Jean-Jacques Rousseau
Rousseau's Bekenntnisse. Erster Theil
Jean-Jacques Rousseau

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Sechstes Buch.

1736

    Hoc erat in votis: modus agri non ita magnus,
    Hortus ubi, et tecto vicinus iugis aquae fons;
    Et paulum silvae super his foret . . .

Ich kann jedoch nicht hinzufügen:
                                                auctius atque

Di melius fecere.Allein das thut nichts, denn ich hatte nicht mehr nöthig, ich hatte es nicht einmal als Eigenthum nöthig; der Genuß genügte mir, und schon vor langer Zeit habe ich es gefühlt und ausgesprochen, daß Eigentümer und Inhaber oft zwei sehr verschiedene Personen sind, auch wenn man dabei die Begriffe Mann und Liebhaber ganz bei Seite läßt.

Hier beginnt das kurze Glück meines Lebens; hier erscheinen die friedlichen aber flüchtigen Augenblicke, welche mir das Recht gegeben haben zu sagen, daß ich gelebt habe. Köstliche und sehnlich wieder zurückgewünschte Augenblicke! Ach, kehret noch einmal wieder mit eurem Zauberrausch und ziehet, so es möglich ist, in der Erinnerung langsamer an mir vorüber, als ihr es in eurer schnellen Flucht in Wahrheit thatet. Wie soll ich es anstellen, um nach meiner Herzensneigung diese rührende und doch so einfache Schilderung auszudehnen, um stets das Nämliche zu erzählen und wieder zu erzählen und dabei doch den Leser nicht durch die Wiederholung von Dingen zu langweilen, bei denen ich mich selbst nicht langweilte, so oft ich sie auch von neuem erlebte? Wenn dies alles noch in Thatsachen, in Handlungen, in Worten bestände, würde ich es schildern und in irgend einer Weise wiedergeben können; allein wie etwas zum Ausdruck bringen, was weder gesagt noch gethan, nicht einmal gedacht, sondern nur empfunden, nur gefühlt wurde, ohne daß ich im Stande wäre einen andern Grund meines Glückes anzugeben, als dieses Gefühl selbst. Ich stand mit der Sonne auf und war glücklich; ich ging spazieren und war glücklich; ich sah Mama und war glücklich; ich verließ sie und war glücklich; ich durchstreifte die Waldungen und Berge, ich durchirrte die Thäler; ich las, ich war müßig, ich arbeitete im Garten, ich pflückte das Obst, ich half in der Wirtschaft und überall hin folgte mir das Glück; es war nicht in irgend etwas greifbar und nachweisbar, es lag völlig in mir selber, es konnte mich nicht einen einzigen Augenblick verlassen.

Nichts von allem, was mir in diesem süßen Lebensabschnitt begegnet ist, nichts von dem, was ich während dieser ganzen Zeit gethan, gesagt und gedacht habe, ist meinem Gedächtnisse entfallen. Der vorhergehenden wie der späteren Zeiten erinnere ich mich nur bruchstückweise; ich entsinne mich ihrer nur ungleichmäßig und verworren, aber jener entsinne ich mich so vollkommen, als ob ich noch mitten in ihr lebte. Meine Einbildungskraft, welche in meiner Jugend immer vorwärts eilte und jetzt nur rückwärts blickt, ersetzt mir durch diese lieblichen Erinnerungen die Hoffnung, die ich für ewig verloren habe. Ich sehe in der Zukunft nichts mehr, das mich anlockt; nur die Rückblicke in die Vergangenheit erfüllen mich mit Freude, und diese Rückblicke in den Zeitabschnitt, von dem ich rede, sind so lebendig und wahrheitsgetreu, daß sie mich oft mitten in meinen Leiden ein reines Glück genießen lassen.

Ich will von diesen Erinnerungen ein einziges Beispiel anführen, aus dem man auf ihre Lebhaftigkeit und Stärke wird schließen können. Am ersten Tage, an welchem wir uns nach Charmettes begaben, um daselbst zu schlafen, ließ sich Mama in einer Sänfte tragen, und ich ging hinterher. Der Weg steigt; sie war ziemlich schwer und, da sie die Träger allzu sehr zu ermüden fürchtete, wollte sie ungefähr auf dem halben Wege aussteigen und den Rest zu Fuß zurücklegen. Beim Wandern sah sie etwas Blaues in der Hecke und sagte zu mir: »Da ist noch Wintergrün in voller Blüte.« Ich hatte nie Wintergrün gesehen; ich neigte mich nicht hinab, es zu betrachten, und bin zu kurzsichtig, um bei meiner Größe die Pflanzen auf der Erde zu unterscheiden. Ich warf nur im Vorübergehen einen Blick auf das Wintergrün, und fast dreißig Jahre sind seitdem vergangen, ohne daß ich es seitdem wiedergesehen, oder ihm Beachtung geschenkt habe. Als ich nun im Jahre 1764 meinem Freunde Du Peyrou in Cressier einen Besuch abstattete, erstiegen wir einen kleinen Berg, auf dessen Gipfel er einen niedlichen Saal erbaut hat, den er mit Recht Belle-Vue nennt. Ich fing damals gerade an, ein wenig zu botanisiren. Während ich nun durch das Gesträuch aufwärts klettre und umherblicke, rufe ich plötzlich aus: »Ach, da ist Wintergrün:« und das war es in der That. Du Peyrou, der mein Entzücken bemerkte, konnte sich schwerlich die Ursache denken. Er wird sie nun erfahren, wenn er, wie ich hoffe, dies lesen wird. Der Leser kann aus dem Eindrucke, den ein so unbedeutender Gegenstand auf mich ausübte, auf den schließen, welchen alles, was sich auf jene Zeit bezieht, auf mich machte.

Die Landluft gab mir indessen meine Gesundheit nicht wieder. Ich siechte nur immer mehr dahin. Ich konnte die Milch nicht vertragen und mußte ihrem Genusse entsagen. Damals war die Wasserkur in die Mode gekommen; ich warf mich also auf das Wasser und in so unbesonnener Weise, daß mit meinen Leiden auch beinahe noch mein Leben ein Ende genommen hätte. Jeden Morgen, nachdem ich aufgestanden war, ging ich mit einem Becher zur Quelle und trank, dabei umherwandelnd, nach und nach gewiß zwei ganze Flaschen. Dem Tischwein entsagte ich ganz und gar. Das Wasser, welches ich trank, war wie die meisten Gebirgswasser hart und schwer verdaulich. Kurz, ich stellte es so gut an, daß ich mir in weniger als zwei Monaten den Magen vollständig verdarb, der bis dahin sehr gut gewesen war. Da ich nichts mehr verdauen konnte, sah ich ein, daß ich auf Heilung nicht länger rechnen durfte. In der nämlichen Zeit trat bei mir eine Erscheinung ein, die an und für sich wie durch die Folgen, die nur mit meinem Tode aufhören werden, höchst sonderbar vor.

Eines Morgens, als ich mich nicht unwohler als gewöhnlich befand und eben eine kleine Tischplatte auf ihr Fußgestell legte, fühlte ich in meinem ganzen Körper eine plötzliche und fast unbegreifliche Veränderung. Ich kann sie nicht besser als mit einer Art Sturm vergleichen, der sich in meinem Blute erhob und sich in einem Augenblicke über alle meine Glieder verbreitete. Meine Adern begannen mit einer solchen Gewalt zu schlagen, daß ich ihr Pochen nicht allein fühlte, sondern auch hörte und namentlich das Klopfen in den Kopfarterien. Dazu gesellte sich ein starkes Ohrensausen, und in ihm ließ sich etwas Dreifaches oder Vierfaches unterscheiden, nämlich ein tiefes und dumpfes Brausen, ein Murmeln, heller wie von rieselndem Wasser, ein sehr scharfes Pfeifen und das eben erwähnte Herzklopfen, dessen Schläge ich leicht zählen konnte, ohne erst meinen Puls zu fühlen oder meinen Körper mit den Händen zu berühren. Dieser lärmende Aufruhr in meinem Innern war so gewaltig, daß er mir die frühere Feinheit des Gehörs raubte und mich zwar nicht taub, aber doch harthörig machte, wie ich es seitdem geblieben bin.

Man kann sich meine Ueberraschung und meinen Schrecken vorstellen, ich hielt mich für dem Tode nah und legte mich zu Bett; der Arzt wurde geholt, ich erzählte ihm zitternd mein Leiden, das mir unheilbar schien. Ich glaube, er theilte meine Ansicht, aber er that, was sein Beruf mit sich brachte. Er hielt mir lange Vorträge, von denen ich keine Silbe verstand, darauf begann er zufolge seiner erhabenen Theorie die Experimentalkur in anima vili, die es ihm an mir zu versuchen einfiel. Sie war so schmerzhaft, so widerlich und hatte so wenig Erfolg, daß ich ihrer bald müde wurde, und als ich nach Verlauf einiger Wochen bemerkte, daß ich mich nicht besser und nicht schlechter befand, verließ ich das Bett und nahm meine gewöhnliche Lebensweise trotz dem Schlagen meiner Arterien und meines Ohrensausens wieder auf, das mich von da an, das heißt seit dreißig Jahren, nicht eine Minute verlassen hat.

Bis dahin war ich sehr verschlafen gewesen. Die vollkommene Schlaflosigkeit, welche alle diese Krankheitserscheinungen begleitete und sie bis jetzt beständig begleitet hat, bestärkte mich vollends in der Ueberzeugung, daß mir nur noch wenig Zeit zu leben blieb. Diese Ueberzeugung beruhigte mich auf einige Zeit über die Sorge für meine Genesung. Da ich mein Leben nicht verlängern konnte, beschloß ich die kurze Lebenszeit, die mir noch vergönnt war, bestmöglichst auszukaufen, und das ermöglichte mir eine besondere Begünstigung der Natur, die mich in einem so traurigen Zustande mit den Schmerzen verschonte, die er dem Anscheine nach hätte hervorrufen müssen. Ich war von dem ewigen Sausen belästigt, litt aber nicht darunter; es war mit keiner andern bleibenden Unbequemlichkeit verbunden als des Nachts mit Schlaflosigkeit und mit einem stets kurzen Athem, der aber nicht bis zum Asthma ausartete und sich nur fühlbar machte, wenn ich laufen oder eine angestrengte Arbeit verrichten wollte.

Das Leiden, das meinem Körper hätte tödtlich werden müssen, tödtete nur meine Leidenschaften, und wegen der glücklichen Wirkungen, die es auf meine Seele ausübte, segne ich den Himmel jeden Tag dafür. Ich kann wohl sagen, daß ich erst zu leben anfing, als ich mich als einen todten Mann betrachtete. Indem ich den Dingen, von denen ich scheiden sollte, ihren wahren Werth zuerkannte, begann ich mich mit edleren Pflichten zu beschäftigen, mich gleichsam schon im voraus denen überlassend, die ich nun bald zu erfüllen haben würde, und die ich bis dahin arg vernachlässigt hatte. Ich hatte mir die Religion oft nach meiner Weise ausgelegt, war aber nie ganz ohne Religion gewesen. Deshalb fiel es mir weniger schwer auf diesen, für so viele Leute abstoßenden, Gegenstand zurückzukommen, der aber für alle, denen er eine Quelle des Trostes und der Hoffnung bildet, so süß ist. Bei dieser Gelegenheit war mir Mama weit nützlicher, als es mir alle Theologen gewesen wären.

Da sie alles in ein System brachte, hatte sie nicht ermangelt, es mit der Religion eben so zu machen, und dieses System war aus sehr ungleichartigen, einerseits sehr vernünftigen, andrerseits aber auch sehr thörichten Vorstellungen, aus Gefühlen, die ihrem Charakter entsprachen und aus Vorurtheilen zusammengesetzt, die ein Ergebnis ihrer Erziehung waren. Die Gläubigen denken sich Gott im allgemeinen, wie sie selber sind, die Guten gut, die Bösen böse; Fromme von gehässigem und galligem Charakter sehen nur die Hölle, weil sie die ganze Welt verdammen möchten; liebende und sanfte Seelen glauben kaum an sie, und ich habe mich nie von der Verwunderung erholen können, die sich meiner bemächtigte, als ich den guten Fénélon in seinem Telemach von ihr reden sah, als ob er im Ernste an sie glaubte. Aber ich hoffe, daß er damals log; denn wie wahrhaft man auch sein möge, muß man doch bisweilen lügen, wenn man Bischof ist. Mama log mir gegenüber nicht, und diese Seele ohne Haß, die sich keinen Gott der Rache und des steten Grimmes vorstellen konnte, sah nur Gnade und Erbarmen, wo die Frömmler nur Gericht und Strafe sehen. Sie behauptete oft, Gott würde keine Gerechtigkeit haben, wenn er gegen uns gerecht wäre, denn da er uns das nicht gegeben hat, was dazu gehört, es zu sein, würde er mehr fordern, als er uns verliehen hat. Seltsamerweise ließ sie sich, obgleich sie nicht an die Hölle glaubte, doch den Glauben an das Fegefeuer nicht nehmen. Dies kam daher, daß sie mit den Seelen der Bösen nichts anzufangen wußte, daß sie dieselben nicht verdammen und doch auch mit den Guten erst in Verbindung bringen konnte, wenn sie selber gut geworden waren; und man muß gestehen, daß es wahrlich in dieser wie in der jenseitigen Welt mit den Bösen immer ein mißlich Ding ist.

Noch eine andere Seltsamkeit. Man sieht ein, daß durch dieses System die ganze Lehre von der Erbsünde und der Erlösung aufgehoben, das Fundament des gewöhnlichen Christenthums erschüttert wird, und der Katholicismus wenigstens damit nicht bestehen kann. Mama war indessen eine gute Katholikin oder machte Anspruch darauf es zu sein, und that es sicherlich im besten Glauben. Man schien ihr die heilige Schrift zu buchstäblich und zu hart auszulegen. Alles, was man von den ewigen Qualen in ihr liest, betrachtete sie nur als Drohungen oder Gleichnisreden. Der Tod Jesu Christi schien ihr ein Beispiel von wahrhaft göttlicher Erbarmung, um die Menschen zu lehren, Gott und sich selbst unter einander zu lieben. Mit einem Worte, treu der Religion, zu der sie sich bekannte, nahm sie auch aufrichtig deren ganzes Glaubensbekenntnis an; sobald es zur Erörterung der einzelnen Artikel kam, ergab es sich, daß sie ganz anders als die Kirche glaubte, wenn sie sich ihr auch immer unterwarf. Sie hatte in dieser Hinsicht eine Herzenseinfalt und einen Freimuth, der beredter war als jede sophistische Rechthaberei und sogar ihren Beichtvater oft in Verlegenheit setzte, da sie ihm nichts verhehlte. »Ich bin eine gute Katholikin,« sagte sie zu ihm, »und will es immer bleiben; ich füge mich mit ganzer Seele den Aussprüchen der heiligen Mutter Kirche. Ich bin nicht Herrin meines Glaubens, aber meines Willens. Ihn unterwerfe ich rückhaltslos und will alles glauben. Was verlangen Sie mehr von mir?«

Ich glaube, wenn es auch keine christliche Moral gegeben hätte, würde sie nach ihr gelebt haben, so sehr stand dieselbe mit ihrem Charakter in Einklang. Sie that alles, was verordnet war, aber sie hätte es gleichfalls gethan, wäre es auch nicht verordnet gewesen. In gleichgiltigen Dingen gehorchte sie gern, und wäre es ihr gestattet, ja wäre es ihr sogar befohlen worden, an Festtagen Fleischspeisen zu essen, sie hätte aus Gottesfurcht die Fasten beobachtet, ohne auf irgend etwas Rücksicht zu nehmen. Allein diese ganze Sittenlehre war den Grundsätzen des Herrn von Tavel untergeordnet, oder behauptete sie vielmehr, nichts Widerstreitendes in ihnen zu erblicken. Sie hätte mit aller Gewissensruhe täglich mit zwanzig Männern Gemeinschaft pflegen können, ohne dabei mehr Bedenken als Begierde zu empfinden. Ich weiß, daß viele Frömmlerinnen in diesem Punkte nicht bedenklicher sind; allein ein großer Unterschied liegt darin, daß sie durch ihre Leidenschaften verführt werden und Mama nur durch ihre Trugschlüsse. In den rührendsten, ja ich scheue mich nicht zu behaupten, in den erbaulichsten Gesprächen hätte sie auf diesen Punkt eingehen können, ohne auch nur die Miene zu verziehen oder in einen andern Ton zu verfallen, ohne sich im Widerspruch mit sich selbst zu glauben. Sie hätte sogar ein derartiges Gespräch im Nothfalle um der That selber willen unterbrechen können, und würde es dann mit derselben Ruhe wie vorher wieder aufgenommen haben, so vollkommen war sie innerlich davon überzeugt, daß dies alles nur ein Grundsatz der gesellschaftlichen Ordnung wäre, den jeder vernünftige Mensch auslegen, befolgen und hin und wieder verletzen könnte, ganz nach seiner Beurtheilung der Dinge, ohne befürchten zu brauchen, Gott damit zu beleidigen. Obgleich ich in diesem Punkte gewiß nicht ihre Ansicht theile, gebe ich doch zu, daß ich sie nicht zu bestreiten wagte, weil ich mich schämte, gegen sie eine so wenig galante Rolle durchzuführen. Ich hätte freilich diese Regel für die andern gelten lassen sollen, unter der Bemühung, mich von ihr auszuschließen; aber abgesehen davon, daß schon Mamas Temperament den Mißbrauch ihrer Grundsätze hinreichend verhütete, wußte ich auch, daß sie eine Frau war, die sich nicht täuschen ließ, und daß die Beanspruchung einer Ausnahme für meine Person ihr dieselbe für jeden nach ihrem Belieben eingeräumt hätte. Uebrigens führe ich hier diese Inconsequenz nur gelegentlich der andern an, obgleich sie auf ihre Aufführung stets von wenig Einfluß gewesen ist und damals gerade völlig einflußlos war. Allein ich habe versprochen, ihre Grundsätze getreu auseinander zu setzen, und dieser Verpflichtung will ich nachkommen. Ich kehre zu mir selbst zurück.

Da ich bei ihr alle Lehren und Lebensregeln fand, deren ich bedurfte, um meine Seele vor den Schrecken des Todes und dessen, was er mit sich bringt, zu bewahren, so schöpfte ich mit Ruhe aus dieser Quelle der Zuversicht. Ich hing mit innigerer Liebe als je an ihr; ich hätte mein Leben, dessen Ende ich herannahen fühlte, ganz auf sie übertragen mögen. Aus dieser verdoppelten Liebe zu ihr, aus der Ueberzeugung, daß ich nur noch kurze Zeit zu leben hatte, aus meiner tiefen Ruhe über das Schicksal, das meiner wartete, ging ein gleichmäßiger Zustand des Friedens und sogar des sinnlichen Genusses hervor, da er alle Leidenschaften, die unsere Befürchtungen und Hoffnungen in die Weite führen, beruhigte und mich deshalb die wenigen Tage, die mir noch blieben, unbesorgt und unbekümmert genießen ließ. Eins trug dazu bei, sie mir noch angenehmer zu machen; dies war mein Bemühen, ihr Gefallen an dem Landleben durch alle Vergnügungen zu nähren, die ich ihr irgend verschaffen konnte. Indem ich ihr Freude an ihrem Garten, ihrem Hühnerhofe, ihren Tauben und Kühen einflößte, gewann ich selbst dies alles lieb, und diese kleinen Beschäftigungen, die meinen Tag ausfüllten, ohne meine Ruhe zu stören, wirkten auf mich wohlthätiger als die Milch und alle Heilmittel, um meine arme Maschine fortarbeiten zu lassen und sie sogar so viel als möglich wieder auszubessern.

Die Weinlese, die Obsternte machten uns den Rest dieses Jahres angenehm und heiter und fesselten uns inmitten der guten Leute, von denen wir umgeben waren, mehr und mehr an das Landleben. Mit großem Bedauern sahen wir den Winter kommen und kehrten in die Stadt zurück, als wären wir in die Verbannung gegangen, ich besonders, der ich in dem Wahne, den Frühling nicht mehr zu erleben, Charmettes auf ewig Lebewohl gesagt zu haben glaubte. Ich verließ es nicht ohne die Erde und die Bäume zu küssen und ohne mich, als ich endlich aufbrach, mehrmals umzukehren. Da ich meine Schülerinnen schon längst entlassen und mein Gefallen an den Vergnügungen und Gesellschaften der Stadt verloren hatte, ging ich nicht mehr aus und sah niemand mehr, ausgenommen Mama und einen Herrn Salomon, der seit kurzem ihr und mein Arzt geworden war, einen ehrlichen geistreichen Mann und großen Cartesianer, der über das Weltsystem recht anregend zu sprechen verstand und dessen angenehme und lehrreiche Gespräche ich höher schätzte als alle seine Verordnungen. Das alberne und inhaltslose Geplauder gewöhnlicher Unterhaltungen habe ich nie ausstehen können; aber nützliche und gehaltvolle Unterhaltungen haben mir stets große Freude gemacht, und ich habe mich ihnen nie entzogen. Ich fand an den Gesprächen mit Herrn Salomon großes Gefallen; mich schien bei ihm schon ein Hauch jenes hohen Wissens zu umwehen, welches sich meine Seele, wenn sie ihre Fesseln abgestreift haben würde, dereinst erwerben sollte. Dieses Gefallen an ihm erstreckte sich auch auf die Gegenstände, die er erörterte, und ich begann mich um die Bücher zu bemühen, welche mir dazu behilflich sein konnten, ihn besser zu verstehen. Die, in welchen das Wissenschaftliche mit frommem Sinne behandelt wurde, waren mir die liebsten; der Art waren besonders die des Oratoriums und von Port-Royal. Ich fing an sie zu lesen oder vielmehr zu verschlingen. Unter andern fiel mir eines in die Hände, welches der Pater Lami unter dem Titel »Gespräche über die Wissenschaften« herausgegeben hatte. Es war eine Art Einleitung in die Kenntnis wissenschaftlicher Werke. Ich las es und las es hundertmal wieder; ich beschloß meinen Leitfaden daraus zu machen. Trotz meines Zustandes oder vielmehr in Folge meines Zustandes fühlte ich mich endlich nach und nach mit unwiderstehlicher Gewalt zum Studium hingezogen, und während ich jeden Tag als den letzten meines Lebens betrachtete, studirte ich mit einer solchen Leidenschaft, als hätte ich ein ewiges Leben vor mir gehabt. Man sagte, das wäre mir nachtheilig, ich dagegen glaube, es war mir vortheilhaft und zwar nicht allein für meinen Geist, sondern auch für meinen Körper; denn diese geistige Anstrengung, der ich mich mit Leidenschaft überließ, wurde mir so genußreich, daß ich an mein Uebelbefinden gar nicht mehr dachte und deshalb auch weniger darunter litt. Allerdings verschaffte mir nichts eine wirkliche Linderung, da ich aber keine heftigen Schmerzen empfand, gewöhnte ich mich daran, einen siechen Körper zu haben, nicht schlafen zu können, nur zu denken, anstatt mich körperlich zu beschäftigen und endlich daran, die allmähliche und langsame Abnahme meiner Kräfte wie einen unvermeidlichen Proceß zu betrachten, dem der Tod allein Halt gebieten könnte.

Diese Ueberzeugung befreite mich nicht allein von allen nichtigen Erdensorgen, sondern auch von den lästigen Curen, denen man mich bis jetzt wider meinen Willen unterworfen hatte. Ueberzeugt, daß mir seine Arzneien die Gesundheit nicht wiedergeben könnten, verschonte mich Salomon mit diesem übelschmeckenden Zeuge und begnügte sich damit, den Schmerz der armen Mama mit einigen jener unschädlichen Recepte zu beschwichtigen, welche die Hoffnung des Kranken nähren und das Vertrauen zu dem Arzte aufrechterhalten. Ich gab die strenge Diät auf, trank wieder Wein und nahm, so weit meine Kräfte es gestatteten, wieder die Lebensweise eines gesunden Mannes auf, in jedem Dinge mäßig, aber mir nichts versagend. Ich ging sogar aus und begann von neuem meine Bekannte zu besuchen, namentlich Herrn von Conzié, an dessen Umgange ich großes Gefallen fand. Kurz, ob es mir nun schön vorkam, bis zu meiner letzten Stunde zu lernen, oder ob sich noch heimlich ein Rest von Lebenshoffnung auf dem Grunde meiner Seele erhielt, die Erwartung meines nahen Todes war so weit davon entfernt, meinen Lerneifer zu mäßigen, daß sie ihn vielmehr anzufachen schien, und ich beeilte mich, einiges Wissen für die andere Welt zu sammeln, als hätte ich geglaubt, dort nur auf das eigen erworbene angewiesen zu sein. Ich war gern in dem Laden eines Buchhändlers, namens Bouchard, den einige Gelehrte als Bezugsquelle benutzten; und als nun der Frühling nahte, den ich nicht mehr zu erleben geglaubt hatte, so versah ich mich mit einigen Büchern für Charmettes, im Falle ich das Glück hätte, dorthin zurückzukehren.

Ich hatte dieses Glück und kaufte es auf das Beste aus. Die Freude, mit der ich die ersten Knospen sah, läßt sich nicht schildern. Den Lenz wieder erleben kam mir wie die Auferstehung im Paradiese vor. Kaum begann der Schnee zu schmelzen, als wir unsere Kerkermauern verließen und ziemlich früh nach Charmettes übersiedelten, um die ersten Schläge der Nachtigall hören zu können. Von da an quälte ich mich nicht länger mit Todesgedanken, und wirklich ist es eigentümlich, daß ich auf dem Lande nie von schweren Krankheiten befallen bin. So viel ich auf demselben auch gelitten habe, bin ich doch daselbst nie bettlägerig gewesen. Wenn ich mich leidender als gewöhnlich fühlte, habe ich oft gesagt: »Sehet ihr mich dem Tode nahe, so tragt mich in den Schatten einer Eiche hinaus; ich versichere euch, daß ich dann davon kommen werde.«

Obgleich noch schwach, nahm ich meine ländlichen Arbeiten wieder auf, aber in einer meinen Kräften entsprechenden Weise. Es that mir wirklich leid, daß ich den Garten nicht ganz allein in Stand setzen konnte; aber sobald ich einige Spatenstiche gemacht hatte, war ich außer Athem, schweißtriefend und konnte nicht weiter. Bückte ich mich, verdoppelte sich mein Herzklopfen, und das Blut stieg mir mit solcher Gewalt nach dem Kopfe, daß ich mich schnell wieder in die Höhe richten mußte. Genöthigt, mich auf weniger anstrengende Arbeiten zu beschränken, warf ich mich unter andern zum Wärter des Taubenschlages auf und gewann so große Lust zu diesem Amte, daß ich oft Stunden lang, ohne mich auch nur einen Augenblick zu langweilen, im Schlage zubrachte. Die Taube ist sehr scheu und schwer zahm zu machen; trotzdem gelang es mir, den meinigen ein so großes Vertrauen einzuflößen, daß sie mir überall hin nachflogen und sich greifen ließen, so oft ich wollte. Ich konnte mich weder im Garten noch auf dem Hofe zeigen, ohne sofort zwei oder drei auf den Armen oder auf dem Kopfe zu haben. Trotz der Freude, die ich darüber empfand, wurde mir diese Begleitung doch schließlich so unbequem, daß ich gezwungen war, ihnen diese übertriebene Freiheit wieder abzugewöhnen. Ich habe stets ein besonderes Vergnügen an der Zähmung von Thieren, namentlich von scheuen und wilden gehabt. Es kam mir reizend vor, ihnen ein Zutrauen einzuflößen, das ich nie getäuscht habe; sie sollten mich in Freiheit lieben.

Ich hatte, wie gesagt, Bücher mitgebracht; ich benutzte sie, aber in einer Weise, die weniger geeignet war, mich zu unterrichten, als mich zu ermüden. Meine falsche Vorstellung von den Dingen erfüllte mich mit dem Wahne, daß man, um ein Buch mit Nutzen zu lesen, alle Kenntnisse besitzen müßte, die es voraussetzte, und ließ den Gedanken nicht in mir aufkommen, daß sie der Verfasser oft selbst nicht besäße und sie, je nach Bedürfnis, aus anderen Büchern schöpfte. In Folge dieses tollen Wahns wurde ich jeden Augenblick aufgehalten, gezwungen, meine Zuflucht unaufhörlich von einem Buche zum andern zu nehmen; und ehe ich mich bis zur zehnten Seite des zu studirenden Werkes durchgearbeitet, hätte ich oft ganze Bibliotheken von Anfang bis zu Ende durchlesen müssen. Gleichwohl blieb ich so halsstarrig bei dieser wunderlichen Methode, daß ich eine unglaubliche Zeit verlor und mir den Kopf beinahe bis zu dem Grade verwirrt hätte, daß ich nichts sehen und verstehen konnte. Glücklicherweise merkte ich endlich, daß ich einen falschen Weg verfolgte, der mich in ein unabsehbares Labyrinth hineinführte, und ich floh aus ihm, ehe ich mich ganz in ihm verirrt hatte.

Bei auch nur etwas wahrer Liebe zu den Wissenschaften ist das Erste, was man wahrnimmt, sobald man sich ihnen hingiebt, ihre Zusammengehörigkeit, welche bewirkt, daß sie sich gegenseitig anziehen, unterstützen und Klarheit verschaffen, und daß keine die andere entbehren kann. Obgleich der menschliche Geist nicht zu allen ausreicht und man fast immer einer als der hauptsächlichsten den Vorzug geben wird, so wird man doch oft in der selbst gewählten in Unklarheit bleiben, wenn man nicht wenigstens einige Kenntnis von den übrigen besitzt. Ich begriff, daß das, was ich unternommen hatte, an und für sich gut und nützlich wäre, und ich nur die Methode ändern müßte. Als ich zuerst die Encyklopädie zur Hand nahm, zerlegte ich sie in ihre einzelnen Fächer; ich überzeugte mich bald, daß man das Umgekehrte thun, jedes einzelne zwar besonders vornehmen, aber sie, jedes für sich, nur bis zu dem Punkte verfolgen dürfte, wo sie sich wieder vereinigen. Auf diese Weise kam ich auf die gewöhnliche Synthese zurück, aber als ein Mann, der weiß, was er thut. Das Nachdenken ersetzte mir hierbei die Kenntnisse, und ein sehr natürlicher Gedanke war mir behilflich, mich zurecht zu finden. Ob ich nun leben blieb oder starb, ich hatte keine Zeit zu verlieren. Wer in einem Alter von fünfundzwanzig Jahren nichts weiß und voll Verlangen ist, alles zu lernen, muß sich wahrlich angelegen sein lassen, die Zeit zu Rathe zu halten. Ohne Ahnung, wo das Schicksal oder der Tod meinem Eifer ein Halt zurufen könnte, wollte ich mir für jeden Fall eine Vorstellung von allen Dingen erwerben, sowohl um meine natürlichen Anlagen zu prüfen, als auch um selbst ein Urtheil darüber zu gewinnen, welches Studium sich für mich am besten eignete.

Die Ausführung dieses Planes gewährte mir noch einen andern Vortheil, an den ich nicht gedacht hatte, nämlich den, viel Zeit dabei zu ersparen. Ich muß für das Studium wohl nicht geboren sein, denn eine längere geistige Beschäftigung ermüdet mich dergestalt, daß es mir unmöglich ist, auch nur eine halbe Stunde hinter einander denselben Gegenstand zu betreiben; zumal wenn ich den Gedanken eines Fremden folge, denn meinen eigenen habe ich mich allerdings bisweilen und sogar mit einigem Erfolge noch länger überlassen können. Wenn ich einem Schriftsteller, den man mit Ueberlegung lesen muß, einige Seiten gefolgt bin, vermag sich mein Geist nicht länger mit ihm zu beschäftigen und verliert sich in die Wolken. Will ich trotzdem in der Lectüre fortfahren, erschöpfe ich mich umsonst; ich werde wie geblendet, ich sehe nichts mehr. Wenn jedoch verschiedene Gegenstände, sogar ohne Unterbrechung, aufeinander folgen, so entreißt mich der eine immer der Ermüdung, die mich bei dem andern befallen hat, und ohne der Ruhe zu bedürfen, folge ich ihnen leichter. Ich nahm diese Beobachtung in meinen Studienplan auf und ließ eine solche Abwechselung eintreten, daß ich mich, ohne zu ermüden, den ganzen Tag über beschäftigte. Allerdings führten ländliche und häusliche Arbeiten nützliche Zerstreuungen herbei, aber in meinem wachsenden Eifer fand ich bald das Mittel, ihnen noch Zeit für das Studium abzusparen und mich gleichzeitig mit zweierlei Dingen zu beschäftigen, ohne zu bedenken, daß jedes dabei weniger gut von Statten gehen mußte.

Bei allen diesen unbedeutenden Einzelheiten, die mich entzücken und mit denen ich den Leser oftmals quäle, gehe ich jedoch so zurückhaltend zu Werke, wie er gewiß nicht ahnen würde, wenn ich ihn nicht absichtlich darauf aufmerksam machte. Mit Jubel erinnere ich mich hier zum Beispiel all der verschiedenen Versuche, die ich anstellte, um meine Zeit dergestalt einzutheilen, daß sie mir die größtmögliche Annehmlichkeit wie Nutzen gewährte, und ich kann sagen, daß diese Zeit, in der ich in der Zurückgezogenheit lebte und mich stets krank fühlte, gerade diejenige in meinem Leben war, in der ich am wenigsten müßig ging und am wenigsten Langeweile empfand. Zwei oder drei Monate gingen darüber hin, meine Geistesanlagen zu erforschen, und in der schönsten Jahreszeit und an einem Orte, den sie zauberisch machte, den Reiz des Lebens, dessen Werth ich so wohl erkannte, sowie den einer eben so freien wie süßen Geselligkeit zu genießen, wenn man einer so vollkommenen Vereinigung den Namen Geselligkeit geben kann, und mich an dem reichen Schatze schöner Kenntnisse zu erfreuen, die ich mir zu erwerben gedachte, denn es war für mich, als hätte ich sie schon besessen, oder vielmehr es war noch besser, weil die Freude am Lernen einen großen Theil meines Glückes bildete.

Ich muß diese Versuche übergehen, die zwar alle für mich Genüsse, aber doch zu einfache waren, um erklärt werden zu können. Noch einmal, das wahre Glück läßt sich nicht beschreiben, es muß empfunden werden, und man empfindet es um so besser, je weniger es sich beschreiben läßt, weil es nicht aus einer Reihe von Thatsachen hervorgeht, sondern ein bleibender Zustand ist. Ich wiederhole mich oft, aber ich müßte mich noch öfter wiederholen, wenn ich das Nämliche so oft sagte, wie es mir in den Sinn kommt. Als meine häufig wechselnde Lebensweise endlich einen gleichmäßigen Verlauf angenommen hatte, war mein Tag ungefähr folgendermaßen eingetheilt:

Ich stand jeden Morgen vor Sonnenaufgang auf. Durch einen benachbarten Obstgarten stieg ich zu einem sehr hübschen Wege hinauf, der sich oberhalb der Weinberge immer an den Bergwänden entlang bis nach Chambéry hinzog. Dort verrichtete ich beim Umherwandeln meine Morgenandacht, die nicht in einem leeren Lippendienst bestand, sondern in einer aufrichtigen Erhebung des Herzens zu dem Schöpfer dieser lieblichen Natur, deren Schönheit sich vor meinen Augen ausbreitete. In einem Zimmer habe ich nie gern gebetet; mir ist, als ob sich die Wände und all dieses kleine Menschenwerk zwischen Gott und mich drängten. Ich liebe ihn in seinen Werken anzuschauen, während sich mein Herz zu ihm erhebt. Meine Gebete waren, wie ich behaupten kann, rein und deshalb werth, erhört zu werden. Ich verlangte für mich wie für die, welche auch in meinen Gebeten unzertrennlich von mir war, nichts als ein unschuldiges und ruhiges Leben, frei von Laster, Schmerz und drückenden Entbehrungen, den Tod der Gerechten und das Loos, das ihrer im Jenseits wartet. Uebrigens verlief diese Morgenandacht mehr unter Bewunderung und Betrachtung als unter Bitten und Gebeten; und ich war überzeugt, daß bei dem Geber der wahren Güter das beste Mittel diejenigen, die wir bedürfen, zu erlangen, weniger darin besteht, sie zu erbitten als sich ihrer werth zu machen. Ich kehrte auf einem weiten Umwege von meinem Spaziergange zurück, auf dem ich mit Theilnahme und hohem Genusse die ländlichen Gegenstände, von denen ich rings umgeben war, betrachtete, die einzigen, welche Auge und Herz nie ermüden. Schon von weitem suchte ich zu erkennen, ob bei Mama schon Tag geworden war; sah ich ihren Fensterladen geöffnet, so überfiel mich ein freudiges Zittern und ich beeilte meine Schritte; war er noch geschlossen, blieb ich bis zu ihrem Erwachen im Garten und unterhielt mich damit, das, was ich Tags zuvor gelernt hatte, noch einmal durchzugehen oder im Garten zu arbeiten. Der Laden wurde geöffnet, ich ging, sie, die oft noch im halben Schlafe im Bette lag, zu umarmen, und diese eben so reine wie zärtliche Umarmung schöpfte selbst aus ihrer Unschuld einen Reiz, der mit der Sinnenlust nie verbunden ist.

Unser Frühstück bestand gewöhnlich aus Kaffee mit Milch. Es war die Zeit am Tage, in der wir am ungestörtesten waren und am ungezwungensten plauderten. In der Regel saßen wir ziemlich lange bei einander, was wohl meine lebhafte Vorliebe für die Frühstücke hervorgerufen hat, und ich ziehe die Sitte der Engländer und Schweizer, bei denen das Frühstück ein wahres Mahl ist, zu dem sich alle versammeln, der der Franzosen vor, bei denen jeder für sich allein auf seinem Zimmer frühstückt oder am häufigsten gar nicht frühstückt. Nach einem ein- oder zweistündigen Geplauder begab ich mich zu meinen Büchern und arbeitete bis zum Mittagessen. Ich begann mit irgend einem philosophischen Buche wie der Logik von Port-Royal, dem Essai von Locke, mit Malebranche, Leibnitz, Descartes, u. s. w. Ich nahm bald wahr, daß sich fast alle diese Schriftsteller in einem unaufhörlichen Widerspruche unter einander befanden, und ich entwarf den phantastischen Plan, sie in Übereinstimmung zu bringen, was mich sehr ermüdete und mir viel Zeit raubte. Ich verwirrte mir nur den Kopf und gelangte nicht weiter. Endlich gab ich auch diese Methode auf und befolgte eine unendlich bessere, der ich den ganzen Fortschritt, welchen ich trotz meines Mangels an Fassungskraft gemacht haben kann, beimesse; denn das ist ja sicher, daß ich für das Studium sehr wenig Fähigkeiten besaß. Ich machte es mir bei der Lectüre eines jeden Schriftstellers zur Regel, lediglich seinem Gedankengange zu folgen und ihn mir anzueignen, ohne meine Gedanken oder die eines Fremden hineinzumischen und ohne mich je in Streitigkeiten mit ihm einzulassen. Ich sagte mir: zunächst will ich mir einen Vorrath von Ideen verschaffen, ohne Rücksicht auf die Wahrheit oder Unwahrheit, wenn sie nur klar sind, bis mein Kopf genug in sich aufgenommen hat, um sie vergleichen und eine Wahl unter ihnen treffen zu können. Ich weiß wohl, daß diese Methode ihren Uebelstand hat, aber bei meiner Absicht mich zu belehren ist sie erfolgreich gewesen. Nachdem ich zwei Jahre damit zugebracht hatte, mir nur fremde Gedanken zu eigen zu machen, gleichsam mit Verzichtleistung auf jedes eigene Denken und Ueberlegen, besaß ich meines Bedünkens einen hinreichenden Schatz von Wissen, um mir selbst zu genügen und ohne fremde Hilfe denken zu können. Wenn es mir dann Reisen und Geschäfte unmöglich machten, meine Bücher zu Rathe zu ziehen, habe ich meine Freude daran gehabt, das Gelesene zu durchdenken und zu vergleichen, alles auf der Wage der Vernunft zu wägen und mir bisweilen ein Urtheil über meine Lehre zu erlauben. Ich habe allerdings erst später angefangen, meine Urteilskraft in Thätigkeit zu setzen, aber trotzdem nicht gefunden, daß sie deshalb an Kraft verloren hätte, und als ich meine eigenen Gedanken veröffentlichte, wurde ich nicht beschuldigt, längst Veraltetes wiederzukäuen, und in verba magistri zu schwören.

Von da wandte ich mich den Elementen der Geometrie zu, über die ich nie hinausgekommen bin, trotzdem ich beharrlich versuchte, mein schlechtes Gedächtnis durch hundert- und aberhundertfache Wiederholungen und stets neues Auswendiglernen der Anfangsgründe zu besiegen. Euklids Lehrbuch behagte mir nicht, da er mehr auf eine logische Aneinanderreihung der Beweise als auf eine Verknüpfung der Ideen ausgeht; ich gab der Geometrie des Pater Lamy den Vorzug, der seit jener Zeit einer meiner Lieblingsschriftsteller wurde, und dessen Werke ich auch noch jetzt mit Vergnügen lese. Hieran schloß sich die Algebra, ebenfalls nach Lamy's Anleitung. Als ich weiter gekommen war, hielt ich mich an Peter Reynauds »Wissenschaft der arithmetischen Operationen«, dann an seine »Erklärung der Analyse«, die ich nur durchblättert habe. Ich habe es nie so weit gebracht, die Anwendung der Algebra auf die Geometrie vollkommen zu verstehen. Ich konnte mich für diese Berechnungsweise, bei der man nicht sieht, was man thut, nicht erwärmen; die Lösung einer geometrischen Aufgabe durch Gleichungen kam mir wie die Wiedergabe eines Liedes auf der Drehorgel vor. Als ich zum ersten Male durch Berechnung fand, daß das Quadrat eines zweitheiligen Satzes gleich dem Quadrate jedes seiner beiden Theile nebst dem doppelten Produkte beider Theile mit einander wäre, wollte ich es trotz der Richtigkeit meiner Multiplication nicht glauben, bis ich mir die Figur gemacht hatte. Die Schuld lag nicht etwa darin, daß ich keine Lust zur Algebra, wenigstens zu dem abstrakten Theil derselben, gehabt hätte, sondern darin, daß ich bei ihrer Anwendung auf den Raum ihre Beziehung zu den Linien sehen wollte, sonst verstand ich nichts mehr.

Darauf kam das Latein an die Reihe. Es war für mich das schwerste Studium und dasjenige, in welchem ich nie große Fortschritte gemacht habe. Anfangs bediente ich mich der Methode von Port-Royal, allein ohne Erfolg. Von diesen barbarischen Versen wurde mir übel; sie wollten in meinem Ohre nicht haften. Ich fand mich unter dieser Unmasse von Regeln nicht zurecht, und wenn ich die letzte lernte, hatte ich alle vorhergehenden vergessen. Ein Studium, welches die Kenntnis vieler Wörter nöthig macht, ist für einen Mann ohne Gedächtnis nicht geeignet, und gerade um meine Gedächtniskraft zu erhöhen, trieb ich dieses Studium anfangs sehr eifrig. Endlich mußte ich es jedoch aufgeben. Den Satzbau verstand ich genügend, um einen leichten Schriftsteller mit Hilfe eines Wörterbuches lesen zu können. Diesen Weg schlug ich ein und nicht erfolglos. Ich verlegte mich auf das Uebersetzen, nicht schriftlich, sondern in Gedanken, und daran hielt ich mich. Mit der Zeit und durch Uebung habe ich es so weit gebracht, die lateinischen Schriftsteller ziemlich geläufig zu lesen, aber ich habe mich in dieser Sprache nie mündlich oder schriftlich ausdrücken können, was mich oft in Verlegenheit gesetzt hat, wenn ich mich, ich weiß nicht weshalb, zu den Gelehrten gerechnet sah. Ein anderer mit dieser Lernweise verknüpfter Uebelstand ist, daß mir die Prosodie fremd geblieben ist und noch mehr die Regeln des Versbaues. Da ich jedoch wünschte, ein Gefühl von der Harmonie der Sprache in Versen wie in Prosa zu bekommen, habe ich viele Anstrengungen gemacht, es dahin zu bringen, aber ich habe mich überzeugt, daß dies ohne Lehrer fast unmöglich ist. Nachdem ich den Bau des leichtesten aller Verse, des Hexameters gelernt, hatte ich Geduld, fast den ganzen Virgil zu scandiren und die Füße und die Quantität zu bezeichnen; wenn ich nun später über die Länge oder Kürze einer Silbe im Zweifel war, mußte mein Virgil ihn lösen. Dabei mußte ich selbstverständlich wegen der im Versbau gestatteten großen Freiheit allerlei Verstöße begehen. Aber hat der Autodidakt manchen Vortheil, so muß er sich dafür auch große Nachtheile und namentlich eine unglaubliche Mühe gefallen lassen. Ich habe das mehr wie irgend ein anderer erfahren.

Kurz vor der Mittagszeit verließ ich meine Bücher, und wenn das Essen noch nicht fertig war, besuchte ich meine Freundinnen, die Tauben, oder ging in den Garten, um bis dahin in ihm zu arbeiten. Wenn ich mich rufen hörte, eilte ich sehr vergnügt und mit tüchtigem Appetit herbei, denn ich darf nicht unerwähnt lassen, daß es mir, wie krank ich auch immer sein mag, nie an Appetit fehlt. Wir speisten sehr angenehm, wobei wir, bis Mama fähig war zu essen, unsere Angelegenheiten besprachen. Zwei- oder dreimal in der Woche tranken wir bei schönem Wetter den Kaffee in einer kühlen, schattigen Laube hinter dem Hause, die ich mit Hopfen umrankt hatte und die uns während der Hitze großes Vergnügen machte. Wir brachten darin ein Stündchen unter Besichtigung unseres Gemüses und unserer Blumen zu und unterhielten uns von unserer jetzigen Lebensweise, deren Reiz wir dadurch nur um so lebhafter fühlten. Am Ende des Gartens hatte ich noch eine andere kleine Familie, nämlich Bienen. Ich verabsäumte selten, ihnen, und zwar oft an Mamas Seite, einen Besuch abzustatten; ihre Arbeit erregte mein Interesse; ich hatte eine ungemeine Freude daran, sie mit ihrer Ausbeute an Honig zurückkehren zu sehen, ihre kleinen Beinchen mitunter so beladen, daß sie Mühe hatten zu gehen. In den ersten Tagen machte die Neugier mich unvorsichtig, und sie stachen mich einige Male, aber späterhin wurden wir so bekannt miteinander, daß sie mich ruhig gewähren ließen, wie nahe ich auch an sie herankam; und so voll die Stöcke auch zur Schwarmzeit waren, so daß ich von Bienen ganz eingehüllt war und sie mir auf den Händen und in dem Gesichte saßen – nie hat mich eine gestochen. Alle Thiere sind mißtrauisch gegen den Menschen und nicht mit Unrecht; sind sie jedoch einmal sicher, daß er ihnen nicht Schaden zufügen will, dann wird ihr Vertrauen so groß, daß man mehr als ein Barbar sein müßte, wenn man es mißbrauchen wollte.

Ich kehrte zu meinen Büchern zurück; aber meine Beschäftigungen während des Nachmittags verdienten weniger Arbeit und Studium, als vielmehr Erholung und Vergnügen genannt zu werden. Nach Tische bin ich zu einem streng wissenschaftlichen Studium nie fähig gewesen, und im allgemeinen ist mir jede Anstrengung während der Hitze des Tages beschwerlich. Gleichwohl beschäftigte ich mich, aber immer ohne Zwang und fast ohne Plan, mit einer nicht für das Studium berechneten Lectüre. Gewöhnlich wählte ich geschichtliche und geographische Werke, und da sie keine große Geistesspannung verlangten, machte ich in beiden Fächern so große Fortschritte, wie mein schwaches Gedächtnis nur irgend zuließ. Ich wollte den Pater Petau studiren und vertiefte mich in die Dunkelheiten der Zeitrechnung, aber ich verlor die Lust dazu an dem kritischen Theile, der nicht Grund noch Ufer hat und beschäftigte mich vorzugsweise nur mit dem genauen Maß der Zeiten und dem Lauf der Himmelskörper. Ich würde selbst Lust zur Astronomie gefaßt haben, hätte ich die nöthigen Instrumente gehabt; aber ich mußte mich auf einige aus Büchern geschöpfte Anfangsgründe und auf einige unvollkommene Beobachtungen beschränken, die ich, nur um eine allgemeine Uebersicht der Sternbilder zu gewinnen, mit einem Fernrohre angestellt hatte, da mir meine Kurzsichtigkeit nicht erlaubt, die Gestirne mit unbewaffnetem Auge deutlich zu unterscheiden. Hierbei erinnere ich mich eines Abenteuers, über das ich späterhin noch oft habe lachen müssen. Ich hatte, um die Gestirne zu studiren, einen Himmelsplaniglob gekauft und ihn aufziehen lassen. Waren die Nächte hell, so legte ich ihn im Garten auf vier Pfähle meiner Größe, die Zeichnung nach unten gekehrt, und um dieselbe zu beleuchten, ohne daß mir der Wind das Licht ausblies, stellte ich es in einen zwischen den vier Pfählen auf der Erde stehenden Eimer; indem ich darauf abwechselnd den Planiglob mit meinen Augen und den Himmel durch mein Fernrohr betrachtete, übte ich mich, die Sternbilder aufzufinden und ihre Stellung zu bestimmen. Ich glaube gesagt zu haben, daß Herrn Noirets Garten terrassenförmig war; vom Wege aus sah man, was in ihm vorging. Eines Abends gewahrten mich Landleute, die noch ziemlich spät vorübergingen, in phantastischer Ausstattung bei meiner Sternguckerei. Der Lichtschein, der auf meinen Planigloben fiel, während ihnen das Licht selbst durch die Ränder des Eimers verborgen war; die vier Pfähle, das große mit Figuren bekritzelte Papier, das Gestell, in welchem es sich befand, und die Bewegungen meines Fernrohrs, das sie bald erscheinen, bald verschwinden sahen, verliehen diesem Auftritte etwas Hexenartiges, das sie mit Schrecken erfüllte. Meine wunderliche Tracht war nicht geeignet, sie zu beruhigen; ein Schlapphut über meiner Mütze und Mamas wattirtes Kamisol, welches sie mich anzuziehen gezwungen hatte, mußte mir in ihren Augen das Aussehen eines leibhaftigen Hexenmeisters geben, und da nicht viel an Mitternacht fehlte, so zweifelten sie nicht, daß es sich hier um die Vorbereitung zu einem Hexensabbath handelte. Nicht begierig noch mehr zu sehen, liefen sie in furchtbarer Angst davon, weckten ihre Nachbarn, um ihnen die nächtliche Erscheinung mitzutheilen, und die Geschichte wurde so schnell ruchbar, daß schon am nächsten Tage jeder in der Nachbarschaft wußte, bei Herrn Noiret würde der Hexensabbath gefeiert. Ich weiß nicht, welche Folgen dieses Gerücht hätte haben können, wenn nicht einer der Bauern, der Zeuge meiner Beschwörungen gewesen war, noch an dem nämlichen Tage seine Klage bei zwei Jesuiten angebracht hätte, die uns sofort besuchten und ihn, ehe sie noch wußten, um was es sich handelte, einstweilen beschwichtigten. Sie erzählten uns die Geschichte; ich setzte ihnen das Sachverhältnis auseinander, und wir lachten gar sehr. Damit jedoch nicht ähnliches wieder vorkäme, wurde beschlossen, ich sollte künftighin ohne Beleuchtung Beobachtungen anstellen und den Planigloben im Hause studiren. Wer in den Briefen vom Berge meine venetianische Magie gelesen hat, wird, wie ich mich versichert halte, überzeugt sein, daß ich von je her einen großen Beruf zum Hexenmeister hatte.

So war meine Tageseinteilung in Charmettes, sobald mich nicht ländliche Arbeiten in Anspruch nahmen, denn diese hatten stets den Vorzug, und in allem, was nicht über meine Kräfte ging, arbeitete ich wie ein Landmann; aber meine damalige ungemeine Schwäche ließ mir freilich in dieser Beziehung kaum ein anderes Verdienst als das des guten Willens. Ueberdies wollte ich zwei Arbeiten auf einmal verrichten und verrichtete folglich keine gut. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, mir ein gutes Gedächtnis zu erzwingen, und bestand eigensinnig darauf, viel auswendig zu lernen. Zu dem Zwecke trug ich irgend ein Buch bei mir, das ich während der Arbeit mit einer unglaublichen Mühe studirte und wieder und wieder las. Ich begreife nicht, wie die Beharrlichkeit in diesen vergeblichen und unausgesetzten Anstrengungen mich nicht schließlich ganz dumm gemacht hat. Die Eklogen Virgils, von denen ich keine Sterbenssilbe mehr weiß, habe ich wohl zwanzigmal gelernt und von neuem gelernt. In Folge der Gewohnheit, Bücher überall hin mitzunehmen, auf den Taubenschlag, in den Gemüsegarten, in den Obstgarten, in den Weinberg, habe ich eine große Anzahl derselben ganz oder theilweise verloren. Mit etwas anderem beschäftigt, legte ich mein Buch mittlerweile unter einen Baum oder auf eine Hecke; allenthalben vergaß ich es wieder aufzunehmen und oft fand ich es nach vierzehn Tagen verdorben oder von Ameisen und Schnecken zernagt. Dieser Lerneifer artete zu einer Sucht aus, die mich wie stumpfsinnig machte, so beschäftigt war ich beständig, etwas zwischen den Zähnen herzumurmeln.

Die Schriften von Port-Royal und vom Oratorium, die ich am häufigsten las, hatten mich zu einem halben Jansenisten gemacht, und trotz meines vollen Gottvertrauens setzte mich bisweilen ihre strenge Religion in Angst. Die Furcht vor der Hölle, die mich bisher sehr wenig beunruhigt hatte, schreckte mich allmählich aus meiner Sicherheit auf, und hätte mich Mama nicht wieder beruhigt, so würde mich diese entsetzliche Lehre endlich in die qualvollste Aufregung versetzt haben. Mein Beichtvater, der gleichzeitig der ihrige war, trug seinerseits dazu bei, mich in der richtigen Gemüthsverfassung zu erhalten. Es war der Pater Hemet, ein Jesuit, ein guter und verständiger Greis, dessen Andenken ich stets in Ehren halten werde. Obgleich ein Jesuit, hatte er die Einfalt eines Kindes, und seine mehr milde als schlaffe Moral, war gerade das, was ich als Gegengewicht gegen die düstern Eindrücke des Jansenismus nöthig hatte. Dieser gutmüthige Mann und sein Gefährte, der Pater Coppier, besuchten uns oft in Charmettes, obwohl der Weg sehr beschwerlich und für Leute ihres Alters ziemlich weit war. Ihre Besuche brachten mir viel Gutes; möge Gott es ihren Seelen vergelten, denn sie waren damals schon zu alt, als daß ich annehmen könnte, sie seien noch am Leben. Ich besuchte sie ebenfalls in Chambéry und wurde bei ihnen nach und nach ein gern gesehener Hausfreund; ihre Bibliothek stand mir stets zur Verfügung. Die Erinnerung an diese glückliche Zeit verknüpft sich mit der an die Jesuiten in dem Grade, daß letztere mir erst durch jene selige Zeit und diese wieder erst durch die Jesuiten recht lieb geworden sind. Wenn mir ihre Lehre auch immer gefährlich vorgekommen ist, bin ich doch nie fähig gewesen, sie aufrichtig zu hassen.

Ich möchte wohl wissen, ob sich in den Herzen anderer Menschen auch hin und wieder solche kindische Gedanken festsetzen, wie bisweilen in den meinigen. Inmitten meiner Studien und eines so unschuldigen Lebens, wie man es nur irgend führen kann, und trotz alles dessen, was man mir dagegen hatte einwenden können, quälte mich die Furcht vor der Hölle noch häufig. Ich fragte mich: In welchem Stande bin ich? Würde ich, wenn ich jetzt im Augenblicke stürbe, verdammt werden? Nach den Jansenisten war daran nicht zu zweifeln, aber nach meinem Gewissen mußte ich es in Abrede stellen. In steter Angst und qualvoller Ungewißheit griff ich, um mich davon frei zu machen, zu den lächerlichsten Mitteln, für die ich jeden andern Menschen, den ich eben so thöricht handeln sähe, mit Freuden einsperren lassen würde. Unter Träumereien über diese mich folternde Frage übte ich mich eines Tages maschinenmäßig mit Steinen nach Baumstämmen zu werfen und zwar mit meiner gewöhnlichen Geschicklichkeit, das heißt ohne fast einen einzigen zu treffen. Mitten in dieser angenehmen Beschäftigung gerieth ich auf den Einfall, eine Art Prognostikon zur Beschwichtigung meiner Unruhe daraus zu machen. Ich sagte zu mir: Ich will einen Stein nach dem mir gegenüberstehenden Baume werfen; wenn ich ihn treffe, so soll es ein Zeichen der Rettung; wenn ich ihn verfehle, ein Zeichen meiner Verdammnis sein. Mit diesen Worten werfe ich mit zitternder Hand und unter furchtbarem Herzklopfen den Stein, aber so glücklich, daß er den Baum gerade in der Mitte trifft; das war nun allerdings keine Kunst, denn ich hatte die Vorsicht beobachtet, einen sehr dicken und dicht vor mir stehenden zu wählen. Seitdem habe ich an meiner ewigen Seligkeit nicht mehr gezweifelt. Wenn ich an diesen Einfall denke, weiß ich nicht, ob ich über mich lachen oder seufzen soll. Ihr andere aber gleich mir für groß gehaltene Männer, die ihr sicherlich lacht, wünscht euch Glück, aber verspottet meine Kleinlichkeit nicht, denn, glaubt es, ich fühle sie nur zu wohl.

Uebrigens waren diese von der Frömmigkeit vielleicht unzertrennlichen Aufregungen und Beängstigungen kein bleibender Zustand. Gemeiniglich war ich ziemlich ruhig, und der Gedanke, bald sterben zu müssen, erfüllte meine Seele weniger mit Trauer als mit einer sanften Mattigkeit, die sogar ihre Reize hatte. Unter alten Papieren habe ich unlängst eine Art Ermahnungsrede wieder aufgefunden, die ich mir selbst gehalten und in der ich mir Glück gewünscht habe, in einem Alter zu sterben, in welchem man noch Muth genug besitze, um dem Tode ins Angesicht zu sehen, und ohne von großen körperlichen oder geistigen Leiden heimgesucht worden zu sein. Wie Recht hatte ich! Ein Vorgefühl flößte mir die Befürchtung ein, ich würde leben bleiben, um zu leiden. Ich schien das Loos vorauszusehen, welches meiner im Alter wartete. Ich bin der Weisheit nie so nahe gewesen wie in diesem glücklichen Lebensabschnitte. Ohne große Gewissensbisse wegen der Vergangenheit, frei von den Sorgen für die Zukunft war das meine Seele beherrschende Verlangen auf den Genuß der Gegenwart gerichtet. Die Frommen haben gewöhnlich eine äußerst lebhafte Sinnlichkeit, welche die Triebfeder für sie ist, die unschuldigen Freuden, die ihnen gestattet sind, mit Wonne zu genießen. Die Weltkinder rechnen es ihnen zum Verbrechen an, ich weiß nicht, weshalb, oder vielmehr ich weiß es recht gut: lediglich deshalb, weil sie sie um den Genuß jener einfachen Freuden beneiden, an denen sie selbst den Geschmack verloren haben. Ich hatte diesen Geschmack und fand es reizend, ihn mit ruhigem Gewissen befriedigen zu können. Mein Herz, noch jung und frisch, überließ sich allem mit der Freude eines Kindes, oder vielmehr, wenn ich so sagen darf, mit der Wollust eines Engels; denn diese ruhigen Genüsse haben in Wahrheit die Reinheit paradiesischer Freuden. Mahlzeiten auf dem Rasen zu Montagnole, Abendessen in der Laube, das Einsammeln des Obstes, die Weinlese, dies alles bildete für uns eben gleich so viele Feste, an denen Mama mit ebenso großer Freude Theil nahm wie ich. Einsamere Spaziergänge gewährten einen noch größeren Reiz, weil sich die Herzen in noch größerer Freiheit ergießen konnten. Unter andern unternahmen wir einen, der unauslöschlich in meiner Erinnerung steht, an einem Sanct-Ludwigstage, der zugleich Mamas Namenstag war. Nach Anhörung der Messe, die uns ein Carmeliter bei Tagesanbruch in einer an das Haus stoßenden Kapelle gelesen, machten wir uns schon ganz früh zusammen und allein auf den Weg. Ich hatte den Vorschlag gemacht, die uns gegenüberliegende Berghalde, welche wir noch nicht besucht hatten, zu durchstreifen. Wir hatten unsere Lebensmittel vorausgesandt, da der Spaziergang den ganzen Tag währen sollte. Obgleich Mama ein wenig rund und stark war, marschirte sie gar nicht übel. Wir wanderten von Hügel zu Hügel und von Gehölz zu Gehölz, mitunter in der Sonne und häufig im Schatten, wobei wir uns von Zeit zu Zeit ausruhten und uns im Geplauder von uns, unserer Verbindung, der Seligkeit unseres Schicksales und unter Gebeten um dessen Dauer, die keine Erhörung fanden, Stunden lang vergaßen. Alles schien sich zu vereinen, zur Erhöhung der Seligkeit dieses Tages beizutragen. Es hatte vor Kurzem geregnet, kein Staub, überall schnell einherrauschende Bäche; ein frischer Windhauch bewegte die Blätter, die Luft war rein, der Horizont unbewölkt, die Heiterkeit des Himmels glich der in unsern Herzen. Unser Mittagsessen fand bei einem Bauern statt und wurde mit seiner Familie getheilt, die uns von Herzen dafür segnete. Diese armen Savoyarden sind so gute Leute! Nach dem Essen flüchteten wir uns in den Schatten hoher Bäume, wo Mama, während ich dürres Holz zum Kaffeekochen las, sich mit Botanisiren zwischen den Sträuchern unterhielt, und an der Form der Blumen des Bouquets, welches ich ihr unterwegs gesammelt hatte, erklärte sie mir darauf tausenderlei Merkwürdigkeiten, die mich angenehm anregten und mir Lust zur Botanik einflößen sollten. Aber der Augenblick dazu war noch nicht gekommen; ich war noch von zu vielen anderen Studien in Anspruch genommen. Ein Gedanke, der sich plötzlich meiner bemächtigte, zog uns von den Blumen und Pflanzen ab. Die Gemüthsstimmung, in der ich mich befand, alles, was wir an diesem Tage gesagt und gethan, alle Gegenstände, die meine Aufmerksamkeit auf mich gezogen hatten, riefen in mir die Erinnerung an jenen traumartigen Zustand zurück, der mich vor sieben oder acht Jahren in Annecy bei vollem Wachen befallen und dessen ich an seinem Orte Erwähnung gethan habe. Die Ähnlichkeit war so treffend, daß ich bei dem Gedanken daran bis zu Thränen gerührt wurde. In Wonne schwelgend umarmte ich diese theure Freundin. »Mama, Mama,« sagte ich leidenschaftlich zu ihr, »dieser Tag ist mir vor langer Zeit vorhergesagt worden, und Schöneres kann mir nie zu Theil werden. Dir habe ich es zu danken, daß mein Glück seinen höchsten Gipfel erreicht hat. Ach, daß es nie abnehmen, daß es dauern möchte, so lange ich mir die Freude daran bewahren kann! Dann wird es nur mit mir ein Ende nehmen.«

So flossen meine Lebenstage glücklich dahin, und um so glücklicher, als ich nichts sah, was sie stören konnte, so daß ich wirklich wähnte, sie würden erst mit meinem Ende aufhören. Der Grund lag nicht darin, daß die Quelle meiner Sorgen ganz versiegt gewesen wäre; allein ich sah sie einen anderen Lauf nehmen, den ich nach bestem Vermögen auf nützliche Gegenstände richtete, damit sie ihr Heilmittel selbst mit sich brächte. Mama liebte das Land aufrichtig, und diese Liebe verlor sie an meiner Seite nicht. Nach und nach gewann sie auch Lust zur Landwirthschaft. Sie bemühte sich Ertrag aus ihren Ländereien zu ziehen und besaß die dazu nöthigen Kenntnisse, die sie nun mit Vergnügen benutzte. Nicht zufrieden mit den zu dem Hause gehörenden Feldern pachtete sie noch bald einen Acker, bald eine Wiese. Kurz, indem sie ihren Unternehmungsgeist auf den Landbau lenkte, war sie auf dem besten Wege eine bedeutende Pächterin zu werden. Die immer größer werdende Ausdehnung der Wirthschaft war mir nicht ganz recht, und ich widersetzte mich nach Kräften, fest überzeugt, daß sie stets zu kurz kommen würde und bei ihrer Neigung zur Freigebigkeit und Verschwendung die Ausgaben die Einnahmen stets übersteigen müßten. Trotzdem tröstete ich mich durch die Erwägung, daß der Ertrag doch nicht völlig gleich Null sein könnte und zum Lebensunterhalte beitragen würde. Von allen Unternehmungen, auf welche sie verfallen konnte, schien diese mir die am wenigsten verderbliche, und ohne darin wie sie einen Erwerbszweig zu erblicken, betrachtete ich die Landwirtschaft als eine beständige Beschäftigung, die sie vor schlechten Geschäften und Betrügern beschützen mußte. Dieser Gedanke flößte mir den lebhaften Wunsch ein, die zur Überwachung ihrer Geschäfte nöthige Kraft und Gesundheit wieder zu erlangen, die es mir ermöglichten den Aufseher ihrer Tagelöhner oder ihren ersten Arbeiter abzugeben; und die mir dadurch auferlegte Beschäftigung, die mich meinen Büchern oft entzog und mich nicht ununterbrochen an meinen Zustand denken ließ, mußte natürlich günstig auf ihn einwirken.


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