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Wolf Rudinoff

Der Artist Willy Wolf Rudinoff († Juli 1931).
Photo Hahn

Es war im Mai 1891. – Nun waren endlich die großen akademischen Ferien nahe! Ich bereitete mich vor, diese drei Monate gut auszunutzen und möglichst so viel Geld in dieser Zeit zu verdienen, um wenigstens während der ersten drei Monate meiner Studien in Paris sorglos zu leben. Von dem Geld, welches ich in den beiden Lokalen in München als Negro-Excentrique »Jacques Williams« verdient hatte, besaß ich noch dreißig Mark. Das war allerdings kein Betriebskapital, um eine »Kunst«-Tournee zu unternehmen. Wedekind, dem ich von meinen Plänen Mitteilung gemacht hatte, wollte mitkommen. Einmal gedachte er, mit der Laute begleitet (es war nur eine ganz ordinäre Gitarre), seine unheimlich grandiosen Dirnen-Balladen zu singen und im zweiten Teil zwei seiner Prosastücke oder Dramenfragmente vorzulesen. Nun wäre es mir gewiß angenehm gewesen, einen so eigenartigen und feingeistigen Kameraden mitzunehmen, aber ich konnte mich nicht dazu entschließen. Ich brauchte vollkommene Aktionsfreiheit. Wenn Wedekind mitgekommen wäre, hätte ich seinetwegen für fortlaufende Engagements sorgen müssen. Das wäre mir eine Last gewesen. Ich wollte wohl an den schönen bayerischen Bergseen, in Tirol und in der Schweiz eigene Vorstellungen geben, aber am Tage wünschte ich von dem Duft der Virginias, die Wedekind rauchte, von den Gesprächen über Kunst und Literatur bei Kaffee und Kognak, Absinth, Whisky und sonstigen Beduselungen des Gehirns, möglichst entfernt zu leben. Ich wollte keine vertrackten Theorien mehr hören, auch wenn sie noch so geistreich wären. Ich wollte einmal zu mir selbst kommen.

Nachdem ich im »Fürstenhaus« am Achensee einen Abend veranstaltet hatte, zählte ich meine Barschaft und fand, daß ich hier einige Tage ohne aufzutreten malen könne. An diesem Tage malte ich zum erstenmal in meinem Leben eine Gebirgsseelandschaft, so mitten drin in all der Schönheit! Ach, wie genoß ich diesen Tag der unerhörtesten Glückseligkeiten! Ich konnte es kaum glauben, daß ich, der von einem jähzornigen Vater mit Leibriemen, Kantschu und Möbelausklopfer vielverprügelte Knabe, der von den Studierenden der Berliner Kunstschule verhöhnte, der gern geohrfeigte und zum Laufjungen degradierte »Konfektions«-Lehrling, nun hier in dieser Herrlichkeit verweilen könne! Das Blau und das Gelbgrün der Bäume am See, die Wolken, die Wiesen, den Gesang der Vögelchen, das alles sollte ich genießen können gerade so wie die reichen Damen und Herren, die im großen Hotel wohnen! Das war ein zur Wirklichkeit gewordenes Märchen!

Da Ölfarben zu lange brauchen, um »durchzutrocknen«, und Aquarell bei einem geschickten Anfänger leicht zum »Chicé«, wie man in Paris sagt, verleitet, so arbeitete ich in Gouache. Da gab es keine effektvollen Zufälligkeiten wie beim Aquarell und keine Verleitung zum Kraftmeiertum wie bei der Ölmalerei.

Als die schönen Tage am Achensee vorüber waren, fuhr ich nach Innsbruck und gab eine sehr gut besuchte Vorstellung. Mein Überschuß betrug achtzig Gulden. Mit diesem Geld in der Tasche ging ich auf einen ganzen Monat hinauf in die Berge. In einer Almhütte fand ich Unterkunft.

Der Herbst war da. Ich mußte wieder hinunter ins Tal zu den Menschen. Diesmal waren es Schweizer Menschen. Sie saßen in rauchigen Kneipen, tranken ihren »Zwier wiies«, spielten Karten und ließen sich mal von einem Zauberkünstler was vormachen, mal von einem französischen Komiker die neuesten Zweideutigkeiten erzählen oder von einer Tiroler Sängergesellschaft anjodeln. Eintrittsgeld durfte zu all diesen »Soireen« nicht erhoben werden. Die Schweizer kaufen keine Katze im Sack. Erst die Ware und dann das Geld! Alle diese fahrenden Leute mußten »absammeln« gehen. Ich empfand es als eine ganz besondere Qual, bei jeder Vorstellung unter den Klängen eines von meinem Klavierspieler fortissimo heruntergedonnerten Marsches, vier- oder fünfmal mit dem Teller zu jedem Gast zu gehen. Einige der Herren Schweizer waren sehr dickhäutig. Obgleich sie schon eine Stunde meine Darbietungen »genossen« hatten, sagten sie doch: »Wir sind chrad ebbe kommen!« Oder auch: »Ich will ihre Kunscht gar nit sehe, ich will nur hier mei Café trinke!

Es interessierte mich aus rein künstlerischen Gründen, das Wesen dieser Menschen zu beobachten. In diesem Kampf um ein Zehncentimestück lag so viel Komik, daß ich schließlich das Würdelose meiner Situation gar nicht mehr empfand. Ich ging in stolzer Haltung, ohne zu lächeln, ohne ein Wort zu reden, mit meinem Teller herum, wie ein König, der für einen guten Zweck von seinen Untertanen Gelder einsammelt. Es kam vor, daß ich Gästen, die so taten, als sähen sie mich nicht, wenn ich mit meinem Teller kam, nach »par dessus le marché« einen Schoppen Wein durch den Kellner an den Tisch schickte.

In Straßburg fand ich endlich wieder ein Engagement in einem großen Varieté. Ich brauchte nun nicht mehr in Kneipen zu arbeiten und bei Nacht mit einem Schubkarren meine »Klamotten« ins nächste Spiellokal zu schaffen. Ich brauchte nicht mehr, wie in Basel, mit Marktbettlern, Taschendieben, Drehorgelspielern und Vagabunden in einem Raum zu schlafen. Ich hatte ein vierwöchiges Engagement und konnte, ohne Sorge für den nächsten Tag, wieder malen, in die Wälder gehen und mit den Vögelchen in ihrer eigenen Sprache reden. War ich denn nicht le célèbre imitateur du chant d'oiseaux? Wenn ich im Walde sitzend den Nachtigallenschlag nachahmte oder eine von mir frei erfundene Tonkombination pfiff, so antworteten »Amsel, Drossel, Fink und Star, ja die ganze Vogelschar«. Immer näher und näher kamen sie, denn die Waldvöglein sind neugierig wie die Frauen, die in Scharen in die Oper rennen, sobald ein neuer Tenor gastiert. Ich konnte wieder davon träumen, doch noch einmal so viel Geld zu haben, um in Paris studieren zu können.

 

Ich bekam einen Monatskontrakt für das »Eldorado« in Antwerpen. Im Salon des kleinen Artistenhotels, in welchem das ganze Programm logierte, sah ich einen kleinen etwa achtjährigen Knaben mit einer Marionettenfigur hantieren. Er sprach mit seiner Puppe in einem Französisch »du Midi«, welches die Akzente der »Cannebière« in Marseille verriet. Ich fragte den Knaben: »Est-ce que tu es aussi un artiste, mon petit?«

»Oh, non Monsieur, pas moi, mais mon père, il debute ce soir comme grande vedette a l'Eldorado!«

»Qu'est ce qu'il fait ton père?«

»Ah, Monsieur, mon père est ›Pétomane‹!«

Damit lief er aus dem Zimmer und ließ mich mit einem Rätsel allein: Pétomane, Pétomane? – Was konnte das für ein Künstler sein? – Um mir Aufklärung zu verschaffen, wollte ich den Wirt fragen, der hinter der Bar stand. Richtig, da hing ein schmaler langer Zettel, der in blauer Schrift das Monatsprogramm anzeigte. Nur eine Nummer war in roten Buchstaben besonders hervorgehoben: Attraction extraordinnaire!!! »Le célèbre Pétomane«!!! Le bariton fin de siècle!!! Le createur du genre!! Unique au monde!! Ich bat unseren Hotelwirt, der, wie die meisten Belgier seiner Klasse, jeden Fremden »duzte«, um Auskunft. Er lachte mich aus und sagte: »Mais, Monsieur, tu ne sais donc pas qu'est ce que c'est un Pétomane? – Ça c'est drôle par exemple! Laissez moi vous expliquer! – – Voyons – – un pétomane est – – eh bien – – est un homme qui parle une langue tout-à-fait spéciale – il est merveilleux ce type là!« – Und wieder lachte er aus vollem Halse.

Nun mischte sich die kleine mollige junge Frau des Hotelwirtes, welche empfand, daß ich immer noch nicht im Bilde war, in unsere Unterhaltung. Sie konnte ein merkwürdig klingendes gebrochenes Deutsch reden, ein Potpourri von elsässischem und Kölner Dialekt, welches mit Antwerpener Französisch durchschossen war. Während sie hinter der Bar Gläser wusch, rief sie mir zu: »Mais, Monsieur, ein Pétomane das ischt nämlich ein Künschtler, der wo Bariton singt, aber ganz gewiß net mit dem Maul, aber grad von da, wo du druf sitze tuhst, Monsieur! Der bläst dir ganze Märsch' und Overtiere von derer Seite, wo man sonst gar net singe tut! Deux cent francs par jour! Deux cent francs par jour! C'est tout-de-même quelque chose. Nur blos weil er so kinschtlich blase kann!«

Wolf Rudinoff

Rudinoff als Othello

Ist es verzeihlich, daß ich nun auf die Nummer unseres Stars neugierig geworden war? – »Le moment suprême« nahte. Mit einem »Allegro majestoso« des Orchesters betrat, er die Bühne. Ein großer, schlanker, man mußte sagen, elegant aussehender Mann von etwa dreißig Jahren. Roter Frack, schwarzseidene Kniehosen, a la »Kamhill« (ein Varietésänger, der damals die Herrenmode in Paris diktierte), seidene Strümpfe und Schnallenschuhe, ein kleines schwarzes Schnurrbärtchen, kurz geschnittenes Haar und kleine, listig blickende Augen. Bevor er zu sprechen begann wie ein gewöhnlicher Sterblicher, trompetete er einen Heroldsruf zur Begrüßung des Publikums in den Saal. Dann aber, gleichsam die nur ihm eigene Sprache der Natur ins Vulgäre übersetzend, beginnt er seinen Speech mit folgenden Worten: »Bon soir, Mesdames et Messieurs! Je me présente come Bariton fin de siècle. C'est absolument hygiénique et sans la moindre inconvénience!«

Nun hielt er einen kleinen Vortrag und erklärte: »Ich atme die reine Luft dieses Theaters ein und gebe sie in Musik verwandelt wieder der Welt zurück! Niemand wird dadurch belästigt, meine Damen und Herren! Die Luft in diesem Raum bleibt so rein wie im Paradies, als Adam der Apfel von der Eva angeboten wurde. Die Damen des Quartiers St. Germain wollten es kaum glauben, als ich mich bei einem Wohltätigkeitstee der Pariser Aristokratie als Phänomen des Jahrhunderts vorstellen durfte! – Aber fangen wir an, Herr Kapellmeister!«

Das Orchester spielte nun einen Marsch. Der Tonkünstler übernahm hierbei die Baßposaune. Sodann imitierte er das Knattern eines Maschinengewehrs, die Seufzer einer »vierge« hinter den Mauern eines Erziehungsinstituts, und schließlich das Grollen seiner Schwiegermama. Noch niemals habe ich solche Lachstürme in einem Theater erlebt wie an diesem Abend! Man lachte nicht mehr, nein, man schrie, brüllte, quietschte vor Vergnügen!

Nun ging er ins Parkett und verkaufte, nach der Art von Schaubudenkünstlern, Postkarten mit seinem Porträt für den Preis von zwanzig Centimes. Das hatte er sich kontraktlich ausbedungen. Bevor er jedoch damit begann, teilte er dem Publikum mit, daß er sich auf seine besondere Art bedanken würde, falls jemand der geehrten Damen oder Herren ihm für sein Porträt fünfzig Centimes geben würde! Um so seltenen Dank zu ernten, opferte so mancher einen halben Frank :…

Als ich einige Jahre später in Paris Schüler der Académie Julian war, besuchte ich mit einer Dame der Petersburger Hofgesellschaft, weit draußen, wo das Quartier Montparnasse endet, einen Jahrmarkt. Auf diesem Rummelplatz hatte auch unser Star aus Antwerpen ein eigenes Schauunternehmen. Er gab zwanzig Vorstellungen täglich, die, wie mir sein Manager erzählte, vollkommen ausverkauft waren. Er war inzwischen ein Millionär geworden. Ich erfuhr, daß er Pujol hieß und ein Bäckergeselle war, bevor er sein Talent entdeckte. Natürlich war er aus Marseille. Das vornehmste Publikum von Paris stürmte seine Bude. Die besseren Zwei-Frank-Plätze waren nur im Vorverkauf zu haben. Es war nicht mehr der Geist, der die Menschen von Paris erschütterte, sondern die in ungeheuer groteske Wirkung gewandelte Luft.

Als ich, ungefähr fünfzehn Jahre später, »Tenor« studierte, um meinem Leben eine musikalische Abrundung zu geben, erinnerte ich mich an Monsieur Pujol. Alle meine Gesangsmeister bemühten sich, oft mit ganz merkwürdigen Methoden, den Ton »nach vorn« zu bringen, wie man das gesangstechnisch nennt. Der eine lehrte, ich müßte immer »Ming-ming-ming« machen, ein zweiter, mein Lehrer in Paris, der mir dafür siebenhundertfünfzig Frank im Monat abnahm (im voraus zu bezahlen!), lehrte, nur dadurch, daß man die Nasenlöcher zukneift, käme der Ton »nach vorn«. Mein Dresdener Lehrer, dessen Spezialität es war, gute gesunde Baritonstimmen in verkraxte Tenöre umzuwandeln, meinte wieder, daß man den Mund überhaupt fest zuhalten müsse, um den Ton »nach vorn« zu bringen! Lilli Lehmann aber lehrte, die einzige Übung, welche den Ton »nach vorn« bringt, sei: Jing-Jeng-Jong-Jung zu machen.

Unter meinem Studierzimmer befand sich der Laden eines kleinen Antiquitätenhändlers. Eines Morgens, ich übte grade wie ein Wahnsinniger mein Jing-Jing-Jeng-Jong, klopft jemand an meine Tür. Ein kleiner alter jüdischer Mann mit spärlich grauem Bart und einem Samtkäppchen auf dem Schädel steht auf der Schwelle meines Zimmers. »Bitte, womit kann ich dienen?'

»Ach, mein Herr, ich nehme an, daß Sie Professor der orientalischen Sprachen sind und chinesische Vorträge halten. Auch meine Frau hat gesagt, der Herr über unserem Laden deklamiert chinesisch, der wird dir gewiß sagen können, ob die chinesische Vase aus der Ming-Periode ist oder nicht.« Er packte eine alte chinesische Vase aus, die er unter dem Arm getragen hatte. Ich wehrte lachend ab: »Nein, lieber Herr Salomon, davon verstehe ich nichts. Was Sie und Ihre Gattin für Chinesisch halten, sind nur Übungen, um beim Singen den Ton gut »nach vorn« zu bringen, sonst dringt der Ton nicht durch ein großes Orchester.«

Herr Salomon wiegte seinen alten, klugen Kopf hin und her und sagte: Merkwürdig, merkwürdig, was die Leute jetzt alles erfinden. Mein seliger Vater war doch ein berühmter Chassen (Vorbeter) in Plotzk, und wenn er sang so hoch hinauf und dreidelte wie a Lerchen, hat man's gehört bis in Himmel! Aber er hat niemals Ming und Mang und all die chinesischen Werter geschrien!«

»Ja, lieber Herr Salomon, ich kannte auch mal einen Mann, einen Franzosen, der wurde sogar ein Millionär als gewöhnlicher Bariton, der brauchte sich niemals zu bemühen, seinen Ton ›nach vorn‹ zu bringen. Er ließ ihn da, wo er war!«

 

*

 


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