Joseph Roth
Der stumme Prophet
Joseph Roth

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VII

Der alte Herr von Maerker wollte am nächsten Tag zu seiner Kur fahren. Friedrich sah ihn am Abend. Der festliche Glanz der vielen Lampen im Restaurant machte sein weißhaariges Alter ehrwürdiger wie die Schönheit seiner Tochter strahlender. Der Herr von Maerker sah älter aus, als er war, und bedeutender auch. Er erinnerte an alte Porträts, an Gesichter, an denen die Zeit noch mehr geformt hat als die Natur und die Kunst und die von der Unwiderruflichkeit verschwundener Epochen, deren Spiegel sie sind, mit dem Schimmer einer wehmütigen Weihe beschenkt werden. Der Herr von Maerker war niemals klug gewesen. Jetzt vertrat bei ihm, wie es manchmal vorkommt, das Alter die Vernunft. Und weil er zu den Menschen gehörte, die ihre Epoche überlebt haben, erweckte er in Friedrich noch die höfliche Ehrfurcht, die man einem alten, vergessenen Monument schuldig ist. Er schien nicht daran zu zweifeln, daß Hildes Begegnung mit Friedrich ein reiner Zufall war. Aber selbst wenn er zweifelte, so war sein Respekt vor dem Leben und den Geheimnissen seiner Tochter zu groß, als daß er es unternommen hätte, Zusammenhänge erraten zu wollen, die man ihm nicht freiwillig enthüllte. Ihm wie den Männern seiner Generation war es noch selbstverständlich, bei ihren Frauen und Töchtern einen natürlichen Sinn für Schickliches und Unpassendes, Ehre und Haltung, Ruf und Geltung vorauszusetzen. Der Herr von Maerker gehörte noch zum letzten Geschlecht der wohlerzogenen Mitteleuropäer, die nicht sitzen bleiben können, wenn eine Frau vor ihnen steht, die sich immer wieder über die Sitten der Jungen wundern, ohne einen Tadel zu wagen, die noch mit Anmut sprechen, während sie essen, und die noch etwas Vernünftiges sagen können, ohne selbst Verstand zu haben, ritterlich sind und harmlos und Komplimente verteilen, wie kleine Liebeserklärungen, die ohne Folgen bleiben sollen. Er kannte die unglückliche Ehe seiner Tochter, aber es fiel ihm nicht ein, sich einen Vorwurf daraus zu machen, daß er den Generaldirektor gezwungen hatte, Hilde zu heiraten. Er hatte lange Jahre seine Tochter nicht gekannt. Jetzt machte ihn das Alter hellsichtig. Aber er blieb schweigsam, nicht nur, weil er sich geschämt hätte zu fragen, sondern weil er sich noch mehr geschämt hätte, merken zu lassen, daß er die Fähigkeit besaß zu erraten.

»Ich erinnere mich sehr gut an Sie«, sagte er zu Friedrich. »Sie waren einmal bei uns.« Friedrich dachte an den aufrichtigen Journalisten, der ihm so hartnäckig versichert hatte, daß er ihn nicht erkenne. »Es ist viel geschehn inzwischen. Und doch kommt es mir vor, daß wir alles schon vorher gewußt haben. Ich habe Jahr für Jahr mit eigenen Augen zusehn können, wie der Staat sich auflöst, die Menschen gleichgültiger werden. Aber auch gehässiger, ja, gehässiger«, fügte er hinzu. Er sagte es mit der Nachsicht eines Jenseitigen.

»Wir haben Witze gemacht, wir haben alle dazu gelacht«, fuhr er fort, »ich habe mir selbst ein paar vorzuwerfen. Glauben Sie mir, daß Witze allein genügen, einen alten Staat zugrunde zu richten. Alle Völker haben gespottet. Und doch war zu meinen Zeiten, als noch der Mensch wichtiger war als seine Nationalität, die Möglichkeit vorhanden, aus der alten Monarchie eine Heimat aller zu machen. Sie hätte das kleinere Vorbild einer großen zukünftigen Welt sein können und zugleich die letzte Erinnerung an eine große Epoche Europas, in der Norden und Süden verbunden gewesen wären. Es ist vorbei«, schloß Herr von Maerker mit einer leichten Handbewegung, mit der er den letzten Rest seiner Erinnerung endgültig zu vertreiben schien.

Seine Traurigkeit selbst war noch von einer Heiterkeit begleitet. Sein wehmütiger Nachruf auf sein Vaterland hinderte ihn nicht, den schwarzen Kaffee und eine dünne Zigarette mit sanfter Überlegung auszukosten, und es sah aus, als freute er sich seines Lebens doppelt, weil es sich außerhalb seiner Zeit noch fortsetzte, und als genösse er jeden Tag, jeden Abend, jede Mahlzeit, die ihm der Himmel schenkte, mit der Freude, die man unerwarteten und unverdienten Ferientagen entgegenbringt. Der Untergang der Monarchie hatte gleichsam nur der tätigen Periode seines Lebens ein Ende gesetzt, er hatte nur als Zeitgenosse zu existieren aufgehört, lebte aber weiter als der passive Betrachter einer neuen Zeit, die ihm keineswegs gefiel, die ihn aber auch nicht im geringsten störte, weil sie ihn nicht im geringsten anging.

Er verabschiedete sich von Friedrich, Hilde begleitete ihn. Sie wollten sich in einer Stunde wieder treffen.

In dieser Stunde ging Friedrich vor dem Hotel auf und ab, wie er es vor zehn Jahren ebenfalls getan hätte. Alles ist wach! dachte er. Nichts ist zwischen dem Tag gewesen, an dem ich sie zuerst im Wagen gesehn habe, und heute. Ich bin jung und glücklich. Soll ich noch an das Wunder der Liebe glauben? Es ist offenbar ein Wunder, wenn Geschehenes ausgelöscht wird.

Und zu Hilde sagte er dann: »Ich habe einmal auf der Flucht aus Sibirien daran gedacht, dich in ein weites und friedliches Land mitzunehmen. Es gibt noch fremde und friedliche Länder. Wir werden fahren.«

»Wir brauchen sie nicht, um glücklich zu sein.«

Sie gingen durch breite, leuchtende Straßen, überquerten belebte Plätze, wichen ihren Gefahren aus, ohne achtzugeben, nur mit dem gewachsenen Instinkt, am Leben zu bleiben und zu leben. Sie hätten sich selbst aus einer Katastrophe retten können und wären unter tausend Umgekommenen die einzigen Überlebenden geblieben.

Ihm blieb keine einzige von allen Torheiten erlassen, an denen die männliche Verliebtheit so reich ist. Ihn erfaßte die Eifersucht, nicht etwa gegen bestimmte Männer, sondern eine Eifersucht auf die ganze lange Zeit, die Hilde ohne ihn verlebt hatte. Und auch er tat schließlich die dümmste und männlichste aller Fragen, die im Sprachführer der Liebe verzeichnet stehen: »Warum hast du nicht auf mich gewartet?« Und er bekam die unvermeidliche Antwort zu hören, die ihm jede andere Frau ebenfalls gegeben hätte und die keineswegs eine logische Antwort ist, sondern eher eine Fortsetzung dieser Frage: »Ich habe immer nur dich geliebt!«

Und so begann ihn die Liebe aus einer ungewöhnlichen Existenz in eine gewöhnliche überzuführen, und er lernte die sterblichen und dennoch ewigen Freuden kennen und zum erstenmal in seinem Leben das Glück, das eben darin besteht, große Ziele kleinen zuliebe aufzugeben und das Erreichte so maßlos zu überschätzen, daß man nichts mehr zu suchen hat. Sie fuhren durch weiße Städte, standen in den großen Häfen, sahen Schiffe fremden Küsten entgegenfahren, begegneten Zügen, die ins Unbekannte rasten, und niemals konnten sie ein Schiff oder einen Zug erblicken, ohne sich selbst wegfahren zu sehn ins Ferne, Zukünftige, Vage. Sie zählten ängstlich die Tage, die sie noch zusammenbleiben konnten, und je weniger es wurden, desto reicher und voller unwahrscheinlicher Ereignisse schien der Rest zu sein. War die erste Woche noch eine unteilbare Einheit der Zeit gewesen, so zerfiel die zweite schon in Tage, die dritte in Stunden und in der vierten, in der sie alle Augenblicke wie ganze reiche Tage zu empfinden begannen, tat es ihnen leid, daß sie die erste so verschwenderisch hatten vergehn lassen. »Ich werde dir überallhin folgen«, sagte Hilde. »Selbst nach Sibirien.« »Was soll ich dort? – Ich habe nicht mehr die Absicht, mich in gefährliche Situationen zu begeben.«

»Was willst du denn sonst tun?«

»Gar nichts.«

Hilde verfiel in ein tiefes, enttäuschtes Schweigen. Das war das erstemal, daß sie plötzlich auf einen Punkt stießen, wo sie aufhörten, einander zu begreifen. Diese Augenblicke kamen immer häufiger, sie vergaßen sie nur immer wieder. Beide verschoben Erklärungen auf günstigere Gelegenheiten. Aber diese Gelegenheiten kamen überhaupt nicht, und die schweigsamen Stunden wurden immer häufiger. Es gab Zärtlichkeiten, die Friedrich nicht erwiderte. Von den Lippen eines jeden fielen Worte ohne Widerhall wie Steine in eine abgrundlose Tiefe. Einmal sagte sie – vielleicht um ihn zu versöhnen: »Ich bewundere dich dennoch.« Und er konnte sich nicht enthalten zu antworten: »Wen hast du nicht schon bewundert? Einen Maler, einen geistreichen Schriftsteller, den Krieg, die Verwundeten. Jetzt bewunderst du einen Revolutionär.«

»Man wird klüger«, erwiderte sie.

»Man wird dümmer«, sagte er.

Und es begann ein schnelles Hin und Wider von leeren Worten ohne Sinn, ein Kampf wie mit leeren Nußschalen.

Sie muß jemanden zum Bewundern haben, dachte Friedrich. Ich bin jetzt ihr Held. Zu spät, zu spät. Sie bekennt sich zu mir in einem Augenblick, in dem ich anfange, mich zu verleugnen. Ich bin nicht der alte mehr, ich spiele ihn nur noch – aus Ritterlichkeit.

Dennoch war es zwischen ihnen abgemacht, daß Hilde ihren Mann und die Kinder verlassen würde.

»Vergiß nicht«, sagte sie, als er in den Zug stieg, »daß ich dir überallhin folgen werde. Auch nach Sibirien«, ergänzte sie, während der Zug sich in Bewegung setzte. Er konnte nicht mehr antworten.

Nach einer Woche sollte sie ihm nachkommen.


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