forstes befand und nun lagen schon die weitgezogenen Vorberge hinter ihm, deren Wälder mit blaugrünem Tone überhaucht waren, während sich auf den freiliegenden Hochwiesen noch graue Schneemassen zeigten. Auch unten im Tale kamen die Felder schon langsam aus der abschmelzenden Eisdecke hervor. Die feuchten Obstbäume längs der Straße auf den kotigen Wiesen sahen schwarz wie ruhige Kohle aus und sandten von ihren Ästen schwere Tropfen herab. Einige Krähen flatterten vorüber und eilten gegen den graufarbenen Himmel.

Lebhaft ging der Förster weiter. Er freute sich stets, unter Menschen zu kommen, denn er liebte eine lärmende und ausgelassene Geselligkeit. Kein Weg war ihm zu weit, wenn er von einer Lustbarkeit oder einem Festschießen hörte. Ein vortrefflicher Schütze, holte er sich von allen Orten, die er zu diesem Zwecke regelmäßig abzuwandern pflegte, gewöhnlich die ersten Preise. Aber auch als Witzbold verstand er eine Rolle zu spielen. Er war bei seinen Vorgesetzten und in ganz Mariakirchen ungemein beliebt, weil er gut Zither spielte und je nach der Stimmung und der Gesellschaft, in der er sich befand, auch Schnadahüpfeln und sonstige Scherze mit Humor vorzutragen verstand. Kam der »Baptistel«, so nannten ihn allenthalben seine zahlreichen Freunde, in ein besser besuchtes Gasthaus der Umgegend, so wurde er mit lautem Halloh empfangen, denn nun wußte man, daß es heute abend noch einen Heidenspektakel geben mußte.

In seinem Forsthause war es ihm viel zu einsam. Alle Abende, selbst im strengsten Winter und bei gräulichstem Wetter scheute er nicht den Weg nach dem Dorfe Wallberg, das eine Stunde vom Forsthause entfernt war und kneipte dort bis in die tiefste Nacht.

Heute nun schien er ganz besonderer Stimmung zu sein. Er lachte still vor sich hin, hob dann wieder den großen Strauß von Palmenkätzchen, Leberblümchen und Primeln, den er in der Linken trug, unter die breite Nase und blähte dabei die Nüstern. Auch den Taschenkamm hatte er nicht vergessen und brachte ihn in eine eifrige Verwendung, ehe er das Dorf betrat.

Nachdem er Toilette gemacht hatte, mit der er es diesmal besonders genau nahm, ging er auf einem Seitenwege zu dem ersten Hause und stampfte auf der großen Steinplatte vor dem Eingang den Schnee und das Wasser von seinen Stiefeln.

Poitens Gehöft war es, in das er eintrat, um zur Krankenstube zu gehen. Er fand Kreittmayer bei dem Bauern und bedeutete den Beiden, sie möchten ruhig sitzen bleiben.

»Wie geht's, Poiten?« fragte er und ließ sich auf einen Stuhl nieder.

Der Kranke hob die Hand und ließ sie matt wieder herabfallen.

»O mei, Herr Förster? Wie geht's? Schlecht geht's. Alleweil no koa Besserung.« Er schüttelte den Kopf. »Des werd a nimmer.«

»Oho, oho«, lachte Göpfert, »war net übel!«

»Na, des werd nimmer«, sagte der Bauer, »jetzt lieg i sieben Monat scho so do!«

»No ja, deswegen darf ma no lang net verzweifeln, gelt Kreittmayer?«

Der Wirt hatte mit Verwunderung den Strauß betrachtet, den der Förster in der Land hielt. Jetzt fuhr er zusammen:

»Freili net! Der Poiten braucht keine Angst z' haben, i sag's ihm jeden Tag! All's muß wieder gut werd'n, schon deswegen, weil er so gottergeben und geduldig is. Schauen's her, Herr Förster: Is er net im August durch eine wunderbare Fügung Gottes noch gerettet worden?«

»Versteht si«, meinte der Förster und kratzte sich in der Hüfte.

Müde blickte der Kranke vom Lehnstuhle zu ihm.

»Des is so freundli«, sagte er, »daß S' mi wieder b'suach'n.«

»Is scho recht, Alter.«

Eine kleine Pause trat ein. Der Wirt sah nach der Decke, wie immer, wenn er nicht wußte, was er anfangen sollte, der Kranke stierte auf seine abgemagerten Hände und Göpfert zupfte an dem weißen Bindfaden, der die Blumen zusammenhielt. Endlich stand der Förster auf und warf seinen Lut lässig zu Boden, während er sich räusperte:

»Poiten«, sagte er, »i bin kommen, um mit dir was z'reden und zwar was Wichtig's.«

»Soll i vielleicht 'nausgehen, Herr Förster?« fragte leise der Wirt.

»O na, was i z'sagen hab, des kann a jedes hör'n, des is nix hoamlichs und in a Stund da is ja eh scho im ganzen Dorf bekannt. Also no amal, Poiten!« Er hob weit die kolossale Brust heraus: »I halt um dei' Tochter, um die Kathi an!«

Mäuschenstill war's im Zimmer. Der Bauer schien nicht recht verstanden zu haben. Er glotzte mit weit aufgerissenen Augen den Wirt an, der ihm mit freudestrahlendem Gesichte zunickte und viel ungeduldiger auf die Antwort zu warten schien, als der siegesgewisse Göpfert. Dieser mußte über die Unbeholfenheit des Kranken lächeln. Der Bauer konnte eben sein Glück noch nicht fassen und war zu unvorbereitet.

»Red' doch! Red, doch!« wisperte Kreittmayer und sah Poiten an.

Der Kranke kam langsam zu sich.

»Ja mein, Herr Förster«, hub er zögernd an, »Sie wollen die Kathi heiraten?«

»Natürli«, schmunzelte Göpfert, »muaßt di aber net so aufregen deswegen.«

Poiten langte nach seinem Kopfe:

»Des geht aber net, Herr Förster, des geht net, absolut net«, stotterte er.

Wenn die Decke eingefallen wäre, so hätte es Göpfert nicht so aus aller Fassung gebracht, wie dieses »es geht net, Herr Förster«, das er erst mechanisch laut wiederholte, während er mit aufsteigender Wut zu dem Bauern herabblickte.

»Es geht net?« schrie er jetzt, daß die Fenster klirrten. »Warum net? Des will i wissen!«

Auf dem Gesichte des Kranken zeigten sich rote Punkte, der Wirt aber blickte in die Stube, als ob er einen Schlag auf seinen schiefen Mund bekommen hätte.

»Warum geht's net? frag i no amal«, tobte Göpfert. »Bin i dir am End net guat gnua als a königlicher Beamter, möchtst an Grafen oder gar an Köni? ha, ha?«

Der grobe Ton des Sprechenden regte den Kranken auf und aus den gläsernen Augen sprach ein gewisser Trotz, als er jetzt erwiderte:

»Darauf geht's net naus, Herr Förster, aber der Herr Benefiziat hat mir zug'redt ... i ... i soll meine Kinder der Kirch' schenka ... der Hansl der soll a Geistli werd'n, is scho all's in Ordnung, und de Kathi, hat er neuling g'moant, de sollt i halt, weil i do weg muaß von derer Welt, in's Kloster schicka. Dort war's alleweil no besser aufg'hob'n als heraußen bei 'm Mannsbild, so hat er g'moant.«

Mit wütendem Gelächter beantwortete Göpfert diesen Redeschwall. Er schleuderte den Strauß in die Ecke, so daß die Blumen weitauseinanderflogen, dann stieß er rasch hintereinander gotteslästerliche Flüche hervor und stampfte auf den Boden.

»Der Saupfaff, der elende!« brüllte er mit Aufwendung seiner ganzen Stimme. Entsetzt fuhr Kreittmayer zusammen und machte heimlich ein Kreuz.

»A Erbschleicherei, a ganz a miserable is de ganze G'schicht«, fuhr der Förster fort, »spannst's denn des net, alter Schafskops, daß der Kerl bloß dei Geld will? Z'erscht sollst 'n Buabn 'n Geistlichen wer'n lass'n! Is recht, meinetwegen, lass'n oan wer'n, aus dem war eh nix G'scheidts wor'n. Aber nacher kommt der Pfaff a no und will aus dem Madel a ... a Klosterfrau machen! 's is zum Totschiaß'n, ha, ha!«

Keiner der beiden wagte dem Rasenden zu entgegnen. Poiten stierte auf seine Hände und Herr Kreittmayer, der fromme Mann, befand sich in peinlichster Verlegenheit. Er, der täglich in die Kirche ging, allezeit fleißig opferte und bei jeder Ernte- oder Fronleichnamsprozession andächtig den Himmel trug, mußte es hier über sich ergehen lassen, daß eine seiner besten Kundschaften, und noch dazu der sonst so gutgesinnte, ordnungsliebende Förster, in gemeinster Weise auf den Geistlichen schimpfte. Verlegen holte er sein Schnupftuch hervor und schneuzte vernehmlich. Aber selbst dieses Mittel half nicht, der Förster nahm Poitens Schweigen für trotzige Verbissenheit und fuhr ungestört fort, weiter zu schelten.

»Wart nur!« schrie er, »wart nur! desmal leg i dem schwarzen Bruader sei Handwerk! Wart nur, i pfusch eahm bös eini. I geh 'nauf zu eahm ins Pfarrhaus, jetzt sofort, von hier aus ganz direkt, und bal er net nachgiebt, nacher wend i mi an's Bezirksamt, an's Landg'richt, an d'Regierung und woaß der Teufel an wen no.«

»Entschuldigen S', Herr Förster«, rief der Wirt und deutete mit der Hand nach der Türe, »es hat scho zweimal klopft.«

Göpfert ließ ärgerlich die erhobene Faust fallen und drehte sich um. Als er jetzt den Geistlichen erblickte, der über die Schwelle trat, stutzte er und wußte nicht recht, was er anfangen sollte. Wirklich erschrocken aber war über diesen unvermuteten Besuch der Wirt und vergebens suchte er aus dem regungslosen Gesichte des Priesters zu entziffern, ob dieser vor der Türe wohl die schweren Beschimpfungen seiner Person gehört hatte. War dies wirklich der Fall, was mußte dann der hochwürdige Herr von dem frommen Mathias Kreittmayer denken, der ja nur unfreiwillig Zeuge solch schwerer Sünden sein mußte.

Glücklicherweise schienen diese Befürchtungen unbegründet.

Freundlich, als ob nichts geschehen wäre, trat der Priester nach einem höflichen Komplimente für den zornroten Förster auf den Kranken zu und fragte nach seinem Befinden. Göpfert ging ans Fenster und hörte mit verbissener Wut die frommen Trostesworte an. Oh! Wenn er nur hineinfahren dürfte zwischen diese beiden! Er wollte ihnen die Schädel aneinander rennen, daß ihnen Hören und Sehen verginge. In immer wachsendem Zorne trommelte er an die Scheiben. Wer weiß, was er in seiner Wut noch Unsinniges getan hätte, wenn er nicht plötzlich vor dem Hause die Kathi gewahrt hätte, die einen großen, hölzernen Kübel vor den Brunnen schleppte. Was das Mädel für Arme hatte! Diese Gesundheit, diese Fülle am ganzen Körper! Und das wollte man ihm vor der Nase weg in ein Kloster führen, ohne daß er sich nur rühren dürfte? Gott bewahre! Der Förster Göpfert war nicht der Mann, so leichten Kaufes übertölpelt zu werden und ohne weiteres seine wohlerwogenen Pläne fahren zu lassen. Die hatte er sich in einem langen Winter sorgfältig zurechtgelegt und deshalb wollte er mit keckem Hiebe die hinterlistigen Pläne des Benefiziaten durchkreuzen. Unverzüglich ging er ans Werk.

»Hochwürden«, sagte er laut und fest, indem er in die Mitte des Zimmers trat, »ich hab Ihnen die Mitteilung z'machen, daß ich grad vorhin um die Poiten Kathi ang'halten hab!«

Diesmal war doch ein leichtes Zucken über das starre Gesicht des Priesters gegangen, aber fast unmerklich und schnell wieder verschwindend.

»Dann darf ich Ihnen wohl gratulieren, Herr Förster?« fragte er kalt.

»Nein, leider net, denn der Vater hat mir sei Zustimmung verweigert.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich, Hochwürden«, fuhr Göpfert fort, »und wissen Sie auch warum?«

»Wie soll ich das wissen?«

»Weil der Poiten sagt, daß des Madel ins Kloster kommen soll und zwar auf Veranlassung vom Hochwürdigen Herrn Benefiziaten.«

Immer entschiedener hatte der Förster geredet, aber der Geistliche bewahrte vollkommen seine Haltung:

»Das muß auf einem Mißverständnis beruhen, denn die Kirche läßt jedem freie Hand und zwingt niemanden in ein Kloster zu gehen, es wäre denn der freie Wille der Betreffenden!«

»Aber ...«

»Bitte um Entschuldigung, ich habe nur ein einzigesmal unserem kranken Poiten den schönen Spruch des Evangeliums: Wer seine Tochter verheiratet tut gut, wer sie nicht verheiratet tut besser! vor Augen gehalten. Das war alles, und ich möchte das sogar ausdrücklich feststellen, damit nicht weitere Mißverständnisse entstehen, die mir meinen Beruf als Seelforger unnötig erschweren.«

»Sonach haben also Hochwürden nix gegen meine Verheiratung einz'wenden«, fragte Göpfert in artigem Tone.

»Ich wüßte nicht, wie ich dazu kommen sollte.«

»No, Poiten,« rief der Förster, indem er sich zu dem Bauern wandte. »Jetzt hast d' es g'hört, de Kathi is vollständig frei, d'rum frag i no amal: Giebst's mir jetzt oder net?«

Mit zitternden Händen tastete der Bauer nach dem Arme des Priesters. Der Förster verstand kein Wort, als sich die beiden flüsternd unterhielten, aber er sah den Geistlichen mehrmals zustimmend nicken. Als die Unterhaltung beendet schien, wiederholte Göpfert seine Frage und verlangte sofortige Antwort. Poiten reckte sich mühsam ein bischen empor und räusperte sich. Er wollte bei dem bedeutungsvollen Akte doch eine gewisse Feierlichkeit nicht entbehren und sich in Positur werfen. Erst knöpfte er sein offenstehendes Hemd zu, dann schob er die Decke zurecht und holte Atem:

»Der Herr Benefiziat ... der hat ... sei'n Segen geb'n, drum sag i ja, Herr Förster, i hab nix mehr dawider!«

Göpfert gab ihm die Hand und wandte sich mit triumphierendem Gesichte zu dem Geistlichen:

»I sag Hochwürden den herzlichsten Dank für die güatige Fürsprach, in mei'm Namen und a glei für de Kathi.«

Auffallend blaß sah der Geistliche aus. Er verneigte sich leicht gegen den Förster und verließ nach kurzer Verabschiedung von Poiten eilig das Zimmer.

Nun aber brach bei Göpfert ein Übermut hervor, der sich bis zur Ausgelassenheit steigerte.

»Mach, daß d' naus kommst, Kreittmayer!« schrie er dem Wirt zu, der mit scheuer Bewunderung diese Szene beobachtet hatte, »hol a Bier oder an Schampanija her, jetzt woll'n wir amal lusti sein.«

Kreittmayer eilte zur Türe.

»Kannst a de Kathi glei mitbringen«, rief ihm der Förster nach. »Wir müssen's ihr jetzt do a sagen, was ihr bevorsteht, gelt, Poiten?«

Der Bauer stimmte seinem Schwiegersöhne zu und Göpfert rieb sich zufrieden die Hände. War es doch ein echter Jägerstreich, der ihm den raschen Erfolg gesichert hatte. Vielleicht zwei Tage später, und alles wäre verspielt gewesen, aber die Jäger stehen früh aus, Herr Benefiziat! Ha! ha! Wie den finsteren Patron wohl die Dankesworte getroffen haben mochten, die ihm der Förster absichtlich noch auf den Weg mitgab, als reinsten Hohn auf die Tätigkeit des eifrigen Seelsorgers! Das verdiente er schon, der heimtückische Geselle, der ein blitzsauberes Mädel ins Kloster sperren wollte. Nichts da! Der Baptistel ließ nicht mit sich spaßen. Was ihm in den Weg trat, das stieß er rücksichtslos nieder und so wollte er's auch für alle Zukunft halten, denn auf diese Weise kommt man am besten durch das Leben.

Gemächlich wandte sich Göpfert zur Türe. Dort erschien der ausgesandte Kreittmayer mit vier Flaschen Rotwein, einem Päckchen Zigarren und mehreren Gläsern. Mit der anderen Hand zog er Kathi herbei und schob sie direkt vor den Förster hin. Göpfert betrachtete sie schmunzelnd.

»Geh her, Kathi«, sagte er, »brauchst net g'schami z' sein, derfst mi scho anschaug'n. So is recht! Und jetzt sagst mir amal: »G'fall i dir oder g'fall i dir net?«

Das Mädchen wußte nicht, was das heißen sollte und blickte ihn unsicher an.

»Sie merkt no gar nix,« lachte Göpfert zu Kreittmayer hin. »Is a dalkets Ding, de Kathi, weil s' no net g'spannt hat, daß i d'rein verliabt bin. Woaßt was, Madel? A Bussel sollst mer geben, heiraten sollst mi, hast mi jetzt verstanden?«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, packte sie der Förster mit beiden Händen und schmatzte mit breitem Behagen drei Küsse auf ihre Lippen. Als er sie losließ, war ihr Gesicht dunkelrot und der geschlossene Mund zitterte in heftiger Bewegung.

»Ganz stumm is s' no, de Kathi«, lachte der Wirt, indem er die vollen Gläser herumreichte.

»Also stoßen wir an!« schrie Göpfert und ging auf seine Braut zu.

Diese stand wie versteinert auf ihrem Platze. Sie hob das Glas nicht empor, das man ihr in die Hand gedrückt hatte.

»Was is denn das?« fragte der Förster gedehnt, weil er jetzt ihr sonderbares Wesen bemerkte.

Ein schrilles Klirren bedeutete die Antwort, Kathi hatte das Glas fallen lassen. In Scherben lag es am Boden, und der rote Inhalt strömte wie eine lange Blutlache über die Dielen. Alle blickten auf das Mädchen, das laut zu weinen begann.

»Du bist aber a dumm's Ding«, sagte Göpfert. In den Ton seiner Stimme mischten sich Ärger und Mißbehagen. Was hatte sie denn, die alberne Dirne, warum weinte sie mit einem so blödsinnigen Gesichte und ließ dabei die Arme hängen, wie ein armer Sünder, den man zur Richtbank führt!

Der alte Bauer suchte das Rätsel zu entziffern. Er sah mit zusammengezogenen Brauen auf seine Tochter:

»Was flennst? ... A Antwort giebst! ... Ha? ... der Herr Förster will di heiraten, so viel wirst wohl verstanden hab'n, und i und der Herr Benefiziat haben 'n Segen dazu geben, also nacher werd's dir wohl a recht sein?«

Sie fand immer noch keine Worte.

»Des G'flenn kannst bleib'n lass'n! ... da gehst her und giebst 'm Herrn Förster d' Hand und sagst eahm. daß d' a liabs Madel sein willst ... verstehst du?«

Das laute Sprechen wurde ihm sehr schwer, und als er jetzt noch eine unwillige Bewegung gegen die Weinende machte, war es mit seiner Kraft zu Ende, er sank erschöpft in den Stuhl zurück. Göpfert klopfte ihn beruhigend auf die Schulter und trat dann wieder zu Kathi.

»No, was is?« fragte er so freundlich, als es ihm möglich war.

Sie hatte ihre Schürze vor die Augen gezogen und schluchzte, daß es den Körper durchzitterte:

»I ... i will a brav's Madel sein, Herr Förster!« stieß sie hervor.

»So is recht«, rief Göpfert. »Jetzt hörst aber's Woana auf, der Vater is scho wieder guat. Sie kann's halt no gar net begreif'n«, wandte er sich zu den anderen.

»Natürli, natürli«, nickte der Wirt und bot ihr ein anderes Glas an, »da, Kathi, ja so, Fräulein Kathi, hab' i sag'n woll'n, ja, ja, sie is ja jetzt de Braut vom Herrn Förster. Versteht si! Also auf Ihr wertes Wohl und auf'm Herrn Förster sein Wohl!«

Göpfert riß dem Mädchen die Schürze lachend herunter und grinste ihr in das heiße Gesicht.

»Stoß an!« schrie er.

Fröhlich klirrten die Gläser.

»So, und jetzt gehst her zu mir und thuast di auf mein' Schoß setzen!«

Er drückte die völlig Widerstandslose auf seine Knie herab und klopfte ihr lachend auf den Rücken, daß es nur so patschte.

Befriedigt nickten Kreittmayer und der alte Bauer, so gehörte sich's.

 

In üblerer Stimmung war der Geistliche selten nach Hause gekommen, wie an jenem Abende. Er hatte kaum Hut und Stock abgelegt, als er schon den Lehrer herbeirief und ihn anfuhr, ob der Poiten Hansl vielleicht gar noch heimliche Zeichenstunden im Forsthause bekäme. Gattl verneinte, der Priester aber war ganz wütend und schrie mit immer stärkerer Stimme, daß der Junge schon in allernächster Zeit das Dorf verlassen müsse, um seine Studien zu beginnen. Es solle Gattl ja nicht einfallen, den Buben etwa abspenstig zu machen.

Als ob es ihm noch darum zu tun wäre! Gattl begriff nicht, warum diese Warnung so seltsam wiederholt wurde, drei-, viermal nacheinander. Das war ihm doch alles schon vor einigen Wochen gesagt worden, und zwar in einem Tone, der über die Zukunft des Knaben nicht den leisesten Zweifel mehr gestattete. Wie sollte er also noch zu widersprechen versuchen?

Der Geistliche begann aus die irreligiöse Welt zu schimpfen und Gattl stimmte ihm bei, wie er in letzter Zeit überhaupt pagodenmäßig alles bejahte, was ihm vorgesagt wurde. Hätte sein Vorgesetzter behauptet, der Himmel sei grün, die Sonne drehe sich um die Erde, oder das Eisen sei Zucker, auch dagegen hätte er nicht mehr oponiert.

Seitdem er in jener stürmischen Nacht ins Pfarrhaus zurückgekehrt war, ging er umher wie ein Fluchbeladener, der sein Verbrechen an alle Wände geschrieben sieht. Er war ein anderer geworden. Immer bemühte er sich dem Geistlichen zu gefallen, wo er nur konnte, er redete ihm nach und es kam sogar vor, daß er Schulkinder verklagte, die auf dem Chore nicht andächtig die Messe verfolgten. Er selbst fühlte, wie sein Charakter in dieser kurzen Zeit untergraben wurde durch eine Liebedienerei, vor der ihm oft ekelte, aber er konnte nicht anders. Eine sinnlose Angst, die sein blasses Gesicht entstellte, trieb ihn gewaltsam dazu.

Sein jetziges Verhältnis zu Anna machte ihn so schreckhaft und nervös, daß er auffuhr, wenn eine Diele krachte, daß er sich kaum mehr allein in die Kirche zu gehen traute, wenn er die Abendglocke läuten sollte, und daß ihn ein Zittern überlief, wenn er den Geistlichen kommen hörte, in dessen marmornen Zügen er dann zu lesen versuchte, ob das Geheimnis vielleicht schon verraten sei.

Einmal hatte er bereits alles verloren gegeben. Das war am ersten Morgen nach seiner furchtbaren Heimkehr aus dem Forsthause gewesen. Der Geistliche war ihm mit sonderbarem Blicke gegenüber getreten und hatte ihn gefragt, warum er erst um drei Uhr früh sein Lager aufgesucht habe. Was er ihm darauf geantwortet hatte, wußte Gattl heute selbst nicht mehr. Wirre Worte waren es gewesen, die ihm seine Angst entlockte und wie ein Sünder hatte er vor dem Priester gestanden.

Seitdem war nichts mehr darüber gesprochen worden, aber der Lehrer glaubte bestimmt, wenn er sich zu Bette legte, daß er am anderen Tage mit der Schreckensbotschaft geweckt werde, daß alles bekannt sei.

Und trotz dieser Furcht und Aufregung, in der er lebte, zog es ihn immer wieder mit magnetischer Gewalt in Stunden, wo er unbelauscht mit Anna beisammen sein konnte, ins Forsthaus hinüber. Die Momente leidenschaftlicher Hingabe waren die einzigen Betäubungsmittel für diesen unerträglichen Zustand, und Anna, die in der ersten Nacht wie eine Irrsinnige emporfuhr, als ihr nach verrauschtem Sinnestaumel die grausame Nüchternheit wieder klar vor die entsetzten Augen trat, Anna, die dem heimkehrenden Vater nur mühsam ihre furchtbare Erregung mit dem Hinweis auf Gattls tiefe Kränkung verbergen konnte, hatte sich nach Überwindung des schrecklichen Aufruhrs wiedergefunden und trat um so sicherer auf, je mehr ihr Verlobter unter der schrecklichen Ungewißheit seinen Stolz verlor.

Sie war ruhiger geworden und ihre heitere Gelassenheit dem Förster gegenüber ließ diesen nicht ahnen, was oft in den Stunden seiner Abwesenheit im Forsthause vorging. Wohl aber fiel ihm das scheue Wesen des Lehrers auf, über den sich verschiedene Bauern bei Balder beklagten, weil ihre Kinder jetzt so häufig ohne irgend eine Ursache geprügelt wurden. Der Förster unterließ es, Gattl daraufhin anzureden, weil der Lehrer bei der geringsten Gelegenheit immer ganz außer sich geriet, oft über Dinge, die ihn gar nicht betrafen. War er doch jüngst wie rasend geworden, als ihm Balder erzählte, er habe ganz im geheimen munkeln hören, daß der Lechner Toni mit der Poiten Kathi ein Verhältnis habe! Man konnte nichts mehr mit ihm anfangen, und wenn Balder auch ein gut Stück der Aufregung den bevorstehenden Prüfungen zuschob – ganz ausreichend war ihm der Grund noch nicht für dieses merkwürdige Benehmen, das ihn mit noch größerer Besorgnis erfüllte, als er den Lehrer eines Nachmittags im Walde unbemerkt beobachtete.

Wie ein Geisteskranker hatte Gattl auf dem einsamen Spaziergang in der Luft herumgefuchtelt und halblaut mit sich selbst gesprochen. Dann war er tiefer in den Wald hineingegangen. Der Förster wollte ihm nicht folgen. Wäre Balder aus seinem Verstecke plötzlich herausgetreten, so hätte der Lehrer im ersten Schrecken ihm wohl alles erzählt, was ihn an diesem Tage bedrückte und damit zugleich sein eigenes Geheimnis verraten.

Einen jungen Dorfschullehrer hatte man Knall und Fall auf ein Jahr außer Dienst gesetzt, weil sein Verhältnis mit einem Mädchen des Ortes nicht ohne Folgen geblieben war. Von einem Schulfreunde erhielt Gattl die Nachricht, die ihn wie ein Donnerschlag traf.

Auf seiner Wanderung durch den weiten Forst, dessen Boden noch schmutziger Schnee bedeckte, faßte er den festen Entschluß nie mehr zu Anna zu gehen, wenn sie allein sei. Aber was half ihm das?

Drei Tage später war er seinem Vorsatze schon wieder ungetreu geworden und dafür erschien am anderen Morgen das Schreckensgespenst des entlassenen Kollegen, das ihn ruhelos herumhetzte und ihn noch kriechender gegen den Geistlichen machte.

Wo das hinaussollte, wie das noch endete? Er wurde oft ganz wütend auf Anna, weil sie so sorglos dahinlebte und ganz gelassen zur Kirche ging. Wie konnte sie das nur? Er beobachtete sie verstohlen, wie sie betete. So ruhig und innig wie vorher tat sie es. War das Heuchelei? Ach nein, dazu war sie doch nicht fähig! Aber was war es denn sonst? Er zerbrach sich den Kopf, und wurde nicht klug aus dem Mädchen. Vor einer Frage schämte er sich, und nun quälte er sein Hirn ab, wie er es nur anfangen könnte, mit ihr darüber zu reden, weil er dieses rätselhafte Benehmen einfach nicht fassen konnte. Vielleicht wäre es ihm sogar lieber gewesen, wenn sie hülflos gejammert und am ersten Tage dem Vater gleich alles verraten hätte.

Als sie ihn aber wieder einmal scherzend ermunterte seine geheimen Sorgen zu vergessen und ihm fröhlich in die Augen lachte, da platzte er doch heraus:

»Anna, gelt ... du glaubst noch an Gott?«

Sie sah ihn groß an, ihre Züge wurden sehr ernst.

»Aber, Franz, wie kannst du nur so fragen?«

»Hab' i dir weh gethan?«

»Des net, aber i versteh' die Frag' net.«

»Schau, Anna«, fing er wieder an, »ich hab' dich, es sind freilich scho mehrere Monat her, oben in der Gaifschlucht auf der Brücken einmal g'fragt, ob du mit mir da 'nunterspringen könnt'st. Du hast dich damals so entsetzt, und i hab wohl g'merkt, daß i dein Glauben da beleidigt hab. Besinnst di noch?«

Es dämmerte langsam in ihr auf. Was vor jener Nacht lag, in der sie sich ihm hingegeben hatte, schien ihr wie verschwommen, und sie mußte sich erst langsam darauf besinnen.

»Ich weiß scho noch«, sagte sie endlich ganz leise.

»Siehst, Anna, des war von mir net recht, daß i dir so was g'sagt hab', denn ... du wirst ja selber wissen ... das war ja a Dummheit von mir, es war auch ... a Sünd!«

Er hatte es glücklich heraus, was er sagen wollte und blickte sie erwartungsvoll an. Anna senkte die Augen und schwieg. Deutlicher tauchte die Szene vor ihr auf.

Damals – und heute!

»Du mußt mir net bös sein, Anna, daß i von dem Tag no amal ang'fangt hab«, bat er zögernd.

Sie schaute ihn ruhig an. Aus ihrem Blicke sprach eine unendliche Zärtlichkeit:

»I bin dir net bös, Franz«, sagte sie sanft. »Ich hab' damals Unrecht g'habt, net du.«

»Wieso?«

»Weil ich dich lang net so liab g'habt hab, als wie heut, wo ich 'nunterspring', wenn du's verlangst!«

Sprachlos starrte er sie an. Sie lächelte bitter.

»Gelt, ich bin recht schlecht word'n«, sagte sie nach einer langen Pause, »recht schlecht, seit ...«

»Anna, um Gotteswillen, so was mußt d' net sagen!«

Sie seufzte.

»I kenn' deine Gedanken schon, wenn du zu mir auch noch nix g'sagt hast. Gelt, Franz, du wunderst dich halt, daß i so ruhig, und so ... so gleichgültig bin, daß ich in d' Kirch' geh ...«

»Anna!«

»I weiß scho, Franz, aber schau, i kann nix dafür. Vielleicht wunderst d' dich noch viel mehr, wenn i dir sag', daß i noch nie in mei'm Leben so freudig zu mei'm Herrgott bet' hab', wie grad von dem Tag an, wo i ganz dein g'hör.«

»Ja, aber ... wenn du beichten mußt, Anna?« fragte er und sah verlegen zu Boden.

»Glaubst, mir wär' davor bang? Ich hab' nix auf dem Gewissen, was ich net beichten könnt'«, sagte sie fest.

Er wollte noch etwas erwidern, aber er brachte es nicht heraus. Gedankenlos küßte er sie und verabschiedete sich. Anna sah ihm lange nach, als er zum Pfarrhaus ging, wo er noch am selben Abend die Verlobung des Försters Göpfert mit der Poiten Kathi erfuhr. Wäre er schuldlos gewesen, so hätte ihn gerade diese Mitteilung heiter gestimmt, weil hier ein roher Gimpel so plump in das Netz ging, jetzt aber regte sie ihn auf. Er überlegte sofort, ob ihm nicht durch seine Mitwissenschaft von Kathis Verhältnis Nachteile erwachsen könnten, und suchte den Augen des Geistlichen auszuweichen, die wieder so seltsam auf ihm zu ruhen schienen. Wie konnte er früher diesen Blicken begegnen, als er noch ein gutes Gewissen hatte!

Bald nach Tische bat er um Erlaubnis ausgehen zu dürfen und schlich davon.

Die milde Luft eines dämmernden Frühlingsabends umfing ihn auf dem Bühel. In den kahlen Baumkronen schwebte bläulicher, zarter Duft und in feinen Nebelstreifen wogte es auf dem dunstigen, braunen Boden. Ein heller, zitronengelber Schein strömte im Westen zum dunkelnden Himmel empor und intensiv leuchteten die vergoldeten Kreuze des Friedhofs an der weißen Mauer der Kirche.

Der Lehrer hatte keine Augen für die Pracht des lauschigen Abends. Er watete durch den Schmutz der aufgeweichten Straße zum Wirtshaus, wo er jetzt, da er öfters zusprach, ein gar beliebter Gast geworden war.

Heute hieß ihn in der dunkeln Stube Frau Kreittmayer willkommen, die mit einem Burschen hinter dem brummenden Kachelofen saß. Als sie Licht brachte, erkannte der Lehrer in dem stummen Gaste den Lechner Toni, der am Tische kauerte und schwer betrunken zu sein schien. Seine Axt mit den starken Seilen hatte er neben sich auf die Bank gelegt und seinen schäbigen Filz verkehrt aufgesetzt. Die langen Spitzen seines blonden Schnurrbarts, die nach unten hingen, rahmten das unrasierte Kinn ein und die grauen Augen irrten rauflustig und verwegen in der Stube herum.

Gattl war dieses Zusammentreffen nicht angenehm. Er setzte sich an einen anderen Tisch und schenkte dem Burschen keine Beachtung. Doch der Toni verstand sich Geltung zu verschaffen:

»He! no a Maß her, Wirtshaus! Heut kummt's mer net drauf an. No, werd's bald? Wirtshaus, Saufhaus!«

Die Wirtin brachte das Verlangte und nahm ihm gegenüber auf der Bank Platz, wo sie sich mit halber Wendung dem Lehrer zudrehte und den linken Arm auf die Lehne, den rechten auf die Tischplatte stemmte. Nachdenklich zog sie die breite Unterlippe herauf und stierte ins Leere.

»Was sagen S' denn nur zum Herrn Förster und zu der Kathi, Herr Lehrer? Ha, des war a Überraschung?«, fragte sie endlich.

Gattl zuckte die Achseln und hustete leicht.

»Des war a Freud«, fuhr die Wirtin fort, »wie mei Mann vom Poiten kommen is und die Verlobung verzählt hat!«

»Glaub's, glaub's«, sagte der Lehrer.

Toni lachte verschmitzt und trank aus seinem Kruge. Frau Kreittmayer wollte dieses Thema noch nicht verlassen:

»No, das gibt a sehr schöne Heirat und a guate Eh! De zwoa passen z'samm. Der Herr Förster is a braver Mann und de Kathi is a solid's, ordentlich's Madl.«

Der Betrunkene lachte höhnisch:

»G'wiß passen de zwoa z'samm! ... Und mit 'm Heiratsguat tuat si de Kathi a leicht ... kriagt ja 'n Förster ... Da braucht's koane G'weih ins Haus z'bringen!«

»Geh, du wüaster Kerl!« eiferte die Wirtin, »muaßt auf alle Leut 'n Dreck schmeißen?«

Toni grinste und ließ den Kopf fallen:

»Warum net gar! I freu mi ja bloß«, lallte er.

Die Türe ging auf und mit zwei leeren Biergläsern trat die Magd vom Forsthaus in die Stube.

»Frau Wirtin, san S' so guat!«

Der Betrunkene bemerkte das Mädchen:

»Mari! Mari! Da geh her! Trink bei mir!«

Damit hielt er ihr den Krug hin. Magst amal wieder mit mir zum Tanzen geh'n?« fragte er.

Sie tat beleidigt:

»Du bist mer scho der Rechte!«

Er zwickte sie in den Arm und lachte plump.

»Deswegen geh'n mer do zum Tanzen, gelt, Mari!«

Herr Kreittmayer, der mit den gefüllten Gläsern, an Stelle seiner Frau, zurückkam, hörte diese Worte, und schien sehr entrüstet:

»Schamst di net, Toni, jetzt in der Fastenzeit vom Tanzen z' reden?«

»Derf mer bei dir am End net davo red'n? Ha? Unseroans möcht a a Freud hab'n, wia de andern Leut von derer Welt, die alle nix arbeiten.«

Dem Lehrer wurde es zuviel, er zahlte und folgte der Magd ins Freie.

Stumpfsinnig grinste ihm der Holzknecht nach:

»Des is a so a Schuft, so a Tagdiab, der Lehrer da«, sagte er zum Wirte. »A Faulenzer is er, der nix thuat, der koa Arbeit kennt. So oaner bal sie plagen müaßt, wie unseroans!

»Muaßt du di gar so plagen?«, fragte der Wirt.

»I? Des machst guat, Kreittmayer! I schind mi 'n ganzen Tag und dö Förster gaffen zua und strecken de Pratzen in d' Taschen. De Förster san a alle Schuften, alle mitananda!«

»Toni, halt dei Maul!« rief der Wirt.

»Alle san's Schuften, grad extra sag' i des! Und de Lehrer san net besser. Ja, g'schwolln daher red'n in da Schul und im Leben ... 'n Moralischen 'raushäng'n, des können's, aber derweil san s' alle Spitzbuab'n, b'sonbers der, der da grad 'nausganga is.«

Der Wirt horchte auf.

»Was moanst benn damit, Toni«, fragte er freundlich.

Der Holzknecht lachte verbissen:

»Ja, gelt? Jetzt möchtst 's wissen? Ha! ha! Oh, i sag' enk, bal i red'n wollt!«

»No so red halt«, wisperte Kreittmayer und klopfte ihm zutraulich auf die Schulter.

Die Zunge des Betrunkenen würde immer schwerer. »Na, i red net ... derf net ... nix sagen«, aber ... ha, ha, des oane woah i, daß' im Forsthaus dianderweil lusti zuagehn soll, wenn der Alte net dahoam is!«

»So, so, so? Ja, was is denn da los? Geh', verzähl' mer's Toni! Wahrscheinli betrifft's de Fräulein Anna?«

Toni mußte unbänbig lachen:

»Ja, ja, ja, ja! es betrifft de ... de sogenannte Fräulein An–na!«

Der Wirt ließ den Betrunkenen in Ruhe. Er hatte genug erfahren und mußte es so schnell wie möglich seiner Frau sagen, denn diese Neuigkeit machte ihn ganz zappelig.

In der Küche fand er die Wirtin und zog sie eilig in eine Ecke. Sie schlug die Hände zusammen und wollte ihn mit den Augen förmlich durchbohren.

»Pst! Pst! Stad sein, abwarten und zu koan' Menschen vorerst was verlauten lassen«, sagte er und legte den Finger an den Mund, nachdem er sich vorsichtig umgesehen hatte.

 

Weiche Winde zogen durch das Tal. Die frischgepflügten Felder waren vom ersten, schüchternen Grün überhaucht und in den dickgeschwollenen Zweigen der Buchen und Gebüsche, wo zwitschernde Vögel sangen, sproß es von aufkeimendem Leben. Auf den Höhen waren Wasserfälle entsprungen und feine Staublawinen lösten sich in der Mittagssonne von den Felsen. Bis ins Dorf donnerte der angeschwollene Sturz des Gaifbaches von der dampfenden Schlucht heraus. Dort, in dem feuchten Schlunde hatte sich der Winter noch festzukrallen versucht, aber auch hier fingen die gigantischen grünschillernden Eisklötze der mächtigen Wände schon zu bersten an und zerschlugen mit furchtbarem Getöse an den zackigen Felsen der Tiefe.

Das Fest der Auferstehung feierten Natur und Kirche.

Über die simpel gemalte Höhle, die den Leichnam des Erlösers zwischen bunterleuchteten Glaskugeln barg, war ein schwarzer Vorhang herabgefallen und am Hochaltare prangte auf dem Tabernakel der Heiland mit seinen Blutmalen und hielt eine Fahne in der Rechten.

Christus ist erstanden, hallelujah, sang der Chor unter schmetternden Posaunenklängen, und der Priester segnete, von Weihrauch umbrodelt, seine Gemeinde.

Sonnige Festtage folgten, und hocherhobenen Hauptes stolzierte der Förster von Wallberg mit seiner Braut in die Kirche. Kathi sah ganz allerliebst aus. Die steife Tracht vermochte die abgerundeten Formen ihres Körpers, der bei aller Derbheit etwas ungemein Gelenkes und Bewegliches hatte, nicht zu entstellen, und es war auffallend, wie sich dadurch das Mädchen von den anderen Dorfdirnen abhob, die alle viereckig aussahen, wie die riesigen Gebetbücher, die sie in den Händen trugen.

Absichtlich zeigte sich Göpfert im vollsten Staate.

Balder sollte sich zum Grünwerden ärgern und endlich erkennen, daß der Förster von Wallberg nicht mehr einer so hochmütigen Sippschaft nachzulaufen brauchte! Dort saß sie ja, die fromme Anna, zwei Betstühle vor ihm, und das stundenlange Hochamt, das Göpfert unerträglich langweilig vorkam, gab ihm Gelegenheit genug, die Andächtige zu beobachten. Wie sie sich verstellen konnte! Vor lauter Frömmigkeit hatte sie nicht einmal Göpferts Gruß erwidert, als sie in die Kirche trat. Kann lange warten, bis sie wieder angesprochen wird! Leider war Balder nicht in der Kirche. Gegen ihn hegte Göpfert den bittersten Groll, weil man dem eingebildeten Menschen so gar nicht beikommen konnte. Darum freuten ihn die anzüglichen Worte, die von der Kanzel fielen, nicht wenig, und er stimmte beim Verlassen der Kirche sehr eifrig dem guten Kreittmayer zu, der über die Gottlosigkeit Balders verzweifelt die Hände rang.

Der gottlose Mann war in seinem Walde gewesen. Dort schwamm alles in zitterndem Frühlingslicht unter den Ästen der Tannen und Fichten, dort sprudelten neubelebte Moosquellen, deren krystallklares Wasser in den Sonnenstrahlen blitzte, und von Mariakirchen tönten die Osterglocken herüber in die feierliche Stille des festtäglichen Morgens.

Der Förster hatte ein Wiedersehen mit seinem Freunde gefeiert. Je mehr sich der Frühling entfaltete und ein Blättchen nach dem andern unter dem warmen Regen herauskroch, um so sehnlicher wünschte Balder für seine Kinder die Erlösung herbei; denn der Lehrer war seit einiger Zeit immer krankhafter und erregter geworden. Oft schrie er laut auf, wenn er mit Balder beisammensaß. Beim Einstudieren der schwierigen Ostermesse hatte er in der Singstunde seine Violine zu Boden geschmettert und war aus dem Zimmer gestürzt. Fragte man ihn, was ihm fehle, so gab er keine Antwort und stierte geistesabwesend ins Leere. Der Förster merkte, wie seine Tochter darunter litt und das Schrecklichste war ihm, daß er stillschweigend zusehen mußte, ohne helfen zu können.

Da – endlich – an einem stillen Maiabende, als er vom Walde heimkehrte, war das längst Erwartete ganz unvermutet geschehen. Der Förster hörte hellen Jubel in seinem Zimmer und fand seine Tochter in den Armen des Lehrers, den sie unter Lachen und Weinen stürmisch liebkoste. Ohne jede vorherige Anmeldung war der Kreisschulinspektor plötzlich in die Schule getreten und nach strenger Prüfung sehr befriedigt wieder fortgegangen.

Das war ein Tag der Genugtuung für alle. Aber was sich Balder von ihm versprochen hatte, trat nicht ein. Mit Befremden bemerkte er, daß der Lehrer, trotz des günstigen Erfolges, kurz darauf in seinen Trübsinn zurückfiel und daß dieses bedeutungsvolle Ereignis, auf das man lange Jahre gewartet hatte, nur einen flüchtigen Tageseindruck hinterließ.

»Was hat denn nur der Franz?« fragte er Anna, als sie ihm eines Nachmittags im Garten des Forsthauses begegnete.

»I weiß net, Vater«, sagte sie zögernd und sah zu Boden.

Er merkte, daß sie zum Ausgehen bereit war und ihr Gebetbuch trug.

»Wo gehst hin?«

»In d' Kirch, Vater, zur Beicht.«

»Ach so! ... Nun, i kann a andersmal mit dir drüber reden, aber der Zustand von ihm is ganz bedenklich ... das kann ja nimmer so fortgehen.«

Sie schwieg und trat mit dem Fuße auf einen spitzen Stein des Weges.

»Ich hab'n jetzt lang beobacht'«, fuhr der Förster fort, »und bin in großer Sorg seinetwegen ... Jetzt laß di aber net aufhalten, Anna. Grüaß di Gott!«

»Adje, Vater.«

Er blickte ihr bewegt nach, als sie so dahin ging. Wieder mußte er ihrer ersten Kommunion gedenken. Auch heute war ein Maientag wie damals, und die Sonne lachte so hell in die jungen Birken hinein, doch war alles so verändert! Sein Kind schien ihm so gedrückt, so verschlossen, und statt des weißen Kleides trug sie ein schwarzes, das Trauerzeichen für die, die damals noch schützend neben ihr gegangen war.

Nun verschwand die dunkle Gestalt hinter einer Mauer und Balder konnte nicht mehr sehen, daß dort der Lehrer wartete, der schon seit einer Stunde in banger Ungeduld zum Forsthaus hinüber geblickt hatte.

Das nagende Bewußtsein, daß die Mädchen des Dorfes zur Beichte bestellt waren, hatte ihn ruhelos herumgetrieben. Was wird sie sagen? Tag und Nacht hatte ihm nur diese eine Frage vorgeschwebt. Wird sie alles beichten? dann war sein schlimmster Feind der Mitwisser ihrer Hingabe. Oder wird sie es verschweigen, weil sie ihre Liebe für keine Sünde zu halten schien? Wie kann sie das mit ihrem religiösen Gewissen vereinen?

Er hatte keinen Ausweg aus diesen furchtbaren Qualen gefunden und wollte ihr noch einmal entgegen treten.

»Anna«, sagte er und faßte ihre Hand, »gehst du wirkli in die Beicht'?«

Sie sah in seine umflorten Augen und fühlte deutlich, daß er zitterte.

»Ja, Franz! Warum auch net?" Ruhig und emst sah sie ihm ins Gesicht.

Er holte Atem und suchte der Frage auszuweichen.

»Beicht' net hier«, bat er flehentlich, »geh nach Mariakirchen«.

Sie ließ seine Hand los und zog ihr schwarzes Kopftuch fester an:

»Des kann ja net dein Ernst sein, Franz.«

»Net mei Ernst? Aber, Anna!«

»Giebt's denn dort'n an andern Herrgott, als hier bei uns?« fragte sie.

Da wußte er nicht mehr, was er sagen sollte und ließ ihr den Weg zum Bühel frei. –

Die Beichte hatte bereits begonnen. In dem braunen Gehäuse saß der Geistliche mit verhülltem Haupte und eine Anzahl junger Mädchen wartete betend davor. Kathi befand sich unter ihnen. Auf den Zehen war Anna in die Kirche getreten. Jetzt kniete sie nieder und faltete die Hände. Sie ahnte nicht, daß oben auf dem Chore ihr Verlobter stand. Hätte sie es bemerkt, dann wäre sie in ihrer Andacht gestört worden, die sie heute inbrünstiger als je verrichtete.

Die Zeit verstrich träge. Gesenkten Blickes traten die Absolvierten aus dem Beichtstuhle heraus und jede trug einen weißen Zettel in der Hand, die Quittung der Kirche für die empfangenen Sünden. Als die Sonne kräftiger durch die bunten Fenster zu scheinen begann, lichteten sich allmählich die Reihen. Jetzt trat Kathi zu dem Priester und Anna wartete in wachsender Beklemmung, daß an sie die Reihe käme.

Es dauerte ungewöhnlich lange. Sie fühlte ihr Herz klopfen, als sie den Priester hinter dem weißen Tuche murmeln hörte. Einige Bewegungen, die er dabei machte, deuteten darauf, daß er heftig sprach. Anna konnte nicht mehr beten. Sie mußte beständig den Blick vom Hochaltar zu der Beichtenden wenden, die zu weinen begann. Was sie nur verbrochen hatte? Ängstlich sah sich Anna um. Sie war die letzte zur Beichte. Alle anderen waren schon fortgegangen. Ein Gefühl von seltsamer Bangigkeit erfaßte sie und beinahe hätte sie sich erhoben, um hinaus zu eilen.

Aber im selben Augenblicke nahm der Priester das Tuch ab und Kathi empfing die Absolution.

Anna nahm sich zusammen und trat in den Beichtstuhl. Langsam ließ sie sich auf die Knie nieder und bekreuzte sich.

* * *

Frühzeitig stand Balder am anderen Morgen vor dem Zimmer seiner Tochter. Eine schlaflose Nacht lag hinter ihm, denn er hatte sein Kind nicht wiedererkannt, als es am Abend aus der Kirche zurückkehrte. Leichenblaß, mit gläsernen Augen kam sie heim, und als ihr an der Türe der Beichtzettel entfiel, ließ sie ihn achtlos liegen. Alles Zureden des Vaters war umsonst. Er hatte gefleht, gedroht, aber aus dem starren Wesen war nichts herauszubringen. Sie wankte auf ihr Zimmer und schloß sich ein.

Balder sandte ins Pfarrhaus nach dem Lehrer. Bald kam die Magd mit dem Bescheid zurück, daß Gattl nirgends zu finden sei. Wieder ging der besorgte Vater die Treppe hinauf und klopfte bei Anna. Sie öffnete ihm nicht. Als sie aber seine Stimme erkannte, warf sie sich auf das Bett und bohrte die Nägel in die Wangen. Dann war es still im Hause geworden und die Nacht ging hernieder. Anna saß immer noch auf ihrem Lager mit aufgelösten Haaren und betrachtete das Bild ihrer Mutter, das ihr gegenüber hing. Eine wahnsinnige Verzweiflung sprach dabei aus den Zügen des Mädchens.

Sie war freigesprochen! Von was? Von allen ihren Sünden? Nein, nur von denen, die sie gebeichtet hatte. Oh, wie stob es entzwei, was sie sich in den letzten Wochen zurecht legte und einredete, vor den Worten des Geistlichen, die sich mit Zentnerschwere an ihr Gewissen hingen! Der Atem des Priesters drang durch das Gitter in ihr Antlitz, wie ein versengender Hauch jener Verdammnis, die er denen verkündete, die nicht die Wahrheit beichteten. Wie fragte er! So durchbohrend, so forschend, so niederschmetternd!

»Bist du noch rein vor Gott? Bist du's, bist du's wirklich?« klang es zu ihr und sie versuchte mit verzweifelter Kraft das Wrack über Wasser zu halten, das ihr erst ein so festes Segel geschienen hatte. Sie klammerte sich bis zum letzten Augenblicke der endlosen Beichte daran und erst als sie die Absolution empfing und den Zettel ergriff, da wunderte sie sich, daß er nicht zur Flamme wurde und ihr die Hand versengte. Nun wußte sie, daß sie an Gott gefrevelt hatte!

Oh, diese Nacht! So schauerlich wie der furchtbare Abgrund der Sünde, in den sie gestürzt war! Diese furchtbaren Stunden, die die Kuckucksuhr unter dem Zimmer der Wachenden gleichmäßig verkündete!

Als endlich der Morgen heraufkam, erhob sie sich wie zerschlagen und griff nach der Stirne. Stechender Kopfschmerz machte sich geltend und jene sonderbare Übelkeit kam wieder, von der sie schon vor einigen Tagen einmal befallen wurde. Mechanisch kleidete sie sich an, wobei sie fortwährend einhalten mußte, um den Schmerzen und ihren quälenden Gedanken nachzugeben. Bitter fragte sie sich, wohin sie eigentlich gehen wollte? In die Kirche, zum Empfang des Sakramentes? Kannst du das? schien ihr die Stimme des Priesters zuzurufen.

Sie schauderte zusammen und die schwüle Luft drohte sie fast zu ersticken. Da riß sie ein Fenster auf und sah hinaus.

Leuchtend lag die Landschaft vor ihr. Ein taufrischer Morgen war emporgestiegen, alles schwamm in Farben und Licht. Hinter den zartgrünen Buchen wogte das tiefe Blau des duftigen Tales und die Felsen der Berge ragten in unbefleckter Schönheit in das reine Firmament.

Dem Mädchen war es, als zöge eine ruhigere Stimmung in ihr Herz. Sie trat hinaus und wehrte sanft ihrem Vater, der sich ihr nähern wollte.

»Anna!« rief er ihr nach, als sie vor das Haus ging, »sagst du's mir net, was du hast?«

Ängstlich blickte sie zurück. Wie sah er aus! Seine Gestalt war gebückt und schlaff hing ihm der Anzug um den Leib. Die Augen waren entzündet, wie beim Tode der Mutter und noch niemals hatte sie gesehen, daß er so viele weiße Haare hatte, wie heute. Umkehren aber konnte sie nicht. Nur jetzt keine Erregung mehr, das Gebetbuch fester gegriffen und weiter ... weiter ... wohin? Ach ja, in die Kirche.

Wie eine Nachtwandelnde ging sie durch die geputzten Menschen und trat mit starren Blicken zum Hochaltar, wo sie sich vor dem Speisegitter niederließ. Neben ihr, da schienen auch andere zu sein, man flüsterte und regte sich. Wie seltsam es im Kirchenschiffe rumort! da müssen viele Menschen kommen! Freilich, es ist ja Sonntag, die Gemeinde versammelt sich. Es dauert so lange, so lange. Da – horch, eine Glocke, ein, zwei – dreimal gezogen. Wie schrill das klang! Jetzt tönen Schritte auf den steinernen Fließen und wieder läutet man, ein, zwei, dreimal. Jetzt fahren die Leute über die Brust, oder nicht? Nein, sie hat sich getäuscht, denn alles ist wieder still, ganz still. Aber nun bewegte sich auf einmal wieder das weiße Tuch des Speisegitters und immer näher und näher kommt ein summender Ton, der lauter und lauter wird. Ein blendender Blitzstrahl trifft das Auge. Was ist das? Der Kelch, der den Heiland birgt. Ein Sonnenstrahl ruht auf ihm. Halt, ist das nicht Kathi, hier ganz nebenan? Ja, das ist sie, sie betet und öffnet den Mund.

» Corpus domini nostri Jesu Christi ...« tönt es. Und nun kommt eine Gestalt heran, immer mächtiger leuchtet der Kelch. Rasch das Speisetuch ergriffen ... da ... da ... wie die Hände zittern! ... emporgeschaut! ... was leuchtet da? Eine weiße Hostie, die sich herabsenkt ... »Nein, nein!«

Anna war mit einer abwehrenden Geberde zusammengebrochen und hatte das Speisetuch von dem Geländer gerissen.

* * *

Man trug die Ohnmächtige in die Sakristei und ließ sie behutsam auf einen Stuhl nieder. Der Geistliche schickte alle Neugierigen hinaus, um mit ihr allein zu bleiben, nachdem man sie mühsam belebt hatte.

Ein dumpfes Gemurmel ging durch die Menge. Man begriff den unerhörten Vorfall nicht und erging sich in allerlei Vermutungen. Nur Kreittmayer zeigte keinerlei Aufregung und zuckte bedeutsam die Achseln, als man ihn anredete.

Jetzt fiel ein heller Lichtschein aus der aufgehenden Türe des Presbyteriums. Alles drängte dorthin, aber wie angewurzelt blieben die Leute stehen, als sie das Mädchen mit aschfahlem Gesichte in dem Stuhle erblickten. Augen und Lippen des weit zurückgeneigten Kopfes waren halb geöffnet, die Arme ruhten auf der Brust verschränkt. Neben ihr auf dem Fensterbrett stand der Kelch.

Der Geistliche winkte einige Männer heran. Diese hoben den Stuhl auf und trugen die Regungslose durch eine Seitentüre ins Freie. Während sich der traurige Zug dem Forsthause näherte, unterhielt der Geistliche sich mit dem Wirte, der mit wichtiger Miene auf ihn zugegangen war.

 

Der Förster Balder stand vor einem schweren Gange. Zweimal schon hatte er einen Anlauf genommen, aus dem Wald hervorzutreten und immer wieder kehrte er über die steile Hochwiese in die schützenden Bäume zurück und wanderte unschlüssig auf und ab. Er war sonst nicht der Mann, der sich fürchtete, aber diesmal schien es doch, als wollte ihn alle Ruhe verlassen. Seine zusammengekniffenen Lippen zuckten in nervöser Bewegung und seine Augen waren feucht.

Zum allerletzten Male wollte er umkehren, ein Viertelstündchen noch warten und dann endlich unternehmen, was sich nicht aufschieben ließ. Finster blickte er in seinen Wald hinein. Kein Wort klang ihm heute entgegen. Die ganze Natur stand unter dem Drucke eines wolkenbedeckten, schwülen Maitages und lechzte nach reinigenden Frühlingsgewittern.

In dem dunkeln Moosrain, wo er sich niedergelassen hatte, fiel Balder eine Pflanze auf. Es war eine Maiblume mit hohem Stil, der in der Mitte geknickt war. Der Förster sah genauer hin. Noch schimmerten die zarten Blätter mehlig und grün, aber ein leichter, gelblicher Ton anfressender Fäulnis zeigte sich an den Rändern. Wie lange dauert es noch, dann sind sie verwelkt und tot.

Balder schaute auf die sichere Verwesung herab mit den gleichen Blicken, mit denen er sein Kind betrachtete, als man es ihm ins Haus getragen hatte, eine lebende Leiche, die die verschränkten Arme nicht von der Brust nehmen wollte und nur stöhnende Laute hervorbrachte.

Er hatte ja schon ein Unglück erwartet, als Anna von ihm Abschied nahm. An der Türe blieb er stehen wie einer, der genau weiß, daß sich in der nächsten Minute etwas Entsetzliches ereignen muß, das er nicht mehr verhindern kann.

Als er aber von weitem den grausigen Zug kommen sah, ging er ihm entgegen mit wankenden Schritten und fragte sich, ob die, die man ihm da wiederbrachte, sein Kind sei. Keiner der Männer, die sie in der Stube niederließen, wußte ein Wort zu reden, alle sahen verlegen zu Boden und hielten den Atem an. Aber da erschien ja plötzlich, dort an der offenen Türe, ein Mensch mit schmutziggelbem Gesichte und taumelte zu der Leblosen, die er mit stieren Blicken betrachtete. Das war derselbe, dem Balder sein Kind anvertraut hatte und nun zerriß die Binde, die der alte Mann um die Augen getragen hatte, nun wurde es so klar, so schrecklich hell vor ihm, nun schrie es hervor aus allen Wänden und Winkeln des Hauses und nun wußte er alles! Jetzt durfte er es wissen, jetzt kam auch die Reihe an ihn, den Vater, nachdem der Priester, der ja das erste Recht auf das Gewissen hatte, in alles eingeweiht war, nachdem das versammelte Dorf die Schande draußen vor dem Hause erzählte und der elendeste Spatz die Geschichte von den Dächern pfiff. Bebend trat der Förster zu seinem Kinde und fuhr ihr über die Wangen, aber Anna regte sich nicht.

Man entkleidete sie und brachte sie zu Bette. Balder setzte sich zu ihr und verließ seinen Platz nicht mehr. Kein Wort des Vorwurfs kam über seine Lippen, als sich ihm der Lehrer zu Füßen warf und um Verzeihung zu flehen schien. Der verzweifelte Vater hatte nur noch Augen für sein Kind, dessen Elend kein unnützes Schelten, kein Jammern hinwegzuwischen vermochte.

Der Tag ging zur Neige und mit der hereinbrechenden Nacht erschien der Arzt, den man gerufen hatte. Balder blieb lange mit ihm allein bei der Kranken. Als er den Lehrer wieder ins Zimmer rief, war der Doktor schon weggegangen. Ein Kerzenlicht brannte auf dem Tische und Annas Gesicht schien stark gerötet. Sie bewegte sich in heftigen Zuckungen und sprach verworren durcheinander. Gattl konnte seine Augen kaum auf die laut Phantasierende richten. Plötzlich fühlte er die Faust des Försters schwer auf sich liegen und drehte sich um. Da flüsterte ihm Balder etwas ins Ohr, das ihm alles Blut erstarren machte. Abweisend streckte Gattl die Hände aus, als wollte er's nicht glauben. Aber der Förster nickte schwer und setzte sich wieder an das Bett seiner Tochter, das er erst am frühen Morgen verließ. In den durchwachten Stunden hatte er etwas Klarheit gesammelt, er konnte wieder an die Zukunft denken.

»Was jetzt?« fragte er den Lehrer, als er mit ihm im verschlossenen Zimmer zusammensaß. Ja, wenn das der Ärmste gewußt hätte, der nicht mehr zusammenhängend denken konnte und willenlos allem beistimmte, was ihm der Förster nun auseinandersetzte:

Anna sollte sich erst erholen, dann aber mußte sie fort, sobald als möglich, zu einer Verwandten des Försters, einer Rentbeamtenswitwe, die in einem kleinen Neste bei der Hauptstadt ihr Domizil hatte. Dort sollte die Trauung mit dem Lehrer stattfinden und zwar sofort nach der erfolgten Anstellung, die ja täglich eintreffen konnte, wenn ... wenn eben nicht ...

Balder ließ den Satz unausgesprochen aber Gattl verstand ihn ganz gut und fuhr heftig zusammen. Er hatte nur zu gut gemerkt, wie das ganze Dorf redete und flüsterte, wie der Geistliche und der Wirt die Köpfe zusammensteckten.

»Wenn er mich net anzeigt«, sagte er tonlos zu Balder.

»Ja, eben das hab i g'meint«, ergänzte nachdenklich der Förster. »Was kann dir in so 'm Fall passieren?« fügte er bei.

Gattl fiel der junge Lehrer ein, aber diese grausame Möglichkeit konnte er dem armen Vater doch nicht erzählen.

»Nix gut's wird mir passieren«, sagte er ausweichend, »vielleicht setzen s' mi wieder um a Jahr z'rück.«

Er wußte, daß er den günstigsten Fall einer Bestrafung genannt hatte und doch ging eine finstere Wolke über Balders Züge.

»So? Und was is denn dann mit der Anna?«

Darauf konnte der Lehrer freilich keine Antwort mehr geben. Als er wegging, um den Unterricht zu beginnen, merkte er, welch' ein furchtbarer Kampf in der Brust des Vaters tobte.

Am Abend jedoch fand er ihn ruhiger und entschlossener, als er ins Forsthaus zurückkehrte. Der Arzt war zufrieden gewesen, weil das Fieber nachließ. In etwa zehn Tagen konnte Anna reisefertig sein.

»Ich weiß, was ich tu«, sagte Balder, »morgen Nachmittag geh' ich ins Pfarrhaus und mach' der Ungewißheit ein End.«

»Du?«

»Ja, i will direkt aufs Ziel losgehen und den Benefiziaten ... drauf anred'n.«

»Du willst 'n bitten?«

»Wenn's sein muß, auch das. Es handelt sich drum, daß mein Kind net de größte Schand no z'erleb'n braucht.«

Balder mochte wohl eine freudigere Aufnahme dieses Entschlusses erwartet haben. Er war ihm nicht leicht gefallen und schien ihm jetzt, wo, er vor der Ausführung stand und nach langem Schwanken endlich über die teppichfarbene Frühlingswiese zum Dorfe hinabging, als das sauerste Stück Arbeit seines Lebens. –

»Hochwürden sind schon daheim«, entgegnete ihm die alte Haushälterin an der Türe des Pfarrhofes. Mit erstauntem Gesichte humpelte sie voran und geleitete Balder in die Eckstube. Der Förster trat vor den Tisch und wartete geduldig. Ein großer Zettel mit dicken Buchstaben fiel ihm auf.

»Drittes Aufgebot des Johann Baptist Göpfert, königlichen Försters zu Wallberg und der ehr- und tugendsamen Jungfrau Katharina Kreszentia Bader zum Poiten.«

So weit war das schon?

Die Türe ging auf, Balder verneigte sich vor dem Geistlichen. So ruhig und sicher der Priester sonst auftrat, diesmal ging doch ein Zittern durch seine Finger, als er diesem ungewohnten Gaste einen Stuhl anbot. Es gelang ihm jedoch sich schnell wieder zu beherrschen und dem Förster sein kaltes, unbewegliches Gesicht, wie es sonst war, zuzuwenden.

Alles hatte sich Balder zurechtgelegt, wie er anfangen und seine Bitte begründen wollte. Jetzt aber erschien ihm der ganze Gedankenbau rein wie weggeblasen. Er zog die Brauen zusammen und heftete mechanisch seine Blicke auf die derben Rindslederstiefel des Geistlichen.

»Hochwürden ... ich komm ... ich möchte ... Vermutlich wissen Sie, Hochwürden, warum ich Sie aufsuche.«

»Wie sollte ich das? Ich weiß von nichts, Herr Förster, und kann mir nicht denken, was Sie nach so langer Zeit einmal wieder ins Pfarrhaus führt.«

Schlagfertig hatte der Priester gesprochen, aber er wandte seine triumphierenden Blicke schnell nach der Seite, als ihn der Förster mit klaren, ruhigen Augen ansehen wollte. Balder fand sich wieder.

»Sie können sich das gar net denken, Hochwürden? No, dann muß ich's sagen. Ich komm, als Vater von der Anna ... Was passiert is, das wissen Hochwürden, und das wissen alle Leut, wie ich g'merkt hab.«

Der Geistliche lehnte sich in seinen Stuhl zurück:

»Allerdings weiß es das ganze Dorf, Herr Förster, und nur aus diesem Grunde bin ich in der Lage mit Ihnen darüber zu sprechen. Andernfalls legte mir mein Beichtgeheimnis strengstes Schweigen auf.«

Balder nahm sich zusammen:

»Ich weiß also jetzt«, begann er ruhig, »daß Sie von allem Kenntnis haben, Herr Benefiziat, und möcht Sie inständig ersuchen, keine Anzeig zu machen. I bitt für mein krankes Kind, Hochwürden.«

»Sie meinen«, erwiderte langsam der Priester, »ich sollte der Regierung keine Meldung erstatten?«

»Ja, darum bitt' ich, Hochwürden. Mein Schwiegersohn steht vor der Anstellung. Tun Sie 's net, ich bitt Sie ...«

»Herr Förster, Sie vergessen, daß ich vor allem meine Pflicht tun muß.«

»Nein, das vergeß ich net, Hochwürden! Nur lassen S' diesmal Gnade für Recht ergeh'n ... mein Kind ist krank, kränker als der Arzt glaubt ... ich weiß net, was noch alles g'schieht.«

»Und das Ärgernis im ganzen Dorfe?«

Balder trocknete sich die Stirne.

»Ich ... ich schick die Anna fort, sobald sie g'sund is ... a Ärgernis wird 's also weiter nicht geben.«

»Sie glauben, damit sei alles erledigt? Ja, bedenken Sie denn nicht, daß der ganze Skandal morgen schon in Mariakirchen öffentlich sein kann, und daß dann mich als Lokalschulinspektor die schwersten Folgen treffen, wenn ich einen derartigen Vorfall nicht zur Anzeige bringe?«

Eine Pause trat ein. Der Benefiziat räusperte sich und sah verstohlen sein Gegenüber an.

»Wie kommt es eigentlich, Herr Förster«, begann er in verändertem Tone, »daß Sie so ein unwürdiges Verhältnis stillschweigend duldeten?«

Balder fuhr auf:

»Dulden? I hab's vorgestern erst erfahr'n!«

»Wirklich? So spät?«

»Ja, mein Ehrenwort darauf.«

»Dann haben Sie aber sehr ... sehr ... unvorsichtig gehandelt, wenn Sie Ihre Tochter mit einem Menschen wie dem Schulgehülfen allein ließen.«

Diese Beleidigung Gattls regte den Förster auf.

»Ich hab Vertrauen g'habt auf den Lehrer und hab's heut noch auf ihn.«

»So?«

»Ja, Hochwürden, denn wenn i den Fall menschlich betracht', wenn i de lange Verlobung, de schrecklichen Jahr ...«

»Hier gibt es nur eine zulässige Betrachtung, das ist die vom Standpunkte der Moral und der Kirche! Und was Ihr Vertrauen zu dem Lehrer betrifft, so mag dies für ihn um so schmeichelhafter sein, als er über Sie schon in unverblümtester Weise geschimpft hat.«

Hastig wich der Sprechende einem erstaunten Blicke des Försters aus.

»Wann hätt' der Gattl auf mich g'schimpft?«

»O, in letzter Zeit wohl mehr als Sie dachten! Ich erfuhr gar oft, welch irreligiöse Reden im Forsthaus geführt werden.«

»Eh Sie mir net sagen, was Sie damit meinen, glaub i kei Wort«, sagte Balder entschieden und suchte vergebens die Augen des Geistlichen.

»Das können Sie halten, wie Sie wollen, denn es liegt mir nichts daran, ob mir ein Mann, der nie die Kirche besucht, Glauben schenkt, oder nicht.«

»Es is jetzt net von mei'm Kirchenbesuch de Red ...«

»So, nicht? Sie könnten mir ja mit Ihren Ansichten von Religion und Moral am Ende auch noch den Zutritt in Ihr Haus verbieten, wohin mich jetzt die Pflicht als Seelsorger zu Ihrer Tochter führt.«

»Ich verbiete Ihnen auch net mein Haus, Hochwürden, aber ich widerstreit Ihnen, daß der Gattl über mich g'schimpft hat.«

»Soll ich Ihnen aufzählen, was Sie alles über das Verhältnis zwischen Schule und Kirche gesagt haben?«

Balder blickte betreten um sich. War es möglich, daß der Lehrer so tief sank und seinen besten Freund verriet, wenn dieser ihm beistimmte zu den endlosen Klagen über die unwürdige Vergewaltigung? War Gattl schon so verächtlich? Nein und tausendmal nein! Man hat den armen Teufel so erniedrigt und zusammengebrochen, daß er aus Angst und Verzweiflung zum sinnlosen Denunzianten wurde, der nicht mehr wußte, was er redete und für ein Beifallslächeln seines Pfaffen den letzten Funken seines Charakters verkaufte.

Also bis dahin hatte man den Beklagenswerten glücklich gebracht!

Der Förster war aufs tiefste erschüttert und vergaß beinahe, warum er gekommen war.

Als er nach geraumer Zeit wieder aufschaute, sah er den Geistlichen mit einem teilnahmslosen, starren Gesichte vor sich.

Jählings riß es ihn da von seinem Platze empor. Diesen Menschen wollte er um Erbarmen anflehen für sein krankes Kind? Wie war er denn hierher gekommen? In welche Verblendung geriet er, daß er aus Mitleid bei seinem grimmigsten Feinde hoffte, der sich jetzt mit innerlicher Schadenfreude an dem Triumphe der Demütigung weidete?

Nein, lieber wollte er seinen letzten Kittel für Anna verkaufen und sich den Pfennig vom Munde sparen, als hier noch ein Wort sagen. Und wenn der Lehrer Holz hauen müßte, um sein Brot zu verdienen und sein Weib ernähren zu können, besser für alle, als vor dem Priester zu knieen!

In furchtbarer Erregung ging Balder von dannen.

 

Herr Lehrer! Für Sie is a Briaf da!« Das schrie der dicke Kaspar von Mariakirchen, der immer gut aufgelegte Postbote, »'s is net der rechte, gelt?« fragte er, als Gattl ein enttäuschtes Gesicht machte. »Warten S' nur, Herr Lehrer, er kommt scho noch der große Briaf mit 'm amtlichen Siegel!«

Für diesen war dem Kaspar nämlich ein gutes Trinkgeld versprochen. Daß der heutige nicht der erwartete war, das hatte Kaspar schon am Umfang gemerkt. Es war ein kurzes Briefchen von dem verreisten Balder, der dem Lehrer mitteilte, daß er bei der Base alles geordnet habe, und daß Anna eintreffen könne, sobald sie hergestellt wäre.

Seufzend faltete Gattl das Schriftstück zusammen und ging wieder an seine Arbeit. Er war daran, die Kirche festlich auszuschmücken und mit Blumengewinden zu verzieren, weil morgen die Hochzeit der Poiten Kathi stattfinden sollte.

Das ganze Dorf war über dieses Ereignis in Aufregung.

Bei Herrn Kreittmayer wurde der große Tanzsaal im ersten Stocke gestöbert und mit Tannenbäumen umstellt. Mächtige Bierbanzen wurden vorgefahren und eine alte Fahne hing zum Fenster heraus. Sie wehte lustig über die mit Guirlanden umwundenen, frommen Sinnsprüche an der Vorderfront, und drinnen fluchte die geschäftige Wirtin auf das saumselige Personal, daß man es drei Häuser weit hörte. Beim Kramer übten die Dorfmusikanten, die zur Vorfeier des Tages schon heute alle blau machten, ihre heiteren Weisen ein und am lebhaftesten ging es bei Schuster und Schneider zu.

Der alte Poiten wollte sich die Sache was kosten lassen, und sein Schwiegersohn nickte befriedigt zu diesen Vorbereitungen, die der Würde seines Standes vollauf entsprachen. Siebenundfünfzig Gäste sollten an der Hochzeitstafel sitzen, um die Feier zu einer möglichst großartigen zu gestalten. Natürlich ließ es sich Poiten, auf dessen Gesundheit der Frühling Wunder gewirkt hatte, nicht nehmen auch selbst das ganze Fest mitzumachen. Sein Arzt war ja zufrieden und verbot ihm nur noch starkes Trinken.

Unter den vielen Geladenen von nah und fern befand sich auch Gattl. Hansl war von dem alten Bauern beauftragt, ihn zu verständigen und er tat es, als er mit anderen Kindern dem Lehrer beim Ausschmücken der Kirche behilflich war.

»Was? I soll zum Essen kommen?«

»Ja, der Vater will's.«

Gattl stand auf der Leiter und schlug einen Nagel in die Wand. So konnte er nicht sehen, welch ein verlegenes Gesicht der Junge machte.

»Herr Lehrer ... Herr Lehrer!« tönte es.

Der Gerufene sah sich um:

»Was soll's?«

»I muaß Ihna morgen Adje sag'n, weil i ... glei ... nach der Hochzeit von der Kathi in d' Stadt komm!«

»Ins Kloster?«

»Ja ... ins ... Kloster, Herr Lehrer.«

»No, da geh nur hin, i wünsch dir a guate Reis'!«

Hansl war es seit langer Zeit gewohnt, von ihm gleichgültig behandelt zu werden, seinen Abschied hatte er sich aber doch anders gedacht.

»Warum heulst d' denn?« kam es von oben.

»I heul ja net«, schrie der Junge schluchzend.

Gattl kümmerte sich nicht mehr um ihn. Langsam trocknete Hansl seine Tränen und sah wieder die Leiter hinauf.

»Geltens, Herr Lehrer«, begann er noch einmal, »geltens ... der Herr Maler ... der kommt a nimmer?«

»O nein, der kommt freili nimmer, mein guter Hansl«, sagte der Lehrer und schlug einen neuen Nagel ein. Er hämmerte laut und heftig, als wollte er alle Erinnerungen in Trümmer schlagen, die ihm das kummervolle Gesicht des Knaben ins Gedächtnis zurückriefen. Jetzt mußte er an sich selbst denken und an den nächsten Augenblick, der ihm vielleicht die gehoffte Befreiung oder auch eine schreckliche Katastrophe bringen konnte. –

Wie auf Eiern schritt er immer durch das Pfarrhaus und befolgte sklavisch, was ihm befohlen wurde. Sonderbar! Der Priester redete kein Wort mit ihm über das, was geschehen war, ja dem Lehrer kam es oft vor, als sei er freundlicher gegen ihn, als sonst. Wie ein hungriger Köter, der unter dem Tische auf einem Bissen lauert, fing Gattl die dürftigste Gnadenbezeugung auf und erwiderte sie mit kriechendem Danke; vielleicht gelang es ihm doch, sich zu retten! Bis jetzt war keine Anzeige erstattet, das wußte er, denn der Geistliche war noch nicht in Mariakirchen gewesen und alle Briefe, die vom Pfarrhause dem Postboten übergeben wurden, hatte Gattl sorgfältig betrachtet. Unter irgend einem Vorwand wußte er immer in den Vorplatz zu schleichen und mit geheuchelter Gleichgültigkeit zuzusehen, wenn sie die Haushälterin an Kaspar ablieferte. Dann war er für einen Tag geborgen und brauchte erst wieder für den nächsten zu zittern.

Ängstlich suchte er sich gegen jede Gemütsbewegung zu wappnen. Wenn er ins Wirtshaus kam und beim Eintreten stichelnde Redensarten hörte, so tat er nicht dergleichen, und, wenn er Anna besuchte, so erzählte er der Kranken alberne Tagesneuigkeiten; ihren Augen, die starr auf ihm ruhten, wich er beständig aus. Für die Veränderung, die mit dem Mädchen vorgegangen war, seitdem sie der Geistliche täglich besuchte, war er blind und nahm es ruhig hin, daß sie ihm niemals eine Antwort gab. Um so rascher konnte er wieder auf und davon gehen. Man hinterbrachte ihm, daß Göpfert in gemeinster Weise über ihn und Anna räsonniert habe – auch das schluckte der Lehrer geduldig hinunter und nahm die Einladung zur Hochzeit an, wo er diesem Menschen gegenüber sitzen sollte. Er fürchtete, daß es auffallen könnte, wenn er ablehnte, wo sich doch auch der Benefiziat an der Tafel beteiligte.

Als er nun von der Kirche heimkam, beschlich ihn so etwas, wie eine Befriedigung, daß er den Ansturm, der ihm durch Hansls Abschied gedroht hatte, so tapfer zurückgeschlagen. Er konnte sich doch schon recht gut beherrschen!

Da fiel ihm ein großes Couvert auf, das die Haushälterin im Vorplatz eben dem dicken Kaspar in die Mappe legte. Ein wahnsinniger Schrecken durchzuckte ihn.

»Grüaß Gott, Herr Lehrer«, rief der Postbote.

»Grüß Gott, Kaspar«, war die Antwort. Eilends huschte der Lehrer in sein Zimmer. Als er aber die Türe geschlossen hatte, da fiel die Maske der Ruhe von seinem Gesichte und eine fieberhafte Angst verzerrte seine Züge. Was war das für ein Brief? An wen ist er adressiert? Wenn es die Anzeige wäre! Wenn die Ernennung, die vielleicht schon unterwegs war, rückgängig gemacht würde!

Er griff sich in die Haare und zog an dem festgehaltenen Büschel, als wollte er den Schädel in Stücke reißen. Dabei lief er durch das Zimmer und murmelte beständig: »Der Brief, der Brief.« Was enthielt er nur? Er mußte es wissen, koste es, was es wolle!

Die sichere Überzeugung, daß hier etwas Schreckliches im Gange war, raffte ihn zu einer Energie auf, die ihn das Äußerste unternehmen ließ.

Schleunig verließ er das Zimmer und polterte die Treppe hinab. Dann sauste er dem Postboten nach. Unten im Dorfe sah er ihn gemächlich dahinbummeln.

»Kaspar! Kaspar!« kam er atemlos herbeigerannt. »Ach, ich bin g'laufen«, lachte er, »Herrgott, bin ich g'laufen, Kaspar, Sie ... Sie ... passen S' auf, Kaspar, Sie sollen mir den großen Brief wiedergeben, hat der Benefiziat g'sagt, es is ihm noch was eing'fall'n, glaub i.«

Ohne jeden Argwohn öffnete Kaspar seine Ledertasche und suchte.

»Den da?« fragte er endlich und hielt ein großes Schreiben in die Höhe.

»An die königliche Distriktsschulinspektion zu Mariakirchen. Zu Händen des Herrn Dekan Hauber«, las Gattl und erbleichte.

»Ja, der is' s scho, Kaspar.«

»Da haben S' ihn. Adje, Herr Lehrer.«

»Adje, Kaspar.«

Als der Postbote seines Weges gegangen war, sah sich Gattl nach allen Seiten um und eilte, den Ellenbogen auf die klopfende Brust gestemmt, wo das Schriftstück geborgen lag, mit trippelnden Schritten um das ganze Dorf. Er meinte sein Schicksal mit sich herum zu tragen und ein seltsam juckendes Gefühl in den Armen ließ ihn die Hände reiben. Er hatte noch alles in seiner Gewalt, der Brief gehörte ihm, ihm ganz allein. Ha, ha! So leicht sollte er ihm nicht entrissen werden. Nein, nein, nein! Es weiß ja noch niemand etwas davon, der alte Dekan nicht, das Bezirksamt nicht, die Regierung nicht, nur er allein weiß etwas!

Am ganzen Körper zitternd trat er in ein kleines Gehölz und hielt den Brief gegen die Sonne. Vergebens! Das starke Kanzleipapier verriet keinen Schriftzug. Gattl drehte es nach rechts und links und rieb mit beiden Händen an den glatten Flächen.

»Ich hab's noch, ich hab's noch«, murmelte er und lächelte merkwürdig. »Ich hab's noch!«

Plötzlich riß er das Couvert in Fetzen. Erst erschrack er heftig über diesen Gewaltstreich, den er ausgeführt hatte, er wußte selbst nicht wie, dann aber flog der Briefbogen auseinander und Gattls Augen irrten über die großen Buchstaben hinweg. Er übersprang einige Zeilen und suchte eilig nach jenen Worten, die ihm sofortige Gewißheit verschaffen konnten. Halt! Da stand sein Name, dort las er Anna Balder – Schande – Unsittlichkeit – Ärgernis – schamloses Verhältnis – strenge Bestrafung – verharre – Ehrfurcht –.

Einen wahnsinnigen Schrei stieß der Lehrer aus und rannte vor das Gehölz. Geradewegs jagte er über die Felder dahin und hielt dabei den zerknitterten Brief in der Rechten. Immer weiter und weiter stürmte er zu, als ob ihn der Satan verfolgte. Er merkte nicht, was er niedertrat und wohin die Verzweiflung ihn jagte. Nur das fühlte er noch, daß ihm in dem keuchenden Laufe wohler war, als wenn er in dumpfem Dahinbrüten den Unheilsbrief anstarrte, den er jetzt in die Tasche schob.

Bäume, Hügel, Berge huschten an ihm vorbei. Bald tappte er in eine Wiesenquelle, dann jagte er über die aufgekeimte Saat hinweg, und stampfte tiefe Löcher in die zarte Erde. Der Abend sank in das Tal herab und in der Ferne schimmerten Lichter.

Gattl hielt einen Augenblick ein, halb besinnungslos mit schaumbedecktem Munde, ohne Atem, und lehnte sich an eine Pappel. Er befand sich auf der Landstraße und in der Ferne vermochte er den hohen Turm von Mariakirchen zu erkennen. Schwerfällig taumelte er weiter und gelangte zu den ersten Häusern des Ortes, als es Nacht wurde. In der ruhigeren Gangart begann er wenigstens wieder klarer zu denken und zu überlegen. Er war zu Tod erschöpft und konnte sich kaum mehr aufrecht halten. Um sich etwas zu sammeln und von der Anstrengung des Laufes zu erholen, wankte er in die erste Schenke, die er antraf, und ließ sich auf eine Bank fallen. Mehrere Fuhrleute saßen in der armseligen Spelunke an einem runden Tische, doch keiner betrachtete den Eintretenden. Eine Kellnerin brachte dem Lehrer Brot und Bier und stellte ihm ein Kerzenlicht hin, das in einer Glasglocke brannte. Aber er hatte für die Aufmerksamkeiten der Dirne weder ein Wort noch einen Blick. Er berührte das Getränk nicht und ließ die Semmeln liegen. Alle Gedanken waren auf den nächsten Tag gerichtet. Was nun? rief es in ihm. Was nun? Zum Dekan gehen? Alles reumütig eingestehen und um Verzeihung bitten? Was das wohl nützte? Aufs Bezirksamt vielleicht, und noch einmal eine Szene verleben, wie die unvergeßliche vor dem Herrn Assessor? Nein! Also, nach Oberkarbach zurück? Nein, nein! Von dort war er ja eben geflohen, als ein Dieb, der ein amtliches Dokument unterschlagen hatte! Nun erst kam es wieder über ihn, was er in seiner wahnsinnigen Angst begangen hatte.

Er lehnte den Rücken an die schmierige Wand der Gaststube und streckte die Beine von sich. Dann fuhr er mit beiden Händen in die Hosentaschen und glotzte auf den hölzernen Lichtständer, unter dem ein Zeitungsblatt lag.

Eine gute Weile saß er so, ohne sich zu rühren. Seine Augen hatten sich nach und nach auf einen bestimmten Punkt des weißen Bogens konzentriert, der ihm durch den fetten Druck aufgefallen war. Für sich wiederholte er ganz mechanisch die beiden Worte, die da standen, und las sie immer wieder ab, ohne sich darüber das mindeste zu denken.

Hoher Besuch.

So war der Artikel überschrieben.

Hoher Besuch.

Ein elendes Leben! Was wird aus Anna werden? Was wird Balder sagen? Und was fängt man jetzt an? Was will man werden? Schreiber auf einem Amtsgericht? Bei einem Gerichte? Die sperren einen Dieb ein, aber sie stellen ihn nicht an! Einen – Dieb!

Hoher Besuch.

Aber was dann! Leben muß man doch und das arme Mädel soll doch vor der Schande gerettet werden. Gibt es denn kein Mittel, keinen Ausweg mehr?

Hoher Besuch.

Hilft uns denn niemand?

Hoher Besuch.

Diesmal überlegte der Lehrer den Sinn dieser eigentümlichen Überschrift. Er wiederholte halblaut die beiden Worte und neigte sich zu dem Blatte herab. Da überlief es ihn eiskalt. Er riß die Hände aus den Taschen und hielt die Zeitung, die in verschnörkelten Buchstaben den Titel:

Mariakirchener Bote

trug, an das Licht. Was stand da geschrieben?

»Wie in früheren Jahren, so ist auch heuer wieder Se. Exzellenz der Herr Unterrichtsminister Dr. v. Schultz, unser hochverehrter Gast, mit seiner geehrten Familie in unser so herrliches Tal zum Landaufenthalt gekommen. Die dankbare Bevölkerung Mariakirchens hat aus dem freudigen Anlaß der fünfmaligen Wiederkehr Sr. Exzellenz beschlossen, eine große Feier zu veranstalten und findet dieselbe heute, am 3. Juni, abends 8 Uhr, im Gasthof zum Elefanten statt, wozu Se. Exzellenz ihr gütiges Erscheinen zuzusagen die hohe Freundlichkeit hatten.

Möge es Sr. Exzellenz beschieden sein, in unseren Bergen die Erholung von der aufreibenden Tätigkeit im Staatsdie...«

Gattl brach die Lektüre ab.

Der Minister hier? Das war der einzige Mensch, der noch helfen konnte! Balder mußte ihn aufsuchen, so bald als möglich! Aber halt! Balder war ja noch fern, und bis er zurückkehrte, konnte ja schon alles zu spät sein! Wann findet die Feier statt? Am 3. Juni? Das war ja heute! Wenn er selbst zum Minister ginge? Aber das war ja heller Wahnsinn! Einen so hohen Herrn anreden! Und doch geschehen mußte etwas, denn das zerknitterte Schriftstück in der Tasche brannte wie Feuer.

Mit festem Entschlusse sprang der Lehrer auf und eilte ins Freie.

Was er vorhatte, wußte er selbst noch nicht recht, jedenfalls aber wollte er einmal in den Gasthof gehen, wo man das Fest feierte.

 

Am stark besetzten Geländer der hochgelegenen Musiktribüne gelang es dem Lehrer noch ein Plätzchen zu erhaschen und einen Blick über den ganzen Saal zu gewinnen. Neben ihm bliesen die Musikanten, daß der Boden zitterte. Er mußte lange suchen, bis er den Minister fand, weil vor dem Ehrenplatze der hufeisenförmig aufgestellten Tafel ein riesiger Strauß von roten Mohnblumen stand, der den Gefeierten etwas verdeckte. Also, er war wirklich da, inmitten der sämtlichen Honoratioren Mariakirchens! Neben ihm saß die Frau Bezirksamtmann in einer grauseidenen Toilette mit zum Platzen engen Ärmeln und schwarzem Spitzenbesatz. Auf der anderen Seite befand sich die Frau Oberamtsrichter in lilafarbenem Kleide, das an den Handgelenken weiße Atlasschleifen verzierten. Dann kam der Herr Apotheker mit der Frau des Bezirksamtsassessors. Diese trug über dem braunen Satinkleide eine rote Korallenkette und blickte ärgerlich auf die Frau des Kreistierarztes, die ein weißgemustertes, hellblaues Sommerkleid schmückte. Der Herr Bezirksamtsassessor hatte sie zu Tische geführt. Die knallrote Robe, die zwischen dem Herrn Bezirksarzt und dem Forstmeister hervortrat, gehörte der Gattin des Herrn Bahnhofexpeditors. Ihr saß der griesgrämige Rentbeamte mit der Frau des Herrn Obergeometers gegenüber. Diese trug ein oft gewaschenes, crêmefarbenes Kleid und unterhielt sich lebhaft mit dem immer lächelnden Herrn Amtsrichter. Um die hochschulterige, dürre Tochter des Bezirksamtmannes, die ein rosaseidenes Gesellschaftskleid und Blumen im Haare trug, bemühte sich ein kleiner, krummnasiger Rechtspraktikant, der ihr auffallend den Hof machte und sich niemals nach der Seite drehte, wo die einfach gekleidete Frau des Bezirksamtsoffizianten saß. Ihr merkte man an, daß sie in diesem Kreise nur eine Geduldete war, denn sie wagte kaum die Augen aufzurichten und ihren Nachbarn, den Redakteur vom Mariakirchener Boten, anzublicken. Dieser, ein fettbäuchiger, untersetzter Mann mit Hängebacken und goldener Brille, schloß sich an die lange Reihe der weiteren Gäste an, die ohne weibliche Gesellschaft an der Tafel saßen und ihre Zigarren in wohl abgemessenen Pausen zum Munde führten.

Über der ganzen Versammlung lag jetzt, wo die laute Musik aussetzte, jene andächtige Halbstille, die die Anwesenheit einflußreicher Persönlichkeiten hervorzubringen pflegt. Man unterhielt sich mit sanftem Gemurmel und richtete die Augen stets so vorsichtig auf den Platz des Ministers, daß es nie unangenehm auffallen konnte.

Eine blaue, qualmende Wolke kroch über die Gesellschaft dahin und setzte sich zwischen den Petroleumlüstern fest, träge und schläfrig.

Da erhob sich der Herr Redakteur sehr wichtig von seinem Stuhle und klopfte mit dem Zinndeckel mehrmals auf seinen Bierkrug. Alles drehte sich zu ihm und lauschte seinen Worten.

»Hochverehrte Festversammlung!« begann er mit einem sonoren Baßorgane. »Es ist eine schöne Sitte ... eine schöne Sitte ... und wir sind es ja gewohnt, daß das hohe Beamtentum unseres Vaterlandes in so loyaler Weise mit uns Bürgern von Stadt und Land zu verkehren die ... die Güte hat. Aber selbst die höchsten Stellen des Beamtentums mengen sich ja bei uns ins Volk und verkehren da in der herzlichsten Weise, wie mit ihresgleichen. Ein solches Beispiel gibt, treu der Überlieferung unseres erhabenen Herrscherhauses, unser hochverehrter Gast, Seine Exzellenz, der Herr Minister Dr. von Schultz. Mir ... Mir ... Mir, als Eingeborenem, ist die Auszeichnung zuteil geworden, daß ich im Namen der Mariakirchener Bevölkerung Seiner Exzellenz untertänigst danken darf für die hohe Ehre des alljährlichen Besuches. Möge ... Möge – das ist unser aller Wunsch, Seine Exzellenz und hochdero Familie in unseren Bergen Kräftigung und Genesung finden, möge das Flehen von tausend Herzen unseres kernigen, unverfälschten Gebirgsvolks erhört werden, möge Seine Exzellenz wieder mit neuen Kräften an die schwere Aufgabe gehen, das schwankende Staatsschiff zu leiten ... zu leiten, zum Wohl von uns allen!

Mit gütiger Erlaubnis des Herrn Dekans und des Herrn Bezirksamtmanns bitte ich alle Anwesenden mit mir einzustimmen in den Ruf: Seine Exzellenz, der Herr Minister Dr. von Schultz, er lebe hoch, hoch, hoch!«

Die Musik fiel mit schmetterndem Tusch ein und spielte die Nationalhymne.

Unmittelbar darauf erhob sich der Minister. Freundlich lächelnd ließ er seine Blicke über die ganze Gesellschaft gleiten, die gespannt an seinen Lippen hing. Seine Sprechweise zeichnete sich durch eine vornehme Ruhe aus und man merkte ihr außer der genauen Überlegung eines jeden Wortes auch eine gewisse Zurückhaltung und Vorsicht an. Leichte Handbewegungen begleiteten die Rede.

»Meine verehrten Damen und Herren! Ich befinde mich Ihnen gegenüber eigentlich in einiger Verlegenheit. Sie bereiten mir hier einen Festabend, der, was meine Person anlangt, ein unverdienter genannt sein muß. Gestatten Sie mir daher, daß ich diese schönen Stunden lediglich als Ausdruck Ihrer treuergebenen Gesinnung für das gemeinsame Band auffasse, das uns alle umschlingt: für unser Vaterland!

Nicht mit Unrecht hat der Herr Vorredner bemerkt, daß es ein biederes – ich möchte absichtlich beifügen – gottesfürchtiges Volk ist, das in diesen Bergen wohnt, und als langjähriger, treuer Gast kann ich Ihnen sagen, daß gerade dieser Bezirk unserem allergnädigsten Herrn ganz besonders ans Herz gewachsen ist. Die hohe Fürsorge unseres allerdurchlauchtigsten Herrschers für jeden seiner Untertanen ist mir ein leuchtendes Vorbild und ist es jedem Beamten unseres Landes. Deshalb auch die strenge Pflichterfüllung, deshalb auch der Grund, warum jedem Angehörigen sein Recht wird und deshalb auch das herzliche Verhältnis zwischen Beamten und Bürgern.

Auf daß es immer so bleibe, erhebe ich mein Glas!«

Noch schriller klangen dem Lehrer die Trompeten in die Ohren. Alles stand auf und flutete zu dem Platze des Ministers.

Jetzt unterhielt sich der Gefeierte mit dem Assessor, der den Kneifer herabgeschleudert hatte und sich bei jedem Worte tief verneigte. Ein leichter Händedruck – und überglücklich schied der Geehrte, indem er ehrfurchtsvoll einige Schritte nach rückwärts trat. Die ganze Gesellschaft trug ihr Bier herbei und wollte anstoßen. Auch den Förster Göpfert entdeckte der Lehrer dabei. War der auch da, wo doch morgen seine Hochzeit war? Morgen! Gattl schüttelte es. Diese Nacht gehörte noch ihm, aber was wird morgen sein?

Jede Minute dieser öden Anhimmelei brachte ihn in größere Aufregung und steigerte das Verweilen auf der heißen, vollgepfropften Tribüne zur Unerträglichkeit.

Als nun gar der Redakteur im Saale verkündete, daß der Herr Postadjunkt Adolf Berger und der Herr Förster Göpfert sich erlauben würden, einige Schnadahüpfeln zum Besten zu geben, da glaubte Gattl in dieser gekünstelten Lustbarkeit, die ihm wie ein grauser Spott auf seinen Jammer erschien, zu Grunde gehen zu müssen. Waren ihm doch diese beiden Burschen, die jetzt auf das Podium traten, die verächtlichsten Subjekte, die er kannte. Er hatte sie schon in geschlossenen Herrengesellschaften singen hören, wo sie, wenn die Luft rein war, die gemeinsten, schmutzigsten Zoten vortrugen und zwar zum allgemeinen Gejohle und Gebrülle mancher Herren, die heute so wohlanständig und gesittet da unten saßen und kaum den Zigarrenrauch vor sich hinzublasen wagten.

Heute freilich war das Programm ein wesentlich anderes. Man sang die bekannten, dummen Almenscherze und jodelte in breiten Tönen dazwischen. Wie langweilig und öde waren diese Kerle, wenn sie nicht ordinär sein durften! Und nun klascht diese hohle Gesellschaft mit erheuchelter Fröhlichkeit Beifall, ja, sogar der Minister hebt die Hände empor und schlägt sie mit eleganten Bewegungen zusammen. Jetzt läßt er den Förster herankommen und schüttelt ihm die Hand. Natürlich, er muß Göpfert ja danken, daß er sich noch eigens soweit herbemüht hat, wo doch morgen die Hochzeit stattfindet.

Morgen – morgen! Wenn es da unten nur zu Ende gehen wollte! Aber das hatte noch lange Zeit.

Erst kam ein Soloscherz des Herrn Grenzkontrolleurs, wie der Redakteur eben verkündete. Als Doktor Eisenbart erschien der Verheißene und hielt eine läppische Predigt. Dann sang die Tochter des Bezirksamtmanns zwei Lieder mit einer fadenscheinigen Stimme und endlich hackten der Amtsrichter und der Rechtspraktikant gemeinsam eine Beethovensche Sonate auf dem verstimmten Pianino herunter.

Die Zeit verging und Gattl faßte es nicht, daß ein hochgebildeter Mann, wie der Minister, zu solchem Unfug Beifall spenden konnte. Endlich aber schien es auch ihm zu viel zu werden. Ein gewaltiges Stuhlrücken hub an und jetzt wanderte der hohe Herr eilig die Tischreihen ab, an den knixenden Damen vorüber, denen er freundlich die Hand reichte. Näher kam er zur Saaltüre und nun litt es Gattl nicht mehr in seinem Verstecke. Er jagte die Treppe hinunter und eilte vor das Haus, wo er mit klopfendem Herzen wartete.

Drinnen schmetterten die Trompeten einen Tusch, die Versammlung brüllte: »Hurra!« und nun tauchte inmitten einer schiebenden Menge der Minister auf. Zwei Windlichtträger am Portale erwarteten ihn. Wiederholt bat der hohe Herr, man möge sich in der allgemeinen Fröhlichkeit nicht stören lassen und endlich gelang es ihm, die Leute soweit zurückzuhalten, daß ihn nur zwei Herren auf dem Nachhauseweg begleiteten.

Nicht weit hinter ihnen schritt der Lehrer. Er war jetzt fest entschlossen, den Minister anzureden, mochten die Beiden, die da mit ihm gingen, auch sein wer sie wollten – für ihn gab es nichts mehr zu verlieren.

Am Ende des Marktes hielt der Zug vor einer eleganten Villa.

»Also nochmals besten Dank, meine Herren, für den reizenden Abend«, sagte der Minister und bot seinen Begleitern die Hand. Auch hierbei zeigte er die gleiche Freundlichkeit wie vorher und lächelte verbindlich. Plötzlich aber blickte er betroffen nach der Seite.

»Wer ist da? Was wollen Sie?« fragte er, als Gattl mit abgenommenem Hute in den Kreis trat und eine Verbeugung machte. Welk und gespenstig sah das Gesicht des Lehrers aus, als es die flackernden Lichter beschienen. Der Minister war ein Stück zurückgewichen.

»Wer sind Sie denn?« Sichtlich unangenehm berührt fragte er so.

»Exzellenz, ich bin der Hülfslehrer Gattl von Oberkarbach ... mein Schwiegervater ist der Förster Balder.«

Das stimmte den Minister aber nicht freundlicher. Er gewann zwar seine Ruhe wieder, jedoch das gnädige Lächeln war verschwunden und die geschmeidigen Wendungen der schlanken Gestalt wichen einer steifen Haltung.

»Das ist ganz gut«, sagte er kurz, »aber was fällt denn Ihnen ein, mich so spät in der Nacht auf offener Straße anzureden?«

Erstaunt blickten die beiden Herren auf den Lehrer, der hin und her schwankte und nach Worten rang.

»Exzellenz ... ich ... ich bin ein armer, von Gott und der Welt verlassener Mensch, ich wart' seit Jahren auf mei' Anstellung, ich bin verlobt, ich hab ...«

»Auf Anstellung warten gar viele und verlobt sind auch viele, deswegen braucht man noch lange kein unglücklicher Mensch zu sein. Überdies, wenn ich mich recht besinne, sind Sie ja angestellt.«

Gattl riß die Augen auf.

»Angestellt, Exzellenz?«

Der Minister wurde ärgerlich.

»Soviel mir zufällig erinnerlich, sind Sie es«, sagte er hastig. »Wenn Ihnen das Dekret vielleicht noch nicht zugestellt ist, dann warten Sie eben und reden mich nicht wieder so unpassend an. Verstehen Sie?«

Die Begleiter gaben lebhafte Zeichen der Entrüstung von sich, indem sie den Atem durch die Nase pusteten.

»Unverschämter Bursche«, schrie einer zu Gattl zurück, als der hohe Herr im Hause verschwunden war.

Der Lehrer hörte es nicht. Er stand wie angedonnert auf der leeren Straße und griff nach der Stirne. Was hatte ihm der Minister zugerufen? Er sei angestellt, das Dekret unterwegs? Ja, ja, das waren seine Worte.

Und da wollte man seine Zukunft noch einmal zertrümmern und die arme Anna mit ihrem Vater der Schande preisgeben?

»Nein, nein!« schrie er laut in die Nacht hinaus. Das sollte nicht geschehen! Gott sei Dank. Es lag ja noch alles in seiner Gewalt und er konnte handeln, ehe es zu spät war.

Eine wilde Leidenschaft, ein furchtbarer Trotz kam jetzt über ihn, wo die unerwartete Botschaft seine Brust mit den heftigen Wallungen einer jähen Freude erfüllte. Er ballte die Fäuste und schwang die Arme in der Luft herum, als wollte er aus seinem Körper gleich mit der Wurzel alle Nachgiebigkeit herausreißen, die ihn zum ehrlosen Schuften gemacht hatte.

Kampf bis aufs Messer! dachte er und knirschte mit den Zähnen, als er endlich seinen Platz verließ, um in das Dorf hinauszuwandern.

 

Als die Turmuhr von Oberkarbach zwei Uhr früh meldete, stand der Lehrer vor dem Forsthause. Er war wie wahnsinnig herausgehetzt durch das ungeheuere Schattenmeer einer stockfinsteren Nacht, das alle Konturen verschlang und Himmel und Erde in eins verwob. Schritt für Schritt war seine Erregung dabei gewachsen.

Den Geistlichen wollte er noch vor Tagesanbruch aus dem Bette holen, und wenn der Priester die Klageschrift nicht zurücknahm, so war er zum Äußersten bereit und wollte ... wollte ... Er mochte es selbst nicht ausdenken, zu was er dann fähig war. »Wart' nur, wart' nur!" murmelte er beständig, während er dahineilte.

So war er in das Dorf gelangt und den Kirchenbühel hinaufgegangen, als er bei einer Wendung des Weges im Forsthaus Licht gewahrte. Er blieb stehen und sah betreten auf den rötlichen Schein, der durch das Dunkel zitterte.

Was war das? Das kam von Annas Zimmer! Sie war also noch wach? Jetzt, um diese Zeit? Ging es ihr schlechter? Eilig jagte es ihm mit bangen Zweifeln durch den Kopf. Er konnte den Blick nicht von dem Lichte wenden und fühlte eine drückende Beängstigung in der schweigenden Ruhe der Nacht, in die nur von ferne ganz gedämpft das Bellen eines Hofhunds drang.

Unschlüssig tappte er einige Schritte wieder herab und sah fortwährend auf das erleuchtete Fenster. Immer näher zog es ihn dazu hin. Er ging bereits auf der Hochwiese, immer mit dem einen Gedanken beschäftigt, was dies Licht zu bedeuten habe.

Jetzt kam er an die Türe des Hauses und begehrte Einlaß. Die verschlafene Magd, die ihn lange warten ließ, bevor sie endlich öffnete, riß ihre müden Augen auf, als sie den Lehrer erkannte. Er kümmerte sich nicht um sie und ging zur Treppe. Von Stufe zu Stufe wuchs seine Beklommenheit und als jetzt ein leichter Schrei ertönte, zuckte er heftig zusammen. Schon wieder schrie es in dem Zimmer.

»Vater, Vater!« verstand Gattl.

»Ich bin's« sagte er sanft, indem er die Türe öffnete. Als er aber auf das Bett blickte, durchrieselte es ihn eiskalt. Dort saß das Mädchen aufrecht mit einem Totengesichte und starrte ihn ängstlich an. Über die hochgeschlossene Nachtjacke fielen die aufgelösten Haare in wirrer Anordnung herab und in das bleiche Antlitz hingen einige Strähnen. Gattl wagte kaum zu atmen, als er ihr gegenüber stand.

»Du ... du bist da?« stotterte sie. Es kam ihm vor, als läge eine bittere Enttäuschung in dem Ton ihrer Worte.

»Du hast mi heut' nimmer erwart', Anna?«

Sie schüttelte den Kopf und reihte hastig die Perlen des Rosenkranzes herunter, den sie um ihre Hände geschlungen hatte.

»Hast g'meint, der Vater kommt scho',« begann er wieder leise. »Der kommt erst morgen Abend, er hat mir geschrieben«

»Geschrieben? So?" Matt und gedankenlos hatte sie gesprochen.

»Anna, du bist ja gar net bei dir! Was hast denn?«

Sie sah ihn stier an.

»Geh, Anna, red'! Wie geht's dir denn?«

»Gut, ganz gut«, sagte sie tonlos.

»Gut geht's dir?« rief er und sah ihr ungläubig ins Gesicht.

»O ja«, sagte sie traurig.

»Mußt net so finster d'reinschauen«, bat er ängstlich, »es wird jetzt alles anders, Anna, i krieg a Anstellung.«

Sie rührte sich nicht und starrte auf ihren Rosenkranz herab.

»Anna!« rief er wieder, »verstehst mi nimmer? A Anstellung krieg i!«

Jetzt nickte sie mit dem Kopfe.

»Freut di das net?«

Langsam legte sie die Hände vor das Gesicht. Gattl wurde es seltsam zu Mute. War sie plötzlich so verändert, oder lag die Schuld an ihm, daß er sie nicht wieder erkannte? Mit aller Gewalt suchte er sich zu beherrschen.

»I war in Mariakirchen«, sagte er, »hab mit 'm Minister g'red't, Anna, und daher weiß ich, daß das Dekret scho fertig liegt, und daß es nur noch a paar Tag dauert, dann hab ich meinen Posten, wir können fort von hier und können uns heiraten.«

»Heiraten?« Sie lächelte bitter.

»Aber, Anna, du bist ja ganz verzweifelt. Anna, gute Anna, schau mich doch an. Komm, gib mir an Kuß, a Hand!«

Er trat an ihr Bett und wollte sie umfassen.

Da stieß sie einen Schrei aus und entwand sich seiner Berührung. Heftig zitternd, mit entsetzten Augen sah sie ihn an.

»Geh weg von mir, Franz!« ächzte sie und lehnte sich an die Wand des Zimmers.

Gattl war es, als müsse ihm das Herz zerspringen.

»Warum willst du mir net deine Hand geben?« fragte er und rang nach Luft.

»Wir haben g'sündigt«, sagte sie mit einer Stimme, die aus einer Gruft zu kommen schien, »schwer g'sündigt, wir haben uns an Gott vergangen, und eh' ich net dei Frau bin, derfst mi nimmer anrühren.«

Wie Schuppen fiel es dem Lehrer von den Augen und wütend pochte es in seinen Schläfen. Blind war er gewesen, teilnahmslos und ohne Gefühl hatte er an ihrem Bette gesessen und nicht gesehen, daß der Priester diese Seele an jedem Tag in festere Ketten schlug, während er, der blödsinnige Lehrer, in seiner hülflosen Angst nur an die Strafe dachte und seine Ehre in den Kot trat. Jetzt sah er die furchtsamen Augen des Mädchens, das schon bei dem Gedanken, daß er sich ihr wieder nähern könnte, von einem Grausen erfaßt wurde, und da rief er sich alles in die Erinnerung zurück, denn so, genau so hatte Anna ihn immer angeblickt, wenn er zu ihrem Krankenlager trat. Und er, in seiner Erbärmlichkeit, suchte ihren Augen auszuweichen, er erzählte ihr albernen Klatsch und ahnte nicht, daß sie inzwischen immer mehr der erbarmungslosen Macht verfiel, von der sie jetzt nicht mehr zu retten war. Stöhnend ließ er sich vor ihrem Bette auf die Knie fallen und barg das Haupt in das Kissen.

»Oh«, schluchzte er, »du armes Ding, du armes Ding.«

Sie arbeitete erregt mit den Steinchen des Rosenkranzes und hielt den Oberkörper an die Wand gelehnt.

»Anna«, rief er, indem er sich wieder aufrichtete, »o hätt'st mir g'folgt und wärst den Tag net in die Beicht 'gangen!«

Sie wehrte ihm mit einer jähen Bewegung ab und hob die Hand in die Höhe.

»Franz, um Gotteswillen, du versündigst di wieder«, schrie sie in ängstlichem Tone.

»Versündigen? Anna, es handelt sich um uns zwei, um unser Leben, um unser Existenz, um unser Zukunft.«

Matt fiel sie in die Kissen zurück.

»O, Franz, mir is oft, als könnt i nimmer ins Leben z'rück.«

Er rannte wie wahnsinnig durch das Zimmer und ballte die Fäuste. Wäre jetzt der Geistliche hier, er hätte ihn nicht lebend aus dem Zimmer gelassen. Was er auf Erden noch hatte, das letzte und einzige, war ihm genommen. Ein wilder Fluch entrang sich halblaut seinen Lippen.

Anna hob den Kopf ein wenig empor und faltete die Hände:

»Hör' auf, i bitt dich um Christi willen, Franz. Hör' auf, du warst ja doch de letzten Tag so ruhig.«

»Ja, freili, da war i kalt«, lachte er bitter, »da war i a verkommener Lump, a Hund, der dein'n Vater verkauft und verraten hat, da bin i herkommen an dei Bett und hab mir gewünscht, daß i bald wieder draußen wär, aber heut Nacht ist's anders mit mir word'n, da hab i meine klaren Augen wieder kriegt, und jetzt merk i, was hier in der Zeit vorgangen is und muß erleben, daß man dich mir abspenstig g'macht hat.«

Verzweifelt rang er die Hände und blickte schmerzzerrissen in das starre Gesicht des Mädchens.

»Anna«, rief er, »is alles aus? Hast du kei Hoffnung, auch wenn i dir sag, daß wir bald heiraten können?«

»Des g'schieht nimmer, geh.«

»I hab dir's aber doch g'sagt, es wird g'schehen. Hab doch a Vertrau'n zu mir."

Jetzt drehte sie ihm langsam ihr Gesicht zu und ein schwacher Schimmer von Erwartung und Freude belebte sie.

»Gelt, Anna«, rief er hastig, »wenn i mei Anstellung krieg, dann wird alles gut, das glaubst du? Red', Herzl, red'!"

»Ja, wenn das wahr wär«, flüsterte sie.

»Es is wahr«, stieß er heraus und suchte seiner geheimen Befürchtungen Herr zu werden, die beim Gedanken an den bevorstehenden, schrecklichen Kampf wieder auftauchten. »A paar Tag dauert's noch, Anna, nachher is all's überstanden. Es handelt sich jetzt nur noch d'rum, daß mir der Benefiziat ... nix mehr in' Weg legt."

»Wird er das tun?" fragte sie leise.

»Der? Ha, ha! O, sei gut, Anna, erschreck net so! Es is halt so, wenn i d'ran denk, nacher steigt mir alles Blut auf, und i möcht narrisch werd'n. Aber desmal bin i fest, er soll mir nix mehr antun, denn sonst ... sonst erwürg i den Menschen!"

»Franz!« Sie hatte einen furchtbaren Schrei ausgestoßen und war im Bette aufgefahren.

»Geh fort, geh fort«, murmelte sie, »du bist so schrecklich!«

Gattl sah sie an.

»Soll i wirkli geh'n?« fragte er bebend, »du jagst mi ja weiter ohne an Gruß, ohne all's, du hast mir net amal dei Hand geben!«

Sie wurde sanfter.

»Tu di nimmer so versündigen«, sagte sie und streckte ihm matt ihre Rechte entgegen. Er griff danach und zuckte zusammen. Wie die Hand der sterbenden Försterin faßte sich's an, so feucht und leblos.

»Versprich mir, daß du ruhig sein willst, und dich net mit ihm streit'st. Tu's mir z' Lieb, Franz, i weiß nimmer, was i glauben soll.« Leise begann sie zu weinen.

Schmerzbewegt sah er auf die Duldende herab und hätte am liebsten den Geistlichen mit beiden Fäusten vor dieses Opfer gezerrt, damit er kniefällig um Vergebung bitte. Sie fühlte, wie er zitterte.

»Tu's mir zu Lieb, i bitt dich, Franz!«

»Dir zu Lieb«, sagte er mit rauher Stimme. Da legte sie ihre Arme um seinen Kopf und küßte ihn. Wieder war es dem Lehrer, als neigte sich eine Leiche an seine Wange.

»Gut Nacht, Anna«, sagte er und ging zur Türe. Als er sich noch einmal umsah, saß sie im Bette und hatte schon wieder den Rosenkranz ergriffen. Ihre zuckenden Lippen zeigten, daß sie eifrig betete.

Er wankte ins Freie hinaus und weinte wie ein Kind.

Über den Bergen begann es leise zu dämmern.

 

Eine solche Hochzeit hatte Oberkarbach noch nicht erlebt. Der ganze Apparat alter, umständlicher Gebräuche, der schon längst in der Rumpelkammer des Dorfes ruhte, wurde noch einmal ausgegraben. Ein schäbig gekleideter Hochzeitlader mit verschlissenen Seidenbändern auf dem Hut und dem riesigen Stocke war herumgegangen, in erbärmlichen Versen die Einladungen zu besorgen. Kranzljungfern erschienen auf der Bildfläche, Böllerschüsse weihten den Morgen ein, eigenes Festbrot für die Armen wurde gebacken, große Holzbalken wurden über die blumenbestreuten Wege gelegt als Hindernisse für das Brautpaar, das sich erst loskaufen mußte – kurz, man erinnerte sich, weil gut bezahlt wurde, der ältesten Zeremonien.

Den umfassenden Vorbereitungen entsprach das Fest selbst.

In der übervollen Kirche spielte der Lehrer die Orgel, als das Brautpaar eintrat und sich zu andächtigem Gebete auf den Altarstufen niederließ. Dann hielt der Geistliche eine bedeutungsvolle Ansprache über die Ehe, die Treue und Liebe der Gatten.

Ein zweistündiges, feierliches Hochamt mit Predigt und Opferung folgte der Trauung, und als der letzte Orgelton verklungen war, wanderte der lange Zug, die Musik an der Spitze, ins Dorf hinab, wo das festliche Mahl im Wirtshaus schon bereit stand. Hinter seiner Tochter, die den Myrtenkranz trug und in ihrem Hochzeitsstaat gar prächtig aussah, ging der alte Poiten. Die kirchliche Feier hatte ihn tief ergriffen, denn er ging gesenkten Hauptes einher und hielt das blaue Schnupftuch vor die Augen. Hansl führte ihn jetzt zu seinem Platze an der großen Tafel, den er neben seinem Schwiegersohne einnahm, während der Herr Benefiziat von Göpfert höflichst gebeten wurde, den Stuhl zwischen dem jungen Ehepaare als besonderen Ehrensitz zu betrachten.

Der große Saal füllte sich mit den nachströmenden Gästen. Langsam nahmen sie alle an der reichgedeckten Tafel Platz. Mit lauter Stimme betete der Geistliche ein Gebet vor. Die Anwesenden leierten es nach, während sie hungrig nach den dampfenden Suppenschüsseln blickten, die auf die breite Anrichte am Saaleingange niedergesetzt wurden.

»Endlich schien man auch für diesen Tag genug gebetet zu haben und setzte sich mit lautem Gepolter zu Tische. Ein riesiges, derbes Essen von zahllosen Gängen ward aufgetragen und behaglich verzehrt. Fortwährend packten die Bauern von den Speisen in eigens hierzu mitgebrachte Tücher. Ein widerlicher Geruch von Bier, Sauerkraut und gesottenem Fleische drang durch den Raum. Lebhafter wurde die Unterhaltung und als nun gar noch Wein aufgetragen wurde, erreichte der Jubel seinen Höhepunkt. An einigen Plätzen ging es schon recht bedenklich lustig zu.

Auch dem alten Poiten war der langentbehrte Alkoholgenuß gewaltig zu Kopf gestiegen.

»Vater, sollst net so viel trinken!« rief Kathi, die sehr einsilbig dasaß, zu ihm hinüber.

Poiten lachte und sah mit blöden Augen zu den Holzkandelabern des Saals hinauf, deren dicke Stearinkerzen man eben anzündete. Trotzdem es schon dämmerte, wurde immer noch aufgetragen und gegessen. Dazwischen pafften andere aus Zigarren und Pfeifen dicke Rauchwolken. Die jungen Burschen suchten die Musik zu überbrüllen, die große Bierbanzen auf ihrem Podium stehen hatte und ohne Takt und Rhythmus ein gräuliches Durcheinander auf die johlende Menge herabschmetterte.

Eine Rede, die ein Grenzaufseher halten wollte, ging in dem furchtbaren Spektakel völlig verloren, aber auch der Förster Göpfert drang nicht durch mit seinem Toast auf den Herrn Benefiziaten, den Vater der Gemeinde, wie er ihn nannte. Mitten in seiner Ansprache wurden ihm Maßkrüge, Wein- und Schnapsgläser entgegengehalten und ein betäubender Lärm schnitt ihm das Wort ab. Auch die Musik wollte nicht zu spät kommen und wirbelte in den Höllenlärm einige Akkorde hinein.

»Versoffen's G'sindel!« murmelte giftig der Förster.

»Hi, hi, hi«, grunzte Poiten und wackelte mit seinem Stuhle hin und her, »heut derft's nix für unguat nehma, heut san 's alle beim Zeug, hi, hi!« Und hastig stürzte er wieder ein Glas Wein hinab, daß zwei rote Bäche über das Kinn auf die grüne Weste herunterliefen.

»Prooosit, Herr Lehrer!« schrie er und hielt ein neues Glas zu Gattl hin, der auf der anderen Seite des Tisches saß.

Göpfert, immer noch mit seinem Ärger beschäftigt, wurde aufmerksam und wandte sich gleichfalls zu Gattl, indem er in die Tasche griff.

»Richtig, der Herr Lehrer«, sagte er hochnäsig. »Bald hält' ich ihn vergessen. I muaß Ihnen do a no an extrig's G'schenk machen, weil S' so viel Plag g'habt haben. Da haben S' was.«

Er reichte ein kleines Goldstück über den Tisch mit einer ermunternden Bewegung, als gäbe er einem Bettler ein Almosen.

Gattl juckte es, dem unverschämten Patron die Münze aus der Hand zu schlagen und auf und davon zu rennen. Aber Annas bittende Worte, die ihn bis zu dieser Stunde von jeder Gewalttätigkeit abgehalten hatten, bezwangen ihn und er griff mit bebenden Fingern nach der Gabe.

»Danke, Herr Förster.«

»Is scho recht«, nickte Göpfert gnädig.

Der Lehrer ließ das Goldstück in seinen Rock verschwinden und spielte dann wieder mit seinem Messer. Ihm war die Versammlung dieser betrunkenen Menschen noch entsetzlicher, wie die langweilige Spießbürgergesellschaft Mariakirchens. Auch rückte jetzt stündlich die Entscheidung näher. Heute noch mußte er mit dem Geistlichen reden, wenn er nicht riskieren wollte, daß morgen schon die Unterschlagung des Dokuments offenkundig wurde.

Ruhig und flehend dachte er vorzugehen. Sein Abschied von Anna hatte ihn so tief erschüttert, daß er ihren Bitten Gehör geben und sogar eine letzte Erniedrigung nicht scheuen wollte. Verstohlen betrachtete er den Geistlichen. Der schien gut aufgelegt zu sein. Er unterhielt sich mit seinen Nachbarn und nickte zu den Töchtern des Försters hinüber, die zu beiden Seiten des Lehrers saßen. Kein Wort hatten diese schüchternen Geschöpfe in ihren steifen, weißen Mullkleidern während der ganzen Tafel gesprochen. Mit niedergeschlagenen Augen saßen sie an dem Platze und ihre bangen, ausdruckslosen Gesichter machten den Eindruck, als wären sie von den kräftigen Fäusten des rohen Vaters krumm und schief gehauen. Keine von ihnen wagte den Kopf nach der Seite zu richten, als jetzt ein lautes Gejuchze den Beginn des Tanzes verkündete. Sie sahen nur immer den alten Poiten vor sich, der weit auf seinem Stuhle herabgerutscht war und zu schnarchen begann. Wurde der Lärm gar zu arg, dann wachte er ein bischen aus seinem Dusel auf, trank ein Glas leer und fiel in die alte Lage zurück, wobei er quakende Laute ausstieß.

Auch Gattl betrachtete ihn jetzt. Der Bauer war entschieden unfähig, ein Wort zu verstehen. So bot sich die beste Gelegenheit, den Geistlichen anzureden, der in der Mitte der Tafel saß und mit sichtlichem Behagen seine Zigarre rauchte. Göpfert war mit Kathi zum Tanze gegangen und sein Beispiel befolgten alle anderen Gäste, so daß der Lehrer den Benefiziaten für sich ganz allein haben konnte.

Langsam ging er auf ihn zu.

»Hochwürden, ich möcht Sie gern einen Augenblick sprechen.«

Überrascht sah der Angeredete zu ihm empor. Der Ton, in dem der Lehrer gesprochen hatte, sagte ihm, daß es sich um nichts Gleichgültiges handeln konnte.

»Jetzt? Hier?« Er deutete auf den rauchdurchzogenen Saal.

»Ja, ich muß es Ihnen gleich sagen.«

»Was betrifft es denn?« fragte der Priester, indem er nach der Seite rückte, und den linken Arm auf den Tisch legte.

»Mich selbst betrifft's, Hochwürden«, antwortete der Lehrer, und setzte sich auf den Stuhl des Försters.

Die Musik brach ab, der erste Tanz war zu Ende gespielt. Keines der Paare kehrte an die Tafel zurück. Ungestört konnte der Lehrer fortfahren.

»Es geht aber auch noch zwei andere Menschen an, Hochwürden, nämlich den Förster Balder und die Anna ... Sie haben nie mit mir darüber gesprochen, Herr Benefiziat, über das, was vorg'fallen is ... Sie haben mir kein böses Wort gesagt und ich erkenn' das auch dankbar an, ... Herr Benefiziat, aber ... aber, weil ich eben net g'wußt hab, wie Sie darüber denken, Herr ... Herr Benefiziat, so ...«

»Wie ich darüber denke?« unterbrach ihn der Priester. »Können Sie sich das nicht selbst sagen, wie ich als Priester und als Ihr Vorgesetzter über so etwas denken muß?«

»Gewiß, Herr Benefiziat, ich will mich auch gar net verteidigen, oder in Schutz nehmen, aber ... aber nur eins, Herr Benefiziat ...« er stockte und spielte nervös mit den Gliedern seiner Uhrkette, »nur eins bitt' ich Sie: Zeigen Sie's nicht an!«

Der Geistliche blies einen großen Zug aus seiner Zigarre und drehte sich zu dem Lehrer.

»Sagen Sie mir«, begann er sehr gelassen, »hat Ihnen eigentlich der Förster Balder keine Mitteilung von dem gemacht, was er mit mir vor einigen Tagen gesprochen hat?«

»Kein Wort hat er mir g'sagt.« Gattl sprach eifrig, denn die Ruhe des Geistlichen ermutigte ihn.

»Sehen Sie, Hochwürden", fuhr er fort, »ich will ja all's tun, wenn Sie's zurücknehmen, falls ... falls Sie schon eine geschrieben haben, ich will Sie um Verzeihung bitten für alles und will ...«

»Ihnen hinterher eine lange Nase drehen, nicht wahr? Das denken Sie dabei«, warf der Priester sehr spitzig ein.

Aber Gattl gab sich noch lange nicht verloren.

»Nein, wenn Sie mich diesmal schonen, will ich Ihr Andenken hochhalten.«

»Das kennt man.«

»Ich bitt Sie, Hochwürden, reden Sie net so. Sie wissen ja selber, wie lange Jahre ich verlobt bin, was für eine endlose Zeit ich auf mei Anstellung wart und was ich oft ausg'standen hab.«

»Das haben Sie sich nur selbst zuzuschreiben.«

Gattl bezwang sich. Er wollte alles hinnehmen und über sich ergehen lassen, weil ihm Anna beständig vor Augen schwebte, die ihre Hände bittend nach ihm ausstreckte. Auch war ja das Schlimmste noch nicht eingestanden: die Erbrechung des amtlichen Schreibens.

»Gut«, sagte er, »ich hab mir all's selber zuzuschreiben, Herr Benefiziat, aber bedenken Sie, daß ich ein ... ein Mensch geworden bin, der, der nimmer weiß, was er tun soll, der ...« er stockte und brachte es nicht heraus. »Ach, Herr Benefiziat«, rief er plötzlich, »seien Sie doch barmherzig!«

Im Saale hatte man wieder zu tanzen begonnen. Niemand achtete auf die Sprechenden. Die beiden Töchter des Försters saßen unbeweglich an der gleichen Stelle und Poiten schlief fest auf seinem Stuhle.

»Sie kommen sehr spät mit Ihrer Reue«, begann der Geistliche, »viel zu spät, um noch etwas gut zu machen.«

Als ihn der Lehrer erschrocken anblickte, fuhr er fort:

»Es ist hier überhaupt nicht der Platz über eine so peinliche Sache zu reden. Aber ich möchte Ihnen doch noch sagen, daß ich mir in meine Verordnungen in keiner Weise eingreifen lasse.«

»Das will ich ja net, ich bitt ja nur: Lassen Sie Gnade für Recht ergehen.«

»Genau dieselben Worte hat der Förster Balder zu mir gesagt und ich habe ihm geantwortet, daß ich ein solches Ärgernis, eine derartige Unsittlichkeit nicht stillschweigend ansehen darf.«

»So haben Sie dem Förster auch erzählt, daß Sie eine Meldung erstatten wollten?« rief Gattl erregter.

»Ich habe ihm ebensowenig gesagt was ich tun werde, wie Ihnen, meinem Untergebenen.« Damit brach der Priester die Unterhaltung ab und rückte seinen Stuhl ganz nahe an den Tisch.

Gattl wußte jetzt woran er war. An Nachgiebigkeit des Priesters war nicht mehr zu denken. Alles war aus und die arme Anna konnte verzweifeln!

Mit stieren Blicken sah er auf den Geistlichen hin, der die Zigarre rauchte und dem Tanzgewühl seine Aufmerksamkeit schenkte.

Holprig spielte die Musik weiter. Ihren Takt begann Gattl mit beiden Füßen mechanisch nachzutreten. Eine beklemmende Atemnot schnürte ihm die Kehle zu. Alles wurde ihm eng und schwül. Mit einem wütenden Griff riß er seine Krawatte und den Hemdkragen herunter und schleuderte sie zu Boden, indem er nach Luft keuchte.

Der Geistliche wurde wieder aufmerksam und sah strenge zu ihm:

»Was fällt Ihnen denn ein? Benehmen Sie sich anständig! Sind Sie ein erwachsener Mensch oder ein Schulbub'?«

Wütend sprang der Lehrer empor:

»Ich bin ein verzweifelter Mensch«, schrie er laut, »ein Mensch, den man zum Wahnsinn trieben hat, ich bin ...«

Kreischendes Geschrei unterbrach den Tobenden und zwang ihn nach der Seite zu blicken. Dort stürmten Göpferts Kinder herbei und deuteten furchtsam nach der Richtung, wo Poiten gesessen hatte. Der alte Bauer war von seinem Stuhle herabgefallen, mit dem Gesichte auf den Boden und streckte die Arme von sich. Unter seinem Schädel schwamm eine dicke Blutlache.

»Um Himmelswillen!« schrie der Priester und eilte zu dem Leblosen. Er berührte den Rücken, die Arme, die Beine, wie einer, den der Schrecken völlig kopflos gemacht hat und blickte hilflos in den Saal hinein, wo munter fortgetanzt wurde. Jetzt walzte eben Göpfert mit Kathi hart an der Tafel vorbei.

»Herr Förster, Kathi, Herr Förster, um Gotteswillen, schauen Sie nur her!« rief der Geistliche.

Die Angerufenen setzten aus und stolperten herbei. Kathi schrie auf, als sie den Vater erblickte, und der Förster drehte mit großer Anstrengung den schweren Körper um – er hielt einen Toten in den Armen. Träge floß das Blut über das wachsgelbe Gesicht. Die beiden Mädchen fingen laut zu weinen an und in ihre Jammertöne mischte sich die Musik, die den Tanzenden immer noch munter aufspielte.

Jetzt ermannte sich der Geistliche. Er stürzte in die Mitte des Saales und winkte mit beiden Händen hastig zum Podium hinauf. Endlich wurde er verstanden, und nun eilte die ganze Hochzeitsgesellschaft mit ihm zu der Leiche zurück, auf die der Lehrer teilnahmslos herunterblickte.

»Was stehen Sie noch da und gaffen?« rief ihn der Priester an. »Machen Sie, daß Sie in die Kirche laufen und die Totenglocke läuten.«

Die Totenglocke! Für sich selbst wollte sie der Lehrer gleich läuten und für die ganze Menschheit, damit diese unter dem eintönigen Bam-Bamton zur Hölle führe. Hei, wie er jetzt den Strang riß in der gähnenden Nacht der stockdunklen Kirche, wo nur ein blutroter, kleiner Punkt, die ewige Ampel, schauerlich brannte, wie er zog und wieder zog, daß der Strick wie ein Peitschenhieb auf die Steinplatten herabflog! Jetzt beteten sie unten mit lautem Geplärr in dem Totenhaus, alle die Besoffenen, Bauern und Weiber, und in den Ohren summt ihnen noch die Melodie des unterbrochenen Tanzes. Herunter, du Strick, nochmals, nochmals und nochmals! Ha! ha! Wie die gut geweihte Schelle oben im Gebälk hin und her rumort, als wollte sie in die Welt alle die Flüche hinausjammern, womit sie ein vernichteter Mensch in sausende Bewegung setzt. Poiten, du wirst gut in den Himmel geläutet! Wenn das nicht hilft!

Jetzt hören sie's auch im Forsthaus. Anna richtet sich im Bette auf und stiert in die Nacht hinaus. Anna! Anna! Für sie wird mitgeläutet!

Nur noch nicht aufgehört! Wieder am Strang gerissen, man kann ja weiter und weiter ziehen, bis ein Engel die Botschaft herunterträgt, daß der Poiten glücklich eingegangen ist ins Himmelreich, man kann weiter läuten bis der Kirchturm zusammenbricht und den eifrigen Meßner verschüttet.

Was für ein schöner, schöner Strick das ist, nicht zu dick, nicht zu dünn. Der wäre ja wie geschaffen zum Aufhängen und der baumelnde Kadaver könnte sich dann gleich selbst in die Ewigkeit hinüberläuten!

Aber nein, nein! Das wäre voreilig! Erst soll noch ein Schlußwort mit dem Pfaffen geredet werden! Geht's dann nicht, nun dann! ...

Grimmig zog Gattl zum letztenmal an dem Seil und schleuderte es mit furchtbarer Wut in das Dunkel des Kirchenschiffes hinein. Gespenstig rauschte es auf den Steinen zurück. Das Glöcklein schlug noch ein paarmal an, dann endlich beruhigte es sich, und nur noch die summenden Klänge des Metalls vibrierten von oben herab.

Gattl griff nach dem Herzen und ging zur Kirchentüre. Einen Blick warf er noch auf die Finsternis und auf das ewige Licht.

»Vielleicht komm' ich heut noch einmal«, murmelte er und taumelte ins Freie.

 

Poitens Leiche war inzwischen in das geräumige Schlafzimmer der Wirtsleute herabgetragen und auf das Bett gelegt worden. Hansl und Kathi knieten wimmernd vor dem Toten, während der Benefiziat Gebete abmurmelte und Göpfert mit dem Wirt an der verriegelten Türe stand. Sie hatten Mühe gehabt, die aufgeregte Menge zurückzuhalten. Jetzt drang das wüste Geschrei der Betrunkenen schauerlich in die stille Stube herein. Hier malte sich der jähe Umschlag einer tollen Lustbarkeit in die Ruhe des Todes auf allen Gesichtern. Der Förster blickte finster zu den flackernden Wachskerzen herab, die in gläsernen Leuchtern auf der braunen Kommode um ein hölzernes Kruzifix standen und Kreittmayer stotterte dem Geistlichen das Ave Maria nach, wobei er ein gar klägliches Gesicht machte. Er war wirklich gar tief betrübt, der aufmerksame Gastgeber, denn nach dem ersten, panischen Schrecken hatte er sich wieder so weit erholt, daß er überlegen konnte, welch bedeutender Gewinn ihm durch den Tod des Brautvaters entgehen mußte. Jetzt würden, da die Feier doch wohl oder übel abgebrochen werden mußte, ganz sicher fünf Hektoliter Bier weniger getrunken, von Wein und Schnaps gar nicht zu reden. Das war ein herber Verlust und nur in der einzigen Hoffnung konnte er etwas Trost finden, daß der Herr Förster sich nicht lumpen lassen und eine opulente Totenfeier abhalten werde. Dann durfte man wenigstens wieder an einen gewissen Ausgleich denken.

»Amen«, wisperte andächtig der Wirt und drehte sich um, weil man heftig an der Türe gepocht hatte.

»Wer ist denn da?« fragte er ganz leise.

»Ich bin's, der Lehrer.«

Kreittmayer öffnete und wies die Nachdrängenden geschäftig zurück.

Gattl ging an ihm vorüber und durchmaß mit großen Schritten die Stube. Sein Gesicht war so gelb wie das der Leiche und seine schweißtriefenden Haare hingen ihm weit in die Stirne herein. Der aufgeknöpfte Gehrock schlotterte um die große Gestalt und durch das offenstehende Hemd blickte die Brust heraus.

Die schweren Schritte des Herumgehenden störten den Geistlichen in seiner Andacht. Er sah sich ärgerlich um und wollte Ruhe gebieten. Doch der Lehrer ging direkt auf ihn zu und sah ihm fest in die Augen:

»Hochwürden«, begann er, »der Tod hat Einkehr bei uns g'halten. D'rum bitt' ich Sie noch einmal bei der Leich' da, vor der wir steh'n, haben Sie Mitleid mit der Anna!«

Kathi und Hansl hörten zu weinen auf, Göpfert aber schaute verwundert den Sprechenden an, der ihm schon beim Eintritt durch sein Wesen sonderbar auffiel.

»Schämen Sie sich«, sagte der Geistliche leise und unwillig. »Hier vor dem Toten, zu einer solchen Stunde fangen Sie wieder den Skandal an.«

»Ich fang' kein' Skandal an, aber grad hier vor dem Toten will ich Sie zum letztenmal bitten, weil ich hoff', daß Sie an einer solchen Stell' noch am ehesten 'n Funken von Barmherzigkeit spüren.«

Ärgerlich bewegte sich der Priester:

»Beten Sie hier, das ist angezeigter.«

»Hansl«, sagte der Lehrer, indem er den Jungen beim Arm ergriff, »geh' du her und bitt'n Herrn Benefiziaten, bei dei'm toten Vater um Gnad' für dein' unglücklichen Lehrer!«

Hansl verstand nicht, was hier vorging, aber er hob flehend die Hände auf und fing laut zu schluchzen an.

Der Priester wandte sich empört ab und ging erregt durch das Zimmer.

»Können Sie jetzt nicht aufhören mit Ihrer dummen Geschichte«, fragte er wütend.

Gattl ging ihm nach:

»Mit meiner dummen G'schicht«, rief er, »das ist meine Zukunft, Hochwürden, von der Sie jetzt so verächtlich reden.«

Nun hielt sich der Förster nicht länger:

»Sie«, sagte er roh zu Gattl, »Sie, hab'n Sie koa G'fühl und koa Moral, daß Sie vor einer Leich' so 'n Spektakel machen?«

Der Lehrer schob ihn bei Seite und drängte sich an den Priester:

»Ich war gestern in Mariakirchen«, sagte er, »dort hab ich erfahr'n, daß ich meine Anstellung hab.«

»Sie hätten eine Anstellung?«

»Jawohl! Der Minister hat mir's selbst g'sagt.« Einen Augenblick war der Geistliche völlig sprachlos. Aber er sammelte sich schnell wieder und sagte bestimmt:

»Die Regierung wird sich besinnen, Leute wie Sie anzustellen! Noch dazu, wenn sie erfahren wird, welche Schamlosigkeiten Sie begangen haben.«

»Sie und Ihre saubere Anna«, rief Göpfert und nickte beifällig.

Gattl wollte auf den Förster stürzen, aber er hielt sich noch einmal zurück und redete den Geistlichen an:

»Dann haben Sie's also angezeigt?« stöhnte er.

»Glauben Sie meinetwegen, was Sie wollen. Und jetzt verlassen Sie sofort das Zimmer, damit die Ruhe des Toten nicht mehr gestört wird.«

»'Naus! 'Naus!« schrie Göpfert und faßte Gattl beim Arm.

Mit einem weiten Satze entriß sich der Lehrer dieser Berührung und stürzte in eine Ecke des Zimmers. Dort zog er das Goldstück aus der Tasche und schleuderte es dem Förster vor die Füße.

»Da haben Sie Ihr Trinkgeld wieder«, schrie er, »Sie, elender Hund!«

Göpfert wollte auffahren, blieb aber wie gebannt stehen, als er den Lehrer mit geballten Fäusten auf den Geistlichen losgehen sah.

»Wenn Sie mich gemeldet haben, Hochwürden, dann nehmen Sie's zurück, ich rat's Ihnen!«

Diese Worte des Rasenden zogen wie ein lähmender Schrecken über die Anwesenden hinweg. Selbst der Priester behielt schwer seine Fassung.

»Sie drohen mir mit Gewalttätigkeiten«, rief er bebend, »weil ich ein unsittliches Verhältnis in meiner Gemeinde nicht straflos hingehen lassen will?«

Noch stärker hob der Lehrer seine Stimme:

»So? das ist der Grund? Ha, ha ha! Sie dulden kei' unsittlich's Verhältnis, und einem andern Mädel Ihrer Gemeinde, das jede Nacht mit dem Burschen g'schlafen hat, dem geben Sie den christlichen Segen!«

»Was soll das heißen?«

»Oh, Sie wissen gut, was ich mein. Sie haben heut die Kathi in allen Ehren getraut, trotzdem sie mit dem Lechner Toni 'rumg'hurt hat, während der da, der heut tot auf dem Bett liegt, sterbenskrank gewesen is!«

Wie ein Blitzstrahl fuhr es in die Anwesenden. Kreittmayer schlug die Hände zusammen, Kathi stieß ein jämmerliches Geschrei aus und streckte ihre beiden Arme gegen den Förster hin, der auf sie los fuhr, als hätte ihn ein wildes Tier gebissen.

»Kathi«, schrie er außer sich, »is des wahr, was der Kerl da sagt? Red, oder i schlag di nieder.«

Er hob die Faust gegen seine Frau, sie warf sich heulend zu Boden und verbarg ihr Gesicht. Eilig fiel ihm der Geistliche in den Arm:

»Fassen Sie sich! Kommen Sie jetzt mit mir, ich will mit Ihnen sprechen, ich ...«

»Sie bleiben hier«, unterbrach ihn der Lehrer, der ihm auf den Fersen folgte. »Sie bleiben hier, denn ich rechne noch ab mit Ihnen.«

Er versperrte dem Priester den Weg und packte ihn beim Arme. Klappernd schlugen seine Zähne zusammen und weit riß er die Augen auf:

»Nehmen Sie die Klageschrift zurück, die Sie nach Mariakirchen g'schrieben haben?«

»Wer sagt Ihnen, daß ich geschrieben habe?«

»Ich sag's Ihnen«, schrie der Lehrer und schwang das Dokument in der Luft herum.

Wie vom Schlag getroffen prallte der Geistliche zurück.

»Ach, Sie elender Dieb«, rief er.

»Nehmen Sie's zurück?«

»Morgen schreibe ich noch eine ganz andere.«

Der Lehrer stieß einen Schrei aus, der nichts Menschliches mehr hatte.

»Nein, das tun Sie nicht mehr! Sie haben mich lange Jahre in den Dreck g'stoßen, Sie haben mir mei' Existenz ruiniert und haben die Anna in' Wahnsinn 'trieben, jetzt bring' ich Sie um!«

Er stürzte auf den Priester los und ehe sich der Angegriffene besinnen konnte, hatte er ihn zu Boden geschmettert, daß die Dielen krachten. Dann faßte er ihn bei der Gurgel und würgte ihn mit der Wut einer entfesselten Bestie.

Was im Zimmer vorging, merkte er nicht mehr. Er hörte nicht die hereinstürmende, brüllende Menschenmasse, er beachtete die Schläge nicht, die von allen Seiten auf ihn herniedersausten, er hielt sein Opfer und drückte immer fester und fester, bis man ihn endlich mit aller Gewalt fortriß. Da kam er zu sich und brach sich mit blinden Hieben nach rechts und links durch die tobenden Menschen eine Gasse zur Türe. Eine große Zahl schreiender Bauern stürzte ihm nach. Lange hörte man ihr Gebrüll, bis es sich endlich, wie ein abziehendes Gewitter in der Ferne verlor.

Nun erst erwachten die Zurückgebliebenen aus ihrer Betäubung. Sie hoben den Geistlichen in die Höhe. Blau war sein Gesicht, röchelnde Töne kamen aus der Brust, die Arme hingen schlaff herunter und die Augen traten aus den Höhlen. Man legte ihn auf ein Sopha, deckte ihn sorgfältig zu und trug ihn sofort ins Pfarrhaus hinauf.

Göpfert sah den Abziehenden mit verkniffenen Lippen nach. Er allein hatte keine Hand gerührt, als der Lehrer über den Geistlichen herfiel. Hatte ihn doch der Priester, der ja alles kannte, kaltblütig in die Falle gehen lassen, und nun war der tadellose Wallberger Förster blamiert vor diesen elenden Bauern, die ja draußen alles gehört haben mußten. Das war eine schöne Geschichte. Dieses Gelächter in der ganzen Umgegend! Der wutbebende Förster glaubte es im Geiste schon zu hören! Herrgott, wenn er sich jetzt an jemand vergreifen dürfte! Vielleicht an Kathi, die noch immer am Boden kniete und so tölpelhaft heulte? Hübsch war sie doch ... Aber, zum Teufel, man kann sich doch so etwas nicht gefallen lassen! Göpfert dämmerte so etwas auf wie von einer Scheidung ... Aber dann wär' halt auch das schöne Geld dahin, das ja der Tochter jetzt ganz allein gehörte, denn der unehelich geborene Hansl mußte Geistlicher werden. Das schöne Geld! Hm. Wer weiß, ob er Kathi nicht gerade einen Gefallen erwiese, wenn er eine Scheidung anstrebte. Das Frauenzimmer wäre imstande, es dann erst recht mit dem Lechner Toni zu halten. Nein, er hatte sich den Besitz von Kathi und ihrem Hab und Gut zu schön ausgemalt, als daß er noch verzichten könnte, er entschloß sich, sie zu behalten. Aber gehörig durchprügeln wollte er sie, sobald er mit ihr allein wäre.

So überlegte sich der Förster den üblen Zwischenfall und wurde etwas ruhiger. Die bösen Zungen dachte er schon zu stopfen, und mit dem Wirt, der an allen Gliedern zitternd eben zurückkam, wollte er gleich den Anfang machen.

»No, was is, Kreittmayer?« fragte er leise.

»Wir ... wir ... wissen alle ... no nix, Herr Förster, den Herrn Be.... Benefiziaten hat man in sei' Wohnung tragen. Der ... der Lehrer is in die Gaifschlucht naufg'rennt und a Masse Burschen sind eahm nachg'laufen. Gott, o Gott, so was, Herr Förster, so was!« Er rang die Hände.

Der Förster schritt durch die Stube:

»Der bringt si' um, der elende Lehrersg'sell ... is koa Schad d'rum ...« Er schritt in die hinterste Zimmerecke und winkte den Wirt heran.

»Kreittmayer!«

»Herr Förster?«

»Sie hab'n g'seh'n, wie der Lehrer den Benefiziaten b'handelt hat«, sagte der Förster leise aber mit furchtbarem Nachdruck.

»Ja mein, Herr Jesus Christus und heilige Maria, und ob ich's g'sehen hab ... na, so was ...«

»Gut, Kreittmayer, jetzt passen S' auf: Grad so pack' ich Sie und an' jeden andernen, der mir a Wort red't über das, was der Lehrer von der Kathi g'sagt hat.«

Der Wirt starrte ihn erschrocken an.

»Haben S' mi verstanden, Kreittmayer?«

»O ja, Herr Förster, ganz guat«, entgegnete hastig der Wirt.

Von draußen drang ein anschwellendes Geräusch ins Zimmer. Mehrere Bauern polterten zu der offenen Türe herein, alle erhitzt und schweißtriefend.

»Seid's ös'm Lehrer nachg'schob'n?« fragte der Förster.

Die Ankommenden nickten stumm.

»No, was is damit?«

Die Leute sahen zu Boden. Endlich platzte einer heraus:

»Nunter g'sprung'n is er von der Bruck'n!«

»Is a Lump weniger auf der Welt«, sagte der Förster von Wallberg und lachte verächtlich.

 

Die Klänge der Kirchenglocke waren in Annas Zimmer gedrungen. Langsam richtete sich die Kranke in ihrem Bette auf und lauschte. Was hatte das zu bedeuten? Nachts um zehn Uhr läutete man, da mußte jemand im Sterben liegen. Wie es so seltsam klang, so unregelmäßig und abgehackt! Zog der Lehrer den Strang? Ängstlich faßte das Mädchen ihren Rosenkranz und fing leise zu beten an, aber ihre Bangigkeit wuchs von Sekunde zu Sekunde. Sie verließ das Bett und öffnete die Fenster. Die milden Wellen einer lauwarmen Frühlingsnacht strömten auf sie her. Das Glöcklein verstummte und in tiefer Ruhe lag die Sternennacht über den Bergen. Im Dorfe unten war es totenstill, und auch im Forsthaus regte sich kein Laut. Was das nur war? Sie hielt es nicht mehr aus in diesem drückenden Schweigen und öffnete die Türe.

»Mari! Mari!« rief sie auf den Gang hinaus. Keine Antwort erfolgte.

»Mari, komm geschwind zu mir runter!« Wieder rührte sich nichts.

Zitternd schlich Anna die schmale Treppe unter das Dach hinauf und klopfte an dem Bretterverschlag, der den Wohnraum der Magd bildete.

»Mari, wach doch auf, i hab so viel Angst.«

Sie trat in den finsteren Raum und betastete das Bett – es war leer. Die liederliche Person hatte sich fortgeschlichen, und wollte noch heimlicherweise von der Hochzeit profitieren. Eine fieberhafte Angst befiel die Kranke bei dem Gedanken, daß sie ganz allein in dem Hause war und niemand in der Nähe hatte, den sie rufen konnte. Wenn sie wenigstens nur wüßte, warum man geläutet hatte? Ging der Tod im Dorf um? Dann geisterte es jedesmal vierzehn Tage lang und alle Leute schlossen sich bei anbrechender Dunkelheit in ihre Häuser ein. Anna graute es. Mit zitternden Knieen tappte sie aus dem Verschlage heraus und wollte die Türe zumachen. Da – halt – was war denn das? Tönten da nicht Stimmen grell durcheinander? Ja, ja, jetzt hört man sie ganz deutlich. Sie nähern sich dem Forsthause, ach nein, es geht die Hochwiese hinauf. In die Schlucht? Jetzt tief in der Nacht? »Was will man dort?« Wie von einer Viper gestochen schrie Anna auf. Sie hatte ihren Namen gehört, so verzweiflungsvoll gerufen, daß ihr das Herz still stand. Das war Gattls Stimme gewesen!

Noch einmal versuchte sie, sich zu sammeln und den keuchenden Atem anzuhalten. Aber es kam kein zweiter Ruf, es wurde stiller und stiller und das Geschrei der anderen verlor sich in der Höhe.

»Um Gotteswillen, Mari, Mari, Mari«, stöhnte die Geängstigte. Niemand antwortete ihr. Nur die beiden Jagdhunde im Hausflur fingen, von dem Geräusch der vorüberjagenden Menge laut zu bellen an. Dies gab Anna wenigstens so viel Mut, daß sie die Treppe wieder herunterzugehen und in ihr Zimmer zu eilen wagte. Lästig suchte sie nach ihren Kleidern. Hier konnte sie nicht mehr bleiben, in dieser furchtbaren Einsamkeit, sie mußte wissen, was geschehen war. Heftiger Schüttelfrost packte sie, als sie sich anzog. Ihre unsicheren Bewegungen und ihre Müdigkeit ließen sie dazu eine endlose Zeit brauchen. Sie dachte nicht mehr an das strenge Gebot des Arztes, im Bette liegen zu bleiben, sie dachte nicht mehr an ihren Vater, sondern riß sich gewaltsam von dem Stuhle empor und schlich mit ihren offenen Stiefeln, von denen die Schnüre herunterhingen, ins Freie hinaus. Jeder Schritt, den sie machte, kostete ihr eine furchtbare Anstrengung, der Schweiß perlte ihr in großen Tropfen von der Stirne und manchmal glaubte sie schon, die Füße müßten nachgeben und unter der Last des schwankenden Oberkörpers zusammenbrechen.

Sie ging zum Pfarrhaus. Dort hatte sie Licht gesehen, dort konnte man ihr wohl Auskunft erteilen, was vorging, und weshalb der Lehrer in die Gaifschlucht gerannt war. Denn, da war kein Irrtum mehr möglich: sie hatte seine Stimme erkannt. Gebückt schlich sie dahin, indem sie sich an den Umzäunungen der Wiesen und Felder ängstlich festhielt. Am sauersten wurde ihr der Gang über die kleine Anhöhe zum Kirchlein. Endlich war sie oben und gelangte vor den Pfarrhof. Dort standen viele Menschen.

»Jessas, Maria und Joseph«, tönte es plötzlich neben ihr, »d' Fräul'n Anna!«

Es war ihre Dienstmagd, die sich zu den Neugierigen gesellt hatte und bei ihrem Anblick entsetzt die Hände zusammenschlug.

Die Menge wich auseinander und ließ die Ankommende zur offenen Haustüre gehen.

»Aber Fräul'n Anna, wo wollen S' denn hin?« schrie Marie und suchte sie zurückzuhalten.

»Mari, was is g'schehen, was is g'schehen?« flüsterte Anna und krampfte sich mit ihren schweißigen Händen an die Schultern der Magd.

»O, was Schreckliches, Fräul'n Anna ... i ... könnt's Eahna net sag'n.«

Anna machte sich zitternd los und taumelte in den Flur. Niemand stellte sich ihr entgegen. Wie eine Nachtwandelnde trat sie in das Zimmer und blieb wie angegossen stehen. Mit irren Augen blickte sie auf das Bett, das in der Mitte stand: da lag der Geistliche, aufgedunsen und stöhnend, und vor ihm saß die alte Haushälterin und rang verzweifelt die Hände. Als sie Anna erblickte, die wie ein Gespenst an der Schwelle stand, sah sie auf und ihre rotgeweinten Augen funkelten vor Zorn und Wut.

»Kommst du daher«, sagte sie mit bebender Stimme, »du schamlose Person, de an allem Schuld is.«

Anna starrte sie fragend an.

»Ja, schau mi nur an, du hast grab so viel zu dem Unglück getan, wie er selber.«

»Wie wer?« stotterte die Kranke.

»Verstell di nur net! Und schau'n an, unsern hochwürdigen Herrn. So hat sich der Lehrer an ihm vergriffen!«

Anna wankte gegen die Bettstatt und drohte umzusinken.

»Mach, daß d' in d' Kirch 'nüber kommst und unseren Herrgott um Gnad' anflehst für deine Sünden, du Frauenzimmer ... du schlecht's ...«

Anna stöhnte aus der ganzen Tiefe ihrer gemarterten Seele. Ihre Blicke begegneten den gläsernen Augen des Geistlichen, der mit den Händen zuckte, als wollte er etwas sagen.

»Gnad' und Barmherzigkeit!« schrie Anna und warf sich vor das Bett. Dort lag sie lange schluchzend und wimmernd.

Plötzlich fuhr sie auf und starrte die Haushälterin an:

»Wo is er, der Franz?« fragte sie.

»Was weiß i?« war die trotzige Antwort, »den werd d' Gendarmerie morgen scho einfangen.«

Dieses grausame Wort brachte die Kranke zur Besinnung.

»Nein«, ächzte sie wie ein hülfloses Kind, »net d' Gendarmerie, bei unserm Heiland net! Des derf net sein. Ich ... ich ... muß zum Franz geh'n, ich hab 'n ja g'hört ... ganz genau g'hört, wie er in die Gaifschlu...«

Entsetzlich schrie sie auf. Der grelle Ruf des Lehrers war ihr eingefallen. Sie sah die Brücke vor sich und glaubte neben ihm zu stehen, wie damals an dem düsteren Herbsttage, wo er sie fragte, ob sie mit ihm da hinunterspringen wollte, wenn es auf der Welt nichts mehr zu hoffen gab ... »Nein«, schrie sie laut durch das Zimmer, »ich spring net mit, es is a Sünd, a Todsünd, Franz, Franz, kehr' um, kehr' um, Franz! Franz! Sie lief in alle Ecken des Zimmers, als suche sie etwas, um sich darauf zu stützen.

Der Haushälterin wurde es angst und bange in ihrer Nähe. Sie lief auf den Flur hinaus. Als sie mit einigen Bauersleuten zurückkam, saß Anna aus dem Boden und lehnte sich an die Bettstatt. In ihren Armen hielt sie ein großes Kruzifix, das sie von der Wand heruntergerissen hatte. Sie herzte es wie eine Puppe und drückte es fest an ihre Brust. Dabei lachte sie eigentümlich, kurz und abgerissen, und manchmal murmelten ihre Lippen:

»Net nunterfallen, net fallen will i ... o vergieb uns unsre Schulden.«

Sie war wahnsinnig geworden.

* * *

Der heimkehrende Balder fand am anderen Tage im Forsthause den zerschmetterten Leichnam des Lehrers und seine sterbende Tochter vor.

Das war ein harter Schlag für Mariakirchen. Der Herr Minister hatte über Nacht die Koffer packen lassen und die tiefbetrübte Zeitung des Marktes meldete den entsetzten Bewohnern die Abreise Seiner Exzellenz. Alles eilte an den Bahnhof, wo der hohe Herr vor den bestürzten Honoratioren mit tiefernstem Gesichte stand und wenig Sinn für die dargebrachten, duftenden Scheidegrüße an den Tag legte. Seine Gemahlin weilte bereits in dem eleganten Salonwagen mit den Spiegelfenstern und hatte sich sehr kurz von den knixenden Damm verabschiedet. In früheren Jahren war dieser Abschied immer eine Ovation für den hohen Herrn gewesen. Unter dem Hurrahgeschrei der versammelten Menge pflegte er von dannen zu fahren und vom offenen Fenster aus mit freundlichem Lächeln unzähligemale zu grüßen.

Heute hatte er noch niemand die Hand gegeben. Er stand etwas abseits mit dem Bezirksamtsassessor und redete eindringlich mit ihm.

Der junge Beamte weilte wie zerknirscht vor ihm und hielt den Zylinder in der Rechten.

»Das sind sehr unliebsame Vorkommnisse, Herr Assessor, sie werfen ein schlimmes Licht auf gewisse Verhältnisse und auf die hiesige Gegend.«

Der Assessor wand sich wie eine Schlange.

»Mir scheint«, fuhr der Minister fort, »der Herr Benefiziat Kleiser hat nicht mit der gehörigen Strenge sein Amt gehandhabt, wie wäre es sonst möglich, daß sich der Lehrer so weit vergessen konnte?«

Eine Pause folgte.

»Haben Sie etwas gehört«, fragte der Minister, »wie es dem Herrn Benefiziaten geht?«

»Der Herr Bezirksarzt sagte mir, daß eine Besserung zu konstatieren sei«, flüsterte der Gefragte.

»Nun, das ist wenigstens ein Trost. Er wird Erholungsurlaub bekommen und seine Ernennung zum Pfarrer an einem anderen Orte steht ohnehin bevor.«

Das zweite Signal zur Abfahrt ertönte.

»Unbegreiflich sind mir nur die Dinge, die ich über den Förster Balder und seine verstorbene Tochter hören mußte. Man hielt die Familie für so anständig.«

»Da hat mir nun allerdings der Herr Benefiziat schon vor längerer Zeit das Gegenteil berichtet, Exzellenz«, wagte der Assessor zu bemerken.

»Wirklich?«

»Allerdings, Exzellenz. Diesen Verdacht hatte der Herr Benefiziat ganz bestimmt geäußert«, fuhr der Beamte ermutigt fort. »Er war nur dem Lehrer gegenüber viel zu vertrauensselig, und als ich ihn einmal darauf aufmerksam machte, daß der Lehrer mir verrückt erscheine, lachte er mich aus.«

Zum letztenmale rief man zum Einsteigen. Der Minister ging langsam zu seinem Wagen. Dort drehte er sich nocheinmal zu dem nachschreitenden Assessor um und sagte etwas freundlicher:

»So? Sie haben ihn gewarnt? Dann haben Sie also auch gemerkt, was ich mir von vornherein sagte: Daß dieser Hülfslehrer Gattl schließlich eben doch nichts anderes war, als ein Verrückter.«

* * *


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