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Das Geistige
Ein Geburtstagskind bekam eine Torte. »Was für eine Torte hast du da?« fragten seine Freunde. Das Geburtstagskind machte sich so klein, bis sein Auge genau auf dem Niveau der Torte war. »Ich sehe«, sagte es, »ein Ding mit Bergen und Tälern, und gerade so hoch wie ich selber.« »Aber was ist drin?« fragten die Freunde. »Ich will Konditor werden, dann werden wir alle das wissen!« antwortete es. Diese Mitteilungen erregten bei den Freunden durch ihre sachliche Unbeteiligtheit Staunen und Bewunderung. Sie machten sich alle so klein wie das Geburtstagskind, und einige entschlossen sich still zum Konditorberuf. Da kam aus dem Nebenzimmer ein neuer Spielkamerad. Ziemlich taktlos stürzte er sich gleich auf die Torte, schnitt sie schnell an und ass. »Ah, Marzipantorten schmecken doch wunderbar,« sagte er; allzuviel hatte er von dem Geschenk nicht übriggelassen. »Was hast du gemacht!« schrien alle entrüstet, »wir wollten doch wissen, was in der Torte drin ist!« »Verzeiht, meine Freunde,« versetzte der Täter, »ich glaubte, man erkennt es durch Essen.«
Aller Jammer der Welt rührt daher, dass die Menschen gewohnt sind, sich als blosse Naturwesen anzusehen. Das Naturgeschöpf ist dem Naturgeschehen unterworfen; alles sei im grossen Strom, die Menschen – Naturprodukte strömten mit. Der Naturbetrachter sieht die Welt vom vorhandenen Material aus an, und er bezieht die Fakten auf den Menschen nur als auf ein Anwendungsobjekt. Der Mensch steht für ihn auf derselben Stufe wie sein Material. Diese Naturphilosophie der Gernekleins meint, alles stehe auf demselben Niveau; alles sei gleichgut. Die Absicht dieses Infantilismus ist: Indifferenz. Sollte nicht, am Ende, die relativistische Naturansicht aus dunklem, eingesipptem, noch nicht abgestossenem Bequemlichkeitsgefühl kommen? Aus der Trägheitsvorstellung, man lebe auf dieser Erde als auf einer flachen Scheibe? Eine Vorstellung, die jeder Schüler berichtigen kann. Aber eine Berichtigung, die noch nicht ins Handeln übergegangen ist. Die Naturansicht des Menschenlebens – die Gleichsetzung mit allem, was ist; die schiefe Güte, die alles in Ruhe lassen, nichts ändern will; die falsche Gerechtigkeit, die jedem Ding seine Sondergerechtigkeit zubilligt; der Relativismus; die Standpunktlosigkeit: dieses alles ist eine schlechte, träge, ungewusste, unradikale Geographie.
Der Aufenthalt auf der Erdkugel ist unendlich unbeschränkt; wir fallen nirgends über den Rand. Der Standpunkt steht uns frei. Wir haben also zu wählen. Wählen wir das Allernächstliegende: überhaupt einen Standpunkt. – Aber die Tatsache, dass wir überhaupt einen Standpunkt haben, ist unendlich folgenreich. Die Natur, die wir jetzt ausser ihr ansehen, ist das Notwendige. Das nur Notwendige. Aber die Wahl unseres Standpunktes, die Tatsache eines absoluten, unbedingten Ausganges für unser Zurechtfinden im Leben; die neue Perspektive, das Geistige, dies ist nichts Notwendiges mehr. Das Geistige ist ein Plus. Ein Überfluss, ein unerhörter Luxus der Welt. Es ist wie die Koda in einer Beethovenschen Sonate: alles Notwendige des Musiksatzes ist da, alle Durchführungen sind gemacht, alle Themen sind erklärt, gewendet, und ein Schulmeister würde Schluss machen. Da taucht, einige Takte vor dem Ende, überraschend eine neue Musik auf, neu irgendwoher aus einem Unerschöpflichen geholt, und nun untrennbar vom Werk, doch das Werk steigernd. Ein Plus, ein Unnotwendiges, Unmechanisches, Unselbstverständliches; ein Willenswesen, Aktionswesen, ein unglaublicher Überfluss des Schöpferischen.
Das Geistige ist die Koda der Welt. Einen Standpunkt haben, heisst: Es kommt darauf an, zu wissen, dass man ausserhalb steht. Einzig, unter dem Notwendigkeitsgebundenen dieser Erde, steht der Mensch ausserhalb, überraschend ein Überfluss. Die geistige Betrachtung geht vom einzig dastehenden Menschen aus.
Dem mechanischen Geschehen fehlt der archimedische Punkt Ausserhalb, um die Welt aus den Angeln zu heben. Der Mensch hat ihn. Er hebe.
Das Wesen des Menschen ist: an der Welt heben. Seine erste Tätigkeit geht auf Änderung der Welt. Sein Hebel, das reinste geistige Werkzeug, ist: der Wert. Der Mensch wertet – er ändert. Einer kam einmal funkelnagelneu geboren in die menschliche Gesellschaft und fragte bescheiden: »Was ist wertvoller, die Venus von Milo oder ein Pfund Fleisch?« Die Gesellschaft bestand aus reinen Naturbetrachtern, Objektfanatikern, schlechten Geographen; Standpunktlosen, und antwortete: Man könne nicht inkommensurable Grössen vergleichen.
Aber geistig – menschenwürdig, standpunkthaft hebelartig – ist gerade die Wertung des Inkommensurablen. Man stelle die Frage direkter, beziehungsvoller, lebenrührender: Was ist wichtiger, eine Kathedrale oder ein Menschenleben? Da stehen wir auf einmal ganz scharf ausserhalb unendlich, bloss gegebenen Materials der Natur. Jeder Mensch weiss die Antwort auf die Kathedral-Frage seines Lebens. Es ist wichtiger. Mit dieser Antwort wird die Welt von neuem geändert.
Wie tief in Wahrheit die Anständigkeit, die Kameradschaft, die Menschlichkeit im Menschen sitzt! die Entscheidung zum Werten, der Entschluss zur Rettung der Welt:
Wir beantworten wirklich jene Gewissensfrage, und wir alle bejahen in ihr das Menschenleben. Auch in der unausrottbaren Hoffnung, es werde wirklich durch unsere Entscheidung ein Menschenleben erhalten. Und wir geben diese Hoffnung selbst dann nicht auf, wenn wir ahnen, dass der Frager betrügerisch fragt, dass er unsere geistig ehrliche Antwort nur missbrauchen will, und dass er die Menschenleben genau so missachtet wie die Kathedralen.
Aber der Geistige darf nicht vorsichtig sein. Denn schweigen, unter dem Vorwande, das Reden könne missbraucht werden, heisst sich verleugnen, auch für den Moment, da die Stimme des Menschen aus den Leibern seiner Freunde und Kameraden hörbar wird erschallen.
Entscheidet Euch
Die Beurteilung von Werten verschiedener Art ist den Menschen darum peinlich, weil sie alles auf einmal besitzen möchten (die Venus und den Braten). Werte sind, zur Wertung da. Wenn Ihr geistige Wesen seid, so seid Ihr Partei. Ihr habt nicht Euch geniesserisch, relativistisch, besitzgierig um die Wertung zu drücken.
Entscheidet Euch!
*
Sieht man aber ein? der Wert kümmert sich nicht um den Besitz. Der Geist hat nichts mit Besitz zu schaffen. Nur der blosse Naturbetrachter findet überall Objekt, Aufzulesendes, Materie, Dinge, die man haben und festhalten kann, Besitz.
Besitztum ist das ewige Missverständnis des Naturmenschen; Anhäufung, Addition des nur Notwendigen, in der todbringenden Vorstellung, durch Anhäufen werde man einen Turm errichten, einen höheren Gesichtspunkt gewinnen, der dumpf geahnten Herrlichkeit des Ausserhalb, des Standpunktes, des Wertes, näherkommen. Gradweise, entwicklungsmässig, von selbst. Aber Besitz umschliesst nur immer höher mit den objektiven Molekül-Mauern der Natur.
Die Mythologie des Besitzes hat Nuancen. In der »Offenbarung Johannis« empfängt Johannes eine Buchrolle, die er essen muss; dadurch wird er in den Stand gesetzt, neue Weissagungen zu empfangen und zu geben. Eine grosse Naivität der Besitzes-Ideologie; das sich Einverleiben. Aber es gibt auch die Umkehrung dessen, ein invertiertes Einverleiben: die Einfühlung.
Oder die animistische Umkleidung des Besitzes: Macht. Machtglaube ist ein Attribut von atavistischem Zauberglauben. Der Magiegläubige meint, die Erreichung von Macht ändere sein ganzes Wesen. Aber Besitz ändert nichts. Aberglaube von Toren ist die Vorstellung, amerikanische Milliardäre seien in ihrer ganzen Lebensfähigkeit anders als andere Menschen. »Die Kaiserin«, sagt der Schmied in einem Märchen von Gogol, »sass auf goldenem Thron und ass goldene Knödel.«
Die Schätzung des Interessanten oder des Originellen ist eine Form von Besitzglauben (dagegen rein geistig, über alles herrlich und wertvoll ist das Originäre, das Ursprüngliche, das aus erster Hand Kommende). Nicht originell, nicht interessant ist das Schöpferische. Die Erfindung, das von Grund aus Neue, die Schöpfung steht ausserhalb des Besitzes. Das Schöpferische ändert die Welt und zersprengt immer gleich wieder sich selbst. Es ist da, um unablässig wieder ganz von vorn anzufangen. Eine schreckliche, hoffnungraubende Idee für alle Machtgläubigen. Aber Hoffnung ist selbst nur ein Trick, ein Marschsignal (gegenüber der Gewissheit).
Eine Verwechslung: die Menschen setzen gern Schöpfung und blosse Sichtbarkeit gleich. Aber die Entdeckung, die blosse Aufdeckung des noch nie Gesehenen ändert die Welt nicht. Hochschätzung des Visionären, des Geschauten, des Augensinns, der Entdeckung: ist Besitzaberglaube.
Ihm gegenüber steht die Zeugung, das Geschaffene, die Erfindung.
Für den Geistigen hat Besitz gar keinen Sinn. Er wertet. Er ändert unablässig. Wie sollte er auf die Idee kommen, etwas festhalten zu wollen? Sein Hebeldruck zur Änderung der Welt ist nicht Besitz, sondern die höchste Immaterialität, das stärkste nur Innensein: die Intensität. Alle Änderung der Welt ist Projektion des Geistes auf die Welt. Wir, Geistesmenschen, stehen vor der Urforderung dieses Lebens: Verwirklichung. Der Weg, den wir der Intensität aus uns heraus geben, ist der Weg der Verwirklichung. Unser erster Gedanke bei unserer Geburt ist: verwirklichen wir. –
Verwirklichen Wir!
Schöpfung beginnt.
Feuerbachs Einwand, Gott sei vom Menschen selbst gemacht, ist einer der dümmsten Einwände. Denn im Gegenteil. Ist es so, dann gab es kein strahlenderes Stück von Projektivität des Geistes, von Produktivität des Menschen. Aus uns einen Schöpfer schaffen – Gipfel der Verwirklichung.
Geistige Herkunft
Wir sind allgegenwärtig geboren. Im Moment unserer Geburt kommen wir zu allen Menschenleben der Erde in Beziehung. Noch in diesem Moment hätten wir die ungeheuer vielfache Möglichkeit gehabt, an irgend jedem andern Punkt der Erdkugel geboren zu sein. Also eine Möglichkeit, alles zu sehen, alles zu wissen.
Was wir erreichen müssen, ist immer wieder die Besinnung auf unsere ungeübte Fähigkeit, die durch unser notwendiges Erdenleben erstickte Fähigkeit: allgegenwärtig, allsehend, allwissend zu sein. Nicht die Fähigkeit gilt es zu erlangen – das ist vorbei und unmöglich. Aber die Besinnung wiederzugewinnen, dass diese Fähigkeit hätte dasein können. Die Besinnung, das heisst: die Neuschaffung eines Ersten Tages unseres Erdenlebens. Unser Tag der Geburt, wieder gezeugt zu einer Zeit, wo wir schon längst in die schmachtenden, isolierenden Beschränkungen eines Privatlebens gezwungen sind. Aber gerade das enge Bett unserer Gewohnheitsbeschränkung, in das nun die Welt unseres Neu-Adam-Seins strömt, verhilft uns zu dem herrlichsten und tiefsten Stigma des Geistes: Wir sind nicht mehr allgegenwärtig, allwissend, allsehend; doch am Tage unserer Besinnung werden wir allwollend.
Damit hat jeder von uns die Verantwortung für jeden Menschen der ganzen Mit-Erde auf sich genommen. Jeder von uns die Verantwortung für jeden andern!
Und hier wird eine alte Schiefheit zurechtgerückt, das Missverständnis von der Gleichheit aller Menschen. (Auch die treuesten Anhänger werden verlegen.)
»Gleichheit aller Menschen«, das würde ja nichts Wesentliches vom Menschen mitteilen. Die Annahme einer Gleichheit würde sofort hinter die Geburt der Menschen einen ewigen Ruhepunkt setzen. Da wäre also nicht die Aussage einer Wissenschaft (Wissenschaft wird heute nur noch von der Blüte der Schwachköpfe abgelehnt), sondern höchstens eine Klassifikation aus einer primitiven »Histoire naturelle«. Dieses Moment des ewigen, befriedigenden Stillstandes nach der Geburt – die Folge seiner Gleichheit aller Wesen –, der wäre eben in ungeheuerlicher Weise eine Angelegenheit der reinen, faktischen Natur. Und nicht im mindesten eine Angelegenheit des Geistes.
Siehe da, die Bemerkung hier ist nicht etwa eine geistreiche Spekulation, sondern eine Beobachtung: Denn bei allem Lebenden auf dieser Erde – mit Ausnahme des Menschen – besteht jene natürliche Gleichheit der Wesen, und darnach ihre ewige, befriedigte Ruhe und Stille. Die werden geboren, fressen, schlafen, begatten, sterben. Fertig. Wie natürlich!
Aber der Mensch, einzig, ist verknotet bis zu Schmerzen der Wut, auch bis zum masslos zustimmenden Glücksgaloppieren des Bluts mit jedem einzelnen, fremden, gleichzeitigen irgendwo dortigen Menschenwesen. Wir alle, Menschen, tragen gegenseitig unsere Verantwortung. Wie geistig!
Nicht Gleichheit aller, sondern Verantwortlichkeit aller!
Aber ganz anderes als die blosse Feststellung von rohen Naturtatsachen, nur vermischt durch den Gebrauch desselben Worts, ist die Forderung »Gleichheit!« Diese grosse Völkerparole ist in Wahrheit der Ruf nach Menschenähnlichkeit.
Der erste Tag
Alles, was gewesen ist, ist falsch. Jeder Grad bis zu diesem jetzigen, ersten allerersten Moment des Seins ist Anhäufung, Sandsack, Verhau; Hindernis ausserhalb jedes Wertes, Aufenthalt. Trägheitswiderstand gegen die Besinnung auf unsere Existenz aus unserer geistigen, geistigen Herkunft. Wir kommen aus dem Geist und sind in einemmal da. Jeder Tag, den ihr bis heute gelebt habt, war zum tausendsten Male Tod, nutzloser Tod. Nutzlos wie jeder Tod.
Wär das Gewesene nicht Irrtum, Wertlosigkeit, Kasemattentum, so wär es nicht vergangen.
Zerstört das Gewesene!
O wie namenlos noch nicht dagewesen ist alles, was ist. Wie unglaublich oft noch nicht dagewesen ist diese Welt. O Glück, da die Menschen tausendmal ihren ersten Tag haben.
Weiss man auch, dass die Erde barst! Inseln schwollen aus dem Meer, feurige Schwerter schweiften: an dem Tage, da Euklid fand, dass das reine Denken des Menschen und die Wirklichkeit – unerhört – sich decken können; bewiesenermassen! O erster Tag der geometrischen – Prädestinationslehre. Erster Tag des Euklidismus. Erster Tag des ersten Beweises. Erster Tag des Belauerns, wie eine Denkfolge zur Wirklichkeit schleicht. Wie phantastisch vorzustellen die Erschütterungen der Erde vor Adam Euklides. Erster Tag. Schöpfung.
Dagegen: die blosse Deskriptionsrolle Kants, der versteht und beschreibt, dass jene angebliche Wirklichkeit im Denken enthalten ist. Der Unterschied etwa wie zwischen dem Apostel Paulus und Exzellenz Piefkes »Wesen des Christentums«.
Bitte nicht rückwärts missverstehen! Die Euklidwelt ist tot. Da heut die ganze euklidische Geometrie von jedem Schüler schnell gelernt werden kann, steht Piefke unserer Zustimmung näher als die Apostel.
Ihr Herzen, wahre aufrichtige Herzen, meine Herzen, zu allererst müsst ihr flache Rationalisten sein, flache Rationalisten! Sonst existiert ihr nicht lebend, zeugungsfähig, gegenwärtig. Sonst steckt ihr an modrig Gewestem, seid Rezipienten, Reproduzenten, Kostümstücke, mysteriöse Historiker. Nur gewöhnlich, unoriginell, ohne Tiefe und Geheimnis begreifend, dass ihr günstigerweise gerade jetzt den Moment zum Leben erwischt habt, nur so flach rationalistisch – so brutal zeitgemäss allein – könnt ihr schöpferisch sein. Ganz Anfang. Ganz ersttägig. Ganz Adam.
Seid Adam!
Erlebnis
Erfahrung? Begriff der Erfahrung: trauriges Kapitalistentum der Ahnungslosen – zu glauben, durch langes Leben könne man Gewissheit kaufen.
Man soll auch dies nicht verschweigen: die Ideen unserer Zeit vom Erlebnis sind Besitzaberglaube.
Besitzglaube ist Furchtsymptom. Erwartung des Verlierenkönnens. Stärkste Neigung zur Einmaligkeit. (Einmaligkeit = Originalität). Es kommt aber nicht an auf Einmaligkeit, es kommt an auf Erstmaligkeit.
Seid zum erstenmal!
Ein sehr grosses Erlebnis
Im Jahre 1882 flog durch vulkanische Eruption die Südseeinsel Krakatao in die Luft. Viele hunderttausend Menschen wurden von der Flutwelle getötet. Eine Riesenwolke feinen Staubes blieb in der Luft, umkreiste mehrmals die Erde und brachte die tiefen farbigen Dämmerungserscheinungen hervor, die von jener Zeit bis Mitte der neunziger Jahre in der ganzen Welt sichtbar waren. –
Es ist mir immer klar gewesen, dass die Farbenwolken des Krakatao in innigster Beziehung stehen zu den neuen Malerfarben, den bunten Worten, den Neobildern, den Nuancen dieser Jahre.
Das ist ein Erlebnis, ein tellurisches. Objektiv, real, nicht abzustreiten. Ist das nun gross genug? Und alles, damit einige Malerateliers mehr gebaut werden? Ja? Alles, damit unser Sicherheitsgefühl in Europa steigt, einige Bilder mehr an den Wänden hängen, einige Bücher mehr erscheinen, Loïe Fuller unter Beifall Farben-Varieté macht, die Fabriken bunte Blusenstoffe in die Welt setzen, Geniesser vom »Farbenfleck« reden?
Darum? Diese flach teleologischen Fragen sind notwendig, solange wir noch an das Erlebnis glauben.
Und als die Malerfarben wieder blasser wurden, die Gedichte schilderungsfreier, da: ein europäischer Krieg, um das Erlebnis zu erneuern? Kameraden, ewiger Weltboykott diesen Teleologen! (Meyerbeer mietete sich ein Hausorchester, weil er sich Klangkombinationen nicht denken konnte, sondern sie praktisch erleben musste. Wer aber hat sich den Weltkrieg gemietet? Wir, zum Teufel, wir leben nicht für Schilderungen der Komponisten, Maler, Lyriker oder Romanciers!)
Nieder das Erlebnis
Die sogenannte Intuition (man weiss: umfassendste lyrische Begründung vom grossen Praktiker der Einfühlung, Bergson) ist Begriffsmischerei. Für feine Geniesser, Connoisseurs, Mitmacher: eine Hilfsvorstellung zur Rechtfertigung ihres Schwammdaseins. Das ewige Aufsaugen fremder Wesen, und von fremden Wesen ewig Sich-Aufsaugen-Lassen, beides steht auf demselben vakuumhaften Plan der traditionellen Idée fixe vom Besitz. Nicht eintauchen! Nicht aus fremdem Munde reden! Einzig von Wert ist: Mitteilen, Überreden, Aussagen. Überzeugnis ablegen von unserer Gewissheit Zu Sein.
Gewissheit, zu sein. Geboren zu sein. Einfach genug nur: zu existieren. Diese Gewissheit ist die tobendste, brisanteste, unaufhaltsamste Umwälzungsenergie; rasender als alle Sprengstoffe, blutiger, vernichtender, fatumhafter als alle Weltkriege. So durch alle Minen der Erde hindurch zerstörend, wie nur Schaffendes sein kann.
Anmerkung. Nur wer überhaupt den Mut hat, jeglicher Phänomenologie – als blosser naturaler Gegebenheit – die Möglichkeit zur Welterkenntnis von vornherein abzustreiten, nur der hat das Recht, gegen den bedeutenden Philosophen Bergson zu sprechen. Aber boykottieren wir endlich diese Geschäftsschreier, die den Philosophen Bergson, wegen Franzosentums, anheulen: »Schopenhauer-Plagiator!« »Rousseauit!« – So, – und Nietzsche hatte wohl nichts mit Schopenhauer? Und Goethe war wohl kein Rousseauit?
I
(Kostspieliges Erlebnis)
»Wie finden Sie die Gedichte von Agnes de Blumenau?«
»Höchst begabt!«
»Wissen Sie, das Mädchen ist so entsetzlich arm, dass sie Prostituierte wurde mit dem jämmerlichsten Strassendienst.«
»Aber ist denn nicht der Schriftsteller Robespierre mit ihr sehr befreundet?«
»Ja, aber er hilft ihr nicht.«
»Warum nicht?«
»Er hat einmal gehört, auch zur Prostitution müsse man talentiert sein. Nun meint er, zum Talent müsse man auch prostituiert sein.«
II
(Noch kostspieliger)
Es gab Dummköpfe, die die Frechheit hatten, den Krieg als Erlebnis zu empfehlen.
Kunst
Es ist bezeichnend für die verräterisch böswillige Dummheit unserer Zeitgenossen, dass sie, anstatt die einfachen wirklichen Absichten einer Mitteilung zu beurteilen, zu werten und mit oder gegen zu wirken: Dass sie statt dessen die Mitteilung viel lieber »verstehen« wollen. Standpunktlosigkeit, billige Konvertitenart, Schöne-Psychologie-Treiben um jeden Preis. Ein Beispiel. Liberale Schriftsteller vermitteln uns, aus lauter Verständnis, den Dichter Kleist. Aber Kleist ist die letzte Rettung des Adels aus seiner Agonie; der Nachtschweiss zusammenkrachender Junkerschlösser zeugt ihn. Der Literat rettet den Adel. Wäre nun etwa Kleist in seinem geschauten, und also doch gewünschten junkerlichen Feudalstaat heute Staatsmann, so wären jene liberalen Schriftsteller längst mit einem gelben Stern auf dem Rücken ins Ghetto gesteckt. (Freilich – für rankende Dichter, gottselige Bestrahler von beglaubigten Weltkonjunkturen, für die gäb es kleine Gnadenstellen.)
Die übliche Ausrede gutwilliger Psychologen ist, man müsse solche »Tendenzen« unberücksichtigt lassen. Es handle sich allein um das Dichtertum eines Dichters. Tiefes Missverständnis! Dichter sein kann ja kein Ziel sein, sondern nur allererste Voraussetzung. Dichter sein bedeutet nur das Notwendigste: dass der Mann imstande ist, seine Ziele glaubhaft genau darzulegen. Sonst würde man sie ja gar nicht erkennen. Wenn jemand spricht, so kommt's darauf an, was überhaupt er zu sagen hat.
Nicht blindlings haben wir den Tanz des Derwisches zu billigen!
Ein Schamane tanzte vor seinem Stamm mit schäumendem Mund.
»Seht, wie bedeutend er schäumt!« sagte der Psychologe.
Philosophie der Diebe
Jede Kunstbetrachtung aus der Kunst heraus nimmt als ganz selbstverständlich Besitz von bereits Vorhandenem, Festgelegtem. Künstlertheorien sind Methoden, eine Erbschaft anzutreten. Der Diebstahl als Genussmittel.
Verwirklichung in der Kunst ist ja nie wahre Schöpfung, sondern nur das In-Übereinstimmung-Bringen des Ausdrucks mit der Absicht. Und das gilt jenen Kindsköpfen schon als das Höchste im Leben Erreichbare. Dabei anzumerken die rein zeitliche Einseitigkeit, die Kunst auf »Ausdruck« festzulegen. Ausdruck ist ja nur die invertierte Einfühlung. Der »Ausdruck« der Kunst (Expression) ist nichts Geistiges, sondern immer noch an die Besitzvorstellungen gekettet. Eine Besitzentleerung. Zum Besitz für andere. Diese Kunst kommt nicht los vom Umkreis des Besitzes. Sie steht nicht ausserhalb. Sie wertet nicht. Sie ist ungeistig. Sie bestätigt immer nur die Welt. Sie ändert sie nicht.
Die Flucht in die Kunst
In prophetischer Ahnung hat sich alles, was vor dem Tode stand, in die Kunst geflüchtet (wie Künstler vor dem Tode gern in den Katholizismus). Denn die Kunst – dies wird hier ganz besonders deutlich – ist nichts Abgesondertes, sondern eine politische Reaktionsform. Wie tief ging die Ahnung der Franzosen, – sie schufen sich vor dem Kriege verzweifelt in Bildern ganz unvergängliche Paradiese. Ehe ihre Landschaften durchwüstet wurden. Der merkwürdigste Fall ist Spanien, zur völligen politischen Untätigkeit verurteilt. Spaniens Prophet ist der Antikünstler, der Kubist Picasso. Seine Bilder sagen, dass Macht nichts ist, und dass man ohne Macht, ohne Mittel, ohne Realität – allein aus dem Geiste – ungeheure Reiche verwirklichen kann. Die Werke Picassos sind messianische Weissagungen, denen das Volk fehlt. Gesetzgebung, der die Vollstrecker fehlen. Tröstungen über ewig Versunkenes.
*
Bemerkung. Vor dem Krieg schon, unbeeinflusst durch Naturgewalten, ging es, bewusst für den Geist, gegen die Kunst. Seitdem hat, mit entliehenen schnell verstümmelten Begriffen, phlegmatisch alberne Spiesserfrechheit die Gelegenheit zu emsiger Verwechslung benutzt, und gegen irgend unbeliebte Kunstwerke mobilisiert. »Seid Politiker!« heisst aber: Wendet eure Intensität auf Verwirklichung, sonst passiert euch was! (Ist nun auch.) Seid gerade gegen die höchste, beste Kunst. Gegen den erhabenen Vorgang, der euch absorbiert. Der euch zur seligen Urzelle macht: Der euch – fürchterlichster aller grauenvollsten Wertlosigkeitstode – der euch isoliert!
*
Die feudale Behäbigkeit von Jahrhunderten ist schuld, wenn jeder Dümmling einen Malersmann, also einen Tenor, einen Reizling, genial: geistig! nennen darf. Ganz grosse Künstler, Antikünstler schon, sind Politiker mit umgekehrtem Vorzeichen. Warum sind sie nicht lieber Politiker mit direkter Aktion?
Ihre Tätigkeit ist geistige Tätigkeit Aber das ist an sich zu wenig. Der Weg von der vorstossenden, menschenzüchtenden Tendenz des Politikers bis zu den Ahnungen der Prophetie (dem Bild des Künstlers, dem Gegenbild der Politik) – dieser Weg verschluckt ganz die Intensität. Die Intensität, die allein die Stromleitung unter allen Menschen herstellt. Die Wirksamkeit der Aufforderung. Die Sprengfähigkeit der Handlung.
Geistigkeit allein macht auch nicht glücklich.
Ohne die Verwirklichung seid ihr Schemen.
Wir brauchen keine Messiasse. Seid Politiker.
Seid Handelnde!
Das Was ist
Die unglücklichsten Menschen sind heute die, die in der Welt einen spannenden Roman sehen. Sie haben nie genug zu lesen; sie wollen schliesslich aus Verzweiflung ihren eigenen Roman lesen. Das heisst, sie wollen die Welt mitmachen, statt sie zu machen.
Man müsste gerade diese Menschen immer wieder aufklären, einfach über ihre groben Irrtümer aufklären. Denn wenn gerade sie öffentlich werden, dann sind sie allem Wertvollen gefährlich. Sie sind ja stets unsicher, ob sie sich zum revoltierenden Dichter entschliessen sollen oder zum freiwilligen agent provocateur (aus lauter Verständnis für den fremden Typ). Von hier drohen Schmuckstücke des Aufruhrs, Rebellions-Krawattennadeln oder Gedichte, dekorative Revolutionen; Reifenspiel ästhetischer Streiks. (Bunter Krawall statt politischer Ziele. Oder: Spectator schreibt ein Aufruhrdrama.) Eine verbrecherische Künstleransicht vom Leben: Menschen sollen verhungern, Menschen sollen niedergeschossen werden, um – unbeteiligt – noch im Sterben lebende Bilder zu stellen!
Man sieht, wie sehr es auf das blosse »Was« ankommt. Mildere Töne: Skepsis ist fruchtbar. Aber Verzicht auf das »Was« ist zur Vornehmheit verdammt. Man kann sich eine Gewissheit nicht dadurch verschaffen, dass man eine fremde annimmt. Menschen, die für frühchristliche Mosaiken, Exotenplastik oder gregorianische Kirchenmusik himmeln, unterscheiden sich nicht von Humpen-Sammlern. Wenn einmal irgendeine Ferne ursprünglich war – der Amateur der Ferne ist es nie. Der Nur-Methoden-Mann; der Bloss-Bedeutungs-Rechercheur; der feierliche Form-Erläuterer: dieses albernste, weil tatenloseste aller Geschöpfe, Primitivus Symbolicke ist ein Schwindler!
Die Geschichte einer Wirkung: Calvin sagt, das Abendmahl bedeutet nur den Leib Christi; er war vornehm, symbolisch, von der Skepsis des bilderreichen Künstlers. Die Härte, Klarheit, Ethik seiner Reformation viel stärker als die Luthers. Gegen Luther Calvins Erfolg gering. Der Riesenerfolg des Protestantismus bei dem dicken, groben Luther (wenngleich schauerlichem Kompromiss- und Demutsmacher), der mit schweissiger Mönchsfaust das Pult schreiend schlägt: »das Abendmahl ist der Leib, ist, ist; nichts von Bedeutung; es ist wirklich der Leib!« Der sich den groben Inhalt wahrt. Die Wirkung ist beim Inhalt. Man nennt das: an etwas glauben. Es kommt aber auf das Was an.
Symbolische Handlungen
Symbolische Handlungen sind nichts wert. Eine Handlung, die Versprechungen macht, ist keine. Sollen wir etwa den Riesenreif des Ungetanen, das Vakuum des Nichtausgeführten aus unseren Einzelwünschen ergänzen? Theorie des Fresko. Der Schwindel der Geste. Es bleibt das Vakuum. Das Nichtgetane, die blosse schöne Geste des Tuns, enthält nicht etwa irgendeine geheime, in ihm ruhende Energie zu Taten! Keine Immanenz. Allein in der vollen, beschränkten, getanen Handlung ruht die Energie-Immanenz zu Neuem.
Die symbolische Handlung, die Geste, bleibt die Intensität des Tuns schuldig. In der Geste liegt nicht die Intensität des Sprengenden, sondern die Zufriedenheit des Schauenden. Der Schauende schliesst ab und ist zufrieden. Das weltberühmte Wort jenes Franzosen, der im Café von einem Bombensplitter getroffen wurde, »q'importe, si le geste est beau«, dieser Leitsatz der Symbol-Politik ist infantile Verschleuderung des Wichtigsten an Kunstausstellungsgefühle. Der Atavist meint zu besitzen, was zu schauen ist; was von Allen zu schauen ist, meint er, sei Aller Besitz. Er glaubt, der Besitz Aller sei Aller Glück. Und denkt, der Ruhepunkt des Glücks ändere die Welt. Denn nicht anders als wir alle will auch er ändern. Aber wie niggerhaft fetischistisch, wie ahnungslos, wie atelierfreundlich ist die symbolische Ansicht: nur das Schaubare, nur das Bild, nur das fürs Aug' fertig Gerahmte sei Realisierung. Das Sinnenhafte, das Bildliche, das Vergleichsmässige, das »Wie« einer Handlung, das Augenmessbare, – dies ist alles nur fürs Publikum da. Wäre das ungeheure Mass an Mut des Einzelnen, das zur Schau in Publikumsarbeit verschwendet war, in Intensität umgesetzt worden, so wär etwas geschehen. Aber wenn die ganze Welt etwas sieht, so ruht sie um die Handlung selbst. Sie ruht, nur ruhend, beruhigt über ihre Unruhe, auf einer gigantischen Tragödien-Kuriosität.
Der Franzose, der eine Bombe ins Pariser Café warf, hat dadurch nicht alle Kapitalistencafés zum Schliessen veranlasst. Die Ermordung eines Erzherzogs beseitigte nicht die Kriegsgefahr zwischen Österreich und Serbien. D'Annunzio, der Triest im Aero überflog, eroberte die Stadt nicht für Italien. (Deswegen bleibt d'Annunzio doch der mächtigste – und ausgenutzteste – Anreger der heutigen Literatur. Und man denke: wenn dieses Mundstück seine Oden nicht für sondern gegen den Krieg gekehrt hätte – wie unsterblich stände Europa da!) Symbolische Handlungen schaffen nie etwas in der Absicht der Handlungen. Nur Staunen über das blutige Augenspiel. Es bleibt beim Schaustück.
Tolstoi, ohne Armfuchteln, so unsymbolisch, dass er aus Nachgiebigkeit noch kurz vorm Tode seinem Weiberhause entlief, Tolstoi hat mehr getan.
Bedeutung
Im Augenblick, wo eine Handlung noch etwas bedeutet, etwas anderes als sie selbst, hat sie ihre Triebkraft verloren. Sie kommt schon aus der Skepsis an ihrem Werte. Sie wird schon begonnen – nicht weil die Intensität keinen andern Auspuff mehr findet – sondern weil Alle mal gelegentlich aus Beschäftigungslosigkeit in Handlung machen. Die Geschichte der Handlung hört auf, es beginnt die Geschichte der Bedeutung. Die Bedeutung soll durchaus ihre Existenz rechtfertigen; sie soll sich von allen anderen Bedeutungen unterscheiden, sie wird überaus vornehm. Hier erscheint die Originalität: die gemimte Rolle, als sei etwas geschaffen aus Intensität. Der Ausdruck tritt auf, man besorgt durchaus unterscheidende Merkmale. Und nun soll jeder ausnahmslos Beifall klatschen können. Etwas ganz Grossartiges und Massives wird um das bisschen Geste herumgeknetet. Jeder, ja jeder soll sich Wichtiges denken können, was ihm gefällt. Der Zodiakus wird bemüht, die Frühlingspunkte sausen vorbei, die Sonne wird vom grünen Mond verschlungen, Planeten (keiner hat eine Gewissheit, man ahnt was dumpf) werden auf alles bezogen, die Milchstrasse wird ausgebreitet. Irgendwo kömmt ein Messias. Höchster Typ der Bedeutung: ein Mythos wurde kalfatert. Wo nichts mehr lebend übrigbleibt, wo alle schimmligen Bedeutungshäute vom durchfressenen Gerippe der Tatenlosigkeit abfaulen, stets da kommt man uns mit dem dreckigen Schwindel vom Mythos.
O Babylon, Babylon.
Dreitausend Jahre sollen vergangen sein wie nichts. Wir sollen immer noch ahnen, raten, Geheimnisse verwalten. Nein. Wir geruhen nicht mehr unsere Ahnenseele zu bemühen. Wir waren nicht, wir werden nicht sein. Wir sind. Wir sind. Wir sind. Oder, zum Donnerwetter, wir existieren überhaupt nicht.
Eine Handlung ist sie selbst. Wir lassen sie uns nicht religionsverstiftern. Wir brauchen sie nicht zu verstehen. Es gibt nichts zu verstehen.
Wir wissen, dass die Handlung aus uns kam, und wir wissen immer, wohin sie geht. Wir wissen, wozu sie da ist.
Ein »Wie« hat die Handlung nicht, und keine Art, in der sie sich von einer anderen Gruppe Handlung unterschiede; die Handlung hat keine Erklärung. Die Handlung, dieses Selbstverständliche, ist in ihrem armen Wege (aus Uns zum Ziel der Realisierung) ganz und gar in sich. Sie ist nichts mehr, als sie tut.
Nicht die Handlung ist zu verstehen. Nicht wir, die handeln, sind zu verstehen. Sondern der Standpunkt, von dem aus wir handeln, das Geistige, – dies ist zu verstehen, zu erklären, bringen anderen Menschen mit allen Mitteln.
Der Zentralpunkt unseres Lebens wird hell. Es beginnt das Reich des Absoluten. Und dieser ungeheuerste Dynamitblock der Welt wird sichtbar: der Wert. Dann sind wir für den Geist Eiferer, Überzeuger, Belehrer, Beredner, Umtreiber, Umwender; verzweifelt, hochmütig, klotzig, schmeichelnd, ergeben, beweisend, erschütternd: Wir Änderer. Für den Geist allein sind wir das Ordinärste und Erhabenste, das man ausdenken kann; das Kümmerlichste, Lächerlichste, und die fürchterlichste Triebkraft an dieser Welt: Wir sind Partei.
Lassen wir das ewige Verständnis. Die Gallerte Bedeutung zerfliesst zitternd. Kümmern wir uns um unseren Standpunkt.
Seien wir Partei!
Änderung der Welt
Je geringer in Europa die Freiheit wurde, um so mehr geriet sie in Misskredit. Wir wollen uns doch nicht selbst täuschen: Wichtiger ist die Freiheit selbst als ihre Definition. Jeder Mensch weiss in Wahrheit, was für ihn Freiheit ist. Weiss er es nur unklar? Das schadet nichts. Selbst in dieser Unklarheit kann er diesmal handeln. Innerhalb der vergangenen hundert Jahre ist aus dem grossen Programm nur die Liberté uns geblieben. Bleiben wir zumindest bei ihr. Seien wir mutig genug, hier Spezialisten zu sein, Schuster, Klotzköpfe: arbeiten wir an der Freiheit. Es ist genug zu tun!
Zum Beispiel: die Erfolglosigkeit der internationalen Sozialdemokratie im Internationalismus kommt von der Beruhigungslehre, die sich auf Marx stützen wollte: die menschliche Gesellschaft gleite durch gradweises »Hineinwachsen« in den neuen Sozialismus. (Und nie zu vergessen: Alle Prophetie, alle Beschreibung im Marxismus ist schon lange vor dem Krieg falsch gewesen. Doch alle Forderung in ihm eine unermessliche ethische Leistung!)
Ein furchtbares Symptom ist die Vernachlässigung der untersten, elendesten Gesellschaftsschicht. Der Unorganisierbaren. Der ganz Unbedingten, die nichts zu verlieren haben, der stets ausserhalb Stehenden, zu jeder Änderung Bereiten, und die die unheimlichste, feinste Witterung für den Änderungsmoment haben. Das ist der Mob.
Man hat den Mob – das wundersüchtigste Gebilde der heutigen Gesellschaft – der Heilsarmee überlassen (weil man selbst nichts Unbedingtes, keine Wunder, hier in der Gegenwart: keine Änderung! zu vergeben hatte). Das ist irreparabel. Wilhelm Weitling hatte noch ein schärferes Auge für diese Wirklichkeit als seine staatsfrohen Nachfolger, er hatte die Erstmaligkeit des Sehens. Kautsky, dessen Genauigkeit die unheilbare Vernachlässigung merkt, hat eine Hilfstheorie zum Zwecke der nun gebilligten Vernachlässigung des Mobs aufgestellt. Danach sei der Mob ein wenig wechselndes und unfassbares Gebilde. Aber es ist zu erinnern, dass das organisierte Proletariat dem Kapitalisten vergangener Jahre genau so mystisch unfassbar war, wie heute der Mob dem Organisierten.
Die Besitzenden haben Tradition. Der Mob hat nur eine: zu sein. Ob er sich »verändert« hat – und bezeichnenderweise sagt dieser fast geniale Popularisator hier nicht »entwickelt« –, kann auch Kautsky nicht wissen. Aber was wir alle wissen können: die Reaktionsart des Mobs, seine Wirkungsfähigkeit hat ihre putschistischen Formen seit dem Altertum nicht verändert. Schliesslich hat der Mob der Juden aus anarchischen Revolten das Christentum gemacht, für wilde, atavistische Gefühlsklänge von volksmässig versunkenem babylonischen und iranischen Geister- und Prädestinationsglauben; gegen die aufgeklärten Sadducäer. Und die gesellschaftlich und kulturell elendeste Bevölkerungsschicht des endenden Mittelalters hat die Reformation gemacht, gegen die aufgeklärten Humanisten. Also der Mob ist da und regt sich. So unfassbar scheint er doch nicht zu sein, die Ruinen der Häuser, die er gebrannt und geplündert hat, sind ziemlich fassbar. Und, sonderbar, wenn die Regierungen ihn brauchen, bekommen sie ihn so sicher zu fassen, dass sie für manche gewünschten Wirkungen nur auf den Signalknopf drücken müssen.
Partei. Partei! Für die Freiheit! Es ist genug zu tun.
Methoden?
Zum Zwecke der Auspressung von Menschenkraft hat Taylor in Amerika ein System ausgearbeitet. In Hunderten amerikanischer Riesenfabriken wird seit langem jeder Arbeiter gemessen, im Detail seiner Arbeit genau beobachtet, kinematographiert, in den Resultaten seiner Arbeit sukzessive kontrolliert. Jeder Einzelne von Hunderttausenden.
Beweis: dass man auch in grossen Volksmassen wirklich zu jedem Individuum gelangen kann. Der Erfolg des Taylorsystems kommt von seiner Wahrung eines Standpunktes. Es ist der Standpunkt des reinen Nurkapitalismus, unter dessen Druck jene konkrete, doch noch hinreichend allgemeine Arbeitsindividualformel ausgegeben wurde.
Aber zu erstreben ist: Der Ersatz jener Besitz-Macht-Kapitalisten-Abenteuer-Endabsicht durch eine rein geistige Endabsicht. Rein geistig, das sagt, von mächtiger Triebkraft (keine evolutionistischen Surrogate). Etwa auch nur ein winziges Wunschtum Freiheit; ihre Konkretisierung: Unabhängigkeit. Und eine individualisierende Aufklärungsarbeit in den Massen, geschult an der rapiden Riesenformel des Taylorsystems.
Welche Resultate!
Zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts steht die bewegende Politik unter dem Druck der Nationalidee. In der zweiten Hälfte unter der Rassenidee. Am Ende bis in diesen Krieg dominiert die Staatsidee und verschlingt die beiden andern oder speit sie nach Bedürfnis aus.
Ist es nicht höchste Zeit, sich über die völlige Gewesenheit dieser drei Ideen klar zu sein! Mit ihnen kann man sich die Erde immer noch nur so platt wie eine gemalte Landkarte denken. Sie schliessen keine Spur der Vorstellung in sich, dass wir auf einer Kugel leben, und dass wir alle gegenwärtig sind; dass unsere Handlungen nicht bloss physikalisch natürliche Linie, Druck und Gegendruck sind, sondern in einem Moment gleichzeitig überall auf der Erdkugel – die ... von ... Menschen ... bewohnt ist ... – wirken.
Merkwürdig, die realen Hilfsmittel der »grossen« Politik stammen aus unserer Zeit, aber ihre Absichten aus dem Mittelalter. Das Mittelalter führt die Kriege.
Höchste Zeit, dass die Erdgenossen sich auf ihr Erdentum besinnen.
Tellus = die Erde. Tellurismus = die Erdkugelpolitik. Aber wir können nicht länger warten.
Was sind Sie? – – Ich bin Tellurist!
Es geht ja nicht um Gefühle.
Es geht nicht um Sterne, nicht um die Vergangenheit, nicht um Unsterblichkeit. Nicht um Ruhm. Nicht um Unendliches; es geht nicht einmal um die Zukunft. Lassen wir doch das Pomposo. Es geht nur um unsere kleine Erde. Es geht um die gegenwärtigste Gegenwart.
Wir haben ja noch alles versäumt. Wir sind zu vornehm. Wir sind Ökonomiker, Ausbeuter, Ausgebeutete, Entwicklungsgläubiger, Zukunfts-Symboliker. Wir sind ja immer noch Erben.
Wir sind noch nicht Politiker. Muss nicht dies unsere erste, einzige Absicht werden? direkt sein. Handelnd, ändernd. Hebel sein. Politisch sein!
Wir rechtfertigen uns zu wenig vor unserer geistigen Herkunft. Wir lassen uns noch alles, alles vom Fatum bieten. Wir sind tot – – oder noch zu beruhigt mitten in allem; noch nicht genug Ausserhalb. Sind wir Gegebenheitsgewebe um uns? Wir sind noch nicht ausgestossen genug. Handlungen geschehen wider erste, tiefste, entschiedenste Tatsachen unseres Erdendaseins. Wir sind noch zu eifrig gefällig, zu sehr Psychologen, zu verständnisinnig. Wir vergassen ganz unser eigenes Wissen von uns selbst. Unseren Standpunkt. Unsere Freiheit zu urteilen. Selbst zu handeln, zu hebeln, zu ändern.
Kameraden, stehen wir nicht im grossen Bund des Geistes? Sind wir nicht Geschütz und Sprengstoff zugleich? Sind wir nicht freie Flammen, zuckend und heiss genug, Totes zu zerstäuben, Hartes zu schmelzen, diese Welt flüssig zu machen. Sind wir nicht Geistige, um alle feurigen Flüsse in den Bund des Geistes zu giessen!
Mit unserer Geburt bekamen wir die Gabe, die Welt zu ändern. Ändern wir. Ja, bessern wir, ganz simpel. Irgendwo höhnt ein quietistischer Idiot: »Weltverbesserer!« O Freunde! Freunde, die ihr wirklich da seid. Die ihr noch nicht zu sprechen wagt. Freunde! hier ist unser Ehrenklang, unsere Fahne, der Salut unserer Brüder. Hoc signo.
Seien wir Weltverbesserer, alle. Wir haben es nötig.
Vielleicht wird dann kein Geniesser mehr unsere Toten mit ihrem »Erlebnis« überrumpeln. Nieder das Erlebnis! Wir haben genug.
Seien wir Politiker, trocken, hart, listig, gütig, erschütternd. Verantwortlich für alle Menschen unserer Erde.
Und ein Physiker wird uns sagen, dass Flammen nicht nur brennen, sondern auch singen können.
Imaginär-Nationalismus
Die Menschen brauchen Berater. Sie brauchen im Menschentum Führer. Statt dessen haben sie Krieg.
Und warum werden gerade die feinsten Menschen nicht Führer? Warum nicht gerade die edelsten, lautersten, wissendsten? Warum nicht die Söhne der Erkenntnis? Weil gerade sie aus lauter Wissen, Edelmut, Anständigkeit verhaspelt sind in die dümmste Modemeinung; verfangen ganz im Elend der Abhängigkeit des Gewesenen. Weil sie Optimisten irgendeiner vagen Zukunft sind, die, meinen sie, erfüllet würde, auch wenn man nichts dafür tut. Unter den Besten, Fähigsten und Denkendsten geht immer noch der Aberglaube um, wer Erkenntnisse habe, der sei losgesprochen und frei von dem lauten Kampf, von dem öffentlichen Bemühen um andere Menschen; entbunden von jener Durchzwingung der Meinungen, die ja eine Erkenntnis erst zur Verwirklichung bringen kann: entbunden von der Propaganda.
Aber Ende und Tod beginnt, wenn der Edle, Lautere, Feine aus Angst vor der Verantwortung, aus Drang in die ruchlose Isolation des Gelehrten: beginnt, alles, was edel, lauter, fein in ihm ist, zu klassifizieren; alles, was zukünftig an ihm wäre, als angeblich längst Gewusstes zu historisieren. Wenn er daran geht, alles, was er erwünscht, zu einer blossen Denkkategorie zu gestalten.
Die Edlen, Lauteren, Anständigen haben sich nicht über ihr Schicksal zu beklagen. Sie haben es besser zu machen. Sie haben ihre Feinheit, Lauterkeit, Edelart nicht zu betrachten, sondern sie haben sie durchzusetzen. Sie haben sich für sie zu entscheiden.
Sie haben sich zu entscheiden.
*
Ein Wort Emersons: »Wehe, wenn der Allmächtige einen Denker auf diese Erde sendet. Dann ist alles in Gefahr. Es ist, als wäre ein Brand in einer grossen Stadt ausgebrochen, und keiner weiss, was ausser Gefahr ist, und wie alles enden wird. Da ist kein Teil in der Wissenschaft, der nicht morgen eine Veränderung seiner Lage erfahren sollte, kein literarischer Ruf, keine sogenannten ewigen Namen des Ruhms, die nicht einer Prüfung unterzogen und verurteilt würden. Die besten Hoffnungen eines Menschen, die Gedanken seines Herzens, die Religion der Völker, die Sitten und Morallehren der Menschheit, alle sind der Gnade einer neuen Verallgemeinerung unterworfen. Verallgemeinerung bedeutet stets ein neues Einströmen der Gottheit in den Geist. Daher auch der Schauer, der sie begleitet.«
Aber heute sind die Menschen bereit, einem Denker zu folgen. Nach soviel Grauen ist ihnen keine Erschütterung der Welt, die vom Geiste kommt, mehr grauenhaft. Nach soviel Gefahr für die Menschheit ist jede Änderung der Welt aus dem Geiste nur himmlische Sicherheit. Und der Schauer, der eine neue Verallgemeinerung begleitet, wäre heute nur ein Schauer des Glücks.
Wo diese neue Verallgemeinerung – das völlige Aufstrahlen unseres realen, täglichen Lebens in einer unbedingten Führung des Geistes – wo das zu suchen sei, ist die Frage. Sehr edle, ganz lautere Menschen bieten sich an. Köpfe, deren jedes Stück ihrer Lebensgrammatik bis heute hochweihevolle Anständigkeit war. Sie sagen, der neue Weg der Menschheit führe zu einer tatsächlichen Unio mystica des Abendlandes mit dem Geiste des Orients. Die Brücke zwischen beiden sei das Judentum. Wolle man die Möglichkeit dieses neuen Weges erforschen, so könnte man die vor allem an der Realität des Judentums prüfen.
Der bedeutendste Sprecher dieser Gruppe, ihr wortmächtigster, klarster Repräsentant ist Martin Buber. Das grosse Wissen, die Strenge gegen sich selbst und die Leidenschaft des Schriftstellers geben es Buber in die Hand, die Ideen der Menschen, welche er vertritt, am umfassendsten und am tiefsten darzustellen. Man hat kein besseres Mittel, diese Ideen zu prüfen, als in Bubers programmatischem Buch: »Vom Geist des Judentums.« Bubers persönliches Verdienst ist es, die Voraussetzungen derer, für die er spricht, ganz ausserordentlich gut formuliert zu haben.
*
Die Voraussetzungen seien zwei grosse, differente Menschentypen. Die Voraussetzungen seien zwei grosse, differente Menschentypen. Sie werden der »motorische Mensch« und der »sensorische Mensch« benannt. Der sensorische Mensch sei im Abendländer zu finden, im Europäer, historisch am geprägtesten im Hellenen. Dieser sei der Rezeptive, der Mensch, der seine Umwelt aufnimmt und daraus die Welt findet. Sein Gegensatz, der motorische Mensch, trage unter dem Drucke einer Idee seine Welt in die Umwelt hinein. Der motorische Mensch sei der orientalische Mensch. Der reinste Typus des motorischen Menschen liege im für uns sichtbarsten Typus des Orientalen: im Juden.
Lassen wir zunächst die Frage offen, ob wirklich die Begriffe Abendland = Sensorium, und orientalisch = Motor sich decken. Jedenfalls, den »sensorischen« Menschen, den Menschen seiner Umwelt, kennen wir reichlich. Aber sehr wenig kennen wir den motorischen Menschen, den unbedingt Handelnden. Er ist einfach seltener. Soviel seltener, als wirkliches Handeln seltener ist denn Stimmung; Mitgerissensein; Hingabe, noch ehe das Wissen um Hingabe da ist, im Genuss.
Die Formeln für einen sensorischen und einen motorischen Menschentypus werden als erste Voraussetzung für alles Kommende aufgestellt; aus Gründen, die noch klar werden.
Hier ist zu sagen: Definitionen dürften diesen Platz nicht einnehmen. Es sind keine Voraussetzungen. Fragen wir nach dem unbedingt handelnden Menschen, so müssten wir auch die stärkste Konsequenz ertragen können. In Wahrheit sind die ersten Voraussetzungen für den handelnden Menschen: Gläubigkeit. Wissen um das Absolute (Gott). Kenntnis der Äusserung des Absoluten in der Welt (Geist). Unbedingtes Durchdrungensein von dem Kriterium: Wert. Und vor allem: der handelnde Mensch ist ein öffentlicher Mensch, kein Privatwesen. Ein Mensch des Zusammenhanges, nicht der Isolation. Das sind die Vorbedingungen für die Konstitution des handelnden Menschen. Man kann ihn, wenn man durchaus will, auch »motorisch« nennen. Ob er Orientale oder Abendländer ist, spielt, wie man sieht, bereits keine Rolle mehr.
Nun heisst es aber: »Beide (der motorische und der sensorische Mensch) denken; aber des einen Denken meint Wirken, des andern Denken meint Form.« Indes Wirken – wofür? Form. – wovon? Allzulange hören wir schon das geheimnisvolle Murmeln der Form-Theorien. Wir machen das nicht mehr mit! Denn diese vage, doch in sich selbst schon selig versinkende, inzuchtartige Setzung der Form an sich konnte nur möglich sein in einem Zeitalter des unsichersten Relativismus. In einer Zeit, die den blossen Schein einer Sicherheit schon als Beruhigung und die Sicherheit selbst aufnimmt. – Vor der Idee des Absoluten verliert aber »Form« jede Selbständigkeitsbedeutung. Und »Wirken« kann doch nur im Sinne des Wirkens zur Formwerdung vom Geistigen ausgesprochen werden, im Sinne der Verwirklichung. Worin sollte denn Wirken sich äussern, wenn nicht in Form: Aber beide, selbst zu Zwecken der Definition, als Gebilde an sich zu trennen, ist in Wahrheit nur Vermischung. Wird das gutgemacht dadurch, dass wir es mit Verwirrern nur aus Liebe zu tun haben? mit Vermischern aus übergrosser Gerechtigkeit gegen Gewesenes, heute schon Form-Seiendes; und dass alles dieses von einer tiefen Befangenheit in mancherlei Neo-Renaissancevorstellungen ausgeht.
»Der Eindruck, der einen der Sinne des motorischen Menschen trifft, geht als Stoss durch alle, und die spezifischen Sinnesqualitäten erblassen vor der Wucht des Gesamtzustandes.« – Eindruck? Aber welche Welt lieblichster Stillebenmalerei spricht hier zu uns? Nein, es handelt sich nicht um Fragen des Zeitstils, nicht um abgetanen Impressionismus; das wäre ja nur äusserlichstes Symptom. Sondern darum, dass »Eindruck« nur da eine Rolle spielt, wo noch die Gipfelung der Relativitätsphilosophie aus dem neunzehnten Jahrhundert die Hauptsache ist, nämlich im sogenannten Erlebnis. Daher später der ganz folgerichtige Anbau: »Wie der Okzidentale die Bewegung, die bewegte Erscheinung der Welt aus seiner Empfindung begreift, so ist es dieses sein Wissen um den Kern und den Sinn seines Lebens, aus dem er den Kern und Sinn der Welt erschliesst.« – Empfindung? Nein. Denn nicht Erlebnis treibt zum Handeln, treibt zu irgend etwas überhaupt, sondern der Geist. Wissen? Aber wo ist das Kriterium des Wissens, wenn nicht im Absoluten? Beim motorischen Menschen sei, nach jener Empfindungshypothese, »das Sehen nicht souverän, es dient nur der Vermittlung zwischen der bewegten Welt und der latenten Bewegung des eigenen Leibes, der befähigt ist, jene mitzuempfinden und mitzuleben ... Die Bewegung der Welt ist es, die er mit dem Gesicht wie mit den andern Sinnen aufnimmt, und die sich in ihm fortpflanzt.« Es ist doch die Rede vom handelnden Menschen. So muss man gegen diesen Irrtum feststellen: der Leib ist vor Gott nicht dazu da, um die Bewegung mitzumachen, sondern um sie zu machen! – Vor lauter Differenzen kommt es oft zur Flachheit: »Er (der motorische Mensch) wird weniger des Umrisses inne als der Gebärde; weniger des Nebeneinander als des Nacheinander«. Aber erstlich ist »Gebärde« schon ein Ruhendes, daher auch in der Hofmannsthalzeit ein mit Vorliebe zu verschlafener Pseudo-Bewegtheit benutzter Ausdruck. Und dann: Für den Handelnden gibt es kein »Nacheinander«, ebensowenig wie dessen Schulgegensatz, das »Nebeneinander« (als Ruheangelegenheit). Die Aufstellung solcher Gegensätze ist die Konsequenz des philosophischen Naturalismus von Hochrenaissance-Ideen. »Der motorische Mensch (der orientalische) spürt die Welt mehr, als er sie wahrnimmt: denn sie erfasst und durchfährt ihn, sie, die dem Okzidentalen gegenübertritt.« Aber das ist einfach nicht richtig. Denn es gilt ja nur: unter Gott stehen (oder Gott vergessen haben)! – »Der Okzidentale«, meint die Empfindungshypothese, – »begreift seine Empfindung aus der Welt, der Orientale die Welt aus seiner Empfindung.« Aber es handelt sich nicht ums »Begreifen«, sondern ums Handeln! Das Handeln wird uns diktiert. Ja, gäbe es Unterschiede im Handeln. Aber es gibt nur den einen: von Gott gerufen sein und handeln, oder Gott vergessen und ruhen. Dieselbe relativistische Willkür, die das Wissen des Orientalen um den Sinn der Welt aus der Empfindung hypostasierte, zieht auch den Schluss: »Der Orientale trägt die Wahrheit im Kern seines Lebens und findet sie in der Welt, indem er sie gibt.« Aber woher das Wissen der Wahrheit? Und scheint nicht hier eine Art von umgekehrtem Hegel aufgestellt zu sein, etwa: »alles, was ›gegeben› werden kann, ist Wahrheit!« Doch das wäre Gehirnspiel innerhalb eines Kreises von Definitionen.
Alle diese Voraussetzungen erwiesen sich, aus Mangel an nötigeren, stärkeren ersten Voraussetzungen, als gerüstlos.
Das Hauptthema derer, für die Buber spricht: »Die einige Welt soll – und hier begegnen einander alle grossen asiatischen Religionen und Ideologien – nicht bloss konzipiert, sie soll realisiert werden. Sie ist dem Menschen nicht gegeben, sondern aufgegeben; es ist seine Aufgabe, die wahre Welt zur wirklichen Welt zu machen.« Das ist sehr schön. Und jeder von uns nimmt diese klare und selbst schon ethisch wirkende Bestimmung der Ethik froh an. Aber – im Falle am Ende »Ethik« als etwas asiatisches leicht verdächtig gemacht werden soll, gegenüber dem abendländischen Sensoriker, dem hellenischen, angeblich anethischen Menschen – hier gilt es zu erklären: Wir sind nicht Asiaten. Doch selbst wenn Ethik etwas botokudisches wäre, dann noch sind wir für sie!
»Hier bewährt sich der motorische Charakter des Orientalen in seiner höchsten Sublimierung: als das Pathos der Forderung.« Es gibt gewiss nichts Stärkeres auf der Welt, als das Pathos der Forderung. Haben wir andere Aufgaben, als immer wieder, immer mehr zu fordern, fordern, fordern! Aber, wenn man die Forderung als Ausdrucksart eines blossen Sondertypus der Menschheit verdächtigt, macht man sie damit nur unwirksamer. Doch die Forderung ist die höchste Stufe des schaffenden und zeugenden Menschen (nicht des Orientalen allein). Wie man sie unwirksam, heillos macht, dessen ein Beispiel: »Die Forderung mag durch eine ganz innerliche Tat erfüllt werden; so meint es der Inder der Vedanta, der, das Gewebe des Scheins zerreissend, sein Selbst als mit dem Selbst der Welt identisch erkennt und die wahre, die einzige Welt in der allumfassendsten Einsamkeit seiner Seele verwirklicht.« Aber das ist Unfug: Diese angeblich innerliche Tat ist keine Tat. Die Verwirklichung in der allumfassenden Einsamkeit der Seele ist nicht umfassend; schlimmer noch: nicht einmal um ein Gran verwirklicht! Macht denn einer dem Krieg ein Ende, wenn er in der allumfassenden Einsamkeit seiner Seele den Frieden aller Nationen verwirklicht? Nein, er verwirklicht gar nichts. Er umfühlt nur wohlwollend irgendeine Verwirklichung, die andere tun. Das ist billig, denn er brauchte sich nicht zu entscheiden. Erste Bedingung zum Menschentum heisst: Entscheidet Euch!
Unbedingtheit
Das Thema der Entscheidung gehört zum Wichtigsten im ganzen Leben des Menschen. Keine Handlung ohne Entscheidung, ohne Parteinahme für einen absoluten Wert. Aber man sollte dies doch nicht mit einer Sonderphilosophie umspielen; man schwächt sonst alles. »Der Jude bringt die Welt zur Einheit, indem er sich entscheidet.« Nur der Jude? Warum die Angst davor, jedem Menschen die Entscheidung nahezubringen? »Der in der Entscheidung steht, weiss nichts, als dass er zu wählen hat, und auch das weiss er nicht mit dem Denken, sondern mit dem Sein.« Das ist tief richtig. Aber ist es nur jüdisch? Nein, es ist menschliches Urphänomen. Wie könnten diese Einsichten – statt Stichwörter einer Gruppe – Aufrufe zur Humanitas werden; es fehlt immer nur eine kleine Menschlichkeits-Sekunde daran. »In Wahrheit wirkt die Tat tief und heimlich ins Schicksal der Welt, und wenn sie sich auf ihr göttliches Ziel, die Einheit besinnt, wenn sie sich von der Bedingtheit losmacht und im eigenen Lichte, das ist im Lichte Jahves, wandelt, ist sie frei und gewaltig wie Gottes Tat ... Was Europa fehlt, ist die Ausschliesslichkeit der Kunde vom wahrhaften Leben, die eingeborene Gewissheit, jenes Eins tut not. Dies ist es, was in den grossen Lehren des Orients und einzig in ihnen schöpferisch besteht. Sie setzen das wahrhafte Leben als das fundamentale, von nichts anderem abgeleitete, auf nichts anderes zurückzuführende metaphysische Prinzip; sie verkünden den Weg.« Man lese das nicht als verantwortungslose Weisheit, sondern als Aufruf, und es ist herrlich. Es hat mit der ganzen Welt der Menschen zu tun. Aber aus einem unsichtbaren Winkel schwebt ein Schatten von Angst und Hochmut vorüber; und alles, was schön, mutig, wirklich ist, wird vom Menschen abgezogen und dem orientalischen Menschen zugeschoben. (Dabei: fragte man heute die Schöpfer unserer Zeit, Maler, Dichter, unbedingt Fordernde, Literaten, nach ihrem Wege, so würden sie sagen müssen, dass diese Dinge in ihrem Schaffen Selbstverständlichkeit und Wirklichkeit sind. Ganz fern von Exotismus und Seelen-Orient!)
Zuletzt kommt dieser Traditionalismus aus einem ganz naiven Besitzaberglauben. Es ist die Überzeugung, dass aller Besitz der Welt erhalten bleiben müsse, weil sie sich soviel Mühe darum gemacht hat. Und nicht bedenken jene, dass es eine Vorbedingung des Erfolges aller Mühe ist, dass man sie sich umsonst macht, stets bereit, alles Errungene wieder zu opfern, stets vor dem Nichts-zu-verlieren-Haben! Aber jenen, für die Buber spricht, ist unumstösslich gewiss, dass alles Seiende bewahrt werden muss. So unumstösslich gewiss, dass sie zuerst nicht für das Handeln, sondern immer für das Bewahren eintreten. Ihre Neigungen gelten jeder Art von Gewesenheit, von Antiquitätenkult, Bibliophilenpolitik, Ancien-Régimokratie. »Das Zeitalter, in dem wir leben, wird man einst als das der asiatischen Krisis bezeichnen. Die führenden Völker des Orients sind teils unter die äussere Gewalt, teils unter den innerlich vergewaltigenden Einfluss Europas gekommen.« Und dazu ein geradezu rührendes Naserümpfen über Chinas moderne Staatsformen. – Aber seit wann ist denn ausgemacht, dass Seiendes erhalten bleiben muss? Dass die Erhaltung ein Wert ist? Denn wenn es für Gott gilt, die Welt sich zu nähern, dann schüttelt er sie!
Man hat die grosse geistige Retardation des vergangenen Jahrhunderts enthüllt: den Renaissancismus. (Baumgarten kulturkritisches Werk über Conrad Ferdinand Meyer.) Wo bleiben die Nachfolger? sie sind nötig, die die anderen Fluchtversuche der Zeit blosstellen: den Asiatismus, den Chinesismus und Indismus; den Ägyptismus; den Absturz auf einen Pan-Orientalismus; und den Exotismus, der Primitiv-Kostüme angeblicher Urzeiten schneidert.
Selige Versenkung in die Ferne – nur damit man die Nähe zum Teufel gehen lassen kann, ohne eine Hand zu rühren; selbst im Verrecken noch ein süsses Schlagwort aus dem Katalog der Historie auf den Lippen!
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Es geht wahrhaftig nicht um entgegengesetzte Meinungen. Blosses Rechtbehalten ist in der Welt gar nichts nütze. Aber, bei Gott, das hier ist ein Kampf um Ziele. – Sollte man es wohl glauben, dass Menschen heute noch, nach allen unseren Erfahrungen, oder womöglich trotzdem, der Meinung sind, es gäbe immer noch zu wenig Nationen; die Welt müsse immer noch stärker nationalisiert werden! Dass sie gar nach dem Ereignis des Krieges, dieses Endeffektes der allgemeinen Nationalisierung der Erde, immer noch den Zionismus betreiben, immer noch suchen, die Juden aller Länder zu einer neuen, geographisch abgesonderten Nation zu machen, unter der Behauptung, die Juden seien schon eine Nation, eine alte!
Darauf läuft die Orientalisierung des menschlich Anständigen schliesslich hinaus. Daher rührt das ewige Sichducken, das immerwährende Es-nicht-gewesen-sein-Wollen, Nichtsgesagt -haben-Wollen. Alle Umwege der Barockmystik, alle Feierlichkeit der Rede, aller Glanz junger Fähigkeiten dienen, um aus den wertvollen Kräften des Menschenwesens zur Konstituierung einer nationalen Sondergruppe zu gelangen. In jenem Programmbuch ist eine ganz wunderbare Darstellung der ersten, notwendigen geistigen Situation für den schaffenden Menschen gegeben. Aber der Autor sagt: für den jüdischen! Um die (still geduckte) Hochmutsphase des jüdischen Nationalismus unmerklich einzuführen. Jene Gegend, wo es nicht mehr heisst: Jude = gleich Sondermensch. Sondern Mensch = gleich Jude. –
Indes solche Gedankengänge kommen nicht aus irgendeiner spezifischen Naturanlage des Denkers, sondern sind nur ein schwerer menschlicher Missgriff. So sagt der Zionist: »Man fälscht den Sinn des Aktes der Entscheidung im Judentum, wenn man ihn als einen bloss ethischen behandelt; er ist ein religiöser, vielmehr: er ist der religiöse Akt, denn er ist die Verwirklichung Gottes durch den Menschen.« Da wird also erstlich angenommen, es gäbe einen Unterschied zwischen Ethisch und Religiös. Als ob nicht das Sollen allein und lediglich für Gott geschehe! Zum andern, – welche naiv gefühlvolle Natur-Milchmädchenmystik, Gott müsse durch den Menschen verwirklicht werden! Aber diese fatale und allzu pfauenartig eitle Spätrenaissance-Theologie kommt nur daher, dass man im Menschen immer durchaus eine Einheit feststellen will. Man will, versteckt quietistisch, den Wert ausschalten; die Ausserwertigkeit soll als etwas Höheres hingestellt werden, während sie in Wahrheit nur ein Defizit ist. Und also will man den Menschen auch in seinen offenbaren Minderwertigkeiten rechtfertigen, wiederum aus Angst vor den möglichen Resultaten einer Wertung. Wie ungeistig. Wie mutlos. Denn nicht das kann ja unser höchstes Ziel sein, die Bilderbogenidee: zur Einheit zu gelangen, sondern das ist es: zur Reinheit zu gelangen. Selbst wenn man dabei zur Trennung kommt. Doch der Zionist baut sein Handeln auf eine vorgebliche Einheit: »In der Unbedingtheit seiner Tat erlebt der Mensch die Gemeinschaft mit Gott.« Die übliche pantheistische ekstatische Konfession. Ah, mögen doch endlich die Mystiker aufhören, von einer Gemeinschaft des Menschen mit Gott zu reden. Denn nie wird diese Gemeinschaft erlebt. Nie hat ein Ernster gewagt, sie zu behaupten. Diese Gemeinschaft ist nicht möglich. Solche Vorstellung von Gott ist allzusehr Damenkloster. Und stets noch, wo den Menschen Absolutes sicher stand, wo Religion nicht in Sensual-Pietismus verglitt, wusste man, dass der letzte, dem Menschen erreichbare Punkt der Heiligkeit allein ist: zur Fähigkeit vom Bewusstsein der Existenz Gottes zu gelangen.
Aber warum glauben denn diese Mystiker nicht ans Wunder, sondern nur an ihre Worte? »Das Psalmwort, Gott ist allen nahe, die ihn rufen, allen, die ihn mit der Wahrheit rufen – heisst: mit der Wahrheit, die sie tun.« – Nein. Das heisst es nicht. »Rufen« heisst nie Tun (und hier heisst es zudem »Glauben«). – »Die Wahrheit ist kein Was, sondern ein Wie.« Hier greift man ins Innere der zionistischen Mystik: da liegen nur die alten ruchlosen Konsequenzen der selbstgefälligsten Impressionisten- und Formphilosophie. Aber seit deren Wirksamkeit ist das Uhrwerk einer Generation abgeschnarrt. Und hier nimmt der Zionismus durch Selbstverbrennung an sich Rache für die innere Feigheit seines Kreislaufs um sich selbst: »Nicht der Inhalt der Tat macht sie zur Wahrheit, sondern ob sie in menschlicher Bedingtheit geschieht. Nicht die Materie der Tat bestimmt darüber, ob sie im Vorhof, im Reich der Dinge verläuft oder ins Allerheiligste dringt, sondern die Macht der Entscheidung, die sie hervorbringt, und die Weihe der Intention, die ihr innewohnt.« Zu deutsch: es kommt nicht darauf an, was geschieht, sondern nur, dass etwas geschieht. Aber das ist falsch, und auf die fürchterlichste, gefährlichste Art. Man sieht es am Krieg. Denn das Was einer Wahrheit, ihr Inhalt, wird ebenso stark aus dem Resultat wie aus dem Weg zu diesem Resultat bestritten. Erst der Weg zum Resultat macht das Resultat siegreich. Daher kann die (eine ausgezeichnete Formulierung Martin Bubers) »Materie« der Tat – durch die der Weg der Tat doch gehen muss – unmöglich eine matière négligeable sein. – Und was ist »Weihe der Intention«? Unsinn! Denn nur die Intention bestimmt die Weihe. Aber erinnert man sich noch an die vielen intereuropäischen Kongresse vor dem Kriege, denen nur das Bedürfnis nach Weihe die Intention gab, und die darum Bluffs waren und auch von fern nicht imstande, der ganz weihelosen Intention des Kriegs ebenbürtig gegenüberzutreten! Man schaue die Zionisten an: sie sind geweiht, aber es fehlt ihnen jede Intention. Sie wallen, aber sie sind noch nicht einen vorwärtstragenden Schritt gegangen.
Ziehen wir den Schluss: bei diesem ungeheuren Aufgebot von Hingabe, Nachdenken, Können; bei diesen funkelnd tauchenden Kreisen einer Rhetorik der Andeutungen kommt es einzig an auf die schöne Geste. Auf Fresko. Judentheater mit Reliefbühne. Und das Herz steht einem still, wenn man daran denkt, dass von irgendeiner Schönheitstheorie der Zionisten das wahre Schicksal, das Leben von hunderttausenden Juden abhängen sollte.
»Das innere Schicksal des Judentums scheint mir daran zu hängen, ob – gleichviel in dieser Gestalt oder einer andern – sein Pathos wieder zur Tat wird.« Aber das ist doch eine grauenhafte Schauspielauffassung des Lebens! Militärmärsche pflegt man zu komponieren, wenn es im Lande schon Truppen gibt. Und Pathos hat nur ein Daseinsrecht zur Bestrahlung von bereits Geleistetem. Doch die hier wollen um des Pathos willen marschieren lassen, marschieren nach Palästina.
Aber kommt es ihnen nicht auf den Orient an? Auf den Orient des »motorischen« Menschen, den altneuen Orient.
Mythos
Der alte Orient! – Es ist sehr wohl möglich, dass jene allgemeinste menschliche Ehrenangelegenheit, die Entscheidung, historisch sichtbar zuerst im Trieb der Juden sich zeigte. Aber woran sie sich verwesentlicht: alles Denken, Greifen, Fühlen, alle täglichen Gegenstände, alle Bilder der Dichterhirne – alles ist gänzlich ein Teil, nur ein Teil des grossen altorientalischen (überjüdischen) Ideenreiches. Der Zionist verteidigt die biblischen Schriften gegen den (als Beschuldigung kindlichen) Vorwurf, sie seien blosse Nachkommen der babylonischen. Als ob das wichtig wäre! Nicht wichtig sind wörtliche und sachliche Übereinstimmungen oder Abweichungen. Wichtig ist: dass babylonisches Weltdenken in denselben Grundvorstellungen verläuft wie jüdisches. Literarische Führer des Zionismus sprechen vom Mythos. Aber der Theoretiker, er, der Hochgebildete, der es weiss, und sich gewiss damit auseinandergesetzt hat, verschweigt uns, dass wir seit Jahren ganz ungeheuerliche Aufschlüsse über den altorientalischen Mythos haben. Dass die Mythenforscher Eduard Stucken, Hugo Winckler, Alfred Jeremias, dass die Veröffentlichungen der Vorderasiatischen Gesellschaft uns sagten: Das Weltgefühl, die Rezeptivität und die Ausdrucksart des alten Orients ruhen in einer, uns heute geradezu unvorstellbaren Art, auf der Abstraktion. Das altorientalische Weltbild ist abstrakt: ein Gestirn – in jenen Zeiten von ganz anderer, schon sachlich geographischer, praktischen Bedeutung für alle Bevölkerungsschichten als heute – ist jedem Menschen gegenwärtig in seinen Stellungen. Aber dominierende Bedeutung für die Welterklärung und die Produktivität der Bildersprache bekommt die jener Zeit erstaunliche Tatsache, dass man die Gehirnstellungen wirklich vorher festlegen kann. Die Zahl kommt zu einer Gefühlsbedeutung, die sie heute längst abgeschliffen hat. Die Babylonisten haben das heute festgestellt, nicht durch angenehmes Raten, sondern durch mächtige, wissenschaftliche Einzelarbeit; und sie haben die Durchsetzung der gesamten modernen Kultur, die entferntesten Negerstämme mit eingeschlossen, von babylonischer Sternmythologie aus dem Anfang des dritten Jahrtausends a. Chr. n. bis in unsere heutigen, gefühlsmässigsten, bereits instinktiv gewordenen Gebräuche festgestellt. Die Abstraktion auch des alten Orients ist über jede Vorstellung weit entfernt von unserer heutigen Abstraktionstätigkeit. Unsere Abstraktion ist Steigerung des Menschendenkens bis zur allgemeinsten Gültigkeit, bis zu einer letzten Zeichensprache des Denkens, die, über die ganze von Menschen bewohnte Erdkugel hin, das Denken jedes Menschen einbezieht. Aber die altorientalische Abstraktion ist menschenfern. Sie setzt die geozentrische Weltauffassung der Antike voraus, und sie hat die Anschauung von der Erde als einer Ebene, über der die Sternbewegungen in der langsamen Rundwanderung des Tierkreises vor sich gehen. Der Zug der Planeten durch die zwölf Tierkreiszeichen beherrscht Gefühl, Phantasie, Vorstellen und Handeln jenes antiken Menschen völlig. Das hohe Mysterium, das heilig Esoterische, der Angelpunkt aller Prophetie und des antiken Messianismus ist die Feststellung, dass auch der Aufgang der Sonne während des Frühlingsäquinoktiums (der Frühlingspunkt, die Kreuzung der Ekliptik mit dem Himmelsäquator: das himmlische Kreuz) im Tierkreis weiterrückt, von einem Tierkreiszeichen, um dreissig Grad, zum andern in ungefähr 2200 Jahren. Für die Juden übrigens hat nicht die Sonne, sondern ihr mythisches Gegenspiel, der Mond, die grösste Bedeutung gehabt; die Tradition hat das von den religiösen Riten bis tief ins praktische Leben hinein bewahrt. (Die Juden sind ein »Mondvolk«. Moses trägt die Hörner des Monds auf dem Haupt. Ihre Hervorhebung bei Michelangelo ist tiefe Intuition.) Diese Dauer des Verweilens des Frühlingspunktes in einem Tierkreiszeichen ist »das Zeitalter«. Um das Jahr 2900 v. Chr. trat die Welt in das Zeitalter des Stiers, um 700 v. Chr. ins Zeitalter des Widders; seit etwa dem Jahre 1500 unserer Zeitrechnung stehen wir im Zeitalter der Fische. (Dem Stierzeitalter voraus geht das Zeitalter der Zwillinge: Was in urgrauer Vorzeit vorgestellt werden soll, wird unter die Herrschaft der Zwillinge verlegt; Gründung Roms. Nach der Annahme des Marburger Assyriologen P. Jensen – übrigens eines Gegners der grossen Astralmythologen – stammt die Konzeption des Tierkreises aus der Stierzeit. – Der Stiermythos wirkt bis in frühchristliche Zeit nach. Mithrakult. Der Widder das Lamm Gottes. Die Fische sind den Urchristen gefühlsererbtestes Symbol des kommenden messianischen Zeitalters; die Annahme, der christliche Fisch, der ΙΧΟΥΣ, sei eine Zusammensetzung aus Anfangsbuchstaben der griechischen Worte für: Jesus Christus Gottes Sohn Heiland hat sich auch als falsch erwiesen; im Gegenteil, der Satz ist erst nachträglich, und nicht vor dem vierten Jahrhundert, im geheimdeuterischen Begriffsspiel aus den griechischen Buchstaben des altüberkommenen Sternsymbols Fisch herauskabbalisiert worden. – Und wie merkwürdig unbeachtet blieb auch bisher, dass die astrale Überzeugung, um 1500 p. Chr. n. müsse ein neues Zeitalter beginnen, wohl die stärkste geistige Vorbereitung der Reformation war!) Schon diese Andeutungen hellen Ausserordentliches auf. Jedes dieser, ganz subjektiv vom geozentrischen Standpunkt aus beurteilten kosmischen Daten ist ein weithin wirkendes Zentrum riesiger religiöser und politischer Umwälzungen: der mächtigste wirkende Inhalt jedes überindividuellen Handelns der alten Zeit. Das Wissen um den Wechsel der kosmischen Zeitalter, und die Vorstellung davon ist heiligste Lebenskunde des orientalischen Altertums, der grösste Umfang und die reichste Quelle jedes bewegungsschaffenden Mythos.
Aber nicht für uns!
Jeder heute kennt die astronomischen Gründe, aus denen jene antike Abstraktion, dieser Mutterschoss des orientalischen Mythos, für uns keinen echten Gefühlstrieb mehr gebären kann.
Eine plumpe und flach unwissende Aufklärung meinte einst, Religion – die Auswirkung des Mythos – sei Priesterbetrug gewesen. Das war dumm und falsch gemeint, denn solange der Mythos echt war, war auch seine Lebenswirkung wahr. Aber ebenso dumm, falsch, flach, unwissend und plump ist es auch, unserm heutigen Menschlichkeitsbewusstsein eine neue Verdunklung entgegenzuhalten, und zu sagen: »Humanitas ist ein überwundener Standpunkt: es kommt darauf an, wieder zur ewigen Wahrheit des Mythos zurückzukehren, um jeden Preis von Menschenleben!« O lebensgefährlicher Irrtum! Keine ewige Wahrheit ist der Mythos, sondern nur eine zeitliche. Ebenso respektabel, ebenso uns fern wie andere zeitlich gebundenen Gefühlswahrheiten. Aber heute nicht um das erbärmlichste Menschenleben wertvoller, wirkungsberechtigter, lebenszielgebender als beispielsweise für die heutigen Bewohner Griechenlands eine Erinnerung an die zwölf (Tierkreis-) Taten des Herakles. (Die ungeheure Weltdiskrepanz, das schauerliche Mythoselend des mittelalterlichen Judentums – dieser Gemeinschaft aus Isolation – tritt zutage in der hoch wertvollen Quellenforschung von Erich Bischof: »Babylonisch-Astrales im Weltbild des Talmud und Midrasch.«)
Dass auch Zionisten dies wissen, wäre vorauszusetzen. Aber aus einem tiefen Instinkt vernachlässigten sie die Mitteilung, dass die wichtigste Dimension der altorientalischen Welt – zu der das biblische Judentum nur als ein ethnographisches Sondersegment gehört – dass ihr Wichtigstes die Abstraktion ist. Sie sprechen oft vom Mythos – und es dient nicht einer entscheidenden Klärung, wenn dieses Wort, dessen Inhalt doch erst zur Mitteilung von Geheimnissen dient, schon in seinem stilistischen Gebrauch selbst als geheimnisvoll verdunkelnde Klangschwingung gebraucht wird. Wer vom Mythos spricht, müsste äusserste Klarheit darüber schaffen, dass der Mythos eine Versinnlichung durch das alltägliche Mögliche und Greifbare einer abstrakten Urkonzeption ist. Man darf nicht mehr das Abstrakte des orientalischen Blicks verschweigen. Aber der Zionist macht seinem Gegenüber dunkle Andeutungen von Mythos und knüpft an diese Andeutungen ethische Folgerungen; Forderungen dessen, was sein sollte. Die ethische Folgerung, die er aus dem Mythos zieht, heisst: Auf nach Zion! Doch wie, wenn man einmal dem Mythos ins Gesicht blickte? Und wenn man aus anderer – heutiger – Voraussetzung zu anderer – heutigerer – Folge gelangte? Wenn – ganz abgesehen von allem Folgern, ganz ausserhalb des Folgerns – einem jenes Ethos selbst fadenscheinig dünkte? Und wenn von allem nur übrigbliebe: Der erste Beginn des Menschen: das Ethische; und die letzte Ausflucht des Menschen: das Ethische.
Aber das haben wir ja schon lange gewusst!
Man entgegnet mir: Der Mythos sei überhaupt zu jeder Zeit, überzeitlich, der Vorbeginn alles Fühlens, Denkens, Entschliessens des Menschen, und jeder Mensch habe im Dunkel seiner Geistesverrichtung den Jahrtausendweg der Menschheit am Mythos zurückzulegen. Darauf wäre zu antworten: Das ist von vornherein falsch, denn diese Hypothese entspringt der willkürlichen Übertragung rein naturwissenschaftlicher Prinzipien (Phylogenese auf das Geistige. Es ist aber auch sachlich falsch, denn gerade die Tatsache, dass in unserer Kultur Rudimente rein instinktmässig herrschen, die in ihrer Vollkommenheit vor Jahrtausenden die Regenten des bewussten Willens waren, zeigt, dass wir im Mythos vor einem bloss historischen Faktum stehen. Jene Lebenserscheinungen unserer Zeit, die sich als letzte, verblasste Ausläufer eines Mythos erkennen lassen, zeigen vor allem, dass es in unserer Kultur Wurmfortsätze Babylons gibt. Sind sie zu bewahren? Wird etwa jemand den Blinddarm als das herrlichste Symbol allgemein überzeitlichen Tierlebens preisen? – Man hat mit gefährlichen Wurmenden des Mythos zu machen, was man mit dem Wurmfortsatz zu machen pflegt, wenn er Entzündungen hervorruft.
Aber der neue Mythos? Darauf ist zu fragen: Warum muss nur durchaus ein neuer Mythos aus der Erde gestampft werden? Leben wir etwa für zukünftige Mythologen? Oder, leben wir nicht vielmehr, um zu handeln! Und wenn durchaus der neue Mythos da sein soll, so kann er doch erst kommen, wenn eine neue Abstraktion da sein wird. Innerhalb des altorientalischen Kosmos können wir heute nicht mehr schöpferisch denken. Und gerade das Hauptresultat der babylonischen Abstraktion, das bis zu Paracelsus hochwirkend ist, erscheint uns heute notwendig als eine kuriose Bildlichkeit, etwas niedlich Dichterisches, eine angenehme, oberflächliche Metapher: die Annahme einer Entsprechung von Himmel – Makrokosmos und Erde – Mikrokosmos; die Annahme der notgedrungenen Parallelität zwischen Makrokosmos – Himmel-Erde und Mikrokosmos Mensch. Die letzte grosse Ausschwingung des babylonischen Gestirnmythos wurde wirkend in der Kabbala. Aber betrachten wir das mystische Schema des kabbalistischen Menschen mit seinen mythischen Himmelsentsprechungen: Als Abbild irgendeines Seins, als Feststellung genommen ist es heute völliger Unsinn. Aber als Aufzeichnung ethischen Strebens gefasst – wenn man den alten ethischen Sinn der Gestirnbetrachtung einsetzt – ist es unendlich schön. Und dabei stellt sich wieder heraus: Nennt nur das Ethische, das Wollen, das Streben, das Handeln, und es wird schon durch sein blosses Genanntsein lebendig. Noch auf der Hintertreppe ist das Ethische interessant, das heisst von uns allen als mächtigster Faktor unseres Lebens erkannt. Was bleibt vom Ethos? Alles. Was bleibt vom Mythos? Eine historische Schabracke.
Und dazu, für den Mythos, Palästina bemühen? Palästina nahelegen: deutschen Juden, die zu Friedenszeiten schon schwer in Frankreich leben konnten; italienischen Juden, denen es nicht anders in Deutschland ums Herz war; französischen Juden, denen Amerika zu wenig französisch war! Für Menschen, die bereits Nationen angehören; für schon – wie ihre Mitbürger – allzu Einnationalisierte, die der Krieg zu noch grösserem Nationalismus drängte; für sie wiederum eine neue Nation errichten! ..
Mythos ist Gewohnheit. Wenn auch Seelengewohnheit. Aber darum nicht weniger böse, grausam und gefängnishaft, wie jede andere Gewohnheit – Ach, und den grössten Teil des Unglücks der Welt verdanken wir der Blendung des Augs durch unsere Gewohnheiten, dem seelischen Räkeln in unsern Gewohnheiten, und unserer unbekümmert verantwortungslosen Zustimmung auch zu Teuflischestem – wenn nur einer verspricht, unsere Gewohnheiten zu retten!
*
Der Mythos ist längst Gebrauch geworden. Unsinnig ist es, zu wünschen, dass der Gebrauch wieder Mythos werde!
Das wissen wir ja, dass wir in allen Richtungen der blinden Gefühlshingabe noch heute unter dem Druck des alten Orients stehen; bis in scheinbar geistige Sublimierungen: in unserem Musiksystem, in unseren Sprachbildern, sogar in Traditionellem unserer Architektur und der bildenden Kunst. Also klar ausgesprochen: In unserem blossen Vegetativleben. Und in den meisten unserer staatspolitischen Symbole! (Umfassend nachgewiesen von Robert Eisler in dem bedeutenden Werke »Weltenmantel und Himmelszelt«. Daraus ergeben sich auch die Suggestivideen des Imperalismus als alte Symbole einer verwesten Mythenwelt.) Jedoch wenn unser Vegetativleben, unser seelisches Pflanzenleben unter dem Strahlendruck des Orients steht: Wichtig ist heute, tausendmal wichtiger, das einzig Wichtige ist die Frage: Welcher ist der Strahl, der von uns ausgeht? Deutlicher: Welches ist unser Wille?
Und nur ruhevoll plätschernd wäre die Folgerung: Also auf, und verstärkt den Orient in euch noch, auf zum Orient nach Zion! Ruhevoll verrückt wäre das! Es läge ein Fall von unerhörtestem, inzestuösem Egoismus vor: Ein Mensch glaubt, dass eine Sondergruppe von Menschen, hier den Juden, bestimmte wertvolle Kräfte eigen seien. Diese Kräfte will er – nicht etwa der Menschheit, die es sehr nötig hat, zuführen, sondern wiederum jener Gruppe selbst, die sie produziert! Der Zionist schiebt alles, was stark, bedeutend – womöglich neu – ist, auf Seite des Orientalen; alles Relativische auf Seite des Okzidents. O Typisierung! Ist es nicht Unrecht, mit Völkern und Jahrtausenden umzuspringen, nur um einige Begriffe zu destillieren? O dünnste aller Legenden!
Doch auch diese Begriffe sind nicht dicht. (Man zeige mir die Unentschiedenheit etwa und Relativität der Hellenen.) Nein, der Theoretiker des Zionismus pflegt ein Abkömmling der rührseligen Goethephilologie zu sein, die Wucher mit der Vorstellung vom Erlebnis trieb. Innerhalb dieser Vorstellung ist alles gleichwertig.
Aber seid gewiss, es gibt Werte auf der Welt! Also käme es auf die »Richtung« an? Ja, es kommt auf die Richtung an. Es kommt so auf sie an, dass heute ein minderer Mann, der reinen Herzens einer Richtung sich ergibt, mehr für das Glück, die Stärke und die Menschlichkeit der Menschheit tut als ein grosser, doch höchst isolierter Solipsist in der »allumfassenden Einsamkeit seiner Seele«. Er tut mehr. Einfach sachlich leistet er mehr. – Heute, des wichtigsten Beispiel halber, ein organisierter Genosse. Heute! –
Zion
Der Geist kennt nur Verwirklicher seiner Befehle. Je nach der Art der Trübung, der Einschiebung, des minderen Mittlertums zwischen Geist und Verwirklichung gibt es Nationen. Und nun sucht der Zionist vom Absoluten, vom Geist, einen Spezialgeist, einen Judengeist abzusondern. Er sucht noch eine weitere Trübung, Einschiebung bewusst zu konstruieren, über die schon vorhandenen hinaus. Eine Nation, die in der Luft schwebt. Er will eine Gemeinsamkeit fundamentaler Art für die Heutigen finden, die nicht fundamentaler Art ist. Die Tatsache Judentum, die Tatsache irgendeiner Gemeinsamkeit der Juden – durch das Faktum: Jude sein – liegt nicht in der Natur, sondern nur in ihrer Isolation. Woher aber, wird man mich fragen, eben diese Isolation? Aus dem Kult, antworte ich. Wer Sabbat macht und beschneiden lässt, ist isoliert.
Es ist auch nur ein Kult, gar keine wirkliche Religion mehr. Eine Religion (man wird finden, der zionistische Theoretiker scheut selbst hier die Klarheit und tritt für eine vage Religiosität ein), die in jeder Einzelheit nichts mit ihrer realen Umgebung zu tun hat, ist erstens keine mehr und dann isoliert sie ihre Vertreter. Der Zionist muss beispielsweise gewöhnlich die Juden gegen den Vorwurf verteidigen, sie ständen dem Ackerbau fern. Er kann anführen, dass die meisten und stärksten Bilder des Alten Testaments dem Ackerbau entnommen sind. Schön. Aber, wie sollen etwa heute Herr Ballin oder Herr Rathenau oder der Zigarettenarbeiter Moritz Itzig zu einer Religion stehen, deren wirksamste Bilder aus (noch dazu veralteten) Methoden des Säens und Pflügens genommen sind! Dazu: jedes der kosmischen Bilder dieser Religion ist einem Weltbild entnommen, das nicht etwa nur poetisch symbolischer Art ist, sondern einer ganz historisch eindeutig bestimmten, physikalischen und astronomischen Naturanschauung entspricht. Dieses Weltbild war vor fünftausend Jahren regierende Selbstverständlichkeit. Heute ist ein anderes regierende Selbstverständlichkeit. Aber das tangiert eben nur die kultische Gemeinschaft. Es tangiert nicht im geringsten die religiöse Idee. Nicht eine gläubig brüderliche Menschengemeinschaft.
Also Aufklärung?
Ja. Lieber flachste Aufklärung, als Verwirrung aus Tiefe. Nebenbei: Nie erhoben sich ätzendere Aufklärer, als die Propheten des Alten Bundes in ihrem Kreis. Ihre Feinde, heute angeschaut, wären die empfindungsvoll Erlebnisstolzen, Besitzenden; die auf ihre Geistgeheimnisse eitlen Hihi-Wesen; die Mystiker der Bibliotheken; und die Austeiler leerer Versprechen aus Tiefe.
Und Gott?
Oh, er ist für uns mächtiger da, als für Sie einzelne, die ihn mystisch immer erst wieder »verwirklichen« müssen. Für uns ist er Wirklichkeit, und ihm suchen wir nur die Wirklichkeit unserer Erdkugel zu nähern. Denn für ihn sind wir nicht Orientalen oder Abendländer – für ihn sind wir Gemeinschaftsmenschen. Menschen der Menschheit. Es gibt nichts, das wesentlicher wäre! Heute benannt: Sozialisten!
*
Immer noch sind wir heimlich versucht, nach Blutsunterschieden zu forschen. Das letzte Jahrhundert hat unsere Nüstern so witternd gemacht, unsern Spürsinn für Subkutanes so geschärft, dass uns heute jene Annahme beinahe als zu simpel erscheint: Die Juden unterschieden sich von den Nichtjuden durch den Kult. Doch es ist so. Und dieser Unterschied, den wir in religionsfremden Gegenden fast nicht mehr zu sehen bekommen, ist mindestens ebenso geheimnisvoll wie Blutverschiedenheit, Blutgemeinschaft oder die grobe Naturalmystik von der Vererbung. (Und man muss die Kraft des Geistes kennen, um zu wissen, dass er nicht nur Judennasen formen kann, sondern bei amerikanischen Einwanderern sogar Amerikanerkinne. Ah, und war in Wirklichkeit etwa die Sprache je eine naturgegebene Grenze? Wie, wissen wir nicht mehr, um weniges nur zu nennen!: von der Durchdringung eines romfremden Europa mit dem Lateinischen, von der semitischen Sprache nichtsemitischer Stämme Abessiniens? Wer ist in Wahrheit der Bildner des Menschen? Allein der Geist!) Aber auch nicht, wie Sombart meint, die Glaubensgrundlagen des Alten Testaments haben die Praxis des modernen Judentums geformt – denn gerade für diese Hypothese kommt der Moment, wo Jude, Calvinist und Quäker praktisch ununterscheidbar werden! Nein, ein ebenso einfacher wie furchtbarer Vorgang hat dem Judentum zu seiner Sondergemeinschaft verholfen: Sein Kult, im alten Orient zu Hause, stimmt in allem Wesentlichen nicht mehr zu den Tatsachen des neuen Abendlands; also werden die Tatsachen des neuzeitlichen Landes dem alten Kult angepasst! Das tut der Talmudkommentar; dieses unglaubliche, jahrhundertlange, aufreibende Bemühen, angebliche Gesetze zu finden. Gesetze, nach denen Äusserlichstes verschiedenster Art in nie gewesener Übereinstimmung erblickt werden könne.
Durch Jahrhunderte hindurch stand die jüdische Gemeinde vor jeder neuen Tatsache absolut fassungslos, ungläubig, skeptisch – nur den Kult hat sie nie angezweifelt. Während gerade der Kult der anderen Glaubensgemeinschaften ( – nicht vielleicht der Glauben – ) im engsten geographischen Zusammenhang mit der jeweiligen aktuellen Umwelt steht! Aber diese gewaltsame Selbstisolation der Juden, ungläubig fort von der Welt ihres Lebens, und hin zu der Zeichensprache einer Welt, die schon lange nicht mehr da war, die in ihren Zeichen bereits nichts lebendig einflusskräftig Überzeugendes mehr bedeuten konnte; diese arbeitende Schulung im Nichtsehenwollen, dieses Gespenstischmachen der wirklichen Welt: das ist natürlich eine tausendmal mehr mystische Erscheinung als alle neuzionistischen Mystiken. – Sicherlich gibt es heute noch Liebhaber von Postkutschen – aus Romanlektüre. Nun aber eine alte Postkutsche auf ein modernes Automobilchassis zu setzen; voran einen Chauffeur im Postillonskleid, der, weil er nicht trompeten kann, statt des Posthorns ein signalblasendes Grammophon in Betrieb setzt: das ist eine Magic-City-Idee! Aber der Zionismus ist eine Magic-City-Idee.
Denn: Menschen haben endlich gelernt, ihre Welt zu sehen, zu unterscheiden, zu begreifen – im Gegensatz zu ihren Vorfahren. Und diese Menschen will man an einen Ort führen, der zwar ihren Vorfahren längst nicht mehr wirklich war, unter dessen Illusion sie aber ihre nächste Lebenswelt verfehlten! Was sollen diese heutigen Menschen dort, an jenem Ort, dessen Realität doch schon zu biblischen Zeiten nicht mit seinem auf den Himmel bezogenen Plan übereinstimmen konnte? Sollen sie vielleicht dorthin ihre neue, wirkliche Lebenswelt importieren? Sollen sie vielleicht inmitten orientalischer Realität nunmehr einen romantischen Kult des fernen Europas pflegen – weil bisher ihr Unglück darin bestand, ihre europäische Realität über ältestem Orientkult zu vergessen!
Dieses neue Zion wäre noch viel schlimmer als jene Postkutsche.
Es geht mit dem Zionismus wie mit der Alchimie. Jahrhundertelang suchen Laboranten nach symbolischen Rezepten, aus Blei Gold zu machen. Und der Sinn der Rezepte war gar nicht die Erlangung des wirklichen Goldmetalles, sondern eine Anleitung zur sittlichen Wiedergeburt des Einzelmenschen.
Sollte so nicht der Fall des Zionismus liegen? Er sagt »Zion« und meint Reinheit des Einzelnen; er verheisst Palästina und meint das Paradies auf Erden: Die Besitzlosigkeit, die Unbedingtheit des Menschen vor Gott. (Im Gegensatz zum Talmudisten, der, in seine Umwelt verstrickt, sie künstlich regieren will.) Aber die plumpen Tatzen der zionistischen Sudelköche aller Konfessionen wollen durchaus den Juden hin ins geographische Palästina zerren!
»Juden«. Um wen handelt es sich da eigentlich?
Nicht um Juden als Rasse – die jüdische Rassenreinheit wird heute selbst von den Rassentheoretikern nicht mehr behauptet.
Nicht um Juden als Nation – denn das strebt ja der Vulgärzionismus erst an und behauptet die Tatsache nur rückläufig.
Sondern, unabhängig selbst von einer Untersuchung des historischen »Warum?« (was nur wieder schwankende und je nach wissenschaftlichen Zeitstimmungen wechselnde Begründungsversuche ergibt), unabhängig selbst von der historischen Linie muss man für die Wahrheit feststellen: Es gibt heute deutlich und greifbar zwei jüdische Riesenkontinente in der Welt. Die europäischen Juden auf der einen Seite, die Ostjuden auf der andern. (Dieser Unterschied reicht bis nach Amerika.) Die klare Betrachtung der menschlichen Situation beider Teile ergibt die nackte Tatsache: Die europäischen Juden sind eine Gruppe von gehassten Menschen. Die Ostjuden sind eine Gruppe von hilflosen Menschen.
Hass ist etwas, worüber man einmal zur Verständigung kommen kann. Dagegen Hilflosigkeit ist eine schlimme Krankheit.
Der Zionismus macht den Kranken stolz auf seine Krankheit. Und so schön es ist, jemandem zuzureden, gerade aus seinen Mankos und negativen Seiten und allen Dingen, die man vermisst, sich ein produktives Lebenselement zu schaffen – so sehr ist doch nötig, dass der Ratgeber deutlich angeben kann, welchem Sinne diese Produktivität diene. Dagegen raten zionistische Bewegungen den Ostjuden die heilige Bewahrung ihrer Hilflosigkeit an, zum Zwecke der Produktion derselben Hilflosigkeit!
Die erste Pflicht des Menschen, die einzige, ist, den Nebenmenschen auf das Niveau der eigenen Verantwortung zu bringen. Es war einmal eine sehr beliebte Tätigkeit von Damen der Gesellschaft, Strümpfe für die nackten Negerkinder in Afrika zu stricken. Das ist, aus geographischen Gründen, komisch; es war aber, im Letzten, richtig, neu, und verantwortungsvoll gedacht. So sollte es heute guter Ton sein, vornehm, ja – wenn es sein muss – unausweichlich elegant, die Hilflosigkeit der Ostjuden zu heilen. Nicht durch Judenschulen hilft man ihnen, sondern durch Schulen; nicht durch Betonung ihrer besonderen Hilflosigkeit, sondern indem man sie zur Selbsthilfe anstachelt. Wie? die Japaner tragen Gehröcke oder feldgraue Uniformen; in China sind die Zöpfe verschwunden; und es sollte irgendeinen Grund geben für Kaftans, Schläfenlöckchen und unterscheidende Sitten aus Troglodytenzeit – selbst wenn sie nur symbolisch gemeint sind. Und gerade dann! Man darf sich nicht durch die, meist im verächtlichen Sinne gebrauchte Behauptung einer angeblichen »Assimilation« vieler Juden täuschen lassen. Im Kampf gegen die Assimilation lassen sich die Zionisten gern vom Typus des antisemitisch-nationalistischen Korpsstudenten helfen. Das macht diesen Kampf verdächtig. Dieser Kampf wird geführt gegen die letzten geistigen Lebensmöglichkeiten des Abhubes der Ostjuden, das heisst gegen die ärmsten, verlassensten, unwissendsten, jämmerlichsten Menschen. Satte kämpfen da gegen wahrhaft Unglückliche, einfach Unglückliche, ohne jeden seelischen Beigeschmack Unglückliche. Solche, für die auch die leiseste Änderung ihrer äusseren Lage schon das Glück, das Wunder, das Zion bedeutet. Und für die Zion vor allem Änderung ihrer Lage bedeutet!
Aber der Kampf gegen Assimilierung ist zudem ein Kampf gegen Nichtvorhandenes. Assimilierung? Aber woher käme dann das erbitterte Ringen um haltbare Staatstheorien, wenn es bis heute gelungen wäre, auch nur die Assimilierung des Deutschen an Deutschland, des Franzosen an Frankreich festzustellen? Oder haben sich bis heute etwa die Europäer an Europa, die Menschen der Menschheit assimiliert?
Lieber gehasst sein, als hilflos. Hilflosigkeit, selbst im »eigenen Haus«, lässt das Haus zusammenfallen. Aber Hass hat in dem Augenblick seine Rolle ausgespielt, wo es gilt, gemeinsam mit seinen Nebenmenschen für die allerdrängendsten, allernächsten, primitivsten Aufgaben der Erde zu arbeiten.
Die nächste, primitivste Aufgabe des Menschen auf der Erdkugel heisst geistige Friedensgemeinschaft; geistige, das ist: unzufällige, absolute, unumstössliche, wirkliche! Was tut hierzu der Zionismus? Nichts!
Der polemische Rettungsversuch von Neozionisten (am deutlichsten Max Brod) behauptet, gerade dies sei das Ziel des Zionismus, eine Zusammenfassung aller geistigen Kräfte, um der Welt Heiligung in Realität zu bringen.
Warum, fragt man, nicht der direkte Weg zur Menschheit, warum nicht unmittelbares Bekenntnis, hindernisloses Handhinreichen den Brüdern? warum der versickernde Umweg über das Ghetto eines neuen Nationalismus?
Antwort des Zionisten: Der Zionismus sei ein » technischer Kunstgriff«, mit dessen Hilfe man zur Menschheit gelange.
Ein Kunstgriff? Wir halten den Atem an. Toller Beschönigungsversuch, der gerade die letzte morsche Gezwungenheit dieser »Bewegung« aus Reservat-Politik, dieser Menschenfreundschaft aus unsäglicher Menschenferne enthüllt.
Ein Kunstgriff gegen Menschen! Wir hatten ihrer zu wenig? Wir haben noch nicht genug an dieser Jubiläumszeit für Kunstgriffe der Industrien, beeinflussten Zeitungshäuser, vergangenen Regierungen! Wie? Wir wissen immer noch nicht, dass jeder Kunstgriff die Menschheit vorschützt und im ersten Entscheidungsmoment sofort Gewaltgriff wird!
Ein Kunstgriff heute noch, da eben in der wüstesten Zeit der Weltgeschichte liebende Zartheit über Grenzen und Heere hinweg die Menschen der Zukunft sich finden liess – heute noch Verfolgte und Geschmähte, diese Geistkameraden des Erdballs, diese Mutigen aus Herzensreinheit.
Ich rufe auf, ich rufe auf zur Bruderschaft und Hilfe, was noch übrig ist und lebt, ich rufe die letzten Genossen des Herzens auf zum Schutze gegen Kunstgriffe!
Ah, wir geben die Blutkörperchen unserer Nervenzellen verschwendend hin, wir Brüder im Geiste, um die blutig amorphe Erde endlich zu formen nach der Unbedingtheit im göttlichen Plan vom Gemeinschaftsleben. Und da, mit freundlicher Naivität, raten gar bessere Menschen der Welt noch Nebenwege, Umwege, Kunstgriffe an!
Wer ein Ziel erreichen will, erreicht es, nach dem tiefsten ethischen Gesetz der Welt, nur durch ein Mittel, das mit diesem Ziel sich deckt. Vielleicht durch ein höherstehendes, reineres Mittel noch; aber nie durch ein geringeres. Gilt es, ein reines Ziel zu erreichen, so gilt auch nur ein reines Mittel.
Und nie gilt der Kunstgriff.
Kein Kunstgriff nimmt uns je unsere höchste Aufgabe ab: das Leben zu bewältigen für die Andern.
Brüder im Geiste, selbst müssen wir zupacken, denn die Lehrer und Berater liessen uns im Stich. Nicht einmal äusserlichste Haltung wird mehr gewahrt. In dieser Zeit, da die einstigen Brennpunkte geistiger Völkergemeinschaft, die Hochschulen (Höhe und Universitas schon seit langem nur noch im Titel!) gierig danach sind, die geistesfernsten Diener der Gewalt zu ihren Ehrenweisen zu ernennen: In dieser Zeit müssen wenigstens wir Geistmenschen von uns die freie, göttliche absolute – die kunstgrifflose! – Kameradschaft mit dem Menschenball der Erde fordern.
Meine Brüder, die Zeit hat uns an die Mauer gestellt, um uns wälzen sich Angst und Krampf, zehntausend Gewehrläufe der Bedrohung starren vor uns. Was soll da noch falsche Scham, was noch Maskenzug mit Orient, Zion, Judenschaft! Den Mund auf! Keine Sekunde mehr. Wir können nur noch schreien:
»Ihr seid Menschen«, »Vous êtes des hommes« heisst das Gedichtbuch. Ein Franzose, P.-J. Jouve, stösst den lauten Schrei des Menschen aus. Eine Widmung drin, für uns: »Aux frères ennemis.« Es gibt nichts Erschütternderes. Ebenso ungeheuer klar, so riesig weit über die Mitwelt gebogen, so aufstachelnd proklamatorisch sind die Gedichte. Paris 1915, Verlag der »Nouvelle Revue Française«. Ehre diesem Verlag. Obwohl fast gewiss ist, dass Jouve und sein Verlag während des Krieges für diese Zeilen hier die Beschimpfungen der Routiniers des Hasses erleiden werden, soll dennoch nicht geschwiegen sein!
Einmal geht dieser Krieg zu Ende. Es ist Zeit, dass wir endlich wissen, wer auf seiner Fahne das Bild des Menschen trägt. Denen Dank, die unsere göttliche Geburt nicht vergassen.
Wo waren wir! Welches Recht hatte denn dieses halbe Jahrhundert zum Leben! Denn länger als fünfzig Jahre sind Leser und Dichter gutgelaunte Privatwesen, subtile Amüseure des Ich. Höhepunkt der Entgöttlichung des Menschen, der Geographielosigkeit des Bewusstseins, der Entirdischung der Erde: das verantwortungslos eingekapselte Gestaltertum. In Frankreich, in Deutschland, die feierlichen Kreise, in denen Symbole auf Maggiwürfelkonzentration gepresst werden; immer noch die wertvollsten Teilnehmer der Zeit. Aber welch einer Zeit! Ihre Dichter Beschauer des Historischen; und nur um des Schauens willen, sogar ahnungslos (!) Bejaher von Organisationen; schon formal die gestrengen Musikmeister heutiger Armeen. Eine Welt ohne Entfalter, ohne Mensch, ohne Schöpfer.
Als hätte nie die Erde sich geöffnet! Aber erscholl nicht aus dem Mund der Erde die Stimme des Menschen? Vor einem halben Jahrhundert auf amerikanischem Boden zum ersten Male des Dichters Walt Whitman ungeheure Liebesstimme für den Menschen.
*
Jouves Gedichte sind nicht zum Beschauen da. Sie sind da, um den schwachen Menschen zu ändern, zu stärken, zu heilen. Seine Verse sind nicht für die Plastik der Museen oder die Seltenheit der Bibliophilie gemacht. Reimlos, alexandrinerfern; Zeilen sind Schreie in riesenhafte Volksversammlungen; Rhythmen stossen hell in uns hinein, unsre Knochen zu stärken.
Der Mut dieses Mannes, seine Unabhängigkeit, seine Liebe für die Welt! Der Mensch ist gebeugt, Jouve richtet ihn auf. Der Krieg geht ja über die ganze Erde. (Er schlägt mit dem Meer bis nach Patagonien.) Drum gilt es das Leben der Menschen miteinander auf der ganzen Erde. Politik. Der politische Dichter kommt herauf (wieder, seit Whitman). Der Krieg hat das nicht gemacht, er hat es nur verdeutlicht. Einige von uns, und darum missachtet, fordern die politische Dichtung seit Jahren. Die Forderung wird immer mehr erfüllt. In kurzem sind die andern missachtet, die uns höhnten: die Beschauer, die Gestalter von längst Gegebenem, die Vermittler von Gefühlen. Missachtet sind sie als ärmliche Feiglinge, jämmerliche Beruhigte, gottverlassene Beitreiber von Alibis für eine verurteilte Zeit.
Die Welt wird ihren Dichtern danken, den politischen Dichtern. Sind sie wirklich heute noch missverstanden? weiss man wirklich nicht, dass ihre Themen nur Mittel sind? Die angebliche Satire bei Sternheim, dem ersten politischen Dramatiker der heutigen Zeit, in Wahrheit: hydraulische Herauspressung der Zeitseele unter dem Augenwinkel »Hundert Jahre später« (keine Psychologie, kein Lyrismus; es geht um Ideen). – Die Musik in den zehn Bänden von Romain Rollands »Jean-Christophe« (Einen blossen »Roman« machte jeder kleine Pariser Reporter geschickter. »Jean-Christophe« ist aber kein Roman, sondern eine riesenhafte Proklamation für unbedingtes Menschentum!) Doch es gibt schon einen immanenten Dank der Welt: vor dem politischen Dichter enthüllt sich alles Reden von »Wortkunst« als Schwindel. Der politische Dichter ist in alle Sprachen der Welt übersetzbar. Er braucht nicht »übertragen«, umgefühlt, umgedacht, umgedeutet zu werden. Noch im eisenbahnfernsten, grenzseitigsten Ausdruck ist er ganz da, Gewalt des ersten Tages; schaffend.
»Pour l'Europe« ruft Jouve auf. Uns für Europa:
»Ein Sang für Europa!
Singen für Europa, hoffen für Europa!
Ich bin nur geringfügig Zelle; irgendeiner Europas;
Aber wer singt ihn – singt ihn denn die Kehle eines Gewaltigen? –
Wer will ihn singen, tät es nicht ich, den stummen Schmerz in allen anderen?
Wer will, tät es nicht ich, auffangen
Die Seele, herrschmächtige oder erbärmliche Seele der Lebenden und der Toten?«
*
Keine Beschreibung von Zuständen. Unsere Forderungen an einen solchen Dichter werden ausserordentlich, nach der Höhe seines Willens. Mit ihm kämpfen wir schon um die Richtigkeit seines Ziels (dagegen mit einem blossen Lyrikles höchstens um die Sicherheit seines Ausdrucks). Vom politischen Dichter wissen wir: das Ziel ist nicht, die Menschen zu rühren, sondern sie zu führen. Ihn fragen wir: »Was sollen wir also tun?«
»Que faut-il faire,?« heisst das Schlussgedicht des Buches. Jouve ist von wildester Gläubigkeit für die Völker. Aber ihn haben alle Säuren des Schreckens gebrannt, er ist ein Wissender. Der feindliche Bruder, dem die Widmung gilt – ist auch der Skeptiker, der in Verheissungen mit der Resignation angeblich ewiger Gesetze der Erfahrung einbricht. Nur ungeheuerlicher Enthusiasmus kann hier siegen.
»Tu n'auras pas la justice, et tu n'auras pas l'éternité«, hört er. Aber er darauf, ganz still, sein letztes, schönstes Wort, halb schon gemurmelt über Vergangenheiten, und ganz sicher:
»... Tais-toi, tais-toi, va, allons ensemble!« Wie stark: ein Wort der Gemeinsamkeit schliesst das Buch.
*
Aber zu uns! Dichter Jouve, Politiker, Mensch, mein Bruder,
Wenn wir miteinander sprächen, gäb es namenlos Missverständnisse!
Ich spräche gegen die Kunst (und für Sie!)
Aber Sie würden nur aus Höflichkeit das Wort zurückhalten: Ja, weil Ihr Deutschen die Kathedralen zerstört.
Oder Sie, Sie suchen einen mächtigen Refrain, der die Massen auf den Strassen vorwärts treibt, und Sie finden ihn.
Aber ich würde Ihr Wort nur für eine schöne Phrase halten,
Denn bei uns sind die schönsten Worte für Dinge da, die es schon gibt.
Sie würden glauben, ich sei teilnahmslos oder brutal.
Ich würde glauben, Sie seien ein Hohlkopf.
Wir würden uns entzweien und einen neuen Krieg brauchen, um wieder Brüder zu werden!
Nein.
Es kommt nicht auf Missverständnisse an.
Es kommt darauf an, dass wir nicht aneinander zweifeln.
Wir wissen, dies ist der Freund. Seien wir Partei füreinander:
Seien wir Mensch!
Jeder von uns treibt grauenhaften Irrtum.
Jeder Irrtum, den wir nicht sahen, hat Menschen getötet. Dichter, Bruder, Völkermensch!
Ich weiss, dass es wahnsinnige Umwege gibt.
Ja, wir werden uns lieben, einander unbekannt (wir lieben die Bilder, die wir uns voneinander machen!)
Aber träfen wir einander in Wahrheit und sagte ich: Auch Sie glauben noch zu oft Ihren Kriegszeitungen, wie ich den meinigen. Aber ich weiss, dass wir beide es wohl irgendwie nicht anders können,
Dann würden Sie mir eine gespitzte Antwort geben. Und ich würde Ihnen das nicht verzeihen.
Darum: es tut not, wir lassen es nicht so weit kommen.
Jeder von uns beiden ist ganz gewiss und denkt doch, er sei der einzig Sichere.
Aber es ist nicht viel wichtiger, dass wir beide gemeinsam wollen?
Das Sein ist wichtiger als die Beschäftigung mit dem Sein. Gemeinsam wollen!
Eines Tages ist der Krieg zu Ende.
Die tiefste Erkenntnis für den Weg zum Tun des Menschen steckt in der bekannten amerikanischen Zeitungsannonce:
Wenn ich Sie persönlich
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Das ist es ja gerade, dass ich Sie nicht persönlich sprechen kann, Sie Armer oder Gesättigter, Sie Beamter oder Ausländer, Sie Fürst, Minister oder verkrochener kranker Unterproletarier! Könnte ich Sie persönlich sprechen, dann hätte ich es leicht, dann würde es schnell gehen, Sie Auge in Auge zu bewegen, mit Benutzung aller Nebenumstände, auf dem Wege durch Ihren Körper. Aber Sie sind weit weg, nicht Nachbar, sondern Mitmensch; ich muss also zu Ihnen von den Grundlagen des Mitmenschen aus sprechen. Einmaligkeit des Sagens gilt nur von Mensch zu Mensch. Allgemeinwesentliches muss, um glaubhaft zu werden, immer wieder von neuem, unentmutigt: eingeredet, zugeredet, überredet werden.
Man kann aber nichts in der Welt durch einen Bluff erreichen. Wenn Sie wollen, dass eine starke, ungewohnte, unangenehme Wahrheit zu vielen Teilnahmslosen komme, so können Sie sie beispielsweise unter dem Titel hinausgehen lassen: » Hier werden Kinderwagen verschenkt!« Die meisten Menschen werden erstaunt mitmachen, was Sie zu sagen haben, und viele, aus Neugier, bis ans Ende. Wenn sie die Aufschrift nur einmal innerhalb Ihrer Rede aufgreifen und witzig umspielen, werden Sie sogar als geistreich gelten. Aber damit bleiben Sie einmalig. Damit werden Sie nie: wirken. Es ist ein edles Geheimnis des Weltgeschehens, dass Schwindel nichts hilft. Schwindel: ist aber der Versuch, den Weg von der Trägheit des Mitmenschen bis zur Annahme der Wahrheit mit einem Schlage zurücklegen zu wollen, magisch. Schwindel: ist die Absicht, nach Erregung dunkler Beunruhigung sich selbst beruhigt ins Privatleben zurückziehen zu wollen. Schwindel: ist Ausübung jeder Einmaligkeit. Nicht Schwindel, also wirksam, ist: sich zur Verfügung stellen. Einzig wirksam ist die Unermüdlichkeit der Überredung, das Immer-Wieder-Von-Vorn-Anfangen, die Einstellung zum Mitmenschen in Mitliebe. Nicht nur wissen, dass der Mensch ist, sondern wollen, dass der Mitmensch sei.
Das beste Mittel, die Trägheit aufzurütteln, ist, noch tiefer als sie zu steigen. Das menschliche Wahrheitsgesetz zu enthüllen: in dem Wunsche des Mitmenschen von sich selbst, in seiner Prestigeabsicht, in seiner Eitelkeit.
Wenn Sie die Eitelkeit des Mitmenschen wecken, ihm elementare Versprechungen für die Geltungstendenzen seiner Person machen; wenn Sie ihm sagen:
Sie sind schön!
Sie sind gut!
Sie sind frei!
– dann wird er das nie ganz glauben können. Aber er wird Sie nicht enttäuschen wollen. Er wird danach handeln.
Jede Erweckung der Eitelkeit eines Mitmenschen enthält eine ungeheure Wahrheit für die Zukunft: die Erinnerung an die göttlichen Masse, nach denen der Mensch geschaffen ist.
Jeder Mensch kennt einmal im Leben das Wissen von seinem ganz Menschlichen: von seinem geistigen Ziel, zu dem er auf der Erde gehen muss, um sein Schicksal als geistiges Wesen zu erfüllen; in das Schicksal wurde er hineingeboren. Alle Menschen kennen in Wahrheit das geistige Ziel des Menschenlebens. Alle Menschen sind beteiligt an dem Ziel, die Erde zu einem himmlischen Reich zu machen, zum wahren Staate Gottes, in dem jede irdische Verrichtung auch einen geistigen Sinn hat; den Sinn da zu sein selbst für den fernsten Nebenmenschen; aber in dem jede geistige Aktion auch eine ganz reale irdische Handlung ist, und nicht mehr fremd und verurteilt zu parasitär okkultem Sonderleben. Von diesem Ziel des geistigen Lebens wissen alle Menschen, aber sie kennen es oft nicht mehr, weil sie es verschüttet haben und vergessen.
Einmal im Leben steht die Offenbarung des Geistes vor jedem Menschen, wie der Engel vor Jakob. Da geschieht: die Menschen entziehen sich dem Engel! Entweder sie flüchten vor ihm, sie bleiben ihm fern, die Trägheit beharrte, und der Mensch wird Untermensch. Oder sie gehen ganz zum Engel über, sie kennen vor seinem Flug nur noch die Engelwelt, sie vergessen ihre Geburt auf der Erde, die Existenz der anderen Menschen, die Vornehmheit siegte, und der Mensch wird Übermensch. Beides ist nur eine Ausflucht. Beides lässt das blutende Dasein und Leiden der Erde unberührt, und in jedem dieser Fälle siegt weder Mensch noch Engel, sondern das losgelassene, dämonische Element der Natur siegt und bricht in chaotischer Zerstörung gegen den Übermenschen und den Untermenschen gleich vernichtend heran. So wird der Kampf mit dem Engel zugleich ein Kampf mit den Gegnern des Menschen sein, mit den Trägen und den Vornehmen.
Wir aber leben auf der Erde, und die Erde ist unsere Aufgabe. Wir können weder Tier noch Engel werden, und wir dürften es auch nicht. Uns ist das Geschick gegeben, Mensch zu sein: Die Mitte der Welt. So bleibt uns nichts übrig, als unablässig zu ringen, dass unsere geistige Welt uns stets als das wahre und erreichbare Ziel der Erdenbahn gegenwärtig bleibe. Wer der Gesegnete des Geistes sein will, muss um den Segen kämpfen. Nicht, um selbst über das Menschliche hinaus zu kommen, müssen wir mit dem Engel kämpfen, sondern nur, um ins kleinste Blutkörperchen hinein das Menschliche ganz erfüllen zu können.
Die Führer und Berater der Menschen wissen das Ziel, zu dem sie führen. Aber ihr Kampf mit dem Engel ist, dass sie unablässig die ganze Erdfülle scheinbar kleiner Realitäten durchzusetzen haben, dass sie, aus dem Geiste, unzählige splitternde Erdhaftigkeiten verwirklichen müssen; dass sie Beamte der Menschheit sind, wo sie ihre Verkünder sein wollen.
Für die Erde, für unsere von Blutkratern zerlöcherte Erde, kämpfen wir mit dem Engel. Aber dass wir bis zuletzt uns nicht entzogen, dass wir uns erhoben zum Aufstand für die Erde, dies schon schliesst die Segnung des Engels ein. Wer das Ringen um das geistige Ziel des Menschen zu Ende kämpft, der findet zuletzt, dass sein Ende kein Ende ist, kein ruhender Abschluss. Sondern jedes seiner Worte, jede seiner Taten, jede seiner Körperhaltungen, jeder Teil seiner geistgeleiteten Gliedmassen geht, als frei und losgelöst von ihm, in die Welt ein, weissflammend und stark unter den Menschen wie tausend neue Engel, die mit tausend neuerweckten Menschen ringen werden.
Marsch zur neuen Zeit
Es ist nötig, im Namen anderer zu sprechen. Jeder muss selbst entscheiden, und von Stunde zu Stunde neu, ob er in einem » Wir« vertreten sein will. Diese Entscheidung, wohin die Menschen gehen wollen, ist gut. Mancher dürfte sich wohl durch eine angemasste und allzu künstliche Entscheidung in seinem Fortkommen gehindert fühlen; bei andern wieder kann unter Umständen die Gemeinschaft da sein, doch keine Sympathie zu ihr. In jedem Fall ist schon das Entscheidenmüssen ein fruchtbarer Akt, der selbst bei getrennten Wegen die gegenseitige Lauterkeit verbürgt. Man ist schliesslich doch nie allein; so fiktiv ist keine Kameradschaft, dass man nicht ganz genau wüsste, wer in der Welt auf uns zählen will! Mit jedem »Wir« und »Uns« wird, trotz allem, für Freunde und Kameraden gesprochen, die wirklich leben, und die eine Partei der geistig Unbedingten bilden, nicht nur in unserer nächsten Nähe. Aber auch nicht unerreichbar oder unsichtbar.
Die Forderung ist: den Kampf mit dem Engel aufnehmen! Die Forderung bedeutet: Wir können gar nicht menschenhaft konsequent genug sein. Aber der Fordernde muss aus seiner Forderung zuerst die Konsequenzen für sich selbst ziehen.
Hyänen heulen ringsum. Wer von uns ins Unbedingte schaut, wird angefallen. Wer ins Unbedingte schaut, selbst durch ein Prisma; wem selbst es nur aufs Farbenspiel des Prismas ankommt, auch der Troubadour noch wird angefallen.
Frondeure, liebe Brüder, wir müssen zusammenhalten. Auch der Mitläufer meint es mit Euch noch besser als die Hyänen. Wir sind eine kleine Karawane, die Wüste ist gross. Sollen wir die Kamele verachten?
Jede Fronde hat Mitkämpfer. Begabte auf fabelhaftem Schreibtischniveau. – Die weithin spiegelnde Glaskugel auf dem Springbrunnenstrahl fällt immer wieder ins Niveau zurück. Unnötig, sie zu stossen. Der Mitläufer springt zu uns herauf, er fürchtet, den Anschluss zu versäumen. Aber er fällt noch im Sprung ab; er begnügt sich mit dem Ruf des Gesprungenseins. Nennt ihn nicht Verräter. Er ist keiner. Er spiegelt ja nur.
Freunde, Ihr habt Recht. Wir können gar nicht endgültig genug, gar nicht äusserst genug sein. Wir können uns das Letzte gar nicht weit genug setzen. Unser aller Ziel, auch das Eure, ist zugestandenermassen eine Fiktion, die wir selbst uns schufen.
Benedetto Croce, der Neapolitaner und ein heutiger Humboldt, in seiner »Historiographie«: »Vergessen wir nie, dass erst wir selbst die Tatsachen schaffen!« Der Ton liegt auf dem schaffen.
Feststellungen allein, auch die profundesten, fördern weder Euch noch uns. Es kommt darauf an, dass wir unser Ziel, unsere Tatsache: unsere Schöpfung! bewusst wirklich vor uns hinsetzen.
Immer müssen wir glauben – und je deutlicher alles um uns sich neigt – immer sicherer, dass nichts uns helfen wird, wenn nicht eine ungeheure Umgrabung des Bewusstseinszustandes des Menschen vorhergeht. Diese Änderung des Bewusstseinszustandes – die »Änderung der Welt« – aus dem Dumpfen ins Menschliche ist möglich. Also nötig.
Gestehen wir, noch lange nicht haben wir sie mit allen Mitteln vertreten. Zu dieser Änderung können wir nur aus einer ungeheuren, ganz absoluten Liebe kommen, die uns selbst überlegen ist. Jedes Wort, das wir sprechen, dürfte nur das belichtende Transparent einer wirklichen Handlung sein, und müsste eine brennende, doch unendlich selbstverständliche Güte tragen.
Statt dessen findet man nur das Brennen. Man trifft allein die Belichtungen an. Aber: rednerische, schriftstellerische, agitatorische Arbeit ist nichts, das für sich da sein dürfte. Politik der Politik wegen: hat uns bis hieher geführt. – Wir sagen die öffentlichen Worte. O törichte und erdenverfluchte Vornehmheit des Denkers! Wir, die wollen, denken, veröffentlichen: Wir haben das Wollen, Denken, Veröffentlichen den Routiniers, den Dilettanten, den Lumpen überlassen. Wir waren feige. Wir waren fahrlässig. Untätig. Lieblos. Vornehm. Jene wurden verstanden. Wir nicht. Wir haben das gewollt. Diese Clubmen-Feinheit war niedrig von uns. Wenn es eine Sünde gibt – und es gibt sie, – so haben wir sie begangen. Wir haben zu Menschen gesprochen, wir haben mit der Schaufel in der Hand am Weinberg ihres Bewusstseins graben wollen: in einem unerhört eingewickelten Denk-Chiffernsystem, in einer Philosophengrammatik, die nur Universitätskathedern verständlich ist; in einem Signalfeuer, das voraussetzte, der Empfänger habe seinen eigenen Privatleuchtturm und sei eingestellt auf das Alphabet dieser Raketensprache.
Aber man denke, welche unermessliche Güte dazu gehört: verständlich zu sein, immer wieder geduldig von vorn anzufangen, bis ans Ende lesbar – das heisst doch: menschlich! – zu bleiben.
Also? Als Aufrufer – Ausrufer sein! Welche Güte, welches Entströmen der mächtigen Liebe zum unbekannten Andern kann aus dem Leitartikel kommen.
Man denke daran, und man wird uns mit Recht verwerfen.
Wir dürfen uns nicht wundern, wenn uns eines Tages der Journalist beschämt. Wenn einer kommt, menschlicher als wir alle, entschiedener, auf gefährlicherem Posten und mit tieferer Gefährdung seiner Umwelt, mutiger als wir, und darum wirksamer für Anständiges. –
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In Kritiken, Briefen, Äusserungen vernimmt man stets nur: Die Veröffentlichung ist schön – ist nicht schön. Ist tief – ist flach. Ist realistisch – ist mystisch. Ist harmlos – ist gefährlich. Aber alle diese Urteile sind nur dumpfes Gerede. Würde jemand eine wirkliche Kritik üben wollen, so müsste sie, unter den vielen möglichen Anleitungen, mindestens so aussehen: »Wenn Sie es ernst meinen, dann gehen Sie zu diesen und jenen Erben Treitschkes und reden Sie ihnen zu. Allein die Tatsache Ihres Erscheinens wird die höchste Verblüffung hervorrufen, und Sie haben schon halb gesiegt. Aber nur halb. Wichtig ist, dass Sie stets bewusst sind, der Teil zu sein, welcher die grössere innere Sicherheit hat, und die Gerechtigkeit auf seiner Seite. Nur nie sich durch die wohlstudierte Freundlichkeit des Anderen gewinnen lassen; nie ausgleiten in Anerkennung des angeblichen Auch-Standpunkts des Andern; nie in Mondänität verfallen, wie die Carriere-Sozialisten! Auch nie irgendwelchen spezialistisch sicher hingeschnurrten Antworten ein vermeintlich »höhnisches Schweigen« (das nie wirkt!) entgegensetzen, was nur intrigante Damen tun dürfen, die man im Hauptzimmer abfertigt, und die auf der Hintertreppe Gift spritzen. Vielmehr, wenn Sie den Leuten gegenüberstehen, seien Sie sicher, dass Sie ein neuer, heutiger Typus sind, noch unbedingter, geladener noch mit gutem und bösem Zeitenablauf, noch wissend hingerissener als es ehemals die Urchristen waren. Dass Sie allen Gefahren entgegengehen. Und dass Sie nur eintreten dürfen mit der höchsten Besinnung auf Ihre geistige Berufung. Tun Sie alles, was physisch auf die Menschen wirkt. Reden Sie laut und leise, taktvoll und taktlos. Singen Sie, beten Sie, rutschen Sie auf den Knien durchs Zimmer. Nur zeigen Sie, dass Sie die Person von der Sache nicht trennen!«
Was hat denn Fronde überhaupt für einen Sinn, wenn nicht den, die Menschen zu stellen! Sie zu erinnern, dass sie mindestens so anständige Wesen sind, wie wir selbst. Und dass nur ihre, der anständigen Wesen, Zahl grösser sei als die unsrige. Und dass sie preiswürdiger seien als wir, denn sie wurden einfach durch uns daran erinnert, dass sie geistige Wesen, Söhne Gottes seien. Wir aber mussten uns selbst erinnern.
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Es gibt, seit Herrschaftsfragen existieren, zwei Ströme des Wollens: Den freiheitlichen, der sich meistens von einer positiven Naturvorstellung tragen lässt, und den konservativen, der fast immer ein göttliches Recht zu Hilfe nimmt. Zuweilen dreht das Verhältnis auch um, wie in neuerer Zeit. Es ergibt sich der immerhin ungewohnte Zustand: Wir Freiheitsmenschen der Fronde berufen uns heute so von Grund aus auf ein göttliches Recht, dass wir als Mittler zwischen uns und Gott nicht einmal die Natur mehr zulassen können. Dagegen die konservativen Elemente unter den Denkern sind so entsetzt über unsere Naturferne, dass sie uns sogar mit spinozistischen Mitteln angreifen. (Ein merkwürdiges Überskreuz-Verhältnis, das nur erweist, wie sehr es dem konservativen Geist lediglich aufs Bewahren eines irgendwann eingebürgerten Denkinhalts ankommt, auch wenn der einmal selbst revolutionär wirkte.)
Missverständnisse sind grober Unfug. Es gibt keine Missverständnisse.
Immer noch kann man sich nicht darüber beruhigen, dass wir der Kunst ihr Primat nahmen. Muss es wiederholt werden? Kunst ist ein Ausdrucksmittel. Es kommt darauf an, was ausgedrückt wird. Müssen Beispiele genannt werden, dass nur Inhalt: Dienst an der Sache, gilt? Dass – übertragen auf unsere, völlig andere und neue Welt – nur der politisch-religiöse Homer, nur der politisch-religiöse Dante bleibt! Dass nur die Kirchenmusik, die wahrhaft dienende, existiert. Dass uns der Zeitgenosse der vorletzten Generation, etwa Richard Strauss, ebenso fernsteht wie sein Cousin Paul Lincke! Nur die grossen Dienenden können Führer sein! Dass uns die ausserordentliche aber indirekte Malerei Manets anödet, aber dass ein neuer Pisaner Maler vom »Triumph des Todes« unser Mann wäre – allein er würde zum Triumph ganz anderer Zustände als des Todes führen. Wie erst, wenn die grossen Diener in Musik, die Palaestrina, Heinrich Schütz, Bach, wenn sie Heutige wären, neu und erstmalig, und, in unserer Zunge, uns leiteten mit zu neu erstandenem Leben aus dem Geiste auf Erden. Wenn sie uns heute sagten, wie jene Musiker den Ihren: so sollt Ihr Euer Fühlen lenken!
Muss man immer wieder zeigen, dass jene Beispiele unserer Gegner, die hohlköpfig gegen uns darlegen sollen, »Gesinnung allein sei nichts, [angeblich], wenn die künstlerische Fähigkeit mangle«, – dass jene Beispiele falsch sind! Weil Gesinnung sich nie am Unvollkommenen nachweisen lässt, sondern stets nur da, wo sie bis zu Ende spricht.
Man muss es immer wieder zeigen. Und doch ist es nicht sehr wichtig. Wenn wir immer wieder rufen müssen: »Kunst an sich ist nichts. Der Inhalt ist alles!« so bewiese das nur, dass unsere Inhalte dürftig sind.
Wären sie es nicht, dann wäre die Diskrepanz nicht möglich. Dann würde der Wert, das Göttliche, Geistige, Heilige (was eben ja man allein »Inhalt« nennen kann!) schon längst das dienende Ausdrucksmittel, seine bloss variationale Anwendung, deutlich bestimmt haben. Ein ganz selbstverständlicher Vorgang würde das sein. – Aber so musste man erst noch laut rufen. Wonach eigentlich? Nach Herrschaft der Geistigen – oder, nur boshaft, nach Machtlosigkeit der Dienenden?
Indes, wie blind waren unsere Gegner, als sie nicht sahen, dass wir nur schamhaft verschleiert sprachen. Sei es nun enthüllt: Wir, wir gaben der Kunst – indem wir sie aus dem angemassten Inhaltswert vertrieben, – erst wieder den Inhalt. Wir gaben ihr, deren Existenzberechtigung wir verneinten, erst wieder neue Existenzmöglichkeit, neue Geburt, neues Sein, neuen Quell, neue Aufgaben. Wir befreiten sie von der Wiederholung, diesem Totgebären, und führten sie zur Schöpfung. Und frage man einen grossen Dichter, einen bedeutenden Musiker, sogar einen Maler von Zwang – sie werden das blosse Tun um der ruhenden Seligkeit des Tuns willen als die sinnlose Behauptung ärmlich leerer Nachahmer erkennen, die überernährte Selbstbetätigungssucht saturierter Erben, wuchernd an übernommenem Kapital. Den wirklichen Schöpfern sind ihre Künste nur Verständigungszeichen. Doch nicht das Zeichen, selbst nicht die Verständigung ist wichtig. Wichtig ist, worüber man sich verständigt.
Wir sind gegen die Musik – für die Erweckung zur Gemeinschaft.
Wir sind gegen das Gedicht – für die Aufrufung zur Liebe.
Wir sind gegen den Roman – für die Anleitung zum Leben.
Wir sind gegen das Drama – für die Anleitung zum Handeln.
Wir sind gegen das Bild – für das Vorbild. So weit die kommenden Künstler auch von uns entfernt sein werden, dennoch werden sie nichts ohne uns sein. Sie werden nicht aus eigener Absicht der Person sein können, sondern alles nur aus Inhalt. Und sind sie nur einigermassen Mensch, dann werden sie auch nicht Künstler sein, sondern Mitteiler, inspirierte Geber, Ausrufer der ewigsten Forderungen von Menschensinn. Auch das kleinste Vaudeville wird ohne uns nicht möglich sein!
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Wir sind Wollende und Fordernde. Propheten haben es gut bei uns, weil sie nur unsere Forderungen ins Kommende zu versetzen brauchen. Aber wir selbst sind keine Propheten; wir fänden es unlauter, selbst Prophet zu sein; denn Prophetie, das hiesse: unser Wollen als einen bestehenden Zustand zu betrachten. Wir fänden es unlauter, uns mit der Realität von morgen zu begnügen.
Wir sind keine Beschreiber.
Wir sind Rationalisten.
Wir sind die Menschen, welche verkünden, dass das Geschlecht dieser Erde ein geistiges Geschlecht ist. Dass wir Wesen aus göttlichem Strahl sind. Und dass wir uns danach zu richten haben. Wir verkünden, dass wir unsere Abkunft von Gott nicht vergessen dürfen. Und wenn wir sie vergessen sollten; selbst wenn uns die Erinnerung an unsere höhere Existenz schwände; auch wenn unsere Geistigkeit – das ist die Sprache der Wesen göttlicher Geburt – uns nur als eine Fiktion erschiene: Noch dann müssen wir die Würde des Geistwesens Mensch als letztes und erstes Ziel des Lebens vor uns setzen.
Das ist Rationalismus.
Zielsetzen ist Rationalismus.
Kein Ziel setzen ist: Sünde.
Man glaube uns doch, dass wir unsere Erdheit, unsere Tierheit, unsere Natürlichkeit ebensogut kennen wie unsere Gegner. Mussten wir nicht tausendmal den Weg durch unser Dasein zurücklegen, hin zu unserm Unbedingten?
Unsere Gegner fordern in lächerlicher Unwissenheit, dass wir bei unserm Dasein verweilen. Dass wir zufrieden seien. Darum so lächerlich, weil sie, die gegen das Fordern sind, unversehens, selbst fordern, nur unversehens.
Aber wir verstehen uns des Daseins und der Natur, des Bestehenden, des Gegebenen und Seienden besser, als die darin versinken. Denn wir brechen durch im unmittelbaren Aufstand unseres Wesens zum Geist.
Das Ziel selbst nur zu nennen ist schon ein ungeheurer Griff in die Welt.
Allein nie dürfen wir die furchtbarste Mahnung in Vergessenheit fallen lassen: Das Dasein selbst existiert nicht; das Bestehende existiert nicht. Wir machen alles erst! – – – Unsere stärkste Forderung, die der Rationalisten – und welche uns über das Niveau blosser erbärmlicher Rechner erhebt – ist die Forderung: Abkürzung der Qual. Ausschaltung des Bestehenden, das sich an uns breit macht, das nur durch uns geschaffen wurde, durch unsere naive Zubilligung seiner Existenz. Es ist grausigstes Hindernis, In-die-Länge-Zerrung der Leiden, Damm vor unserem Vordringen zum Menschentum. Wir fordern Ausschaltung!
Abschaffung.
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Wir brauchen die Änderung der Welt. Aber ohne eine Änderung unseres Bewusstseinszustandes aus dem geduldig Dumpfen ins menschenartig Helle wird uns eine einfache formelle Umschiebung der Tatsachen allein nichts helfen. Die Arbeit an der Änderung unseres Bewusstseinsstandes, diese Gigantenarbeit: uns dem Leben im Urzellenstand zu entreissen, und das Leben im Geiste, das Leben zu Gott uns vorzusetzen; das Leben nicht im Relativen, welches uns fesselt, sondern zum Absoluten, welches uns frei macht – – diese erbittertste aller Tiefbohrungen diese Umwühlung von Ewigkeit her ist
Das schöpferische Leben besteht nicht von allein. Wir müssen es erst schaffen.
Rufen wir für uns einen Bruder auf, den unsere Brüder hier über zwei Jahrtausende grüssen werden. Herodot. Er war für uns. Er war für die Menschen da, er war doch wohl, wie wir, Weltverbesserer, Rationalist. Ein Wort Herodots, das in unserm Mund erst Leben und Wirksamkeit haben wird:
»Lasst nichts unversucht. Denn es geschieht nichts von selbst, sondern der Mensch erlangt alles erst durch seine Unternehmungen!«
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Die Gegner
Nun, da wir alle so viel durchgemacht haben, darf da noch einer sein, der Menschentum für eine Phrase hielte?
Nun, da Millionen Zufriedener wissen, wie Hunger ist, darf da noch einer sein, der nicht jedes Mittel zur ewigen Beseitigung des Hungers guthiesse?
Geist ist die Äusserungsform Gottes gegenüber dem Menschen, und die darum eine Gemeinsamkeit für alle Menschen bildet. Geistige sind die Menschen, welche durch diese Gemeinsamkeit vor dem Absoluten sich in einer besonders grossen Verantwortlichkeit gegenüber den anderen Menschen verpflichtet fühlen. (Im Gegensatz zu allen modernen Mystikern, die behaupten, ein Privatabkommen mit Gott zu haben, das sie aller handelnden Verantwortung überhebt.)
Man hat gegen die Geistigen alles unternommen. Man hat uns bekämpft, man hat uns denunziert, man hat uns zu sehr – zu wenig – radikal, demokratisch, sozialistisch genannt. Man hat uns Verräter geheissen, man hat uns ignoriert, man hat uns gelesen, verlacht, aufgenommen, benutzt. Nur nicht verwunden.
Aber wie kläglich sind unsere Gegner. Diese Blumentöpfchen von Denkern! Da ist das unsichere Schäfchen, das alles mitmeckert, den Frieden und den Krieg, Volkstum und Dynastie; das sich nie entscheiden kann trotz des historischen Kotelettebärtchens, das an einen alten tapfer unbedingten süddeutschen Landesgenossen demokratisch erinnern soll. Es rettet sich stets in die List, aus purer Angst, vors Gericht des Geistes geladen zu werden und seine Ausflucht ist, wohlwollend die Geistigen längst dagewesen zu finden. Aber jener ahnt gar nicht, wie dagewesen wir erst ein Jahrhundert später sein werden! – Heran springt der übliche wilde Kriegsindianer, der dem Staat empfiehlt, uns zu füsilieren. – Aufzug, wankend, des umständlichen Stammlers, der zwecks Empfehlung seiner eigenen, heiser vorsichtigen Postillen, undeutlich Erbittertes gegen uns hustet. – Mit forschem Zinnsoldatenschritt marschiert, einer für sich, der Kulturkonservative, von niemandem als seinem eigenen Entschluss zur politischen Repräsentation beauftragt, trocken, intelligent, und vielleicht nur durch massiv kapitalistische Umgebung bei allzu dicker Naivität geblieben. Er findet es gewöhnlich unerhört, die blosse Konstatierung dessen was ist, zu verlassen. Eine Diskussion, die keine ist, denn unser Ziel ist ja gerade die strömende, zeugende Fruchtbarkeit, gegenüber einer Konstatierung des Seienden – welche uns bloss Nehmen, Wucher und Selbstgenuss bedeutete.
Schiefe Köpfe, gute Herzen, achtbare Leute. Sie sind entrüstet. Und selbst wenn sie uns in der Hitze minutenweise den Tod wünschen, so kann man sich immer noch mit ihnen freundlich hinsetzen und ihnen zeigen, wie fahrlässig sie handeln. Wir wissen den Moment, wo sie zusammenbrechen werden und mit stumpfer Miene einsehen, wie sie persönlich fast verbrecherisch gehandelt hätten. Oder seht unseren Gegner, den Erlebnisphilosophen; er denkt begeistert alles mit, wie es auf ihn zustösst, den Krieg, den Frieden, den Waffenstillstand; und er wird sein Lebenswerk schaffen als eine »Philosophie der Conjunctur«, tief ehrlich, immer von neuem aus der Bahn geworfen. Er hält es für gut, das Gegebene – das jedesmal ihm blindlings ohne sein Zutun Gegebene – zu bejahen, und aus dem einen Moment, der eben herrscht, die ganze Welt zu entdecken. Er hält das Erlebnis nicht für die Lehre des Lebens, nicht für den Weg, den wir durchs Material hindurch zum Unbedingten nehmen müssen, sondern für sein Ziel. Er wäre sogar bereit, uns das Erlebnis zu verschaffen – in der Meinung, wir wüssten nichts davon. Die alte schlechte Voraussicht der Nur-Methoden-Menschen, dem andern das Erlebnis verschaffen zu wollen: sie verwirklicht sich im besten Fall als Intrige! – Und herzu lügen sich die letzten Widersacher; der unschöpferische Schreiber, der Phantasielose, der Talentarme; das grobe ungefüge Handgelenk; der ungeistig Geistgelähmte. Der literarische Couleurfriseur im Renommier-Schmiss-Stil. Der gebildete Reisebrief-Lakai der Zeitungen. Gasmaske her vor den Feuilletonrülpsern des vollgeschlemmten Kajütenbauches aus finnigem Ferkelchenmaul. Die religiösen Reiseredner fürs Hapag-Dessert. Die Antithetiker des Lebens: Zionisten aus Judenhass. Imperalisten aus barbarossaschem Humpenrittertum. Der ärmliche Passagierpublizist, der die Erde aufgeteilt hat nach Novellenmotiven, Romanstoffen, Journalbriefen, und zähneknirschend sie zeilenmessend absuchen muss, um amtlich nachweisbar überall seinen Bleistift aufgepflanzt zu haben. Die Exoten-Wippchen der nördlichen und südlichen Halbkugel. Und zuletzt die erlogenen Freunde, die mitgehen nicht für die Sache, nicht für den Geist als Unbedingte; sondern um, gut berechnet, in der Gesellschaft der Zukunft gesehen zu werden; um der Gegenwart sich als Vermittlerpöstchen zu empfehlen!
Droschkenkutscher her, Strassenreiniger her, Steinsetzer her, Dienstmädchen her, Waschweiber her; Mob, Unterproletariat, Verzweifelte, Unorganisierte her, die nichts zu verlieren haben; Besitzlose, ganz Besitzlose her! Menschen her! Her zu uns, wir sind für Euch da! Die Zeit geht dem Ende entgegen. Einmal wird der himmlische Horizont wieder an die Erde stossen, und der Umkreis unserer Augen wird wieder den Glauben sehen, das Wissen von göttlichen Werten. Dann werden die, welche in Europa ihren Mund auch nur ein einziges Mal haben das Unrecht sprechen lassen, für immer in der Jauchegrube des Vergessens ersticken. Aber sie sind keine Gegner. Nur Mitläufer der vergangenen Zeit; Mitwürmer der Verwesung; Mitgerüche der Auflösung.
Wo ist unser Gegner, der Gegner? Ich vermisse den Teufel. Warum ist er nicht da? Der Inbegriff des Elementaren, zustossend Erlebnishaften, der geschleuderten Seele, des Isoliertseins! Der Inbegriff der Welt – gegen den Geist! Der Inbegriff des Einzeltums gegen die hohen, südlich lichtbauenden Bogen des Allgemeinen. Wo blieb der Teufel?
Aber der Teufel ist nicht mehr da. Er zerfloss, als wir ihn erkannten, als wir ihn benennen konnten; als wir aussprachen, dass nicht der Sturm, das Getriebene, das dämonische Element, das Wogen der Seele: dass nicht er menschenhaft sei, sondern der Geist. In unserm Kampf mit dem Engel wird zur selben Zeit auch gewirkt die Beschwörung des Teufels. In unserer neuen Zeit des Absoluten ist der Herr des Relativen nicht mehr Feind. Und von ihm blieben nur dünne, erstarrende Blutstropfen zurück: die Tänzer, Sänger, Schauspieler; die Künstler, die Reizbetäuber. Unwissend ihrer selbst, im Absterben. Der matte Bleichblut-Tod einer zusammengefallenen Luxuswelt.
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Ihr, die Ihr uns geistig Freund seid, Ihr könnt den Einzelnen nicht trennen von den wenigen Anständigen des heutigen Tages, von Kameraden, mit denen man sich nicht zufällig zusammenfand. Und wenn es mit rechten Dingen zugeht, dann werden wir Genossen die mitlaufenden Amtskandidaten überreden, das Amt fahren zu lassen, und sich um ihre ewige Seligkeit zu kümmern, die da ist: ihre Haltung vor dem Auge der Ewigkeit. Wenn es aber mit unrechten Dingen zugeht, dann müssen wir versuchen, sie recht zu machen. – Herodot: »Lasst nichts unversucht!« – Und wenn sich herausstellt, dass jene bei unrechten Dingen verbleiben wollen, dass sie nur die Oberhand suchen, dass ihnen die Sache gleichgültig und nur der Streit wichtig ist; dass ihnen das Vergnügen künstlicher Schlussfolgerungen lieber ist als der Ruf der Menschlichkeit; dass sie nur blosse Themen behandeln (Schriftsteller), und nicht Handlungen vertreten; und dass sie auch nur über ihre Themen denken, schreiben, drucken, reden, ohne im geringsten ihren persönlichen Leib mit ihren Worten zu identifizieren ... Wenn also sich herausstellt, dass jene nur ruchlose Betrachter sind, anstatt Zeuger zu sein, – dann ist damit nur ein gravierender Beweis gegen uns selbst geliefert. Dann ist der Beweis geliefert, dass wir selbst nur zu vornehm, zu eitel, zu lau waren. Dass wir selbst nichts getan haben, um irgendeinen Menschen von der Würde des geistigen Lebens zu überzeugen. Dass wir nicht überzeugen, weil wir selbst kein Beispiel geben. Dass wir ohne persönliches Beispiel nicht Führer sein können. Und dass nur die Führer das Recht, die Fähigkeit und den Standpunkt zu einem Lebensurteil über andere haben (auch wenn sie darauf verzichten). – Ein Urteil, abgegeben aus Hochmut, ist gar nichts wert, es ändert nichts. Zwingend ist nur ein Urteil aus Liebe.
Die politischen Parteien haben für den Mann, der ihr Programmatiker ist, einen wilden Ausdruck von der Rennbahn: sie nennen ihn »Einpeitscher«. Es kommt aber zuerst nicht darauf an, Meinungen einzupeitschen, sondern sie zu vertreten. Es kommt zuerst darauf an, seine Meinung selbst zu sein. Es gibt nur den öffentlichen Menschen. Entweder wir sind öffentliche Menschen – oder wiederum wird in den hundert Jahren alles niedergestampft, niedergeschossen, niedergebrannt, was wie bisher nur gelernt hat, die Person von der Sache zu trennen. Entweder wir sind öffentliche Menschen – oder wiederum hundert Jahre bleibt das geistige Leben, die Sache – ohne die Person – nur ein Zungenschlag, ein Demutsspiel für alte Damen. Entweder wir sind öffentliche Menschen – oder wir bleiben Suppenesser, Schläfer, Vergnügungsreisende mit verschmitzten Denkreservaten, und schliesslich Gerippe, deren Existenz nie über eine, von Komplikationen begleitete Stoffwechseltätigkeit hinaus gegangen ist.
Glauben wir aber: es gibt schon öffentliche Menschen! Es gibt schon Führer. Also wird es auch in allen Ländern der Erde bald mehr geben. Jeder Mensch ist geschaffen, ein Führer zu sein. Jeder Mensch ist unersetzlich. Der öffentliche Mensch kennt die Unersetzlichkeit des Bruders. Der öffentliche Mensch führt uns zum Leben im Geiste. Aber Leben im Geist ist zuerst Leben auf der Erde, wirkliches Leben, Lebendigsein im Fleisch. Und nur wenn wir zuerst selig sind über die Existenz des Nebenmenschen, werden wir dem Nebenmenschen Führer sein.
Der Führer
Der Führer ist überall von dem grossen, bebenden Völkergeschöpf umgeben, das unaufhörlich seine Gestalt und seine Substanz ändert. Immer liegt es zitternd um ihn.
Er ist kein besonderer Mensch, er denkt einfach, er ist nicht merkwürdig und schön.
Er hat schon den faltigen Schauspielermund, er hat den kurzen wichtigen Schritt, der über viele Tribünen geht. Er weiss längst, wie er seinen Augen kommandieren kann, und er muss auf neue Register der Erregung sinnen wie der Akrobat auf neue Trapezsprünge. Er merkt bei allem, wie er der Mitmensch seiner Genossen ist, und er ist jede Sekunde darauf gefasst, dass aus der ungeheuren Menge, zu der er spricht: einst ein Bruder aufsteht, der noch zum ersten Male und unabgenutzt den Mund öffnet. Und der ihn zu einem Häuflein Asche verwandelt, weil in seiner Hand die wahren Blitze Gottes ruhen. Doch bis dieser Augenblick eintritt, wird er selbst, mit allen Mitteln, mit der abgenutzten Wahrheit, mit dagewesenen Blitzen und den grossen unermüdlichen Beteuerungen vom Wissen: seine Pflicht tun.
Er weiss sich eine kleine, Störungen unterworfene Blutsäule. Er kennt seine Kleinheit. Um ihn herum liegt die Ewigkeit. Um ihn, überall, steht die Gewissheit so sicher wie die Horizonte, die sein Auge überkreist in der Ferne. Um ihn, über ihn strömen die Saftstrahlen des Absoluten, sie schiessen in eine kristallene Glocke rund über den Erdball hinaus; fern und blass ziehend wie die durchscheinende Milchstrasse schwebt die unbedingte, göttliche Wahrheit um den Menschenball.
Der Führer weiss, wie fern und wiederholt er ist. Er will zur Ewigkeit. Er will, dass sein Schritt mit der Drehung der Erde gehe (der Schritt des Magiers). Er will, dass seine geballte Faust abgestorbene Planeten zu Himmelsstaub drückte. Er will, dass seine Augen, die den Blick der Menschen aufwärts blitzen, eine Strasse wahrhaft ins unbedingt Zukünftige bauen; er will, dass die Worte, die sein Mund als Fackeln auswirft, die zwar flammen aber nur aufs Geratewohl zünden, wahrhaft unabänderlich in die Welt gefallene Tatsachen seien.
Er will nichts anderes als die Ewigkeit. Aber er weiss, dass er ihr namenlos fern ist. Er weiss, dass die Menschen um ihn in einer grauenhaften Ungewissheit leben, und dass er sie nur aufrecht erhält, indem er ihnen von Zeit zu Zeit die Ewigkeit nennt. Aber er, was ist er denn? Ist er anders als jene? Auch er kann sich ja nur der Ewigkeit erinnern. Er kann sie nicht geben.
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Kein Mensch von uns allen will vollkommen allein auf der Erde sein. Niemand will der Einzige sein – und um sich, unter sich, neben sich die Kugel leer von Menschen. Wussten wir es je, dann gewiss heute, dass es keine Übervölkerung der Erde gibt. Die Freiheit, die jeder Mensch auf der Erde will, heisst keinem, dass es um ihn öde sei. Im Gegenteil. Mit ihr meint man die Kraft: inmitten der Menschen vollkommen den Raum lebendig zu schaffen, in den man geboren wurde. Dies heisst: seinen Platz ausfüllen. Freiheit ist kein Begriff, der mit Moden oder intellektuellen Zeitströmungen kommt und dann wieder alt und wertlos wird. Freiheit ist ein ewiges und absolutes Ziel. Dieses Ziel schliesst als etwas ganz Selbstverständliches das Wissen um die Unersetzlichkeit jedes einzelnen Menschenlebens ein. Nur der sinnlos teuflischste Bureauindustrialismus konnte zu der Entwertungsformel vergangener Jahre kommen: »Kein Mensch ist unersetzlich«. In Wahrheit ist keiner ersetzlich. Denn mit dem Tode jedes Menschen wird jedesmal von neuem eine ungeheure und unausgeschöpfte Möglichkeit zu fleischgewordener Liebe vernichtet. – Aber zur Freiheit, zur Fähigkeit seinen Platz als Bruder des Menschen auszufüllen, gehört das Wissen von der Einmaligkeit dieses Platzes. Wir müssen einmal ihn ganz und allseitig stark sehen; es bleibt uns nichts übrig, als aus allen unseren vorhandenen Kräften einen unsichtbaren Turm zu bauen, von dessen riesenhoher Spitze wir unsere eigene Bestimmung in der Welt schauen, als wäre sie der Liniengang einer kleinen, bewegten Schachfigur. Dies ist das Wunder, an das wir glauben. Es ist nichts anderes, als dass wir in aller unserer gesammelten Energie vor das Absolute treten wollen. In dem Moment, wo wir zu Gott gehen, sehen wir uns selbst.
Aber dieser Augenblick wird uns nicht geschenkt; wir müssen alles selbst tun. Unseren Weg zu Gott wollen wir in einem Nu zurücklegen. Doch die Fähigkeit dazu wäre selbst schon göttlich. Man misstraue den Mystikern, die ihre angebliche Einheit mit Gott bezeugten; sie waren entweder hingerissene Beschreiber von blossen Seelenzuständen, oder sie drückten sich aus Wortmangel falsch aus, oder sie irrten. Wir sind selbst nicht Gott, nicht absolut, sondern Geschöpfe der Absoluten. Wir sind einfach Menschen. Wir sind nicht selbst Geist, sondern wir sind geistige Wesen.
Zwischen dem Absoluten und dem Menschen gibt es Stufen, und sie können dem Menschen helfen, zum Bewusstsein des Absoluten zu kommen. Doch nur, wenn er stets nicht sie erreichen will, sondern das Absolute selbst. Der Mensch muss auch mit der Hilfe kämpfen, die jene Zwischenexistenz ihm gewährt. Der Kampf mit dem Engel ist allein der Weg zu Gott.
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Der Führer befremdet uns immer von neuem ein wenig. Vor uns wird er nie eine gewisse Lächerlichkeit los. Gleich darauf entzückt er uns, weil er von Dingen sprach, die die unsrigen sind. Doch dann bemerken wir, dass die Wege, auf denen er unser Bruder ist, uns lange selbstverständlich sind. Neuer Grund, ihn gering zu schätzen, und wir verurteilen uns, da wir bereits die Nennung eines uns werten Ideenkreises als Teilung des gleichen Interesses nahmen. Wir achten den Führer nicht, weil er nicht unser Leben teilt, und dennoch Führer ist.
Aber wir sind im Irrtum. Es ist der Irrtum der Vornehmheit. Unsere Vornehmheit – die Bequemlichkeit und Feigheit ist – hat das Leben in blosse Themen aufgeteilt. Der Führer befremdet uns, weil ihm nichts Thema ist, sondern alles Idee. Er denkt nicht, wie wir fahrlässig Zurückgezogenen, über eine Idee nach, sondern er denkt in einer Idee. Er scheint uns beschränkt zu sein, doch seine Begrenzung lässt in Wahrheit nur diejenigen unserer Lebensangelegenheiten zu sich, die ihm zu wirklichen Lebensleitern werden. Wir erwarten vergeblich, dass er unsere bequeme Allseitigkeit zum Ausgang des Führertums nehme. Wir erwarten dies darum, weil wir selbst nichts für unsere Angelegenheiten tun, sondern sie nur betrachten wollen. Unsere Vornehmheit kommt daher, dass wir die Tat für uns immer einem Anderen zuschieben wollen. Wir erwarten, dass der Führer unsere Sache tue, die wir selbst noch nicht einmal entschieden haben. Wir schätzen ihn gering, weil ihm unsere Revolten in der Tasche – und die uns selbst nur Ausflüchte sind – nicht am Herzen liegen. Wir wünschen von ihm, dass er unsere Vorstellungen in greifbare Wirklichkeit setze, jetzt gleich, bis heut Mitternacht; unsere Vorstellungen, zu deren Verwirklichung wir selbst keinen Schritt getan haben. Wir wünschen von ihm das »Gleich jetzt!«, und uns selbst gewähren wir ewigen Aufschub.
Dabei vergessen wir: Er ist der Führer! Er führt auch uns.
Aber wohin führt der Führer? Er führt zum Geist. Führer sein, heisst, zum Geist führen. Allein zum Geist. Wer nicht zum Geist führt, kann vielleicht ein begabter Vortänzer sein, aber nie ein Führer.
Er führt uns zum Geist auf allen Wegen; die des Geistes sind: Der Umkreis, den wir Politik nennen, ist seine Bahn, die Ermöglichung unserer menschlichen Gemeinschaft.
Der Geist ist das Palladium der Gemeinschaft.
Die Materie ist das Abzeichen der Isolation.
Man sagt, die Unterscheidung: hier Geist – dort Materie – – sei eine nur schulmässige Bequemlichkeit. Sehr gut! Jene Scheidung ist auch falsch, solange sie nur deskriptiv gemeint ist und behaupten will, sie stelle vollzogene Tatsachen dar. Aber sie ist herrlich: sie ist schöpferisch, wenn sie eine Forderung ist. Nur mit dieser Forderung, allein durch sie, leben wir: Seid geistige Wesen! Stammt von Gott ab!
Wenn unser Leib jetzt am Leben bleibt, so haben wir die Gelegenheit, gerade noch Blicke aus den schmalen Luken eines schauerlich versinkenden Zeitalters hinaus in eine neue Zeit zu tun. Aus dem Zeitalter der sinnlosen Welt – um es genau zu sagen, wie denn eigentlich die »Materie« aussieht: sie sieht aus wie die Welt, das Sein, das Gegebene, das für uns ewig Gewesene.
Die Welt liegt da vor uns, um von uns geknetet, geformt, gestaltet zu werden, stets von neuem, nach göttlichem Plan, dessen Zeiger wir sind.
Aber wie menschvergessen, wie unsprungs- und gottvergessen ist es, sich von der Welt, der Materie, kneten, formen, gestalten zu lassen. Als sei man selbst Untermaterie. Die Elemente drängen in uns hinein, jene Macht, die man dämonisch nennt. Nur der Ungeistige wird vom Dämonischen übermannt. Alles, was an uns erlebt, das Seelische, das Aussergeistige an uns, ist ungöttlich. O sinnlosestes, chaotisch blutendes Zeitalter, das nun zusammenbricht, Zeitalter des Erlebens, der Seele, des Elementenspieles! Es geschah das grosse Sichpassivmachen. Sichaufteilen als Objekt für Gelegenheiten. Jedes fremde Objekt zwischen sich und Gott treten lassen, ohne dazu etwas zu tun. Das Ereignis – den Accident – den Rohstoff des Lebens, die Natur, wie einen Billardball an sich stossen lassen, und im Anprall erst das Ich vermuten. Zeitalter des ewigen Nehmens! Denn Erlebnis – in rückschlagender Rache ausgesetzt sein dem dämonisch Elementaren – ist: Nehmen. Während doch unter Leben die Liebe ist, und wir zu geben haben, geben, geben, geben, und um so mehr, je geringer die Zahl der Menschen auf der Erde wird, und wir einsamer werden. Das vergehende Zeitalter versuchte, das blosse Bild des Lebens zu geniessen, ohne es selbst zu schaffen. Aber wir haben zu leben, um mit unserem Leben der Welt geben zu können.
Grausamer Millionentod ist die Gipfelung des elementarischen Zeitalters. Heraus aus dem Elementaren, aus der Seele, aus der Vereinzelung! Heraus aus dem Treibenlassen, aus dem Besitz des Gewesenen, aus dem Erlebnis! Seid göttliche Wesen. Geht in die neue Zeit des Geistes. Seid Führer zum Geist.
Wir haben die Erbsünde, sie heisst heute für uns: Isolation. Sie ist Insichsein, Einzelner sein, Seele sein. Nehmender sein.
Wir haben aber auch die Erbliebe. Und die ist: Geben; Schöpfer sein; Genosse, Mitmensch, Kamerad, Bruder sein. Die Erbliebe heisst: Gemeinschaft!
Nichts wird von unserm Kampf mit dem Engel uns erspart. Keine Mythologie steht zu unserer Hilfe mehr da. Zwischen uns und Gott hat nichts Gewesenes mehr Platz.
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Der Mensch machte es sich leicht. Er formte eine Wachspuppe nach seinem Bilde, beweglich, lebensgross mit Vollbart, langem Haar und Schlapphut. Sie steht auf ihrem Wachsfigurenpostament im Fürstensaal des Panoptikums. Der Mensch dreht das Uhrwerk auf, sie hebt mit knackendem Ruck eine Trompete krächzend an den starren Mund, darnach stösst sie dünne, rostige Laute aus, die vorbereiteten Ohren ähnlich klingen wie »Revolution, Revolution!« Eine ungeheure Wachsfigurengebärde schüttelt den Mantel über der Holzschulter zurecht. – Der Mensch steht befriedigt vor seinem Werk. Noch ist er nicht totgeschossen; so geht er höchst angeregt schlafen.
Der Mensch schläft. Kein Führer ist für ihn da, denn er selbst wollte nicht Führer sein. Unterdessen stehen die Führer der Dämonen grinsend bereit, gigantische Metzgergesellen, geschürzten Arms, mächtig mit erdachsengrossen Maschinengewehren, die Fleischfetzen und Totenklumpen bis zu den Sternen hochspritzen werden.
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Die Dinge sind so einfach. Dennoch muss man um sie kämpfen. Was wir wollen, ist gar nicht neu. Es ist nur ewig.
Der Führer will immer wieder alles in der Welt plötzlich, mit einem Ruck und auf einmal ändern. Er sieht, dass dies nicht möglich ist. Aber er sieht auch, dass der sichere Glaube, trotzdem sei es möglich, nötig ist, um auch nur einen kleinen Schritt zurückzulegen. Der Kampf mit dem Engel besteht darin: Nicht zu resignieren.
Resignation ist Vornehmheit.
Nicht vornehm sein!
Immer wieder steht der einfache Mann – auf den wir herabsehen – als Führer da. Immer wieder sind wir die, welche vom Volksmann geführt werden, da wir nicht selber führen!
Der einfache Mann, der Führer, ist weder talentlos, wie wir glauben mögen; noch ungenial, wie wir ihn zwecks verbitterter Karikatur einschätzen; noch ist er absonderlich zufällig. Sein Talent, seine Gabe, sein Genius, seine Notwendigkeit, ist: der vollkommene Mut, sich ganz hinzugeben, nicht Eigener im Besitz einer Seele zu sein; ganz erfüllt noch im letzten Blutstropfen Vertreter des Geistes zu sein. Auch auf rückständig kindlichen Irrtümern noch der gerechte Führer zu Geistigem zu sein. Nichts übrig zu lassen von sich für einen anderen als den öffentlichen Menschen. Kein Privatleben, keine Privatansichten, Privatfreunde, Privatfreuden mehr. Gleichviel was er sonst hätte sein können und wie in einem anderen Leben seine Gemütseinstellung zu uns gewesen wäre (eine Perspektive der Unwirklichkeit, nach der wir ihn fälschlich beurteilen); gleichviel: Er ist der öffentliche Mensch, und das ist er ganz. Dies ist gesehen vom obersten Turm der Menschenschicksale, seine göttliche Stellung in der Welt. Er erfährt oft erst sehr spät, in der höchsten Krisis der Menschheit, dass er göttliche Gesetze ausführt. Er kämpft mit dem Engel, um seine Besitzlosigkeit zu wahren, um nicht abzufallen zu dem Parasitenluxus des Augurentums; um trotz seines Hindurchschlüpfens durch eine neuere und vielverbrannte Haut von Menschenkenntnis, dennoch mit der Unmittelbarkeit des scheinbar Naiven auf das Geistige und Absolute hinzugehen.
Wir sehen nicht, wie er kämpft. Seine Robustheit erschreckt uns, und seinen göttlichen Platz in der Welt erkennen wir erst, wenn er unsere eigenen Unterlassungen vertritt und mit auf sich nimmt. Wenn er laut unsere Sache führt, die Sache des Geistes.
Doch unser eigener Kampf mit dem Engel liegt auf der umgekehrten Bahn. Wir müssen herabsteigen. Jeder Schritt, den wir aus unserer erhaben skeptisch überwissenden Isolation herab in die heilige Vulgarität tun, vollzieht einen Teil unserer Aufgabe in der Welt. Heraus aus unserer Seele! Hinab in die Allgemeinheit! Wir ringen mit dem Engel, weil wir ihn uns einverleiben wollen. – Wir wollen selbst der Engel sein – und können uns nicht entscheiden, ob aus Hoheit oder Trägheit. Aber wir sind, im schönsten Fall, nur einfache Menschen. Wir können nicht aus uns heraus Gesetze diktieren. Uns diktiert sie der Geist, und wir sprechen sie nur gesetzgeberisch aus, in Not, weil kein anderer da ist, der es zeugnishaft und bekennend täte. Aber um Gesetze aussprechen zu können, um führen zu dürfen, müssen wir sie vom Munde unseres Lebensengels ablesen. Ablesen die Gesetze vom Munde des Völkergeschöpfes. Nichts mehr darf an uns bleiben von Überlegenheit. Nur Heiligkeit darf noch bei uns sein; aber mehr noch ist der Weg durch die Gosse. Erst wenn wir freiwillig vor die tiefste Gewöhnlichkeit angekommen sind, erst dann sind wir befugt, Pläne zum geistigen Leben zu zeichnen: Führer zu sein. Zum Engel sprechen: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!« ist immer wieder der Akt höchster, hoffnungslosester Verzweiflung, und dennoch muss es immer wieder unternommen werden. Immer ziehen wir im Kampfe mit dem Engel den kürzeren. Der Engel fährt davon, wir behalten blaue Flecke. Aber erst die Wundflecke aus dem Kampfe, erst die ganze Haut ein einziges grosses brennendes Wundmal des Kampfes; erst die ganze Notwendigkeit einer Erneuerung der Haut: Erst da ist die Segnung des Engels.
Erkennen wir: Nicht die einzelne, nur stets unerfüllte Wunschsekunde, sondern der ganze, vielzeitige Umfang und die Gestalt des langen Kampfes erst ist in Wahrheit unser Führertum!
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Nicht eher werden wir unsere neue Erde bauen, als zwischen Gott und uns kein Ding mehr liegt, an dem wir uns zurückhalten können. Wir müssen ganz besitzlos sein. Jeden Besitz müssen wir erkannt haben als unsere Flucht vor dem Menschentum. Aber die letzte Barrikade gegen das Leben im Geiste, gegen die unbedingte Freiheit zu Gott, gegen unseren Weg zum Absoluten: ist die Seele.
Das Denken, der Wille, die Verwirklichung sind untrennbar voneinander. Aber schon das Denken, das nur mit unserem Leibe sich völlig decken muss, um uns zu geistigen Wesen zu machen, errichtet uns Hindernisse auf dem Wege zum Geist. Unsere Feigheit vor dem Verwirklichenmüssen rettet sich zu den niederen Anwendungsarten des Denkens. Die niederen Anwendungsarten des Denkens, da wo es aus seinem Leben als Aktivität des Geistes herabgleitet in ungeistige Surrogatprozesse, sind, auf der Seite der Abstraktion: der Formalismus; auf der Seite des Figürlichen: das Bild, die Vorstellung. Mit dem Formalismus und mit der Vorstellung lassen wir künstlich Naturgegebenes schaffen. Wir stellen das schon Vorhandene noch einmal dar; so erzielt unsere Angst vor der Verwirklichung, dass durch den Mangel an Verwirklichungsursprung die isolierende Schranke – Machtgefühl, Verteidigung des Besitzes – nur noch grösser wird. Aber diese Zwischenfälle können nicht unsere stetig sich erneuende Besinnung auf das geistige Schöpfertum des Denkens, auf seine Menschenformung, aufhalten. Denn so erschöpflich und endlich die Natur ist, so unerschöpflich ist das Denken. Wäre auch die Natur – wie pantheistische Begeisterung besinnungslos behauptet – unerschöpflich, so würde sie der Verwirklichung des Denkens nicht ihre gewöhnlichen, heftig einmaligen Hindernisse bieten, sondern gradweis infinitesimale. Aber das geschieht nicht. Sondern zwischen dem vorangehenden üblichen Auftreten von Hindernissen und ihrem ebenso späteren Nachfolgen tritt jener heilig erhabene Fall auf, in dem die Verwirklichung des Denkens hindernislos ausgeübt wird. Man nennt diesen Fall der hindernislosen Verwirklichung: den Glücksfall. (Die Tatsache des Glücksfalles erweist die Erschöpflichkeit der Natur. Hier sei gleich bemerkt, warum kein Pantheismus uns gestattet ist, selbst im – nicht zutreffenden! – Fall, die Natur wäre hochwertig schöpferisch. Jede Gleichsetzung Gottes mit der Natur und der Welt; jede Repräsentation Gottes durch einen kosmischen Prozess; jeder solche Determinismus: ist ein Beiseiteschieben des Ethischen.) Aber der Glücksfall ist kein Zufall. Vielmehr, er ist das Wunder. Und jedesmal, wenn der Mensch das Denken ganz mit sich identifiziert, wenn das Geistige so um ihn Sphäre bildet, dass die Natur auf ihre Endlichkeit sich zusammenziehen muss, dann perlen um ihn – unglaubhaft für die bloss elementar naturabhängigen Zuschauer, aber glaubhaft selbstverständlich für die Mithandelnden – die Wunder auf.
Die Welt könnte voller Wunder sein. Aber die Seele hält uns von ihnen zurück. Nicht das Geistige des Menschen, nicht sein wollendes Denken in Wirkung wartet auf das Wunder; das Denken tut das Wunder. Sondern die Seele wartet auf das Wunder. Die Seele wartet auf das Wunder, weil sie von ihm eine Bereicherung erhofft. Bereicherung des Besitzstandes. Die Seele ist vom Denken abgesondert, geflissentlich. Sie ist nicht da, um zu verwirklichen; sogar, sie will nicht verwirklichen. Sie will in sich sein. Die Seele ist ein Zufluchtsort, eine geheime Ecke. Ein Schatz. Ein Besitz. Eine Machtfülle. Ein Überlegenheitsmittel. Ein Gegebenes. Ein Erreichtes. Ein Ausruhplatz.
Es kommt aber darauf an, keine Zuflucht mehr zu haben. Es kommt darauf an, dass wir in die vollkommenste Verzweiflung gehen, wo wir nichts mehr zu retten haben. Kein Geheimnis mehr. Kein Fürsichsein. Kein Privatleben. Es kommt darauf an, zu verwirklichen. Es kommt darauf an, Besitz, Macht, Gegebenheit zu vernichten, um das Bewusstsein von der Existenz Gottes zu erreichen.
Die Seele ist unsere tötendste Ausschweifung. Immer wieder sucht sie uns das Mass der Welt anzulegen, wenn wir die göttliche Unermesslichkeit des Geistes menschenhaft anrufen. Immer wieder, wenn wir schöpferisch für das Menschentum werden, sucht die Seele uns zu Einzelzellen zu machen, stolz auf das Vereinzelungstum ihrer Zelle.
Der Geist ist die Gnade Gottes. Er ist fremd allen unreinen Wesen.
Die Seele steht im Banne des Teufels.
Der Kampf mit dem Engel ist auch unser inniger Wille, das weltgebundene Sonderwesen der Seele aufzuheben, und die reine Lichtfortsetzung des Geistes zu werden.
Will man handgreiflich sehen, was die Vertretung des Teufels, die Vermenschlichung der Welt ist? die Seele?
Die Seele kennt nicht Werte. Nicht Recht noch Unrecht. Nicht den Ursprung der Handlungen noch ihr Ziel. Sie kennt nur Wirkungen, und sie nimmt alle als gleichen Sinnes an. Sie wird darum stets zur Apotheose der Gewalt bestrahlt, denn die Gewalt beruft sich auf Macht, Geheimnis und inneren Besitz. Gewalt findet stets als ihren dunklen Anwalt die Seele.
Aber der Geist allein leitet, auch in der letzten Bedrängnis noch seiner Blutzeugen und öffentlichen Münder, die Verteidigung des Rechts.
Der Privatmensch gibt sich der Seele hin. Aber für uns gibt es kein Privatleben mehr. Wir, die Öffentlichen, die Geistigen, die Menschen: die Geistesmenschen – wir müssen in unserm Kampf mit dem Engel den Weg durch die Seele nehmen, wie wir den durch die Welt nehmen müssen. Offnen Augs, lichtumflammt vom Geist müssen wir durch das Dunkel. Auch dieser Weg wird uns nicht geschenkt.
Wir erinnern uns, dass wir die Welt geformt haben zu einem Glied des Geistes. Wir Wesen des Geistes.
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Nun haben wir alles von uns abgetan, das uns noch band. Wir stehen nackt da, und selbst unser Leib, der mit Wunden aus dem Kampf bedeckt ist, ist uns nur noch wert als Mittel, unser Geistiges durch seinen Raum zu verwirklichen. So sind wir ganz herabgestiegen von unserm Adels-Sockel, wo wir als Vornehmer, als Seele, als Persönlichkeit, als Einzelner standen. Wir stiegen bis zur letzten Tiefe, die uns gerade noch vom Tod trennt. Wir haben nichts mehr von unserm Besitz aufzugeben und zu verlieren, wir sind besitzlos geworden. Wir haben nichts mehr zu bewahren: Nun können wir geben, so unerschöpflich wie der Geist durch uns strahlt. Zum erstenmal sehen wir.
Führer, du fährst auf aus dir, wie ein entflammtes Zündholz, klein. Schwankend dünn im grossen Taglicht-Umkreis.
Vor dir atmet das Völkergeschöpf vorfühlend und rück die Glieder, in brauner Angsteshaut.
O steh grade, halte die Augen entgegen, streck die Hände! Du siehst die Löcher aus den Augen schaun, die Arme tastend, Leiber hilfegedrängt, die Köpfe bleich und viel, als blicktest du lang in den schmerzenden Spiegel.
Sieh dein Gesicht grosswächsern dir entgegen,
Das Blut läuft über die Augen vom erdig weissen Haar,
Hungerfalten um deinen zerknirschten Mund, der breit aufklappt zum Schrillen.
Sieh dein Gesicht weich und rund, rot, fleischig, zahnlos, sanft erschreckt bei der Geburt.
Sieh dein Gesicht erstaunt rasend eh du Mann wirst.
Sieh dein Gesicht in der Abendstunde der schwesterlichen Nachdenklichkeit.
Sieh die Augen spiegelnd über Nasen, die gekrümmt sind in Jahrtausendgestalt,
Sieh die Augen blass ausgelaugt von Verfolgungen,
Sieh den Mund, der faltig blieb von den Flammen der Scheiterhaufen, den Mund, der dünn ist von den Überfällen der Truppen, er schloss sich nicht seit den Handschellen der Gerichtsdiener.
Führer, sieh dein Ewigkeitsgesicht. Schmal. Brüderlich.
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Der Führer steht klein, eine zuckende Blutsäule, auf der schmalen Tribüne. Sein Mund ist eine rundgebogene Armbrust, ein ungeheurer Ruck über ihm schnellt ihn schwingend ab. Gottes Stoss hat die Krummnase dieser schwächlichen Säule in die zitternden Massen geschwungen. Seine Glieder sind helle fliegende Wesen geworden, losgelöst von ihm, unter seinem Wink, die überall unter den Massen auftauchen und bei den Menschen eifern. Seine Ringerarme kreisen weit hinein, überzeugend wie schlanke weisse Leiber, ins feindliche Menschenfeld. Seine Augen werfen im Horizontschwung leuchtende Flügel. Hohl beflügelt schweben seine Ohren rosig auf bleiernem Volksgeschrei, die hellen Flügel tragen den Thron seines Kopfes sanft hoch über Steinwürfe und graue Beleidigungen. Der leuchtende Ball seines Kopfes schwebt gewoben aus verflochtenen Engelswesen durch den blauen Raum, und schüttelt wie Wolkengefieder blitzende Himmelskuppeln auf die Menschenschultern herab. Die Engelswesen der Augen pfeilen zu den schwirrenden Bruderaugen weitum im riesigen Kreis. Die Engel Gliedersäulen, Arme, Zunge und Lippen verschlingen sich wie Zweige im wehenden Baum. Der Führer spricht. Um ihn schweben auf und ab, ins Weite und zurück, ringend verschlungen seine Engel auf kristallenen Bergen. Pfingstflammen fliessen schmallbrennend auf den riesigen Erdwald der Menschenhäupter herab.
Verbrauchte Epochen der Menschheit:
Das geozentrische Bewusstsein stellte das Einzelinteresse des Subjekts in die Mitte der Welt. Epoche des Egoismus; Individualismus; Trotz aus Isolation. Astrologie, oder: der Kosmos ist um des Ichs willen da.
Das heliozentrische Bewusstsein stellte das Aussermenschliche des Objekts in die Mitte der Welt. Epoche des Relativismus; Determinismus; Angst aus Isolation. Naturwissenschaft, oder: das Ich ist um des Kosmos willen da.
Anbruch der neuen Zeit:
Das humanozentrische Bewusstsein. Epoche des Brudergefühls; Gemeinschaftsidee; Simultanismus; Allgegenwarts-Sinn. Erdballgesinnung, oder: der Mensch ist um des Menschen willen da.
Zukunft des nächsten Weltalters: